Deutscher Novellenschatz 8 - Leopold Kompert - E-Book

Deutscher Novellenschatz 8 E-Book

Leopold Kompert

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Beschreibung

Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 8 von 24. Enthalten sind die Novellen: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. Spindler, Karl: Die Engel-Ehe.

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Deutscher Novellenschatz

 

BAND 8

 

 

 

 

 

 

 

Deutscher Novellenschatz, Band 8

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661113

 

Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Die Engel-Ehe.1

Jörg Muckenhuber.33

Eine Verlorene.46

 

 

Die Engel-Ehe.

 

Karl Spindler

 

Vorwort

 

Karl Spindler, geboren den 16. Oktober 1796 zu Breslau, wurde zu Straßburg erzogen, wo sein Vater Organist am Münster war, begab sich, um dem französischen Militärdienste zu entgehen, nach Deutschland zu einem Oheim, trat aber dann in jenes unstete Theaterleben ein, das er nachmals sehr anschaulich geschildert hat. Seinen Ruf als Romanschriftsteller begründete er durch die Romane "Bastard", "Jude" und "Jesuit", die trotz des Mangels an künstlerischer Bildung von einer wunderbaren Naturgabe in Auffassung und Darstellung des Lebens, ja bis zu einem gewissen Grade selbst des geschichtlichen Lebens, zeugen. Durch Vielschreiberei — seine "sämtlichen Werke", die wohl nicht einmal vollständig sein werden, umfassen 102 Bände — hat er sein glänzendes Talent zersplittert und ist großenteils vergessen, doch enthalten auch die an Wert untergeordneten Nachfolger jener ersten bedeutenderen Werke manchen meisterhaften Zug, der in besserer Umgebung zu stehen verdiente. Er selbst hat über seine Werke den Ausspruch getan, er beneide den Epigonen, der diesen Schacht von Erfindung, wenn derselbe einst verschüttet sei, wieder entdecken und ausbeuten werde. Spindler starb den 12. Juli 1855 im Bade Freiersbach. Seine zahllosen kleineren Erzählungen sind meist flüchtig gearbeitet, wie denn überhaupt die Novelle diesem aus Massenentwickelung angelegten Talente keine gemäße Form war. Desto erfreulicher ist es, aus der großen Menge denn doch eine Erzählung geben zu können, die zu den erleseneren gezählt werden darf, sofern sie ein altes, oft und verschiedentlich von Dichtern ergriffenes Motiv in eigentümlicher, bedeutender und edler Weise behandelt.

 

***

 

 

Wo der Arlberg steil niedergeht ins Land an der Iller, am Rhein und am Bodensee, liegt der kleine Ort Stuben. Das Posthaus daselbst ist wenig besser als die umher zerstreuten Wohnungen der Bauern, was sein Äußeres anbelangt. In seinem Inneren dagegen hat es eine Stube, die an Traulichkeit schwerlich ihres Gleichen findet. Wohl erhellt durch mehrere Fenster und sauber aufgeputzt mit Schränken und Gerätschaften aller Art, ist sie der Aufbewahrungsort aller Glas- und Porzellanschätze, die das Haus besitzt. Ein paar reinliche, aber altväterische Tische füllen, mit den dazu gehörigen Sesseln und dem breiten Kanapee, den inneren Raum; eine hübsche Hecke von Kanarienvögeln ist an einem der Fenster, Käfige mit andern Vögeln sind an den übrigen zu schauen; an dem getäfelten Plafondgesims laufen grüne Ranken, festgehalten von weißen Bändern, hin und beschatten die Sänger des Waldes. In der Ecke gegen die Straße ist das Bild des Gekreuzigten aufgerichtet, umgeben von Heiligenbildern; an der Decke schwebt die hölzerne Taube, die Versinnlichung des Heiligen Geistes. Die geschnitzten Friese der Schränke sind mit Porzellan- und Tonfiguren besetzt, unter welchen die eines kaiserlichen Soldaten mit der Fahne in der Hand, besonders hervorsticht. Spiegel und Vorhänge, der Kalender an der Wand, die Rechentafel an der Tür, die Essig- und Branntweingefäße auf dem mächtigen Ofen, stimmen vollkommen zu dem Übrigen und malen ein heiteres Bild genügsamen Stilllebens vor dem Beschauer aus. — Auch vor dreißig und noch mehreren Jahren mag dieses behagliche Zimmer gerade so ausgesehen haben wie heute; nur waren die Gäste darinnen schwerlich so friedlich, wie die heutigen. Es war Krieg im Lande. Die Verteidiger des letzteren und die Schwärme des Feindes zogen hin und her, auf und ab. In ihrem Gefolge war bald Sieg, bald Niederlage; aber stets der Mangel, stets die Noth des Volkes, das unter der Geißel der Waffen leiden und bluten musste. — Er hatte eine schlimme Zeit zur Reise gewählt, der alternde Mann, der eines Abends im Sturmwetter mit seinem Weibe und zwei Kindern, von denen das eine sehr krank, in dem Wirtshause ankam. Sein bescheidenes Fuhrwerk vermochte kaum noch von den abgetriebenen Gäulen geschleppt zu werden. Seine Habseligkeiten waren durchnässt, so wie er selbst und die Seinigen. Mit großer Mühe hatte er vor der Raubgier des Feindes seine Tiere und das Gepäcke über den Berg gerettet. Er verlangte ein Nachtlager und Erquickung für seine Familie von den gutmütigen Wirtsleuten. Wenn mein Bub' nicht krank geworden wäre, ließ er sich vernehmen, es hätte mich Nichts abgehalten, trotz der elenden Witterung noch in der Nacht meine Reise fortzusetzen. — Und als die Wirtin voll Mitleids hinging, nach dem kranken Kinde zu sehen, das auf dem Schoss seiner starrblickenden und stummen Mutter lag, fuhr der Mann fort: Ihr habt wohl seit manchen Jahren keine so betrübte Familie beherbergt, liebe Frau. Lasst Euch sagen: Wir sind im Frieden aus Mähren davon gereist und mussten hier im Lande den Krieg finden! Ist das nicht ein Unglück? Doch würde das nichts ausmachen, denn ich fahre ja meiner Heimat entgegen, und meine Sehnsucht nach ihr ist ungemessen; aber da hat im Salzburgischen der Tod zwei meiner Kinder ins Himmelreich geführt, und das war ein harter Schlag für mich: ein doppelt harter für die Mutter. — Die Genannte erhob die dunkeln, schwermutsvollen Augen wie mit einem bitteren Vorwurf gegen ihren Mann, sagte aber kein Wort und versank wieder in die Betrachtung des von Gichten geschüttelten Knaben. — Der Mann strich sich die ergrauenden Haare verlegen aus der Stirne und sprach zum Wirt, abseits tretend: Ist kein Doktor im Ort? Der kleine Johann kommt mir wunderlich vor, und auch die Frau könnte eine zweckmäßige Hilfe wohl brauchen. Der Wirt verneinte, die Achseln zuckend. In Bludenz sei ein Wundarzt, meinte er. — So lassen wir's bis dorthin, versetzte der Reisende; mir blutet das Herz, weil der Knab' so leidet, und weil die Mutter sich schier hinterdenkt; aber ich kann's in Gottes Namen nicht ändern. Die Pferde wollen kaum mehr fort, und dem Kind wär' eine weitere Reise ein sicherer Tod. Wäre der Bube nur halb so frisch und flott, wie sein Schwesterchen .... Vreneli, komm her und küsse mich! — Das Mädchen kam lustig herbei, strich des Vaters Wangen und stammelte — es konnte erst unvollkommen plaudern: Hansel wird nicht sterben, Papa! — Behüte, behüte, versicherte der Vater, obschon ihm nicht allzu wohl ums Herz war. Da rief die Mutter mit ausländischer Betonung: Verena, Verena ! komm zum Bruder; spiele mit ihm. Ich will eine Suppe für euch kochen. — Sie ließ den Kranken in den Armen der halberwachsenen Wirtstochter und ging mit hängendem Kopfe nach der Küche, wohin die Hausfrau sie begleitete.

Wie nun der Gatte ihr kopfschüttelnd nachschaute, begann der Wirt voll biederer Teilnahme: Das Unglück hat das gute Weib recht angegriffen. Von Mähren, sagten Sie, lieber Herr? Aber aus Ihrer Sprache zu schließen, sind Sie dort nicht zu Hause. Ich glaube eher einen Nachbar in Ihnen zu erkennen, einen Schweizer. — So ist's, mein Freund, entgegnete der Fremde, indem ihm die helle Freude aus den Augen blitzte; ein Appenzeller, bei Gott, und ich kann's nicht erwarten, bis ich mein Vaterland wieder sehe. Das Vaterland, braver Mann, ist auch das Höchste in der Welt, und das Heimweh hätte mich dort innen aufgezehrt, obgleich mir's gut ging, fürwahr. Ich hab' im Leben viel erfahren, bin eines Bauern Sohn, hab's dann im Militär bis zum Hauptmann gebracht, und bin schließlich, nachdem ich invalid geworden, zum Verwalter auf eines Fürsten Gütern an der schlesischen Grenze avanciert. Der Fürst gab mir ein gut Salär, Nebenverdienst fand ich auch und, was das Beste, ein treffliches Weib, von polnischen Eltern zwar, doch in Mähren geboren. Ich hätte als ein glücklicher Vater von vier lieben Kindern mit dem Kaiser selbst nicht getauscht; da kam das Heimweh plötzlich über mich, und es litt mich nicht mehr im fremden Lande. Leider hat mich der Durst nach der Heimat die Halbschied meiner Kinder gekostet. Er wischte sich einige Tränen aus dem Auge. Die Fassung stellte sich jedoch bald wieder ein, dass er ruhig sagen konnte: Nun, wie Hiob sprach: der Herr hat's gegeben, und so weiter. Wenn ich nur einmal wieder meinen Geburtsort betreten habe, soll Alles gleich besser gehen, und wir haben von hier aus nicht mehr weit; nicht wahr? — Nicht allzu sehr. Seien Sie überzeugt, dass ich Alles tun werde, um Ihnen die Reise zu erleichtern, wenn Sie etwa in Verlegenheit sein sollten. Was bei diesen schlechten Zeiten in meinen geringen Kräften steht... — Nicht doch, nein, wahrlich nicht, guter Freund, rief der Reisende mit Lächeln, indem er seine Weste aufstreifte und darunter eine wohlgefüllte Geldkatze sehen ließ: da ist schon zu leben; da stecken noch Kremnitzer und ungarische Taler die Hülle und Fülle. Auch hat mir der Fürst eine kleine Pension zugesagt. Ich werde daheim einen wohlhäbigen Mann vorstellen. Seid daher bedankt, lieber Freund, und spart Eure Kräfte für die ungebetenen Gäste, die Euch morgen etwa schon über den Hals kommen dürften. Jenseits des Berges wimmelt es allenthalben von feindlichen Soldaten, die den Aufbruch mit Schmerzen erwarten. Ich will jedoch flink davon fahren, ehe sie da sein können. — Sie sind glücklich, seufzte der Wirt voll Sorgen: Sie eilen Ihrem ruhigen Land entgegen, und wir müssen im Drangsal bleiben, wohin uns Gott gesetzt hat. — Glücklich? fragte der Reisende mit einem Anflug von Schmerz: mein appenzellerisches Herz jubelt, aber mein Vaterherz ist bis zum Tode betrübt. Gott geb's besser. In der Alpenluft soll mein Weib und das mir gebliebene noch einmal so teuer gewordene Kinderpaar wieder aufblühen und gedeihen, so der Himmel will. Das Geschehene ist freilich nicht mehr anders zu machen!

Die fremde Familie genoss ihr frugales Abendbrot und suchte alsdann die stille Kammer. Der Vater küsste das vor Ermattung eingeduselte kranke Kind, und betete: Gott erhalte dich! Gelt, Johann, du bist morgen wieder gesund, du kleiner unartiger Bube? — Der Knabe plauderte halb im Schlafe allerlei unverständliches Zeug. — Lass ihn, Hagenbach, sagte die Mutter, das Kind zudeckend: es wird sein letzter Schlaf auf Erden sein. — Warum nicht gar, Scholastika! Das ist freventlich gesprochen. — Die Frau warf dem Gatten wieder den besonderen unheimlichen Blick zu, der seit dem Tode ihrer Kinder sich bei ihr eingestellt hatte, und erwiderte kurz, aber bitter: Du wirst sehen, wir bringen den Jungen nicht davon; wendete sich gegen die Wand und stellte sich, als ob sie einschliefe. Der Vater, nach einigen Seufzern und einem herzlichen Gebete, entschlief wirklich, müde wie er war vom Kutschiren, von den Mühseligkeiten und Sorgen jeglicher Art. —

Und als der Morgen gekommen und die Pferde angeschirrt waren, und der mit den Zurüstungen zur Abreise fertig gewordene Vater hinaufging, um die Seinigen zum Aufbruch zu mahnen, fand er die Kammer angefüllt von allen Weibsleuten des Hauses. Scholastika war in laute Verzweiflung geraten, denn Johann hatte wieder seine Gichten bekommen, und kein Besänftigungsmittel wollte mehr anschlagen. Vergebens rieten die Weiber Das und Jenes; vergebens versuchte die Mutter, was die Angst ihr eingab, an dem kleinen Kranken. Der Anfall der Krämpfe wurde immer heftiger, des Leidenden Atem immer kürzer, und der Vater hatte ihm kaum einen Kuss auf die blauen Lippen gedrückt, so streckte sich das Kind zum ewigen Schlafe aus und war tot; das dritte, das die Eltern binnen acht Tagen hatten verlieren müssen. — Das Wehklagen der Mutter, und wie sie ihr schwarzes Haar zerraufte und sich die Brust und Stirne zerschlug, ist nicht zu beschreiben. Die entsetzliche Lage der Fremden wurde noch peinlicher durch das Heulen der anwesenden Weiber und durch die Hiobsposten, die von Minute zu Minute vom Berge eintrafen. Die Feinde hatten in der Morgendämmerung die Höhen besetzt, und waren mit Schützen und Landsturm in heftigen Kampf geraten. Man hörte das Schießen, den Lärm des hartnäckigen Gefechts immer näher und näher. Vorübereilende Flüchtlinge weissagten Mord und Brand, alle Schrecknisse des Sieges der vorwärtsdringenden Feinde. Was noch zu bergen war in den armen Hütten, musste jetzt geborgen oder geflüchtet werden. Der Wirt rief sein Gesinde und seine Kinder zusammen; für Alle gab es Arbeit. Bei der kleinen Leiche blieb Niemand zurück als die trostlosen Eltern und das stille, staunende Vreneli. Scholastika glich bald einer Rasenden, bald einer zu Eis erstarrten Person. Hagenbach begriff indessen trotz seines Leidens, dass längeres Verweilen das größte Unheil nach sich ziehen würde. Der stärkere Mann lässt sich nicht vom Elend in dem Maße niederschmettern, dass er vergäße, was der Augenblick gebietet. Komm, liebes Weib, sagte der Hauptmann; die Stunde drängt. Noch können wir dem Gräuel der Plünderung und Misshandlung entrinnen. Komm, wir sind um Geld, Pferde und alle Habe gebracht, wenn wir an diesem Orte die Zeit versäumen. — Geh, geh! hieß die Antwort des Weibes; ich bleibe bei meinem toten Kinde. — Unkluges Geschöpf! Dein eigenes Leben willst du wagen? Und warum? Gott wird diese Reste schützen, sowie er die Seele, die darinnen gewohnt, zu sich genommen. — Sein Zureden war umsonst. Da setzte er schnell entschlossen das kleine Vreneli auf seinen Arm und schleppte die Frau mit Gewalt hinunter, ungeachtet ihres Geschreis und ihrer heftigsten Gegenwehr. Der Wirt begegnete ihnen an des Hauses Schwelle. Helft mir, diese Wütende, deren Vernunft dahin ist, auf den Wagen zu setzen, bat Hagenbach, und der Wirt leistete die verlangte Hilfe. Erst nachdem sich der Schweizer seines Weibes völlig versichert und sein einziges Kind im Wagen geborgen, rief er dem braven Wirt zu, die Zügel und die Peitsche erfassend: Legt meinen kleinen Toten zur Seite, dass die Klauen des Feindes ihn nicht entweihen, und begrabt ihn, sobald der erste Tumult vorüber. Ich will Euch gern erkenntlich sein. Warum nicht gar? entgegnete der Wirt: ich will auch ohne Lohn tun, wie Sie es wünschen. Bin ich doch selbst Vater und weiß, wie Ihnen zu Mute sein muss. Seien Sie versichert, dass ich die Leiche berge und sie im ersten ruhigen Augenblick zur Erde bestatte. Reisen Sie aber jetzt in Gottes Namen, und der Herr stärke Ihre Frau in ihrem schweren Leiden!

Der traurige Todesfall im Posthause musste so weitläufig erzählt werden, weil in ihm die Wurzel der unseligen Geisteswirrnis, die in Scholastika überhandnahm, zu finden ist. Ein Jammer, wie der ihrige, betrifft wohl selten eine Mutter so plötzlich, so unaufhaltsam. Von reger Einbildungskraft und nicht überflüssig ausgebildetem Verstande, den Gebräuchen ihrer Kirche, der katholischen, sklavisch zugetan, ohne deshalb den milden, duldenden und versöhnlichen Geist des Christentums je begriffen zu haben, war Scholastika von Jugend auf nicht geschickt gewesen, den Aufwallungen ihrer Leidenschaften zu gebieten und ihren Kopf im Zaum zu halten. Sie war von Herzen gut, treu ergeben ihrem Manne, eine zärtliche Mutter ihren Kindern. Aber die Macht irgendeines Vorurteils konnte oft für lange Zeit ihr Herz verstocken; ihre Ergebenheit in die Beschlüsse des Gatten war häufig nur eine knechtische, die da insgeheim missbilligt und verabscheut, was sie vor der Welt dem Anschein nach mit Freuden vollbringt. Die Reise nach Hagenbachs Geburtsland war ein solcher von seiner Gattin im tiefsten Herzen gehasster Beschluss gewesen. Für Scholastika hatte freilich die ihr unbekannte Schweiz keine Reize; dagegen hatte sie selber ein Vaterland und Freunde und gewohnte, zum Bedürfnis gewordene Verhältnisse zu verlassen. Sie war nur mit schwerer Bekümmernis von den Gräbern ihrer Eltern geschieden, und die Trennung vom heimischen Lande galt ihr als ein tödlicher Streich, den sie dem Urheber nicht vergab. Sie hatte ihren Widerwillen nicht ausgesprochen, aber umso freigebiger genährt. Ihr Verdruss hatte die Liebe und das Vertrauen zu Hagenbach niedergetreten. Die Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt geratenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Übermuts ihres Gatten, der, um seiner Laune — wie sie sein Heimweh nannte — zu frönen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. — Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüt vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der direkte Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. — Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Missgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darnieder geschmettert unterm Verlust ihrer Heimat und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht fasste, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüchtigen Pilgern endlich fegte der ungestüme Krieg seine Wetterwolken hin, gleich hitzigen Jägern, die das schweißende Wild unbarmherzig, ohne ihm Rast zu geben, verfolgen!

Aber nicht lange, und vor den Fliehenden strömte der Rhein, und sie schwammen hinüber auf der rettenden Fähre; und wieder nicht lange, so wehte ihnen entgegen die alpenfrische Luft der Freiheit, und Hagenbach küsste an seines Kantons Grenzen die Erde und pflückte aus dem würzigen Grase die schönste Blume, sie als Kokarde auf den Hut zu stecken, und den ersten Appenzeller, der ihm entgegen kam, nacktarmig und krausen Haars, die Milchbutte auf dem Rücken, den Pfeifenstummel im Munde und das Pechkäppel auf dem Kopfe, den umarmte er als seinen Bruder. — Mit einem lauten Vivat umarmte er auch sein im stillen Wahnwitz brütendes Weib und rief: Sei wacker, Scholastika. Hier ist meine schöne Heimat, und ich bin schon wieder gesund. Lass aber auch dir diese herrlichen Berge, diese himmlische Luft, den stillen Frieden auf diesen Höhen behagen, und vergiss einmal, was hinter uns liegt, und schaue vorwärts! — Da richtete sich Scholastika auf, blickte trüb um sich, deutete über die waldleeren Hügel in die weiße Luft, und dann hinunter ins kahle Tal, wo nicht der breite Strom rann, dessen die Fremde in ihrem Vaterlande sich so oft gefreut hatte. Hierauf sagte sie kurz: Lauter Grabhügel; darunter schlafen unsere Kinder. Lass mich bei ihnen einscharren, und zwar bald. — Herbe Tränen unterliefen das Auge des alten Soldaten; er drückte Verena in seine Arme und sagte zum Kinde schmeichelnd: Vreneli! sei du wenigstens lieb und gut mit deinem Papa. Gefällt's dir hier im grünen Lande, wo die Ziegen klettern und die Kinder fröhlich spielen? — Ei ja, erwiderte das Mädchen; wo ist aber der Hansel, um mit mir zu spielen? Gelt, er bleibt nicht mehr lang aus? den Friedrich und den Joseph braucht ich nicht, aber der Hansel ist mir lieb, und ich will bei ihm sein. Willst du auch, Papa? — Auch du, mein Kind? seufzte der Vater beklommen und setzte, die Tränen nicht mehr zurückhaltend, das Kind zur Erde. Dann nahm er schweigend die Blume vom Hut und warf sie von sich, und zu des Säntis rauem Eis- und Felsenrücken schaute er empor mit dem stillen Wunsche: Lägst du doch auf mir, du alter Berg! Kann's denn möglich sein, dass mir in deinem Angesicht die Augen übergehen, und zwar nicht vor Freude? dass mir das Herz zerspringt vor Kummer im Angesicht des lang entbehrten Vaterlandes? —

Es stand ihm der Bitterkeit noch viel bevor. Der Flecken Appenzell, wo Hagenbach geboren, war ihm ganz fremd geworden. Neue Häuser waren gebaut worden, alte waren verschwunden. Die Zeit und die Revolution hatten zerstört, hatten Schöpfungen gegründet. Mit den Menschen war es natürlich noch wunderlicher durcheinander gegangen. Hagenbach hatte Jugendfreunde gehabt; er fand sie meistens nicht mehr auf Erden oder im Lande; die wenigen, die geblieben, kannten ihn nicht, wussten sich seiner nicht mehr zu erinnern. Hagenbach hatte Verwandte gehabt; mehrere von denselben lebten zwar noch, aber sie empfingen ihn abstoßend und unfreundlich, denn sie meinten, er komme, um sich von ihren Almosen zu nähren als ein bettelhafter Vetter. Das ältere Volk glotzte den Fremden an, wie ein seltsames Tier, und plagte ihn mit seiner unersättlichen Neugierde; das jüngere verspottete seine Frau und deren sonderbare Reden und Gebärden. Der alte Hauptmann sah sich überall getäuscht und beleidigt. Er hatte geglaubt — so rechnen gewöhnlich die fern vom Vaterlande Lebenden — mit Freuden daheim empfangen zu werden; aber nicht ein einzig Herz schlug ihm entgegen. Erst, nachdem ruchbar geworden, dass Hagenbachs Peter als ein reicher Mann, wie ihn die Genügsamen nannten, aus der Fremde gekommen, wollte sich eine Annäherung verspüren lassen; aber Hagenbach, gekränkt und aus seinen patriotischen Träumen erwacht, trotzte nun seinerseits und wäre bald auf und davon gefahren, um sein Land mit dem Rücken anzusehen. Da kam er eines Tags auf den Platz der Landsgemeinde, und die uralte Linde daselbst fiel ihm in die Augen, und er musste weinen, denn unter dieser Linde war er so zu sagen aufgewachsen, und von der Zeit an hatte er wieder keinen andern Gedanken und Wunsch, als unfern von der Linde zu wohnen und zu sterben, unfern von ihr zur ewigen Ruhe gelegt zu werden.

Demzufolge kaufte er ein Haus mit Garten und Matten, schaffte sich einen kleinen Viehstand an und sperrte sich in seinem neuen Eigentum ein, den Herrenrock an den Nagel hängend und zum Bauer werdend. Aber das Glück lächelte ihm nicht auf der eignen Hufe. Die Gattin gesundete nicht und wurde von Tage zu Tage mehr ein Bild trostloser Geisteszerrüttung. Hagenbach führte sie, das Geld nicht schonend, von Heilquelle zu Heilquelle umsonst. Der Wahnsinn der Armen wurde zwar still, aber umso unheilbarer. Bald tat sie nichts mehr, als am Tische sitzen, vor sich hinschauen, die Hände unters Kinn gestemmt; und wenn sie sprach, so redete sie mit den Geistern ihrer seligen Kinder. Vreneli, der sie alle Aufmerksamkeit entzog, wuchs neben der unglücklichen Mutter wie eine wilde Pflanze empor, und Hagenbach musste noch Gott danken, dass aus einem entlegenen Winkel des Landes die Letztlebende seiner Schwestern herbeikam, um das Mädchen in Aufsicht zu nehmen. Die alte Person war jedoch eine schlimme Erzieherin, von bösen Launen voll, hartherzig und rau. Ihre Pflege nützte nicht; aber ihrer Härte gegenüber entwickelte sich wunderbarer Weise Verenas Charakter als ein Muster von Nachgiebigkeit, Geduld und Sanftmut. Das Mädchen hatte die Kinderschuhe noch nicht völlig abgelegt, als schon die Sorge für die erkrankende und bald darauf sterbende Base so wie für die blödsinnige Mutter auf ihre schwachen Schultern allein fiel. Verenas Schultern waren indessen stärker, als man geglaubt hatte. Sie ertrug Alles mit unermüdlicher Ausdauer, drückte der Base die Augen zu und ließ nicht nach, als ein frommes Kind die Mutter zu heben und zu legen.

Der letzte Versuch, den Hagenbach mit Scholastika angestellt hatte, war so wie die früheren fruchtlos geblieben. Auf ihr plötzliches Begehren, die Gräber ihrer Kinder zu besuchen, hatte der Gatte seine kranke Frau dahin begleitet. In Stuben war die Weiterreise unnötig geworden. Denn nachdem der Wirt im Posthause die Gäste mit beklommenem Antlitz auf den Kirchhof geführt und ihnen das kleine, ohne Kreuz und Kranz verbliebene Grab des armen Johannes gezeigt hatte, wendete sich Scholastika plötzlich um, mit den trockenen Worten: Das ist nicht wahr; mein Bub' ist nicht tot. Die bösen Leute verstecken ihn vor mir! — ging auf dieses hin, trotz der Bestürzung und der Zureden ihrer Begleiter, wieder ins Haus, und da sie einem jungen Knecht von siebenzehn bis achtzehn Jahren in den Weg kam, warf sie sich an dessen Hals und schluchzte: Behüt' dich Gott, du lieber Johann. So alt musst du heute sein, das weiß ich gewiss, und gelt, du bist es selber? Der arme Mensch hatte gut sich sträuben und beteuern, er sei der Michl, nicht der Hans, und seine Mutter sei von Dallaas gebürtig und lebe de dato noch; — Scholastika wollte nimmer von ihm ablassen, küsste ihn einmal übers andre Mal, weinte an seiner Brust, versicherte ihm, sie sei nicht närrisch, und sie kenne ihn wohl. Um seine Brüder im Salzburgerland sei ihr nicht zu tun; jene seien wohl aufgehoben, aber ihn, den Hansel, habe sie stets vor Allen geliebt, und sie werde sich nicht von ihm trennen. Der Wirt und seine Frau konnten das erschütternde Schauspiel nicht ertragen und flohen in ihre Kammer. Hagenbach vermochte die Betörte kaum von dem jungen Menschen zu bringen; denn sie wich nur auf die Versicherung hin: der Hans müsse sich erst sauber ankleiden und zu Pferde setzen, um der Kutsche ins Appenzell nachzufolgen, und er werde dann gleich bei seinen Eltern sein. Auf, diese Weise ließ sich Scholastika wieder in den Wagen bringen; aber natürlich kam Johann nicht nach. Vergeblich schaute die irre Mutter wohl tausendmal aus der Kutsche, dem geliebten Sohn entgegen. Ihr habt mich belogen, sagte sie endlich zornig, aber er wird euch zum Trotz nachkommen. — Sie verfiel abermals in ihr stilles Brüten und blieb darinnen für alle Zeit; ihre Tränen versiegten auf immer, und wenn ja einmal ein Wort aus ihrem Munde ging, so bezog es sich auf Johann und seine baldige Ankunft. —

So wie die Sachen nun einmal standen, war Hagenbachs Mut gebrochen, und er legte die Hände verzagt in den Schoss, ein hoffnungsloser Zuschauer so vielen Elends. Denn die Haushaltung, betrieben durch eine alte Magd — da Verena dazu nicht stark genug war und mit der Mutter hilfloser Kindheit zu viel zu tun hatte — ging nicht allzu fein. Die Landwirtschaft, des regen hausväterlichen Fleißes und der besonnenen Ordnung der Hausmutter entbehrend, gedieh nicht; Viehsterben und Futtermangel kam hin und wieder dazu. Die Vettern, die ihren Blutsverwandten bei seiner Heimkunft als einen Bettler von sich gewiesen, entblödeten sich jetzo nicht, selbst gleich Bettlern an der Habe des sogenannt reichen Hagenbach zu saugen und zu rupfen. Sein Wohlstand verminderte sich daher von Jahr zu Jahr, und gar oft ruhten seine Blicke voll ängstlicher Sorge aus der herangeblühten Tochter, die von des Vaters Bedrängnissen nichts wusste und ihren Pflichten nach Kräften oblag. Die wenige Zeit, die ihrer Mutter Besorgung der Verena übrig ließ, vertrieb sie sich mit der Arbeit, die von den St. Galler Fabrikanten in das Appenzeller Land gebracht worden war. Verena hatte auf Musseline sticken gelernt und sich eine große Fertigkeit in dieser Kunst eigen gemacht.

Einst saß sie emsig schaffend an dem Tambour, da nahte sich ihr der Vater unversehens und sagte nach kurzer Einleitung zu ihr: Vreneli, willst du nicht heiraten? — Ihr erschreckt mich, Vater. Das ist wohl nicht Euer Ernst. — Warum denn nicht? Bist alt genug dazu. — Ich will noch nicht, Vater. Ich will niemals heiraten. — Wie das? Warum das? — Die Mutter braucht mich notwendig. — Deine Zukunft ist deswegen nicht außer Acht zu lassen. — Wie meint Ihr das? — Du musst versorgt werden; es ist hohe Zeit. — Warum denn? Bin ich nicht bei Euch versorgt? es geht mir ja nichts ab. — Das wird nicht so bleiben. — Bin ich nicht genügsam, Vater? O lasst mich friedlich und ruhig leben wie bisher, Euch zu Diensten sein, Euch und der Mutter bis an Euer Ende, wenn's einmal Gott so haben will. — Hm; wir können noch lange leben, die Mutter und ich. — Ei, desto besser, das ist ja mein Wunsch. — Du würdest indessen eine alte Jungfer. — Was tät's? — Und wenn deine Eltern einmal gestorben sind... was wolltest du dann beginnen? — In diesem Hause fortleben, von dem, was Eure Güte mir lassen wird, leben, still und frei. — Wenn alsdann aber dieses Haus einem Andern gehörte, wir dir nichts hinterließen als den Bettelstab? — Da bei dieser Rede das Mädchen verwundert in die Höhe schaute und lächelnd in des Vaters Augen studierte, fuhr Hagenbach, wiewohl schweren Herzens, fort: Herzliebes Kind, ich will mich zusammen nehmen, um dir zu gestehen, was du wissen musst. Wie ich in meiner Wirtschaft gehindert bin, ist dir bekannt; sie geht den Krebsgang, nicht erst seit gestern. Wie gut ich gegen meine habsüchtigen Blutsfreunde gewesen, ist dir auch nicht fremd. Ich habe — mit einem Wort — von Anfang her allzu viel auf mein Erworbenes und auf meine Kräfte gebaut. Beide reichen nicht mehr aus. Keine Frau mehr, um Alles zusammenzuhalten; keine Söhne mehr, die mit der Zeit ihre Hände zu meiner Unterstützung hergegeben haben würden... wenig Erträgnis von meinem Eigen, dagegen viel Verzehrung und Unglück — nach ein paar Jahren stehen wir an der Gant; ich kann's nicht mehr länger verhehlen. — Armer Vater! Ihr seid nicht zum Glück geboren. Gäb's aber nicht ein Mittel, das drohende Unheil aufzuhalten? — Ein einziges nur. Heirate einen wohlhabenden Mann, der dir eine sorgenfreie Zukunft zu bereiten und mir mit Gelde unter die Arme zu greifen im Stande ist. — Ach, was sagt Ihr da? Ich sollte heiraten? Ich habe keinen Sinn dafür. Alle Mannspersonen sind mir gleichgültig, ob alt oder jung. Ich liebe die Kinder nicht, bin gern für mich allein und mag nicht für einen groben Mann Sorge tragen. Die Weiber, die von ihrem Haushalt plaudern und von ihren Mutterfreuden großes Wesen machen, sind mir zuwider. Die Frauen im Kloster haben mir auch gesagt, ich sei nicht zum Heiraten bestimmt; am liebsten würd' ich selber eine Klosterfrau und fürchte die grobe Kutte der Kapuzinerinnen weniger, als das Joch des Ehestandes.

Da jedoch der Vater nicht unterließ, der Tochter begreiflich zu machen, wie irrig ihre Ansichten seien, und da er namentlich darauf bestand, dass er keines Dinges auf Erden so notwendig bedürfe, als gerade eines reichen Schwiegersohns, sagte die Gehorsame nach langem Kampfe, mit ahnungsvollen Tränen und manchem Seufzer: Wohlan denn; wenn ich auch — um Euch das schwerste Opfer zu bringen, das einem Kinde zugemutet werden kann — wenn ich auch sagte: Es geschehe Euer Wille!... wo fände sich der reiche Bräutigam zur armen Braut? — Der wäre schon gefunden, meinte der Vater, sich behaglich die Hände reibend: des Landweibels Rüttimann ältester Sohn begehrt dich zu freien, und da meine schwankende Lage noch ein tiefes Geheimnis, so ist nicht zu zweifeln, dass Rüttimanns Vorschüsse meine Verluste ausgleichen und mir zum erwünschtesten Wohlstande verhelfen werden. Verena wurde blass wie ein Tuch. Liebster Vater, stammelte sie mit der größten Bangigkeit, mein ganzes Leben opfern, und den Arglosen betrügen? — Betrüge ich denn, da ich sicher weiß, mich zu retten und ihm mit Zinsen Alles zu vergüten; sicherer als dass ich lebe? Dein Leben opfern, wenn ich dich zur reichen Frau mache? Du träumest, mein Kind, und betrübst mich, statt mit Freuden deine Pflicht zu tun und mir zu gehorsamen. — Meine Pflicht? fragte mit leicht empörtem Herzen Verena, und es wollte schon ein hartes Wort ihrem Munde entschlüpfen; doch presste sie es zurück, floh in ihre Kammer, betete und weinte die ganze Nacht hindurch und ging in der frühesten Morgenstunde zur Kirche und zur Beratung mit der Oberin des Klosters. Zurückgekehrt von ihrem frommen Gange, warf sie sich an des Vaters Brust und rief, wenn schon der Schmerz wie ein Messer ihr Herz durchschnitt: Ihr habt gesagt, Vater, dass Euch in Allem zu gehorchen meine Pflicht sei;... ich will sie erfüllen. Möge es zu Euerm Heil sein; auf mein Glück soll's nicht ankommen. —

In Folge dieser Erklärung, ohne sich zu kümmern um den Preis, den sie der fügsamen Verena kostete, ging der Vater rasch ans Werk und ließ dem Landweibel die nötigen Eröffnungen machen. Sie wurden mit Freuden aufgenommen, und der junge Freier stellte sich bald in Hagenbachs Hause ein, um durch einige Besuche die Verlobung vorzubereiten. Er war von außen nicht ungefällig gebildet, von innen ein ganz gewöhnlicher Mensch, der, auf sein zu hoffendes Erbe und das Ansehen seines Vaters pochend, sein Hauptaugenmerk auf seine eigene Person zu richten pflegte. Er verehrte in seinem Ich den Mittelpunkt aller Dinge; die Welt war nur da für ihn. Er mochte wohl zugeben, dass es Andern leidlich ging, wenn er nur sich selber vor Allen am besten bedacht sah. Dieses Wenige genügt zu Rüttimanns Schilderung. Er machte dem hübschen Vreneli den Hof, eben weil sie hübsch war und den Ruf einer reichen Erbin für sich hatte. Es focht ihn nicht an, dass sich auf Verenas Seite diejenige Zutraulichkeit nicht einfand, die eine Hauptbedingung guten Verständnisses ist. Das würde sich schon mit der Zeit geben, meinte er. Indessen behagte ihm, als ein beneideter Freiersmann mit seiner Holdschaft spazieren gehen zu dürfen, sich mit ihr in Gais und Weißbad an einem Sonntag sehen zu lassen. Er spielte den Freigebigen, traktierte und scherzte nach seiner Weise. Die frostige Art, womit Verena alle seine Artigkeiten aufnahm, machte nicht ihm, wohl aber seiner Mutter Sorgen. Da jedoch der Landweibel selber seines Sohnes Freierei billigte und sich mit Hagenbach auf den vertraulichsten Fuß gesetzt hatte, so wurden die Bedenklichkeiten der Frau Rüttimann nicht berücksichtigt, und an einem schönen Sonntag gab der Freiwerber seiner Schönen den goldenen Ring als ein Zeichen und Pfand baldiger Verbindung und tauschte dagegen den ihrigen ein, der ohne auffallendes Sträuben, aber zögernd gegeben wurde. — Die Hochzeit sollte binnen drei Wochen sein.

Ringe binden, und die Verkündigungen des Priesters von der Kanzel halten fest, pflegt man zu sagen. Eine sehr weitläufige Anverwandte des Landweibels, Frau Trümpy, eine wohlbegüterte rasche Witwe in den besten Jahren, die selber gern geheiratet worden wäre, glaubte nicht so zuversichtlich an die Unauflöslichkeit eines Ringewechsels. — Als die nächste Nachbarin des Brautvaters, und in beständigem Winkelverkehr mit der Magd des Hagenbachschen Hauses, war Frau Trümpy zu einer gewissen Vorahnung gelangt, die den Projekten Hagenbachs nicht günstig lautete. Sie teilte ihre Ahnungen und Mutmaßungen dem Bräutigam selber mit; er wollte anfänglich nicht glauben. Sie trug ihre Besorgnisse ins Haus ihrer Verwandten, der Frau des Landweibels, und fand dort ein geneigteres Ohr. Hagenbachs stehen nicht wohl, warnte der süße Mund der Witwe; das merkte ich schon lang aus diesem und jenem; zum Überfluss steckte mir die Magd dies und das. Sieh dich vor, du liebster Vetter; du verdienst ein besseres Weib als eine junge Schnauferin, die nichts hat. Seht Euch vor, allerliebste Frau Base, und tut Euerm Mann die Augen auf: der Hagenbach ist ein Filou und will Euch aufs Eis führen, da Euch zu wohl ist. — Und die Landweibelin segnete sich, und ihr Sohn kratzte sich hinter den Ohren und fing an zu glauben, was ihm die Trümpy mit verführerischen Blicken vorsagte. Dennoch war nicht viel vom Landweibel zu erwarten. Sein Eigensinn war ein Fels, und schwer zu ändern, was er beschlossen. Aber — ein unfreiwilliger Bundesgenosse der Witwe Trümpy tat schon Hagenbach selber das Nötige, den Fels zu untergraben und die eisernen Beschlüsse des alten Rüttimann zu zertrümmern. Allzu fest bauend auf die Unverletzlichkeit des Eheversprechens, wagte er eines Abends, da er in fröhlicher Weinlaune mit dem Landweibel unter vier Augen war, sein Anliegen wegen Geldes und dergleichen auftreten zu lassen. Wenn schon sein Begehren nicht förmlich ausgesprochen, wenn schon eine Summe nicht benannt, wenn gleich nur von einer fernen Möglichkeit und keineswegs von der Drängnis des Bedürfens geredet wurde, so hatte dennoch der Landweibel, als ein Mann von Erfahrung in Staatssachen und gemeinen Händeln, bald genug gehört. Er zog sich mit einigen glatten, in Dämmerung gehaltenen Bereitwilligkeitsversicherungen vor der Hand aus der Schlinge, aber, in den Schoss seiner Familie zurückgekehrt, war sein erstes entrüstetes Wort: Wisst ihr, dass uns der alt' Hagenbach über den Löffel barbieren will? Wisst ihr wohl, dass ich glaube, dass der alt' Lump nichts hat? — Und des Weibels Gattin und sein Sohn und die getreue Nachbarin Trümpy antworteten als ein dreifach verstärktes Echo dem Zürnenden, der sodann mit sich zu Rate ging, was er zu tun habe, als vierte höchste Autorität im Stande Appenzell Inner-Rhoden. Der Weibel erkannte nur den Landammann, den Landsfähndrich und den Landschreiber über ihm.

Hagenbach hatte schon längst seine voreiligen Mitteilungen bereut; Verena stand soeben, als eine blasse und betrübte Verlobte, neben ihrer Mutter und sagte der vor sich Hinstarrenden: Liebe Mutter, wisst Ihr schon? ich werde heiraten. — Scholastika erhob den Kopf, schaute ihrer Tochter zerstreut ins Auge. Ich verstehe nicht, Verena, sprach sie scharf. — Verena zeigte ihr den Ring und wiederholte: Ich soll, ich werde heiraten. — Thu es nicht! lautete die Antwort. Dabei wies die Irre auf ihren eigenen Trauring und setzte hinzu: Es ist nur Glanz, nicht Heil im Golde. — Ja wohl, ja wohl, seufzte die Tochter ergriffen, und wendete sich von der Kranken, die wieder in ihre Apathie zurücksank. Da blickte das Mädchen ins Angesicht eines Gastwirts aus dem Flecken, der mit Rüttimanns nah verwandt war und als ein steifer gleichmütiger Abgesandter anhob: Jungfer Hagenbach, der Landweibel hat viel von Euerm Vater gehört, das ihm nicht gefällt, und weil's noch Zeit ist, schickt er Euch den Ring zurück, den Ihr seinem Sohn gegeben, und ich soll des Bläsi seinen mitbringen, wenn Ihr so gut sein wollt, ihn abzutun. — Nach einigem Stutzen des überraschten Mädchens flog das unliebe Kleinod geschwinde in die Hand des unhöflichen Mahners. — Verenas erstes Gefühl war das der Freude; einem vom Tode Begnadigten kann nicht wohler ums Herz sein. Ihre erste Handlung war, auf die Kniee zu sinken und Gott inbrünstig zu danken. — Aber, bei näherer Überlegung ... so eng schmiegen sich die Ketten des Brauchs und Herkommens selbst um das nach Freiheit lechzende Herz... beim näheren Anschauen ihrer Lage weinte sie vor Schmerz! Denn nur eine unendliche Kränkung, eine Demütigung, im Lande schier ohne Beispiel, hatte sie von der gefürchteten Sklaverei errettet. Willkommener wären ihr die Fesseln gewesen, als die Entlassung, welche sie dem Spott des Volkes, den Unbilden aller geschwätzigen Zungen preisgab. — Was ihr Vater bei dem Anlass empfand und unverhohlen aussprach, war nicht geeignet, sie zu beruhigen. Er sah sich im Kinde entehrt, alle seine Hoffnungen, Verenas ganze Zukunft vernichtet. Er knirschte vor Zorn, er ängstigte sich bis zu Tränen; vergebens grübelte sein Geist nach einem herstellenden Auskunftsmittel. Hin und wieder schoss ihm die Hitze seines ehemaligen Soldatenstandes zu Kopfe; er sprach von Genugtuung, von exemplarischer Züchtigung des wortbrüchigen Landweibels. Aber sein böses Gewissen einerseits, andernteils ein Blick auf sein krankes Weib, auf seine hilflose Tochter und seine eigene zerrüttete Lage brachte ihn schnell zur Besinnung. Er begriff, dass er nicht wagen durfte, durch irgendeine grobe Tätlichkeit seine Ehre und der Seinigen Loos noch freventlicher aufs Spiel zu setzen. —

Die Nemesis, die somit an dem Landweibel schonend vorüberging, verrichtete dagegen an dem Sohne ihr rächendes Amt. Der junge Mann, der eines Tags sich nicht enthalten konnte, im Wirtshause prahlend und spöttisch zu erzählen, wie ihn Hagenbach habe betrügen wollen, und wie er zur Vergeltung die Tochter habe sitzen lassen, wurde von zweien seiner Altersgenossen, welche die Verteidigung der geschmähten Unschuld übernahmen, wacker zur Rechenschaft gezogen. Beleidigt und tätlich misshandelt, musste Rüttimann das Gasthaus verlassen. Frau Trümpy selber, die im Grunde dem stolzen Bläsi die fühlbare Zurechtweisung gönnte, weil er sein weiteres Augenmerk nicht auf die Witwe, sondern auf eine Bräuerstochter von Altstätten geworfen hatte, war die Erste, die den Vorfall mit giftiger Zunge der Nachbarin Verena hinterbrachte. An Hagenbachs Gartenzaun vorübergehend, sagte sie zu dem unfern davon beschäftigten Mädchen: Ihr könnt nichts als Unheil anrichten, Jungfer. Um Eurer Larve willen ist mein Vetter schier totgeschlagen worden. — Und als Verena bestürzt aufhorchte, fuhr die Schlange fort: Stellt Euch nicht unwissend und erschrocken, falsche Dirne, mit Euern verhexten Augen. — Warum scheltet Ihr mich, Frau Trümpy? — So? Warum? mich geht's etwa nicht an, wenn Ihr meine Knechte gegen meinen Vetter aufhetzt? Der Gallus und der Görg haben den Bläsi geschlagen, und ich jage sie stehenden Fußes auf und davon.