Deutscher Novellenschatz 9 - Melchior Meyr - E-Book

Deutscher Novellenschatz 9 E-Book

Melchior Meyr

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Beschreibung

Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 9 von 24. Enthalten sind die Novellen: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. Reich, Moses Josef: Mammon im Gebirge. Storm, Theodor: Eine Malerarbeit.

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Seitenzahl: 318

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Deutscher Novellenschatz

 

BAND 9

 

 

 

 

 

 

Deutscher Novellenschatz, Band 9

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661120

 

Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Mammon im Gebirge.1

Der Sieg des Schwachen.22

Eine Malerarbeit.125

 

 

Mammon im Gebirge.

 

Moritz Reich.

 

Vorwort

 

Moritz Reich, geboren den 20. April 1831 zu Rokitnitz an der böhmisch-preußischen Grenze, aus einer israelitischen Familie stammend, wurde nach Reichenau in das Gymnasium gesendet, ging 1847 auf die Universität nach Prag, wo er, arm und krank, in Ahnung eines frühen Todes den Entschluss fasste, sich ohne Zeitverlust ganz der Poesie zu widmen, und 1853 nach Wien, wo er, zu sehr Poet, um Journalist zu sein, gleichwohl mit seltener Ausdauer das traurigste Literatenleben führte. Es ist hier nicht der Ort, dieses ergreifende Bild auszumalen: wir verweisen auf die Schilderung Alfred Meißners, der sich seiner im Leben warm angenommen und nach seinem den 26. März 1857 durch eigene Hand erfolgten Tode seine Erzählungen herausgegeben hat. "Eine weiche, träumerische Natur", sagt dieser sein Biograph, "voll überquellender Empfindung, waffenlos gegen die Bosheit und die Missgunst der Menschen, ohne andere Erfahrung als die seines Herzens, verbrannte er rasch, wie in reinem Sauerstoff, und machte in ein paar Jahren ein Unglücksleben durch, wie kaum die Unglücklichsten in Dezennien. Wenn seine Gefühlswelt oft überhitzt, seine Phantastik grell und gewaltsam ist, wenn seine Menschen, in seinen späteren Erzählungen namentlich, dämonisch über ihr Maß hinauswachsen, dürfen wir nicht vergessen, welche Geier an ihm fraßen, und wie jung und erfahrungslos er war. Seine Seele war keusch und rein und lebte nur für die Kunst. Er hatte eine ideale Sehnsucht, die Höhen zu erstiegen, die nur erklommen werden können, und sein Herz brach, wie das eines jungen Adlers aus Schmerz darüber, dass seine Schwinge durchschossen war." Noch lauter, als dieser schöne Nachruf, sagt die folgende Erzählung - von seinen übrigen Erzählungen allerdings durch einen weiten Abstand ausgezeichnet - , was wir an dieser so früh gebrochenen Kraft verloren haben.

 

***

 

 

Die Welt ist außen schöne weiß, grüne und rot,

Und innen schwarzer Farbe, finster wie der Tod.

Walther von der Vogelweide.

 

Wer ist wohl jener Mann in der zerrissenen Jacke welche fast einer Karte von Deutschland ähnlich ist durch ihre mannigfaltigen Farbenmuster? Seine schmutzige hirschlederne Hose reicht nicht weit unter das Knie, das untere Bein ist nackt und sehr gebräunt, sein Halstuch sieht einem Strick nicht unähnlich, so lange her ist es, seit er es auf dem Reichenauer Wochenmarkt endlich unter Seufzern gekauft, nachdem er zehnmal von der Bude weggelaufen und sogar das unermüdliche Mundstück der Schnittwarenhändlerin verachtungsvoll stillgestanden, als er verzweiflungsvoll den ledernen Beutel zog und nach einer halben Stunde Herumwühlens das alte Lied sang, man solle ihm einen Groschen nachlassen; — ja, und der Hut, welcher seinen kleinen Kopf bedeckt, bietet dem Geometer, der seine Form bestimmen sollte, große Schwierigkeiten, denn von jeder Seite sieht er sich anders an — meine Leser werden mir eine weitere Detailschilderung erlassen, da ich durchaus nicht gewillt bin, ein schwarzes Buch zu schreiben, wohl aber eine düstergefärbte Novelle, in welcher dieser abgeschilderte Bauer, welcher eben in jenes einsame Gehöfte schleicht, das eher einer Räuberhöhle als einem Bauernhofe gleicht, eine Rolle spielen wird. Schenken wir also dem Leser reinen Wein ein: dieser nicht so verschwenderisch, noch weniger modern oder geschmackvoll gekleidete Mann heißt Sommer Hans und ist wirklicher Besitzer vorbesagten Bauernhofes, der zwar noch schmutziger aussah, als sein Herr, aber so und so viel Morgen Landes (man denke sich doch ja recht viele!) zu seinem Departement zählt. Dies Gut war ehemals eine Schulzerei, als der erste Gatte von Sommers Frau, noch jetzt gewohntermaßen "Frau Schulzin" genannt, noch lebte. Der ehemalige Schulze war ein halber Jurist und ein ganzer Narr; er war im Stande, heute wegen fünf Groschen einen Prozess zu führen und morgen die schönste Kuh aus dem Stalle einem pfiffigen Schmeichler zu schenken — heute seine Frau zu prügeln, morgen ihr ein halbes Dutzend seidener Kleider anzuschaffen, welche er freilich übermorgen wieder in den Ofen zu schmeißen im Stande war, wenn seine Frau zur ungehörigen Stunde nieste — sie ertränkte den Kummer über seine Launen im Wein, Bier und Branntwein, welche Spirituosen allezeit sich im Hause befanden, da es zugleich eine Schenke war. Endlich endete des Schulzen Leben — närrisch! er sollte nämlich mehre Monate im Kriminal sitzen, weil er einen missliebigen Menschen in seinem Hause halb tot prügeln ließ — das hatte er nicht erwartet! er kam vom Amte krank nach Hause gefahren, behauptete die Cholera zu haben, schrie und wand sich vor Schmerzen wie ein Wurm, und in zwei Tagen war er tot. Man sagte allgemein, er habe sich vergiftet! — Und die Witwe? Heiratete! Wen? Den Sommer Hans! Wer war der? Ein liederlicher Schlingel, welcher, nachdem er seines Vaters Vermögen durchgebracht, im Städtchen N. einen Laden eröffnete, um ein Dutzend Kaufleute um ihre Ware zu prellen, sich aber von Ladenjungen bestehlen ließ, während er Wilddieberei trieb, aus Preußen Dinge herüber paschte, welche hier wohlfeiler zu kriegen waren, im Busch und an der Grenze erwischt ward, wacker Strafe blechen musste, den Laden von Gläubigern geschlossen bekam, welche Wind von seinem Lebenswandel hatten, hierauf nach Strick, Flinte, Messer blinzelte, sich den Garaus zu machen und endlich — an der Schulzin oder vielmehr ihrem Gute hangen blieb — erstere versprach nämlich bald zu sterben; leider erfüllen sich derartige Versprechen noch seltener als die Ehegelöbnisse am Altare, und die wackere Schulzin zapfte noch Jahre lang im Weinkeller Seidel in die Gläser und Maße in die Gurgel. Sommer war auf einmal reich geworden; die ganze Umgegend prophezeite der Schulzerei nun bald ein seliges Ende — aber sie hatte sich gründlich getäuscht! Sommers Verschwendung war nicht nur seiner Jugend, sondern auch der Verzweiflung des Nichtbesitzenden zuzuschreiben — weil er keinen Gulden hatte, wollte er auch keinen Kreuzer haben; er war eine trotzige Natur, er hatte sich ruiniert der Welt zum Trotz, und aus Trotz ward er jetzt mehr als sparsam, er ward geizig; was seine Frau verschwendete, wollte er ersparen, und wie unter dem ewigen Wunsche, sie möchte nun einmal sterben, seine Seele sich abmarterte, die schönsten Jahre freudlos dahinschwanden, scharrte er das Geld zusammen, gleichsam als Garantie einer schöneren Zukunft — wie sollte ihm das Geld nicht teuer sein, da er seinetwegen sich an ein solches Weib gekoppelt? — Endlich warf sie die Gicht ins Bett, sie kam wieder auf, vermochte aber die Luft nicht zu ertragen und schlich in der Stube umher wie ein Gespenst; zum zweiten Mal packte es sie stärker, sie konnte das Bett nicht mehr verlassen, unter welchem dessen ungeachtet die Flasche funkelte. So lag sie wieder mehre Jahre — armer Hans! wer sieht es dir an, dass du ein guter Vierziger bist? dein gelbes Gesicht, deine Runzeln, dein gebückter Gang, dein aschfarbiges Haar lassen einen Sechziger vermuten! Zu Weihnachten wird es zehn Jahre, dass die Hochzeiter in dreißig Schlitten mit Schellengeläute und Peitschenknall zur Schulzerei fuhren, da hast du noch gejauchzt, um die Stimme tief in deiner Brust zu übertäuben und die Leute glauben zu machen, du seist lustig! da bist du mit "deiner Lene," wie du die alte Säuferin nanntest, Allen vorangefahren, und beim Hochzeitstanze bist du höher gesprungen, als alle die andern Bursche, du hast mehr getrunken, als deiner Gäste jeder — und nun? was trägst du in dem Sacke da? die Kucher welche fremdes Vieh auf der Gasse hinter sich gelassen! Huste, huste! drinnen ächzt deine Lene!

An einem schwülen Sommertag, da die Sterne auf der Klause Grund sichtbar wurden und die Blumen auf dem Felde matt ihre Köpfchen sinken ließen, da die Heumähder den Schatten der Bäume suchten, während der würzige Duft des Klees ihre trüben Sinne einschläferte, die Luft vor Wollust zitterte, der Schäferhund mit lang heraushängender Zunge sich zum stockenden Bache schleppte, um mit heißer Gier das Wasser zu schlucken — da trat Sommer Hans aus dem Hofe, um nach seinen Leuten zu sehen, sie zur Arbeit anzutreiben; an der Schwelle des Hoftores wäre sein nackter Fuß beinahe über ein Mädchen gestrauchelt, das, in Lumpen gehüllt, das runde Gesichtchen dunkelgebräunt von Luft und Sonne, das Köpfchen auf den Arm gelehnt, im kargen Schatten des Tores schlummerte; Sommer Hans blickte zuerst unwillig drein, dann immer milder und milder, als sich sein Auge in das Antlitz der Schlummernden vertiefte, bis ein Anflug von Seele in seinem Angesichte aufging, wie der Mond über Ruinen gleitet — mit verschränkten Armen stand er selbstvergessen da und konnte sich nicht satt sehen an dem Bilde der Unschuld im Gewande tiefster Dürftigkeit — er bückte sich zu ihr und sah, dass ihre Schürze etwas verhüllte, ihr Atem wehte in sein Gesicht, er neigte sich tiefer und küsste sie auf den Mund, wobei er zu knieen kam; hierauf sah er in die Schürze — es waren einige Stücke weißen und schwarzen Korn- und Haferbrots darin — also ein Bettelkind! Als er die Schürze wieder zusammenwickelte, schlug das Mädchen zwei dunkle Augen auf, welche ihn anstarrten, als besännen sie sich, was sie sähen, wo sie wären. — Sommer richtete sich schnell auf, seine hagere Gestalt reichte fast so weit als das Tor; das Kind sprang furchtsam auf und wollte davonrennen, aber Sommer hielt es am Röckchen fest, das kaum seine runden Wädchen bedeckte. Was wollt Ihr? — schrie sie ihn an, lasst mich gehen, ich hab' noch keine Schüssel voll Brot! — Kannst schon kriegen! ich habe auch Brot! sag mir, wie heißt du? — Trude! — Wie noch? — Ich weiß nicht! — Wie heißt dein Vater? — Ich habe keinen! sagte das Mädchen und starrte den Bauer mit großen Augen an. — Und wie heißt deine Mutter? — Die Bettelthrese! — Wer heißt sie so? — Die Leute! — Hast du deine Mutter gern? — Nicht ein Grümpchen! — Warum nicht? — Sie schlägt mich so sehr! — Warum schlägt sie dich? — Weil ich die Schüssel nicht voll aufbring'! — Hast du Geschwister? — O ja! sechse! sie laufen alle betteln 'rum wie ich; der Kerle geht ins Wirtshaus! — Wer ist der Kerle? — I nu der Kerle! — Wer ist der Kerle? — Der bei der Mutter schläft. — Sommer Hans lachte, Trude wollte wieder ausreißen. — He Trude! bleib, hast ja noch nichts kriegt! Sag mir, möchtest bei mir bleiben? — er ergriff sie beim Händchen, das er zärtlich drückte. — O ja! rief Trude, wenn Ihr mich nicht schlagt! — Wird dir die Mutter nicht nachkommen? — Q nein! die wird gar froh sein! — Wie alt bist du! — Zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre! lachte Trude. — Du weiß es nicht? — Bei meiner Seele, nein! — Hast Hunger? — Nein, aber Durst, viel Durst! — So komm herein! Er nahm ein Deckelglas, welches noch mit roter Farbe nummeriert war, zum Zeichen, dass es sich noch des Schulzen und des alten, lustigen Lebens erinnere, ging zum Troge, welcher im Hofe stand, füllte es mit kristallhellem Wasser und gab ihr zu trinken, während er das Glas am Henkel hielt; sie schlürfte mit langen, durstigen Zügen, und er sah jedem Zuge mit Wohlbehagen bis in die Kehle nach. Zahl's Gott! sagte sie gewohntermaßen, ohne viel Innigkeit im Ausdruck. — Gib mir das Brot, das du da in der Schürze hast! meinte der Bauer. — Ich darf nicht! muss es der Mutter bringen! — Hast denn vergessen, Trudchen, dass du bei mir bleibst? du kriegst Butter aufs Brot, früh Milch, mittags Fleisch — er erschrak bei dem Worte, da er sich erinnerte, selbst kaum an Sonntagen einmal Fleisch zu essen; als sie noch immer unschlüssig und zweifelnd sann, fuhr er fort: Und schöne Kleider auf den Leib, Strümpfchen und Schühlein. — Trude blickte auf Sommers nackte Füße und sagte naiv: Ihr habt ja selber keine Schuhe! — Blitzmädel! brummte Sommer vor sich hin, der sich auf einer Inkonsequenz ertappt fühlte. Hast Recht, sagte er laut, ich bin stark und geh' lieber so, du sollst aber Schuh' und Strümpfe haben! — Wie die Fritze Juliane? fragte Trude kindlich. — Ja, wie die Fritze Juliane! ging der Bauer auf ihre Frage ein. — Und werd' ich auch wie sie in einem Bettchen schlafen? — Ja, und dazu bei mir! — Das mag ich nicht! rief sie frischweg. — Warum nicht? — Weil — weil — weil Ihr so garstig seid, ich möchte mich fürchten! — Sommer lachte laut auf, das war ihm schon lange nicht geschehen. — Sollst ein eigenes Bettchen haben! beschwichtigte er die Ahnungsvolle. — Und eine Locke wie die Fritze Juliane? — Ja eine Locke sollst auch haben mit wunderschönen, rohen Kleidern und gesticktem Kragen! — So bleib' ich bei dir! klatschte Trude in die Hände und hüpfte ausgelassen im Hofe umher, dass die Hühner von ihrer Stange aufflogen und der Kettenhund in seiner Hütte knurrte. — Ja, du bleibst mir! —

Und so geschah's auch. Und was noch merkwürdiger ist: Sommer hielt alle seine Versprechungen! Sie sah recht zierlich aus in ihren neuen Kleidern und wusste gar nicht, wie sie gehen sollt', die Betteltrude. — Sommer gab sie dem neugierigen, verwunderten Gesinde für eine Patin aus, "seiner Lene" aber durfte sie nicht nahe kommen, ohne etwas an den Kopf zu kriegen. Trude wollte bisweilen zugreifen, wenn's Arbeit gab, aber Sommer Hans gab's nicht zu, sie sollte müßig gehen "wie die Fritze Juliane", alle Liebe, welche in seinem Herzen begraben lag, häufte er auf das Haupt des fremden Mädchens, welche seine Wohltaten pflichtschuldigst hinnahm, denn wer oft "Zahl's Gott!" gesagt hat, verlernt die Dankbarkeit, welche sich nicht ausspricht, aber umso wahrer und tiefer empfindet. —

Sie ward bald schmuck und reif, die Knospe der Jungfräulichkeit schwoll, mit eigenem Wohlgefallen ruhte Sommers Auge auf ihr und funkelte sonderbar. Wenn es ihr in der Schulzerei zu unheimlich wurde, besonders gegen Abend, wenn die Sonne hinter den westlichen Bergen verschwand und der Mond im Osten emporstieg, schlüpfte das schlanke Mädchen zum Tore hinaus wie ein Pfeil oder Mondesstrahl, hinüber in das arme Häuschen des Schusters Ignaz, der auf seinem Dreifuß saß und den Draht wichste. Sie setzte sich auf den andern Dreifuß und half ihm wohl auch; dabei erzählte ihr der Schuster Ignaz von seinem Sohne Martin, welcher in der "Kavallerie zu Pferde" diene, und jetzt wohl in Italien oder Ungarn stehen mochte. — Da, sagte der Alte, wo du jetzt sitzest, ich bleibe beim Du, wenn du auch aufschießst wie ein Flachsstängel nach einem guten Regen, da, wo du sitzest, saß er immer und arbeitete und sang. Der Alte seufzte. — Schreibt er Euch wohl auch? — O ja! rief der Schuster, ich hab' nur seinen letzten Brief verlegt, sonst möcht' ich dir ihn wohl zeigen! Er wandte sich um und murmelte: wenn's wahr wär', der Lump! — Kommt er denn nicht bald heim? — Kommt Zeit, kommt Rat! Siehst, Mädel, ich war auch Soldat! — Wie lange? — Nu, vierzehn — Tage! — So lange! und habt's Handwerk nicht verlernt? — Wart' nur, du Kruzmalefiz! ich werd' dich lehren, mich zum Besten haben! Wenn ich ein Narr gewesen wäre, hätte ich graue Haare unter der Pickelhaube kriegt! Na, horch, ich werde dir's erzählen, wie ich mich davongemacht habe, aber was ich sagen werde, daran kannst du glauben, wie ans Evangelium! Ich bin ein geborener Preuße! sperr's Maul nicht so auf, es fliegt dir doch kein Bräutigam hinein! Drüben muss jeder dienen, außer den Buckligen und Lahmen — du siehst, ich war ein geschlacker Bursch, ich musste einrücken, da half kein Donnerwetter! — In den vierzehn Tagen habt Ihr's Schimpfen und Wettern recht gut erlernt! spottete Trude. — Horch, Malefizin! ich kam gleich ins Gefecht! sei ruhig, ich habe keine Seele auf mir! meine Hände sind rein. — Seht nur besser drauf! lachte Trude, 's hat Pech dran! — Von Blut rein, von Menschenblut, mein' ich! wir standen in Peiker, der Feind hatte sich plänkelnd zurückgezogen, 's waren nur streifende Franzosen-Marodeurs. — Was sind das für Leute? — Räuber und Plünderer; schöne Mädel sind ihnen noch lieber als gebratene Gänse! Ich stand unter den Vorposten, drüben sah ich die schwarzgelbe Brücke, die Kameraden schnarchten unter den Zelten, 's war taubstummstockblindschwarze Nacht, ein Vorposten konnt' den andern nicht sehen, nur hören, wenn er den Kolben anstieß, da nahm ich die Füße über die Schulter und sagte: Ade, Vaterland, ade guter König! wie eine Kugel so schnell war ich drüben. Denk dir den Schrecken, Mädel, ich plumpse gerade in einen Mann hinein, der mich mit beiden Armen packt, ich packte ihn auch, beide schrien wir: Lass mich los! Wer bist? Was willst? Beide verlegten wir uns aufs Bitten — kurz! wir waren beide zugleich ausgerissen, 's konnt' Einer den Andern Deserteur heißen und brauchte keinen Rippenstoß zu fürchten. Ja und seitdem bin ich hier im Oberdorfe ansässig und nähre mich redlich — mein Sohn hält länger aus. — Und was ist mit dem Andern? — Drüben deines Pflegevaters Vater, der Gerber im Niederdorfe ist's — oder war's — er ist ja schon tot, der gute Sommer! — Jessas! seid Ihr denn schon so alt? — Ich bin gerade so alt wie mein linkes Bein! — Aber mein Pflegevater muss ja schon selber sechzig auf dem Buckel haben? — Da irrst du, das gehört in ein anderes Kapitel! den hat die Schulzin und der Geiz alt gemacht! — Trude sann eine Weile, dann sagte sie: Warum mag er denn für mich alleine so viel Geld ausgeben? — Du hast ihn verhext! das ist nicht anders! o, deine schwarzen Augen haben's ihm angetan! — Jessas, Maria, Josef! 's ist schon zehne! das Tor wird bald zu sein! gute Nacht, Herr Soldat! ich werde von Eurem Sohne träumen! — Das lass bleiben! der bringt sich eine Frau Korporalin oder Feldweblin mit. — Ihr wisst nicht, was er eigentlich ist? hat er's Euch nicht geschrieben? — Ich hör 's Tor knarren, lauf Mädel, sonst zerreißt dich der Hund! — Sie lief davon. Schuster Ignaz dachte über die Lüge und den Teufel nach und geriet ins Nicken.

Als Trude nach Hause kam, fand sie das Tor noch weit offen, es musste etwas Außerordentliches vorgehen, es brannte eine Kerze auf dem Tische anstatt der Schleiße auf der Ofenbank. Als sie ins Vorhaus kam, stieß sie auf eine Laterne, bei deren Lichte sie den Pater aus dem Städtchen erkannte, der zu ihr sagte: Zu spät? zu spät! sie ist hin! — Wer? ist die Schulzin tot? — Ja, auch ich kam zu spät, sie ist unversöhnt gestorben. Gott geb' ihr die ewige Ruhe! — Und der Pater ging aus dem Hofe. — Ein Schauer kam über Trude, sie wollte dreimal in die Stube treten und immer trat sie wieder zurück, endlich lief sie in den Hof hinaus, aus dem Tore, wie gejagt, und schreckte Schuster Ignaz aus seinem Schlummer auf; er hatte eben geträumt, sein Martin sei als General, die Brust voll Orden und Sterne, nach Hause gekommen. Teufel! du siehst ja aus wie die Wand! Hat dich Packan gehetzt? — Nein, Meister, die — Schulzin — ist — gestorben! — Crep — Trude verhielt ihm den Mund, er konnte nicht ausreden; sie bat ihn, über die Nacht da bleiben zu dürfen, nach allerlei Späßen sagte er Ja. Früh wurden die Beiden aus dem Schlafe getrommelt, Schuster Ignaz eilte im Negligé ans kleine überlaufene Fensterchen und schob es zurück, denn es hatte keine Flügel zum Öffnen. — Sommer Hans steckte sein gelbes Gesicht herein und fragte: ob nicht Trude da wäre, sie sei nicht heimgekommen. Der Meister wies aus das Bett hin, wo sie nur halb entkleidet, noch tief im Schlafe lag. Ich gratuliere — das heißt, ich bedaure sehr — die Schulzin ist tot! scherzte der Schuster. — Sommer Hans seufzte und lächelte dabei. Sagt ihr, sie solle ja zum Frühbrot heimkommen! rief er dringlich, warf einen verschlingenden Blick auf das schöne Mädchen, dessen Busen sich hob, und ging — zum Schuster herein.

Als er eintrat, erwachte Trude und sprang erschrocken empor. Schöne Führung! sagte er zärtlich schmollend, bei Nacht in fremde Häuser schlafen gehen — zu einem alten Soldaten. — Hört! rief der Schuster, indem er mit dem Fuße in den Stiefel fuhr, mit Euch nehm' ich's noch auf! — Sommer Hans erblich und schwieg betroffen, während er ein Lächeln erzwang.

Als er mit Trude heimtrabte (es war ein prächtiger Frühlingsmorgen, die Vögel sangen, Tauperlen bedeckten die Wiese, die Sonne stand rein am blauen Himmel), sprang sie ihm sorglos voraus, er hatte Mühe nachzukommen und war fast atemlos, er ging mit sich zu Rat, ob er ihr schon jetzt seine Absicht entdecken solle, aber so oft er anfangen wollte, blieb ihm das Wort in der Kehle sitzen, er verschob's bis nach dem Begräbnis. Und als es nach dem Begräbnisse war, er allein von der Kirche nach Hause ging (denn ein Leichenmahl hatte er nicht veranstaltet, Niemand begleitete ihn, auch Trude war ihm entsprungen), da klopfte sein Herz gewaltig. In der Türe kam ihm Trude zu Gesichte, sie stand mit dem Rücken gegen ihn, ein weißes Kleid umfloss ihre schlanken Glieder, und in zwei mit Rosabändern durchflochtenen Zöpfen hing ihr üppiges Haar fast bis auf den Boden herab. Sommer schlich leise heran, erhörte, wie sie ein Lied vor sich hin summte: "Die Tür ist geschlossen, die Fenster sind zu — wer stört mich in meiner nächtigen Ruh'? Es klopft in der Kammer, es raschelt im Stroh — es sinkt mir's Herze, und ich war doch so froh!" — Da hielt ihr Jemand von hinten die Augen zu, sie schrie: Das ist der Martin! und riss sich los — als sie Sommern erblickte, sagte sie ärgerlich: Ihr solltet jetzt nicht an solche Späße denken! und zerriss die Rose vorn an ihrem Busen und streute sie in den Wind. — Närrlein! sagte Sommer demütig, der Martin ist wer weiß wo in der Welt, oder gar gefallen — und du kennst ihn ja gar nicht — lass dir vom Schuster drüben kein X für ein U vormachen! — 's geht Euch nichts an, ich kann denken an wen ich will! rief Trude gereizt und wollte fort. — Sommer hielt sie am Kleide zurück und bat sie recht demütig, auf ihn zu hören. Nun gut, ich höre schon! sagte sie barsch und stellte sich stramm auf die Beine. So nicht! bat Sommer, komm herein und lass uns recht vom Herzen reden! —

Widerstrebend folgte ihm Trude in die Stube, er schlosss die Fenster, hieß das Mädchen feierlich niedersitzen, setzte sich auch, ihr gegenüber, und begann: Ich bin zu Ostern zweiundvierzig Jahr' alt geworden. — Das glaub' ich nicht! unterbrach ihn Trude, Ihr seid zum wenigsten sechzig! — Sommer zog eine bereitgehaltene Schrift aus der Schublade. — Da sieh! hiermit hielt er ihr seinen Taufschein unter die Nase. — Ich glaube dem Gesicht mehr als dem Gekritzel! rief Trude, seine Absicht erratend. Sommer legte die Schrift ruhig zusammen und in die Lade zurück, setzte sich wieder und begann zum zweiten Mal: Ich bin reich, Trude, sehr reich! Haus und Hof und Feld und Vieh und Wald ist das Geringste — ich habe einen reichen Schatz an barem Gelde da drinnen in meiner Kammer — der ist mehr wert als Alles — die Schulzin ist tot — sie hat mir mein Leben verwüstet, ich habe eine traurige, sehr traurige Zeit mit ihr verbracht — Gott der Herr selbst hat dich an meine Schwelle geschickt, dass wir einander helfen sollen — ich habe seinen Ruf in meinem Herzen gehört; er rief: nimm dieses Kind, es wird dir zur Freude erwachsen! — Du bist nun groß und schön worden, und die Schulzin ist tot — verstehst du, was ich meine?

Trude schlug ihr Auge auf und sah ihn an, er weinte — sie ward gerührt — ein flüchtiges Gefühl für den Mann, dem sie alles zu danken hatte, trat in ihr Auge, er ergriff ihre Hand und sagte unter Tränen: Trude, ich bitte dich, um aller Welt willen, sag mir ein gutes Wörtchen. — Nun ja, ich — hab' Euch ja lieb! sagte Trude. — Hast du? rief Sommer entzückt und sprang in die Höhe vor Freude, hast du? O du mein Engel, du Goldene, hast du? Er kicherte unheimlich, Trude erschrak vor ihrer Äußerung und setzte abkühlend hinzu: Wenn Ihr nur nicht so geizig wäret! — Geizig? war ich's gegen dich? sagte Sommer ernst — 's ist wahr, das Geld war seit meiner Hochzeit mit der Schulzin meine einzige Freude, mein einziger Trost, aber für dich möchte ich statt Samen Dukaten säen; versprich mir deine Hand, und ich tu' was du willst, mag's noch so viel kosten. — Trude fuhr ein Gedanke durch den Sinn, wie sie die Entscheidung verschieben und Frist gewinnen könne, am Ende schmeichelte ihr der Gedanke, Besitzerin so großer Reichtümer zu werden, aber ihre Gedanken hatten sich an den fernen Martin festgestellt; wenn er nun käme — einen Säbel an der Seite, in prächtiger Uniform, stolz und schön — und du Sommers Weib — nein! Zeit gewonnen, Alles gewonnen! Kommt er bis dahin nicht, nun, dann bin ich Frau Sommerin! — Gut! sagte sie zu Sommer, der an ihrem Munde mit dem Blicke eines Hundes hing, welcher einen Brocken erwartet; ich will Euch auf die Probe setzen! Die Fritze Juliane ist Müllerin in Schönwalde geworden — baut mir auch eine Mühle drunten am Bach. — Und wenn sie fertig ist? — Dann — Nun dann? — Dann wird sich's schon machen! — Wird sich's? wird sich's machen? o du — er wollte sie umarmen, aber sie stieß ihn weg — o du Grausame! Himmlische! Gute, Böse! du sollst eine Mühle haben, bei meiner Seele! ich gehe gleich Leute bestellen! —

Und so geschah's auch. Bald wimmelte es in der Nähe des Hofes unten am Bach von Bauleuten und Taglöhnern, Sommer Hans immer mitten unter ihnen, antreibend, befehlend, anordnend; sein Anzug war weit prächtiger als im Anfange unserer Erzählung, wenn auch noch sehr grob; sein Gang war munterer, sein Gesicht belebter, wenn er auch keine Nacht recht schlief, bald an die Kammertür schlich, um auf Trudes Atemzüge oder auf die Worte zu lauschen, welche sie im Schlafe ausstieß (während sie ihrerseits den Riegel vorgeschoben hatte), bald das Fenster öffnete und in die warme Sommernacht auf seine Mühle hinaussah, welche noch unvollendet im Mondscheine dalag. Je höher die Mühle wuchs, desto zudringlicher wurde Sommer, desto finsterer und launischer Trude. Sie blieb abends oft aus, und wenn Sommer ans Fensterlein des Schusters Ignaz pochte, legte sich Trude aufs rechte Ohr, der Meister aufs linke, und seufzend bald, bald fluchend musste der Pflegevater allein nach Hause gehen, wo er seine Tür öffnete, den schweren Sack heraushob und seine Abbilder, die gleißenden Dukaten, im Mondlicht überzählte, bis fern im Osten der Tag und der Morgenstern einander lächelnd begrüßten.

So geschah's auch in einer Herbstnacht, dass Trude im Häuschen des Schusters geblieben war, wieder klopfte es an die Scheiben — vergebens — beide schnarchten um die Wette, aber der Klopfer dünkte sich stärker als der Schlaf drinnen und ließ nicht nach mit dem Pochen, dass die Scheiben klirrten, und als doch kein Mäuschen im Häuschen sich rührte, da drosch's an die Tür. Jetzt ward es dem Schuster Ignaz zu bunt, er kroch hervor aus seinem harten Lager, schob das Fenster bei Seite und rief hinaus: Siehst du, ich hör's, ich mach' dir doch nicht auf! schob das Fenster wieder zurück, sprang wie ein Jüngling in die Hühnerfedern seines Bettes und schnarchte weiter; der Pocher aber sprang jetzt wieder zum Fenster und rief ein paar Worte, welche der Herbstwind übertönte; er rief sie noch einmal und aus allen Kräften — jetzt pochte dem alten Schuster im Bette das Herz, er erkannte die Stimme, es war nicht Sommer Hans — es war — doch der Meister brummt: Warum klopft er auch so? ich hab's gesagt, ich mach' nicht auf und dabei bleibt's! Nicht so Trude; sie sprang aus dem Bette, warf mit zitternden Händen das Kleid über, schlüpfte aus der Tür und öffnete leise den Riegel draußen — der Pocher hatte sie nicht gehört, sie glitt aus den Fußspitzen über den Rasen zur Hecke hin, hinter welcher verborgen sie mit heller Stimme rief: 's ist ja schon offen! Der Soldat, denn er war's, drehte sich nach der Geisterstimme um und sah keine lebende Seele, mit einem Fluch ging er nun zur offenen Haustür, drehte sich aber noch einmal um — eben trat der Mond hinter einer pechschwarzen Wolke hervor, und er sah fern über die Wiese ein weißes Kleid flattern, wie das mondscheingewebte einer leicht hin schwebenden Fee. Er starrte hin, bis der Mond wieder hinter die Wolke zurücktrat, dann schritt er in Gedanken über den seltsamen Empfang über die ausgetretene Schwelle und umarmte den alten Vater, welcher eben sein Lämpchen angezündet hatte; hierauf legte er den Chako ab, warf die ledernen Handschuhe, die er sonst nur an Sonntagen trug, vornehm hinein, zog den ledernen Gurt, an welchem ein abgeschraubtes Bajonett hing, aus und hängte ihn an einen Pflock in der Wand, gerade dem Fenster gegenüber, das Gewehr aber legte er vorsichtig aufs Bett.

Während sich Martin so häuslich einrichtete, schürte sein Vater mit der Ofengabel von draußen in dem ungeheuren Kachelofen, welcher die Hälfte des Stübchens einnahm, die noch glimmenden Kohlen zu neuem Leben an und setzte eine Pfanne mit gebackenen Forellen ins Rohr, wobei er unbemerkt auf seinen stattlichen Sohn, welcher majestätisch, voll Selbstgefühl mit drei großen Schritten das Zimmer maß und sich lächelnd am Türpfosten das eingeschnittene Zeichen seines vormaligen Wuchses ansah, neugierige Blicke voll Ehrfurcht warf; hatten ja die Militärjahre einen prächtigen, blonden Schnurrbart auf die Lippe und ein Gefreitenschnürchen auf den Chako seines Sohnes gepflanzt, gegen den er sich vornahm, anfangs wegen der langen Vernachlässigung "verflucht einsilbig" zu sein. Martin fragte endlich — und sah dabei gegen die Decke, welche seit seiner Einberufung viel schwärzer und seinem Haupte näher gerückt war, — den emsigen Vater, was er schüre? — Forellen! brummte Schuster Ignaz kurzgebunden. Was der Tausend! wie kommt Ihr, Vater, zu Forellen? — Der Alte machte sich nichts hören und holte das Brot aus dem Wandschrank; Martin schüttelte den Kopf, und dabei funkelte an seinem linken Ohre ein goldener Ring. Warum ließt Ihr mich denn so lange klopfen, Vater, und wer hat mir denn eigentlich aufgemacht? — Schuster Ignaz stellte sich zornig. Fragen! Fragen! lauter Fragen! Er meint wohl, weil er Gefreiter ist, er kann da seinen alten, ehrlichen Vater viel quästionieren? Setz dich dorthin auf deinen Schemel — nun, wird's? und jetzt lass mich einmal fragen, du Vagabund, du schlechter Kerl, du ehrevergessener Sohn! Meinst du, weil ich um zehn Pfunde weniger wiege und meine Haare mit Asche besudelt sind, seit du in die weite Welt gezogen bist, ich hätte dich nicht erzeugt? wie? bin ich keines Briefes wert? Schweig! Red' mir nicht! schweig, sag' ich! Ein Blick von einem jungen Mädel, und vergessen ist Vater und Mutter und Alles!

Martin wollte reden, aber sein Vater stieß die Pfanne mit wohlriechenden, gebackenen Forellen vor ihn hin und rief: Stopf dir damit 's Maul — du — du — du — er konnte nicht ausreden, die Tränen liefen ihm über die dürren Backen, und er umhalste seinen verblüfften Sohn recht inniglich, streichelte ihn mit der einen Hand und wischte sich mit der andern die Tränen ab, hieß seinen Martin immer essen, immer zugreifen und ließ ihn selber nicht dazu kommen, bis Martin sagte: Ihr seid ja recht närrisch vor Freude, Vater! — Der Alte ließ ab, und Martin verzehrte die Fische mit großem Appetit.

Als die Forellen fast mit den Gräten verzehrt waren, wischte sich Martin den Mund und fragte: Na, woher habt Ihr doch die Fische? — Von der Wassernixe! — Jetzt erinnerte sich Martin der Erscheinung draußen und fragte, auf sein Bett losgehend, auf das er schon lange sehnsüchtige Blicke geworfen hatte, denn er war sehr müde, wer denn das gewesen wäre? Hierauf öffnete er das Bett und rief: Ei, ei, Vater! hier hat ja schon Jemand gelegen? Ihr habt wohl nicht wieder geheuert? — Schuster Ignaz sah ihn pfiffig an und fingerte ihm eins an die Nase! Martin schlüpfte in die Federn — Teufel! 's ist ja noch warm! Ich will durch dreihundert Mann Spießruten laufen, wenn nicht vor einer Viertelstunde ein Mädel hier gelegen hat! — Der Alte lachte: Na, du hast Prax! ja, ein Mädel war's! und was für eins! Na, nimm deinen Kopf zusammen, Martin, dass sie dich nicht verrückt macht, sie ist eine Hex'! — Er löschte die Lampe aus und schwatzte noch im Bette buntes Zeug durcheinander, leider redete er für die Fliegen, welche sich an der Pfanne einen guten Tag machten, denn der Martin war hinüber. —

Anders erging es diese Nacht Trude; als sie sich auf öder Wiese so mutterseelenallein sah, der Himmel umwölkt, kein Haus nah und ferne, nur Wald, Bach und Wiese, welche der Wind bald heftig tosend, bald leise wehend durchzog, da ward ihr gar sehr bange, sie fühlte sich so recht verstoßen, so recht ein verlorenes Kind; da war sie zufällig in die halbfertigen Gemäuer der Mühle, ihrer Mühle geraten, aus welchen bei ihrer Annäherung das Nachtgevögel kreischend ausflog; sie setzte sich auf einen Steinhaufen nieder, der Wind seufzte durch die Lücken und Öffnungen des Gemäuers, das Mädchen empfand ungeahnte Schauer, unheilverkündend tönte ihr Alles, die Stimme des Wassers, der Luft, des Gevögels und die ihrer eigenen Brust — sie floh, als jagten sie die Schrecken der Hölle; die eben erst schweren Füße schienen nun beflügelt, atemlos lief sie, ohne zu wissen, wohin, nicht wagend, hinter sich zu blicken, sie wollte schreien und konnte nicht, die Kehle war ihr zugeschnürt.

Sie mochte so eine Meile in einer Stunde zurückgelegt haben, rein dem Zufall oder einem gewissen magischen Zug der Seele hingegeben, als ihr auf einem Hügel ein Licht entgegenschimmerte; jetzt erst hielt sie an im Laufe und trocknete das vom Schweiße triefende Gesicht mit der von Dornsträuchen zerfetzten Schürze. Mühsam kroch sie fast den Hügel hinan, öffnete die Türe der Hütte, indem sie an der Schnur zog, und stürzte halb besinnungslos in eine kleine Brechstube, welche kein Vorhaus hatte. Als sie ihr irres Auge aufschlug — erkannte sie ihre Mutter, welche bleich vor Hunger und Not ihr jüngstes Kind wiegte und zerfetzte Hemdchen beim trüben Scheine der Lampe zusammenflickte. Die Mutter sah sie mit hohlen Augen an und schrie, ohne von ihrer Arbeit zu lassen: Hat er dich fortgejagt, und kommst du jetzt zu deiner vergessenen Mutter, weil du nichts zu fressen hast? Sieh her, was wir im Hause haben! Sie deutete auf die Kinder, welche auf Stroh umherlagen und schliefen.

Trude fiel auf einen Schemel zurück und suchte sich zu sammeln. Ein eigenes Schicksal hatte sie heimgeführt in dieser Nacht, welche gleichsam der Wendepunkt ihres Lebens werden sollte — sie hatte auf strengen Befehl Sommers von ihrer Familie keine Notiz mehr genommen, er wollte keine Bettelgevatterschaft dulden — auch war sie in ihrer Kindheit von der Mutter so arg behandelt worden, dass sie kein Gefühl für sie hatte und, wenn sie einmal zu ihr kam oder schickte, sie mit einer geringen Gabe und der dringenden Aufforderung, ja nicht wieder zu kommen, er wolle es durchaus nicht, abfertigte und fremd tat. Jetzt fühlte sie Erbarmen mit dem elenden Weibe, das ihr Mann mit so vielen Kindern allein zurückgelassen hatte und — da er nicht ehelich mit ihr verbunden — in die Welt gegangen war. Sie bereute im Angesichte dieses Elends ihre Härte, und ihr tiefaufgeregtes Gemüt machte sich in Strömen von Tränen Luft.

Hast du nun gar eins unter dem Herzen? sagte die Mutter fast gleichgültig, zu entkräftet zum auffahrenden Zorne. Nein! rief Trude entrüstet, ich bin ein braves Mädchen, und Ihr sollt das von heute erfahren — mag er noch so sehr wüten, kommt nur, ich werde Euch schon geben! — Hast du denn was zum Geben? bist du nicht selbst ausgejagt? — Nein! — ich weiß nicht, was diese Nacht mit mir vorgegangen ist — Mutter, der Herrgott muss mich selber zu Euch hergeführt und mir für Euch ein Herz gegeben haben — ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin!

Sie setzte sich an der Mutter Seite und nahm ihr die Flickerei aus der Hand, da sie sah, wie ihr der Schlaf in den Augen saß. Kannst denn nähen? fragte die Mutter und ließ sich gerne bereden, die Schlafstätte zu suchen. — Die Großmagd drüben hat mir schon manchmal was gezeigt! — Bald saß sie an der Arbeit und hörte mit einem nie gekannten Gefühl der innersten Zufriedenheit mit sich selber den Atemzug ihrer armen, verlassenen Familie, für welche sie wirkte und wachte, bis Ermüdung gegen ihren Willen die Augenlider schlosss und die matte Lampe immer düsterer und düsterer brannte, bis sie, noch einmal aufflackernd, wie um das Familienbild zu beleuchten, ganz erlosch und friedliche Nacht drinnen wie draußen webte. —

Diesmal galt es ein scharfes Examen, als sie früh bleich und sanft, still und bescheiden nach Hause kam. Denn Sommer Hans hatte zeitlich früh, als er wie immer nach der Mühle ging, zu sehen, ob die Bauleute schon da wären, den Gefreiten Martin getroffen, der es nicht erwarten konnte, sich seinem Dorfe in Uniform, gestiefelt und gespornt, die Waffe an der Hüfte, zu zeigen. Trude sagte die Wahrheit und bat den Pflegevater, die Not ihrer Familie erleichtern zu dürfen. Sommer war nie geneigter, ihren Wünschen, die ihm ja stets für Befehle galten, nachzukommen, denn es freute ihn, dass Martin mit ihrem Ausbleiben nicht zusammenhing; sie solle ihnen hinüber schicken, so viel sie wolle, nur möge sie die Leute nicht ins Haus ziehen! — Für dieses große Zugeständnis nahm er es sich heraus, sie im Fluge auf die Wange zu küssen — sie ward feuerrot, Zorn funkelte plötzlich in ihren Augen, aber sie schwieg — dieser geraubte Kuss zerstörte alle Gefühle der Dankbarkeit, welche im Herzen des Mädchens noch so eben entbrannt waren — denn sie fühlte, dass alle Güte, welche ihr Sommer bezeigte, der Selbstsucht entstammte, sie kam sich in seinen Augen vor wie ein schöngeschnittener Dukaten, den zu erwerben er keine Mühe, kein Opfer scheute, seine Liebe zu ihr erschien ihr als Geiz in Maske. Die Bauleute hatten Sommer noch nie so lustig gesehen, er machte die tollsten Späße! Der Arme! Der Kuss sollte ihm teuer zu stehen kommen! — Trude wusch die Wange am Troge mit frischem Wasser und rieb den welken Kuss aus allen Kräften weg, so sehr ekelte ihr davor; dann trat sie vor das Hoftor, an dem eben Martin vorbei stolzierte; er grüßte militärisch, indem er zwei Finger der beschuhten Hand an den Chako legte — Trude ward feuerrot und sagte unwillkürlich: Willkommen, Martin! Der Gefreite blieb bei der zutraulich Grüßenden stehen und dankte für die Forellen, lachte über die Art, wie sie sich gestern davongemacht habe, — und fragte mit zärtlichen Blicken, ob ihr ein Soldatenrock so schrecklich fürchtig mache? Darauf meinte Trude mit niedergeschlagenen Augen: O nein! sie habe ihn schon lange erwartet, Vater Ignaz habe so oft mit ihr von ihm gesprochen, dass sie sich ihn schon ordentlich leibhaftig habe vorstellen können. — Martin fragte bescheiden, ob's auch so eingetroffen? Nicht so ganz! antwortete Trude, Sie sind viel herrischer, man kriegt ordentlich Respekt! Martin lächelte selbstgefällig und stampfte die Steine, auf denen er stand, mit dem Absatze, dass es Funken gab. Ja man lernt's! sagte er bescheiden; wenn man mit Hauptleuten und Majors rapportiert, da fährt einem was in den Rücken — he, he, ja, man sieht dann ein bisschen steif drein! —

So ging's weiter, bis sie von einem kleinen in Lumpen gehüllten Mädchen gestört wurden, in welchem Trude mit Schrecken ihre Schwester erkannte; wie gern wäre sie hineingerannt ins Haus, aber der Gefreite hielt ihre Hand in der seinigen, und sie wagte es nicht, sich loszumachen; indessen war das Mädchen da und stammelte: die Mutter ließe ihr sagen, sie möchte einen Laib Brot und ein paar Eier schicken! — Das Blut strömte Trude zum Herzen, sie ward ganz bleich, und ihre Hand zitterte in der des Gefreiten. Wer ist denn das Mädel? fragte Martin. — Droben aus den Feldhäusern! antwortete Trude ausweichend, machte sich los und bat um Verzeihung, weil sie mit dem Mädchen hineingehen müsse.

Martin legte Trudes Gemütsbewegung zu seinen Gunsten aus; er glaubte, die Störung ihrer gemütlichen Unterhaltung und die bevorstehende Trennung mache sie so aufgeregt, und wagte es daraufhin, zum Abschiede ihren Mund zu küssen, nach Soldatenbrauch — wie süß schmeckte dieser Kuss nach dem des alten Sommer! sie riss sich zwar verschämt los und drohte mit dem Finger, als sie aber Martin recht sehr bat, doch ja Abends zum Vater Ignaz zu kommen wie früher, da sagte sie nach kurzem Bedenken: Ja! und war in den Hof entsprungen. Sie gab nun dem Schwesterchen das Gewünschte in ein blaues Tuch eingewickelt und entließ es mit dem Auftrage, nicht wiederzukommen, sie werde schon Alles hinaufschicken. Ihr Gewissen entschuldigte Trude mit dem Befehle ihres Pflegevaters. —