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Im Deutschland der Nachkriegszeit beginnt eine spannende Reise, welche den Leser an einigen Etappen unserer jüngsten Geschichte teilhaben lässt. Im Mittelpunkt der Erzählung steht das Leben eines Weisenjungen, das sowohl die Widersprüche als auch die Möglichkeiten dieser Zeit widerspiegelt. Die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen sind hierbei von solch starker Authentizität, dass die Grenzen von Erdachtem und realen Handlungen oft verschwimmen und interessante Wendungen ihren Lauf nehmen.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Sicher haben Sie, ähnlich wie ich, sich irgendwann schon einmal die Frage gestellt, was wäre gewesen, wenn ...? Nicht selten hängt es von einer Bagatelle ab, ob die Geschichte so, oder ganz anders verlaufen wäre. Oder aber man stellt sich manchmal, gewissermaßen als reines Fantasieprodukt, einfach einen anderen Verlauf von Ereignissen vor.
Bei mir ist als Ergebnis solcher Gedankenspiele letztendlich dieses Buch entstanden. Zwar eingebettet in einem realen, geschichtlichen Ablauf, ist der größte Teil der Handlung sowie der agierenden Personen fiktiv. Lediglich Willy Brandt taucht immer wieder im Buch auf und verschafft der Handlung gewissermaßen einen zusätzlichen Rahmen. Respektvoll und weitestgehend identisch sind Stationen seines Lebens dargestellt, allerdings sind die von ihm getätigten Äußerungen erfunden. Und natürlich war der Rücktritt des Kanzlers Willy Brandt in Wirklichkeit der sogenannten „Guillaume-Affäre“ geschuldet. Verhehlen möchte ich nicht, dass die Figur des Hans Kröger gleich in zweifacher Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem langjährigen Vorsitzenden der ÖTV, Heinz Kluncker aufweist.
Ebenso wie der FDP-Politiker und Rechtsanwalt Gerhard Baum, Vorbild für die Figur des Gerhard Busch ist. Beim Lesen dieser Lektüre, welche ursprünglich als Jugendbuch konzipiert war, wünsche ich viel Vergnügen.
Vorwort
1952
(K)eine Kindheit
Der Verlust
Der Aufbruch
Die Ekströms in Schweden
Der Grizzly
Hunde, die bellen, können auch beißen
Der Gigant
Besuch aus Schweden
Eine interessante Bekanntschaft
Schulanfang
1965
Der Herr hat’s genommen
Der Vortrag
Reisen bildet
Der russische Bär
Beinahe eine Regierungserklärung
1969
Einmal Stuttgart und nicht zurück
Erik in Deutschland
Die Sanitäterin
Die unbekannte Bekannte
Neue Bekanntschaften
1971
Die Flucht
Der alte Schwede
Die Familie kommt zusammen
1972
Das Sendebedürfnis
Schweigen ist Silber, Reden ist Gold
1974
Die Enttäuschung
Der Plan
Die gute und die schlechte Nachricht
Sternmarsch
Schlussakkord
Ein Wort zum Schluss
Hinweise und Quellenangaben
___________________________________
„Stoppelrusse, Stoppelrusse“ rief einer der fünf Jungen übermütig einem gemächlich vorbei ratternden LKW hinterher.
Es war ein alter ZIG-5 der Sowjetarmee, dem die fünf Jungen jetzt ohne große Anstrengung folgten, wobei zwei besonders Verwegene versuchten, im Laufen die Bordwand des LKW zu berühren. Auf der Ladefläche des Fahrzeuges bemühten sich junge Soldaten in ihren langen, erdbraunen Militärmänteln das Gleichgewicht zu behalten und einer winkte den Kindern zu. Schließlich beendeten die Jungs den Wettlauf mit dem Fahrzeug und beeilten sich, einer riesigen Staubwolke zu entrinnen.
Die Staubwolke war eine Hinterlassenschaft des gerade zu Ende gegangenen, langen und strengen Winters 1951/52. Da die Wohnungen in dieser Zeit fast ausschließlich mit Braunkohlebriketts beheizt wurden, musste täglich die angefallene Asche in Behältern entsorgt werden. Diese standen am Straßenrand vor jedem Haus und im Winter wurde ein großer Teil der Asche, mangels anderer Möglichkeiten, zum streuen benutzt. Im Frühjahr waren dann Straßen und Fußwege damit bedeckt. Fleißiges Kehren sowie die ersten Frühlingsgewitter, schafften es nach und nach den Verschmutzungen wieder Herr zu werden.
Für die Jungs war das allerdings nichts Besonderes. Sie standen beisammen und beratschlagten, was sie als nächstes unternehmen könnten.
Einer der Jungs, er hieß Benno, sagte nach kurzem überlegen: „Wir könnten zur Ziegelwiese gehen, vielleicht arbeitet jetzt keiner mehr.“
Ein anderer Junge stemmte seine Fäuste in die Hüften und konterte: „Lasst uns doch zuerst zu den Ruinen gehen. Wir müssen da sowieso vorbei und wenn nicht mehr gearbeitet wird, könnten wir mit einer Lore fahren.“
„Auch gut“, sagte Benno. „Aber die beiden Kleinen kommen nicht mit, ist zu gefährlich.“
„Wir wären sowieso nicht mitgekommen“, sagte einer der Angesprochenen. „Mein Vater hat es verboten.“
„Und meiner auch“, beeilte sich der andere Junge hinzu zu fügen. Sie drehten sich um und schlenderten davon.
Benno machte sich mit den beiden größeren Jungen auf den Weg zu den Ruinen.
Ihre Heimatstadt Chemnitz, auch „sächsisches Manchester“ oder „Tor zum silbernen Erzgebirge“ genannt, war am 5. März 1945, noch kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, von englischen und amerikanischen Bombern angegriffen worden. Im Bombenhagel fielen vor allem der Ostteil sowie das Zentrum der Stadt in Schutt und Asche.
Seit Ende des Krieges waren fleißige Arbeiter, meist Frauen, dabei, die Ruinen abzutragen. Dazu waren Schienen für eine kleine Feldeisenbahn mit Kipploren verlegt worden. Diese Trümmerbahn transportierte den Ziegelschutt auf ein ehemaliges Feld ganz in der Nähe. Mit Förderbändern wurde er dann zu großen Halden aufgeschüttet.
Diese Schuttberge bezeichneten die Jungs als „Ziegelwiese“. Später einmal sollten aus dem Ziegelbruch sogenannte „Großplatten“ für Neubauviertel hergestellt werden.
Mittlerweile hatten die drei Jungs das riesige Gelände, zur Hälfte noch Ruinen und zur Hälfte schon Bauplatz, erreicht.
Am Rande des Geländes, dort wo man am weitesten mit den Räumungsarbeiten voran gekommen war, begannen die Gleise. Diese führten, eine große Rechtskurve bildend, an einem kleinen Birkenwäldchen vorbei und endeten an den Halden. Die erste Hälfte der Strecke war relativ abschüssig, der Rest der Schienen verlief ebenerdig. Einige Loren standen aneinander gekoppelt auf einer Art Abstellgleis.
Benno rief den größeren der beiden Jungs zu sich und bat ihn beim abkoppeln einer der Loren zu helfen. Der Junge, er hieß Dieter, sah ihn fragend an und sagte: „Willst du wirklich die Lore auf die Reise schicken?“
„Natürlich nicht“, entgegnete Benno und der Schalk stand ihm im Gesicht. „Wir werden alle drei auf Reisen gehen und ich fahre in der Wanne.“
„Verrückt!“, sagte der dritte, etwas kleinere Junge, den sie Gerti nannten. Eigentlich hieß er Siegert, aber keiner konnte sich an diesen Namen gewöhnen.
„Wir sind noch nie selbst mitgefahren“, sagte er und sein Gesicht nahm einen bedenklichen Ausdruck an.
„Du hast wohl Schiss“, mischte sich jetzt Dieter ein.
„Damit hat das nichts zu tun!“, erwiderte Gerti forsch und versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
„Wir könnten doch einfach eine Lore runter schicken, wie beim letzten Mal“, fügte er etwas zaghaft hinzu.
„Nichts da“, mischte sich Dieter erneut ins Gespräch ein. „Heute oder nie, reisen wir mal mit der Bahn“, sagte er und wendete sich erneut der Lore zu um Benno zu helfen.
Dieser richtete sich auf und sagte versöhnlich: „Also beschlossene Sache. Oder hat jemand Einwände?“
Keiner sagte etwas und so schoben sie die abgekoppelte Lore über eine Weiche auf die Strecke. Dabei kamen sie ganz schön ins Schwitzen und Gerti prustete außer Atem: „Ganz schöne Leistung, beim letzten Mal waren wir zu Fünft.“
Benno schwang sich in die Wanne der Lore während Dieter und Gerti diese ein kleines Stück anschoben. Dann sprangen sie auf den Rahmen der Lore und hielten sich fest.
Die Lore kam zusehends in Fahrt und Benno sagte frohlockend: „Seht ihr, wie das geht? Toll! Das soll uns mal einer nachmachen.“ Dann jauchzte er ein kräftiges „Juhuu“ und verlagerte intuitiv sein Gewicht auf die rechte Seite.
Sie waren am Birkenwäldchen angekommen und ihr Gefährt hatte durch das Gefälle an Geschwindigkeit gewonnen. Normalerweise wurden die beladenen Loren hier von der Lokomotive abgebremst.
Verdammt, hoffentlich bleibt die Lore auf den Schienen, schoss es Benno durch den Kopf. Doch bevor er zu Ende denken konnte, lag die Biegung hinter ihnen und ein viel größerer Schreck ließ ihn erstarren.
Die Arbeiter hatten begonnen, die Schienen zu demontieren und die Strecke war nur noch wenige Meter intakt. Und das Schlimmste: am Schienenende stand die Lokomotive, die sie am Ausgangsort vermisst hatten, wie ein Rammbock.
Es war, als ob Benno aus einem Traum erwachte und alles um ihn herum in Zeitlupe abliefe. Er brüllte: „Abspringen, sofort abspringen!“ und richtete sich auf.
Dieter war nicht zu sehen, aber Siegert klammerte sich in Todesangst an die Wanne der Lore.
„Du musst abspringen!“, schrie Benno ihn an und schwang sich aus der Wanne neben ihm auf den Rahmen der Lore. Verzweifelt löste er Siegerts verkrampfte Finger von der Wanne und riss ihn mit sich.
Da er sich kräftig abgestoßen hatte, landeten sie beide neben den Gleisen auf der Wiese. Erst als sie aufschlugen und er einen heftigen Schmerz im Knie verspürte, ließ er Siegert los. Der rollte noch einen Meter und blieb dann reglos liegen.
Der Aufprall der beiden Jungs auf der zum Teil mit Steinen bedeckten Wiese und der Aufprall der Lore auf die Lok erfolgten fast gleichzeitig. Allerdings war Letzterer mit einem ohrenbetäubenden, metallischen Krachen verbunden, welches die Jungen erzittern ließ.
„Was ist mit euch?“, fragte Dieter, der mit bleichem, angstvollen Gesichtsausdruck näher kam. Er beugte sich über Siegert, der immer noch bewegungslos da lag und berührte ihn vorsichtig.
„Ich glaub´ ich lebe noch“, sagte Siegert, und bewegte sich zaghaft. Dann gingen beide eilig zu Benno, der gerade die Augen aufschlug und offensichtlich Mühe hatte, die Situation zu begreifen.
„Was ist passiert?“, fragte er leise.
„Wir sind mit der Lore runter gefahren und abgesprungen, weil die Lok auf den Schienen steht“, sagte Dieter verlegen.
„Ich zuerst“, fügte er hinzu.
Benno lag immer noch auf dem Boden, deshalb beugte sich Siegert etwas herunter und sagte: „Wenn du mir nicht geholfen hättest, ich weiß nicht was passiert wäre.“
Benno sagte erst einmal gar nichts, versuchte aber aufzustehen.
„Verdammt, mein Knie und der Oberschenkel schmerzen heftig.
Hoffentlich ist nichts gebrochen.“
Er setzte sich wieder hin und nach einer Weile versuchte er es mit Hilfe der beiden erneut. Mit Mühe kam er schließlich auf die Beine und die Drei gingen, sich gegenseitig stützend, langsam nach Hause.
Genau in der Mitte einer ziemlich heruntergekommenen Häuserzeile befand sich das Haus, in dem Benno mit seiner Großmutter wohnte.
Sie teilten sich im Erdgeschoss eine Zweizimmerwohnung und Benno hatte sogar, wegen der Krankheit seiner Großmutter, einen eigenen Wohnungsschlüssel.
Als er die Tür öffnete nahm er wie immer den vertrauten aber eigenartigen Geruch von Räucherpulver war. Da seine Großmutter an Asthma litt, musste sie bei Anfällen den Rauch des Pulvers inhalieren.
Das verschaffte ihr ein wenig Linderung.
Wegen ihrer Krankheit lebte die Großmutter lange Zeit, der besseren Luft wegen, im Erzgebirge. Das war auch der Grund, weshalb sie für Benno von klein auf die „Bergoma“ war.
Seine leibliche Mutter hatte Benno nie bewusst kennengelernt. Sie hatte ihn, in der gleichen Wohnung in der sie jetzt noch lebten, zur Welt gebracht und war vier Tage später an einer Blutvergiftung gestorben.
Aus Erzählungen wusste Benno, dass sein leiblicher Vater 1945 im Krieg gefallen war und andere Verwandte nicht existierten.
Seitdem hatte die Bergoma die Stelle der Mutter eingenommen. Der unverwechselbare Geruch des Räucherpulvers würde ihm wohl sein ganzes Leben lang in Erinnerung bleiben.
Heute kam ihm allerdings ein weiterer vertrauter, wesentlich angenehmerer Duft in die Nase. Es roch nach Linsensuppe, süß-sauer, mit geröstetem braunen Mehl abgebunden. Das war sein Lieblingsessen und hin und wieder kochte die Bergoma es.
Wenigstens ein guter Ausklang dieses Tages, dachte er und klopfte an die Tür. Fast gleichzeitig sagte er: „Ich bin´s.“ Dann betrat er das Zimmer.
Auf der Bettkante saß, leicht zusammengekrümmt, eine knochige, verkümmerte Frau mit langem weißem Haar und einem gelassenen, gütigen Gesichtsausdruck. Über ihre bunte Kittelschürze hatte sie eine dicke Strickjacke gezogen, da das Zimmer nicht beheizt war.
Sie legte ein Buch, in das sie vertieft gewesen war, auf die Marmorplatte des Nachtschränkchens, welches neben dem großen alten Messingbett stand.
„Du kommst aber spät“, sagte sie und nahm ihre Nickelbrille mit den kleinen runden Gläsern ab. Sie rieb sich die Augen und sprach: „Siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn! Was ist passiert?“
„Ach nichts, es geht schon“, sagte Benno und ging in die Küche.
Dann besann er sich und kam noch einmal zurück.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er zur Großmutter. „Wir haben bei den Ruinen gespielt und ich bin unglücklich gestürzt. Es sieht schlimmer aus als es ist“, fügte er beruhigend hinzu.
Die Großmutter stand auf und kam näher.
„Du bist ganz schön ramponiert“, brummelte sie, während ihre knochige Hand seine Schulter berührte.
„Ich kann ja Morgen vorsichtshalber zum Arzt gehen“, lenkte Benno ein und machte sich wieder auf den Weg in die Küche.
In diesem Moment klingelte es und Benno öffnete die Tür.
Vor ihm stand Herr Hofmann, der Vater von Siegert. Ein wenig seitlich hinter ihm leuchtete der rötlich blonde Schopf seines Sohnes.
Benno starrte seltsamer Weise auf die Sommersprossen in Siegert's Gesicht, als habe er sie gerade zum ersten Mal wahrgenommen.
„Ich habe meinem Vater alles erzählt“, flüsterte Siegert verschämt und sein Vater streckte Benno seine Hand entgegen.
„Danke, dass du meinem Sohn geholfen hast“, sagte er leise.
„Eigentlich habt ihr eine Tracht Prügel verdient. Ich möchte so etwas nie wieder erleben“, sprach er mit verändertem Tonfall und ließ Bennos Hand los.
„Es tut mir leid“, stammelte Benno und hatte zum ersten Mal so etwas wie ein „schlechtes Gewissen“.
Dann hörte er die Haustür ins Schloss fallen und ging zurück in die Wohnung. Die Großmutter öffnete ihre Zimmertür einen Spalt und trat dann vollends in den kleinen Flur.
Benno kam ihrer Frage zuvor und rief: „Es ist alles in Ordnung.
Siegert's Vater wollte sich nur vergewissern, dass nichts Schlimmes passiert ist“, mogelte er ein wenig.
Die Großmutter murmelte etwas und machte Anstalten wieder in ihr Zimmer zu gehen. Dann drehte sie sich um und sagte: „Fast hätte ich es vergessen. Morgen kommt Onkel Albert vorbei, er will etwas mit dir besprechen.“
Onkel Albert war eigentlich kein Familienmitglied, sondern ein früherer Bekannter von Bennos Mutter. Selbst nach ihrem plötzlichen Tod war er ab und zu vorbei gekommen und hatte sich, wenn es seine Zeit erlaubte, um Benno gekümmert.
„Ist gut“, sagte er und machte sich nun endlich in der Küche über die Suppe her.
Nachdenklich löffelte er die Linsen in sich hinein und spürte zunehmend, dass er eigentlich keinen Appetit mehr hatte. Er stand auf, ging in sein Zimmer und griff sich ein Buch, das ihn schon länger beschäftigte. Es hieß „Der Lederstrumpf“ und er hatte es zwischen anderen alten Büchern seiner Großmutter gefunden.
Als er es das erste Mal durchblätterte, war er von den wenigen bunten Bildern so gefesselt, dass er die Großmutter bat, ihm daraus vorzulesen. Schon nach wenigen Seiten wuchs in ihm der Wunsch, das Buch selbst lesen zu können.
Am nächsten Tag begann er, sich nach und nach einzelne Buchstaben einzuprägen und sie zu Wörtern zusammen zu fügen.
Bis er schließlich so weit war, dass er einen ganzen Satz zusammenhängend lesen konnte, vergingen Wochen. Wochen, die angefüllt waren von Stunden des Verzagens und Zweifelns.
Immer wieder machte er sich Mut und vertiefte sich in die ungewohnten Schriftzeichen. Er stellte sich vor, wie toll es sein würde, könnte er irgendwann das ganze Buch lesen.
Heute allerdings fehlte ihm dazu die Konzentration. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu den Ereignissen des Tages.
So legte er schließlich das Buch zur Seite und löschte das Licht.
Bevor er endgültig in einen unruhigen, tiefen Schlaf fiel, glaubte er wie von fern, den schlürfenden Gang seiner Großmutter wahrzunehmen.
„Schlaf schön“, sagte sie und richtete seine Bettdecke.
Am nächsten Morgen war Benno schon früh auf den Beinen. Da er versprochen hatte, sich untersuchen zu lassen, wollte er das so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Die Ärztin kannte ihn bereits, da er schon zweimal die Praxis aufgesucht hatte.
Beim ersten Mal war die Großmutter mitgegangen, aber der lange Weg war für sie sehr beschwerlich. Deshalb hatte sie mit der Ärztin abgesprochen, dass Benno es beim nächsten Mal allein versuchen sollte.
Auch heute war das Wartezimmer voller Menschen und Benno war froh, als er endlich aufgerufen wurde.
Die Ärztin versorgte seine Schürfwunden und konnte glücklicherweise an den Gelenken und Knochen keine Schädigung feststellen. Sie gab ihm einen Klaps auf den Po und sagte: „Glück gehabt, alles heil geblieben. Jetzt kannst du die Welt weiter unsicher machen.“
Auf dem Weg zurück nach Hause freute er sich, dass ihm noch ein besonderes Abenteuer bevor stand.
Längere Zeit schon hatte er sich zehn Pfennig aufgespart und die wollte er jetzt in eine Fahrt mit der Straßenbahn investieren. In den Mittagsstunden waren die alten Waggons der Bahn halbwegs leer und er begab sich ins Abteil. Prüfend überflog er die Sitzreihen, nahm auf einer der harten Holzbänke, bei denen man jeden Schienenstoß spürte, platz.
Er schaute aus dem Fenster und wartete auf den Schaffner. Mit einer Mischung von Verlegenheit und Stolz übergab er ihm seine Münze, die in der zusammengeballten Faust ganz warm geworden war.
„Bitte, junger Mann“ sagte der Schaffner, der sich wohl wunderte, dass der Junge allein unterwegs war.
„Bitte“ sagte er noch einmal und gab ihm einen Fahrschein.
Die Haltestelle, an der Benno aussteigen musste, kam schneller als er es erwartet hatte und nun ging er den Rest des Weges zu Fuß.
Die letzten Meter bis zu seiner Wohnung legte Benno häufig hüpfender Weise zurück, besonders dann, wenn er gut gelaunt war.
Die großen, gelblich schimmernden, rechteckigen Granitplatten, aus denen der Gehsteig bestand, luden förmlich dazu ein, von Feld zu Feld zu springen.
Die Kinder hatten daraus ein Spiel entwickelt, dass sie „Huppe-Kästchen“ nannten. Einige Felder wurden mit Kreide markiert und hatten unterschiedliche Bedeutungen.
Benno übersprang die letzten Kästchen und stand vor seiner Haustür.
Beim Betreten der Wohnung beschlich ihn ein merkwürdiges Unbehagen. Eigentlich hatte er erwartet, dass die Großmutter um diese Zeit, wie sonst auch, in der Küche hantierte.
Heute war es in der ganzen Wohnung außergewöhnlich still. Auch den gewohnten Geruch von frisch verbranntem Räucherpulver vermisste er.
Eilig durchquerte er den kleinen Flur.
Noch bevor er an die Tür der Großmutter klopfte, rief er: „Bergoma, bist du da?“
Da er keine Antwort erhielt, betrat er das Zimmer und blieb wie erstarrt stehen.
„Schläfst du, Bergoma?“ fragte er zaghaft und ahnte, dass etwas geschehen war.
Zögernd ging er zu seiner Großmutter und alles um ihn herum war ausgeblendet. Vorsichtig berührte er ihren Arm und redete sich ein, dass sie ganz fest schlief.
„Wach doch auf, Bergoma“ sagte er leise und schüttelte sie sanft.
Dann registrierte er die Starre ihres hageren Körpers und erschrak.
Er trat einen Schritt zurück und Angst überkam ihn. Ratlos ging er zur Tür, wo er einen Moment inne hielt.
Unwillkürlich wanderten seine Blicke nach kurzer Zeit wieder zur Großmutter und allmählich nahm er das Bild in sich auf, das sich für immer bei ihm einprägen sollte.
Die Großmutter saß auf dem Bettrand, unnatürlich nach vorn gebeugt.
Ihr Kopf war auf die Marmorplatte des Nachtschränkchens aufgeschlagen und Reste des Asthmapulvers, das herumlag, hatten sich in ihrem aufgelösten, weißem Haar verfangen.
Die weit aufgerissenen Augen und eine blau angelaufene Zunge waren erschreckende Hinweise dafür, dass es seine kranke Oma nicht mehr geschafft hatte, ihre lebensrettende Medizin einzunehmen.
Allmählich wurde aus dem Gefühl der Angst, tiefe Trauer. Er setzte sich neben seine Bergoma auf die Bettkante und versank in eine Art Wachschlaf.
Als er irgendwann eine Stimme hörte, schreckte er auf. In der Tür stand Onkel Albert und man sah seine Bestürzung.
„Ist sie tot?“, fragte er.
Benno nickte stumm und zuckte mit den Schultern. „Was soll denn jetzt werden?“, flüsterte er.
Albert nahm ihn an die Hand und sie gingen in die Küche.
„Eure Wohnungstür stand offen“, erklärte er dann. „Ich dachte sofort, das etwas passiert ist. Eigentlich wollte ich mich heute von dir verabschieden. Mein Bruder hat mir eine gute Arbeit vermittelt und ich ziehe zu ihm nach Köln. Nun werde ich das Ganze wohl verschieben und mich hier um alles kümmern müssen.“
Als er sah, dass Benno jetzt das erste mal Tränen in den Augen hatte, wollte er irgendetwas Tröstliches sagen.
„Es war eine Erlösung für sie.“
Er schaute vielsagend in Richtung Großmutters Zimmer.
„Sie muss nun nicht mehr leiden und hat ihre Ruhe gefunden“, sagte er wohlmeinend. Benno wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schwieg.