Deutschland hat ausgelernt - Anna Kröning - E-Book

Deutschland hat ausgelernt E-Book

Anna Kröning

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Beschreibung

Ein Großteil der Flüchtlinge, der seit 2015 nach Deutschland kam, ist 25 Jahre und jünger. Für ihre Integration ist ausgerechnet ein System zuständig, das kurz vor dem Kollaps steht: das deutsche Bildungssystem. Menschen mit schwieriger Vergangenheit treffen auf marode, unterfinanzierte Schulen. Diese explosive Mischung droht, eine Generation der Perspektivlosen hervorzubringen. Das Buch erzählt von Lehrern, die in Klassenzimmern kämpfen, von Schulen, die die Politik im Stich lässt, und Schülern, die sich selbst überlassen bleiben. Es zeigt aber auch Beispiele von Schulen und politischen Konzepten, die die wichtigste Aufgabe in diesem Land anpacken: Allen Kindern in einem neu ausgestatteten Bildungssystem die beste Zukunft zu ermöglichen.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-99216-9

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Einleitung

1Überrumpelt und kreativ – die Schulen

Deutsch lernen – aber wie?

Deutschlernklassen als Vorbereitung

Die kompetenten Brennpunktschulen

Plötzlich Regelunterricht

Wenn der Deutschunterricht ausfällt

Schulen ohne Deutsche

Sprache als Schlüssel

»Ein Gewinn für die ganze Schülerschaft«

2Ausgemergelt und vernachlässigt – das Schulsystem

Der systematische Mangel

»Problemfall« Migrationshintergrund

3Fachpraxis und Fachchinesisch – die Berufsschulen

Vorbereitung auf die Ausbildung

Sprachschock in der Berufsschule

Berufsschulen und Ausbildungssystem reformieren

4Engagiert und verzweifelt – die Lehrer

Unterrichten in Deutschlernklassen

Unterrichten im Regelsystem

Der Lehrerberuf

Seiteneinsteiger und Deutsch als Zweitsprache

Unterschiedliche Bezahlung

Migranten vor der Klasse

Helfer an den Schulen

5Fremd und orientierungslos – die Schüler

Herkunft und Schulsystem

Trauma und Vergangenheit

Alter und Bleibeperspektiven

Alltag und Rassismus

Religion, Rollenverständnis und Demokratie

6Aufgeschlossen, aber unzufrieden – die Eltern

Offene Ablehnung

Die Eltern der Flüchtlinge

7Föderalistisch und disparat – die Schulpolitik

Marode Schulen

Integration im Bildungsföderalismus

Deutschland – ein Einwandererland?

8Zwölf Punkte für bessere Schulen

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Die Integration Hunderttausender Kinder und Jugendlicher wird die deutschen Schulen verändern. In welche Richtung diese Veränderungen gehen werden, das entscheidet sich jetzt. Seit dem Jahr 2014 stellten rund 1,6 Millionen Menschen einen Asylantrag, weil sie Schutz in Deutschland suchen.[1] Ein großer Teil der Asylsuchenden sind nicht Männer und Frauen, sondern Kinder und Jugendliche, die in diese Gesellschaft hineinwachsen. Ja, die Willkommenskultur war beispiellos, manche sagen: historisch. Doch nun erhebt sich immer drängender die Frage, wie es weitergehen soll. Die vielleicht größten Fragezeichen bringen die Lehrer mit, die tagtäglich in den Schulklassen versuchen, Kinder und Jugendliche zu integrieren, und erleben, dass dies mit den bestehenden Strukturen eigentlich kaum möglich ist. Wie soll und wie kann es gelingen, diese Aufgabe zu bewältigen in einem System, das ausgelaugt ist, dem Lehrer fehlen, das unterfinanziert ist?

Diese Frage stellte sich auch mir, als ich mit den Problemen konfrontiert wurde, die sich in den Schulen abspielen. Die Kluft zwischen der Überforderung der Schulen und der großen Hoffnung und Erwartung, die auf ihnen ruhen, gab für mich den Ausschlag, dieses Buch zu schreiben. Denn wie das eigentlich laufen soll mit der Integration, darauf suchen nicht nur Lehrer und Schulleiter, sondern das ganze Land Antworten – und alle blicken fragend in Richtung der Bundeskanzlerin, die am 31. August 2015 ihren legendären Satz gesagt hatte: »Wir schaffen das.« Was sie nicht gesagt hatte, ist: Wer ist »wir«? Was genau ist mit »schaffen« gemeint? Und wofür steht hier »das«? Hunderttausende Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Iran, aus Afghanistan, Eritrea und Somalia, Hunderttausende die eine andere Muttersprache sprechen, wollen in Deutschland leben und arbeiten.[2] Viele von ihnen werden bleiben und ihre Familien nach Deutschland holen. Die Hilflosigkeit im Umgang mit den vielen Fremden offenbart sich in den zahllosen Debatten über Flüchtlinge und damit über Integrationskurse, Wertvorstellungen, religiöse Unterschiede und vor allem auch über die immerwährende Frage, was Deutschland eigentlich tun kann.[3] Die Willkommensstimmung ist einer großen Stille gewichen. Die Kommunen sorgen für Kita-Plätze und stellen die Unterkünfte. Dafür bekommen sie unterschiedlich viel Geld von den Ländern erstattet, welche die Aufsicht über die Kassen haben. Der Bund gibt Milliarden[4] für Bildung aus, etwa für Sprach- und Integrationskurse, legt berufliche Sonderprogramme auf und bezahlt, wie auch bei Hartz-IV-Empfängern, die Lebenshaltungskosten. Und die Bundesländer sollen – unter anderem – dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen in die Schulen gehen, Deutsch lernen und einen Schulabschluss machen. Denn wie jeder weiß, gilt die Sprache als der Schlüssel zur Bildung – und Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Daraus folgt, dass die Bildungseinrichtungen im ganzen Land die eigentlichen und natürlichen Integrationsorte sind. »Integrationsorte Nummer eins« nennt man sie, oder sogar »Integrationsmotoren«.

Das hört sich dynamisch und vielversprechend an, und es ist obendrein sehr plausibel. Dort, wo Kinder und Jugendliche verschiedener Nationen zusammentreffen, entsteht erst das echte Zusammenleben mit einem Alltag und einer Struktur. Die mehrwöchigen Integrationskurse für Erwachsene können nicht hautnah vermitteln, was es bedeutet, in einem demokratischen Rechtsstaat mit Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung zu leben. Das geht eher dort, wo sich das richtige Leben abspielt. Die echte Integration sollte in Klassenzimmern, im Geschichts- oder Sachkundeunterricht, in Sport-AGs und bei gemeinsamen Ausflügen stattfinden. Sie sollte in Freundschaften mit anderen Schülern münden, den Neuzugezogenen einen Alltag ermöglichen und Kinder und Jugendliche in die Struktur der Schule einbinden. Doch so gut das alles in der Theorie klingen mag, so schwierig erweist sich die Umsetzung in den Schulen. Die ganze Dimension dieser Aufgabe, die die Schulen in Deutschland meistern sollen, um ihrer Bestimmung als Integrationsmotor gerecht zu werden, ist gigantisch. Zum einen sind sie nicht konzeptionell ausgerichtet auf Zuwanderung und Integration; es wird eher viel experimentiert und improvisiert. Zum anderen ist die Zahl der Schüler, die innerhalb kürzester Zeit nach Deutschland kamen, enorm hoch.

Wie viele asylsuchende Kinder und Jugendliche die Grundschulen, weiterführenden Schulen und Berufsschulen besuchen, ist statistisch nicht erfasst. Man kann es nur schätzen. Gemessen an der Gesamtzahl der Flüchtlinge ist der Anteil groß. Mehr als jeder vierte Asylantragsteller ist jünger als 18 Jahre. Das Registrierungssystem für Flüchtlinge EASY hält das Alter grundsätzlich nicht fest; es bleibt also als Quelle nur die Zahl der Antragsteller. Man kann davon ausgehen, dass etwa eine halbe Million asylsuchende Kinder und Jugendliche, die Flüchtlinge sind, die deutschen Schulen besuchen, wenn man berücksichtigt, dass in einigen Bundesländern auch über 18-Jährige einen Platz in den Vorbereitungsklassen der Berufsschulen bekommen. Auch Kinder, die noch keinen Asylantrag gestellt haben, haben das Anrecht auf einen Schulplatz.[5]

Die Schule bedeutet für sie den Weg in einen strukturierten Alltag; sie lernen Mitschüler kennen, knüpfen Kontakte, und es entwickeln sich Freundschaften. Junge Männer werden ihre Familien nachholen; Kinder, die gerade eingeschult wurden, werden irgendwann selbst eine Familie gründen. Denn die Wahrheit ist: Ein Großteil der Flüchtlinge wird in Deutschland bleiben. Schon jetzt sind Syrer in Deutschland die drittgrößte Gruppe mit ausländischem Pass, und die Zahl der Kinder wird sich erhöhen. In Deutschland wurden im Jahr 2016 184 660 Kinder von Müttern mit ausländischer Staatsangehörigkeit geboren: Das war ein Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zu 2015. Vervierfacht haben sich die Geburten bei den syrischen Frauen – 18 500 syrische Kinder wurden im Jahr 2016 in Deutschland geboren. 21 800 Neugeborene haben eine türkische Mutter, und in 11 800 Fällen hat die Mutter einen polnischen Pass.[6] Das, was die Eltern selbst und ihre Kinder in Deutschland lernen und erfahren, wird Teil der deutschen Gesellschaft sein, jetzt und erst recht in Zukunft. Die Frage ist, wann die politischen Vorkehrungen getroffen werden, die ein Miteinander dieser ganz unterschiedlichen Gruppen möglich macht.

Dass sich hier eine ungleich größere Dimension abzeichnet, als von der Bildungspolitik eingestanden wird, scheint vielen Pädagogen an den Schulen klar zu sein – ebenso, wie nahezu unmöglich es ist, sie mit den bestehenden Mitteln zu bewältigen. Tausende Lehrer im Land schufen in den rund 33 500 allgemeinbildenden Schulen Räume, richteten Klassen ein und machten Platz für Hunderttausende Kinder und Jugendliche. Doch es zeigt sich, dass die Aufgabe damit nicht gelöst ist. Es fehlen kompetente Lehrer, die den Schülern aus fremden Ländern Deutsch beibringen und sie in die Schulstrukturen integrieren können. Denn die Schüler sollen ja mit ihren neuen Mitschülern zusammen einen Schulabschluss machen. Und dafür brauchen sie noch lange Zeit Unterstützung und sprachliche Nachhilfe. In den Klassenzimmern sitzen aber noch viele andere Kinder und Jugendliche, die ebenfalls Aufmerksamkeit und individuelle Förderung brauchen, beispielsweise die Inklusionsschüler.

Es zeigt sich immer klarer, was sich schon 2015 andeutete: Viele Lehrer sind hoffnungslos überfordert mit diesen Aufgaben. Sie fühlen sich von den Kultusministern der Länder und von der Schulpolitik im Stich gelassen. Die ihnen anvertraute Aufgabe ist zu groß, das sehen all jene, die tagtäglich in den Klassenzimmern stehen. Innerhalb der Schülerschaft entwickeln sich Konflikte. Die Schüler haben unterschiedliche Sprachniveaus und Lernstände. Es gibt nicht genügend Sozialarbeiter und Schulpsychologen und es fehlen Dolmetscher, um mit den Eltern zu sprechen.

Die Überforderung bezieht sich nicht nur auf die große Zahl der Schüler. Überraschend ist, dass die Schulen auch pädagogisch kaum vorbereitet waren. Denn es ist ja nicht die erste Zuwanderungsbewegung; frühere Lehrergenerationen haben Kinder von türkischen, griechischen und italienischen »Gastarbeitern« unterrichtet. Durch die Schultüren gingen später auch Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, Spätaussiedler, Mädchen und Jungen aus dem osteuropäischen Ausland wie Rumänien oder Bulgarien, Diplomatenkinder und immer wieder Asylbewerber aus den unterschiedlichsten Ländern.

Es gibt jedoch keine bundesweiten Konzepte und keine flächendeckenden Lehrpläne, wie man Kindern und Jugendlichen, die nicht in Deutschland geboren wurden, Deutsch beibringt und sie in den Unterricht integriert. Und so standen die Schulen nicht nur vor einem Ressourcenproblem. Es gab keine von der Bildungsforschung empfohlenen und von der Politik abgesegneten Schulkonzepte – Wissenschaftler sprechen hier von einem »blinden Fleck«.[7] Er befindet sich ausgerechnet auf einem der zentralen Aufgabenfelder der deutschen Gesellschaft, der Integrationspolitik. Es sind nicht nur die humanitären Organisationen, die immer wieder fordern, zugewanderte Schüler besser zu integrieren – was gern abgetan wird als überzogene Anspruchshaltung: Schließlich reiche das Angebot an den Schulen ja kaum für jene Kinder und Jugendlichen aus, die in Deutschland geboren wurden.

Eines der größten Missverständnisse unserer Zeit ist es, Integrationspolitik mit einer vermeintlich ideologischen Zukunftsvision gleichzusetzen. Integrationspolitik ist nicht mit einem beliebig auslegbaren »Multikulti«-Begriff zu verwechseln. Integration ist ein Prozess, in dem Zuwanderer und Mehrheitsgesellschaft aufeinander zugehen müssen. Integration bedeutet nicht, einander mit allen Unterschieden verstehen zu müssen. Integrationspolitik bedeutet, Regeln, Gesetze und Bedingungen des Zusammenlebens so zu definieren und auszugestalten, dass sie von beiden Seiten erfüllbar sind. Dazu gehört in den Schulen, dass sich Schüler an den Alltag anpassen und die Regeln im Klassenzimmer befolgen. Dazu gehört aber auch eine Schulpolitik, die es ernst nimmt mit ihren Angeboten, die den Schülern echte Bildungsziele eröffnet und von ihnen Leistungen einfordert, statt sie zwischen Schulen und Klassen hin- und herzuschieben. Es sind ausgerechnet Ökonomen, Wirtschaftsinstitute und Sozialforscher, die vor den gesamtgesellschaftlichen Folgen warnen, die durch eine allzu zaghafte und sehr lückenhafte Integrationspolitik entstehen.

Es wird sich nun entscheiden, ob sich die Kluft vertiefen wird zwischen jenen Bildungsbeflissenen auf der einen Seite, die das Abitur machen, und den Schülern auf der anderen, die auf Schulen in sozialen Brennpunkten gehen – oder ob es gelingt, Lösungen zu finden, um alle Schulen zu echten Lernorten zu machen. Davon sind nämlich sehr viele weit entfernt. Viele Eltern müssen mit ansehen, dass Stunden ausfallen und Grundschüler von Seiteneinsteigern ohne pädagogische Ausbildung unterrichtet werden. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass ihr Kind an jeder Schule die bestmögliche Förderung bekommt. Die Deutschen wünschen sich jedoch gleiche Bildungschancen für alle Schüler, wie eine Umfrage kurz vor der Bundestagswahl 2017 zeigte. Danach benannten dies 75 Prozent der Befragten als wichtigstes Wahlkampfthema – und das, obwohl der Bund formal gesehen nicht zuständig ist für die Schulpolitik.[8]

Zuständig dafür – und damit auch für die Integration der Schüler – sind die Kultusminister der Länder. Doch ihr oberstes Gremium, die Kultusministerkonferenz (KMK), versäumte es – ein nahezu historischer Fehler –, ein Integrationskonzept für die Schulen auf den Weg zu bringen und aufgrund der Gesamtverantwortung und der Dimension dieser Aufgabe die Hilfe des Bundes einzufordern. Die Bundesregierung konnte sich ihrerseits im Jahr 2015 auf die Länderhoheit bei der Bildung berufen, wonach sich der Bund nicht in Ländergelegenheiten einmischen darf. Gelöst wird diese wichtige politische Aufgabe mit den Mitteln des traditionellen Bildungsföderalismus. Die Kultusminister versuchten im Eiltempo, auf die Anforderungen zu reagieren. Sie erstellten Nachtragshaushalte und setzten zusätzliche Lehrer für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) ein, schufen Sozialarbeiterstellen und richteten Deutschlernklassen ein. Wo es schon Lehrpläne gab, holte man sie heraus – und wo nicht, da schrieb man welche oder überließ es den Schulen, wie sie die Schüler unterrichten. Jedes Bundesland hat damit seine eigenen Regeln für die Integration an den Schulen aufgestellt.

In vielen deutschen Regionen zeigt sich nun, dass diese unterschiedlichen Regeln nicht ausreichen. In Berufsschulen kämpfen Flüchtlinge und Lehrer mit dem Unterrichtsstoff, der in einer komplexen Fachsprache vermittelt wird, die für Ausländer in kurzer Zeit nur sehr schwer zu lernen ist. Die Betriebe müssen befürchten, dass die Auszubildenden in der Lehre abgeschoben werden, weil es unterschiedliche politische Interessen bei der Zuwanderungspolitik gibt. Und in den allgemeinbildenden Schulen bleibt wenig Zeit für die Kinder und Jugendlichen, die deutlich mehr Sprachförderung und überhaupt Aufmerksamkeit brauchen würden. Ein auf Kante genähtes System ist all diesen Aufgaben nicht gewachsen.

Die Ankunft der Flüchtlinge offenbart ein grundlegendes Problem des deutschen Bildungssystems: Es pflegt eine Lernkultur, die sich nicht an das Kind und den Jugendlichen als Individuum richtet. Für langsame Lerner oder für Schüler, die eher praktische Talente haben und kein ausgefeiltes Sprachverständnis mitbringen, ist kaum Platz. Dieses Grundverständnis von Schule zwingt Lehrer oft gegen ihr besseres pädagogisches Wissen dazu, Schüler zurücklassen zu müssen, statt sie angemessen zu fördern. Die Mehrzahl der deutschen Schulen ist auf eine fiktive homogene Schülerschaft angelegt und nicht auf die unterschiedlichen Kinder und Jugendlichen, die in den Klassenräumen sitzen. Es sind Kinder, deren Eltern zu Hause kaum ein Wort mit ihnen sprechen, hochbegabte Schüler, handwerklich oder musisch talentierte Jugendliche, Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, aber mit einer großen Stärke in Mathematik, langsam lernende Kinder und Inklusionsschüler. All diese Schüler bilden den gesellschaftlichen Querschnitt – und trotzdem gelingt es nicht, die Schulen auf sie einzustellen.

Mitten hinein kommen nun neue Schüler, die erst einmal Deutsch lernen müssen. Dafür fehlt aber die Zeit, außerdem wird diese Aufgabe von politischer Seite nicht als dringlich genug verstanden. Das ist deshalb so gravierend, weil genau diese Tendenzen dazu geführt haben, dass sich in Deutschland eine Kluft aufgetan hat zwischen Menschen mit deutschen und Menschen mit ausländischen Wurzeln. Diese Kluft ist mit den separaten »Ausländerklassen« für die Kinder der südeuropäischen »Gastarbeiter« entstanden, und sie hat sich in einigen Metropolen seither immer weiter vertieft. Sie zieht sich durch Bundesländer, durch Regionen wie das Ruhrgebiet, ja sogar durch Stadtteile. Die Trennung verläuft längst nicht mehr ausschließlich zwischen Arm und Reich, sondern vor allem zwischen Deutschen mit deutschen Wurzeln auf der einen und Deutschen ausländischer Herkunft sowie Ausländern auf der anderen Seite. Aufrechterhalten wird sie ausgerechnet durch die Schulsysteme, und am deutlichsten sichtbar ist sie in den sogenannten Brennpunktschulen mit einem hohen Anteil von Kindern nicht deutscher Herkunftssprache. Schüler mit ausländischen Wurzeln kommen häufiger aus wirtschaftlich schwachen Familien und weisen schlechtere schulische Leistungen auf als Schüler ohne Migrationshintergrund. Die Lücke, die in Deutschland klafft, ist weit größer als in vielen anderen reichen Industrieländern.[9] Mit der neuen Zuwanderergeneration bietet sich die Chance, diese Lücke zu schließen. Ob die Integration scheitern oder gelingen wird, das wird sich in den Schulen dieses Landes mitentscheiden.

Dieses Buch nimmt den Leser mit in die unterschiedlichen Klassenzimmer der Grundschulen, Berufsschulen, Gesamtschulen und Gymnasien in Deutschland. Es begleitet Schulleiter und Lehrer auf ihrem Weg und beschreibt, wie sie selbst herauszufinden versuchen, was eigentlich Integration bedeuten soll: Ist es wichtiger, fehlerfrei die deutsche Sprache zu lernen, oder sollen die Schüler lieber möglichst rasch lernen, mit Deutschen zusammenzuleben? In diesem Buch lasse ich Menschen zu Wort kommen, die mit großer Professionalität und viel Engagement umsetzen, was man unter dem abstrakten Begriff »Integration« versteht. Ich habe die Lehrer in ihrer täglichen Arbeit und in ihrem Bemühen begleitet, Schulklassen mit Schülern verschiedener Nationen zu unterrichten. Viele von ihnen haben selbst Konzepte und Klassenräume hergerichtet und kämpfen gegen die Strukturen im Bildungssystem, um den Schülern eine Perspektive zu ermöglichen. Und ich habe mit Schülern gesprochen, die von einer Zukunft in Deutschland träumen, für die Schule der wichtigste Ort ist, die so gut und schnell wie möglich die Sprache lernen wollen. Es geht in diesem Buch um die Menschen, die versuchen, echte Integrationsarbeit zu leisten – und sich von Paragrafen, Hürden und Altersbeschränkungen nicht abschrecken lassen. Es geht um ein Schulsystem, das sich äußerst schwer damit tut, die individuellen Stärken der Kinder zu fördern, und das Nachholbedarf darin hat, Schüler aus der Bildungstradition ihrer Elternhäuser abzulösen.

Auch die wissenschaftliche Forschungslage zu Kindern und Jugendlichen, Asylbewerbern und Flüchtlingen im deutschen Schulsystem ist mangelhaft. Die seit Jahrzehnten existierenden Klassen für Nichtmuttersprachler wurden nicht evaluiert, das heißt wissenschaftlich ausgetestet. Es gibt auch keine Vergleichbarkeit auf Bundesebene und keine pädagogischen Auswertungen früherer Zuwandererklassen, an denen man sich orientieren könnte. Das ist irritierend, aber in gewisser Weise auch konsequent. Denn genau dieser sogenannte blinde Fleck beim Thema Migranten in deutschen Schulen hat auch zu einem blinden Fleck auf dem gesamten Feld der Integrationspolitik geführt. Die Recherche zu diesem Buch hat gezeigt, wie dringend nötig es ist, diese Lücken aufzufüllen und politische Integrationskonzepte für Schulen zu entwickeln, statt diese Themenfelder allein dem teils großen persönlichen Engagement von Lehrern, Helfern und der Zivilgesellschaft zu überlassen. Ich möchte mit diesem Buch einen ersten Blick auf die gesamte Dimension des Themas eröffnen und damit eine Diskussion über eine dringend notwendige pragmatische Integrationspolitik in Verbindung mit einer modernen Schulpolitik anregen. Ich möchte eine Integrationsdebatte anstoßen, die zugleich Antworten darauf gibt, wie die Kinder in Deutschland in Zukunft lernen und leben können.

Die Datenlage ist wie in den meisten Bereichen der Flüchtlingsdebatte sehr undurchsichtig. Vieles beruht auf Schätzungen. Es gibt keine bundesweiten Zahlen darüber, wie viele Schüler in den Deutschlernklassen unterrichtet werden und wie viele im ganzen Bundesgebiet schon im regulären Unterricht dabei sind, einen Abschluss zu machen. Das ist problematisch, weil sich dadurch kaum ein Bedarf errechnen lässt und die Schulpolitik wenig Steuerungsmöglichkeiten entwickeln kann.[10] Das Thema Integration an Schulen stößt zwar auf Interesse bei Bildungsforschern, ist aber kaum systematisch und bundesweit – und auch nicht international – evaluiert.

Die Recherche konzentriert sich auf staatliche Grund- und weiterführende Schulen sowie auf die Berufsschulbildung und Ausbildungsvorbereitung, weil hier die breite Menge der Zuwanderer unterrichtet wird. Private Schulen wurden ausgeklammert, gleiches gilt für den Hochschulbereich. Ich richte den Fokus auf die Schulen in den Bundesländern Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen, die ich exemplarisch für die Unterschiede im föderalen System – wirtschaftlich und bildungspolitisch – herangezogen habe.

Fast täglich kommen neue politische Vorschläge und Diskussionen auf, die sich in dem weit gefassten Feld von Integration, Schulpolitik und Zuwanderung bewegen. Das Buch gibt den Stand von Juli 2018 wieder. Ich habe mit Lehrerinnen und Lehrern, Schulleiterinnen und Schulleitern, Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern gesprochen und die Einschätzung von Vertretern der Verbände sowie von Experten aus dem Bereich Migration, Pädagogik und Kultur erfragt. Zur besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit habe ich mich dafür entschieden, männliche und weibliche Personen mit dem generischen Maskulinum zu benennen. Wenn die Rede von »Lehrern« und »Schülern« ist, gehören Frauen und Mädchen selbstverständlich genauso mit zu dieser Gruppe. Die Namen der Lehrer, Schüler und Eltern sind mir bekannt, wurden aber zum Schutz aller Personen verändert. Die Namen der Schulleiter und der besuchten Schulen sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, authentisch.

Mein Dank gilt den vielen Lehrern, die mir die Türen zu ihren Klassenzimmern geöffnet haben, und den Schülern, Eltern und Mitarbeitern an den Schulen, die mir zusammen mit den Lehrern das nötige Vertrauen entgegengebracht haben, über die Missstände, aber auch über ermutigende Versuche in den Klassenzimmern berichten zu können.

1Überrumpelt und kreativ – die Schulen

Da stand sie nun. Vor ihr saßen zwölf Schüler zwischen zehn und 16 Jahren. Wobei genau genommen nicht alle saßen. Zwei Jungen lieferten sich zwischen den Gängen eine wilde Diskussion, mehrere Mädchen redeten aufgeregt durcheinander. Einige Schüler saßen still und schauten ihre Lehrerin fragend an. »Bitte Ruhe. Setzt euch hin« – über ihre eigenen Ermahnungen muss Melanie Liebig zwei Jahre später lachen. Denn die Schüler verstanden sie nicht, und sie verstand ihre Schüler nicht. Es war der erste Schultag der Lehrerin in der Deutschlernklasse in Berlin-Kreuzberg, und sie hatte keine Ahnung, wie sie dieser gemischten Gruppe Deutsch beibringen sollte. Noch heute erinnert sie sich an den ersten Tag in der Berliner Sekundarschule im Jahr 2016. Heute weiß sie, wie sie es besser angestellt hätte: klare Ansagen, klare Regeln vermitteln, erst einmal mit Gesten die Grundregeln erklären. Bevor man spricht, meldet man sich. Die Lehrerin erwartet, dass sich Schüler beteiligen. Die Lehrerin schlägt nicht. Seitdem Melanie Liebig nach einigen Wochen Unterricht im Oktober 2016 verstanden hatte, dass ihre neuen Schüler ganz andere und unterschiedliche Erfahrungen in ihren Herkunftsländern gemacht hatten und verstehen mussten, was von ihnen in Deutschland erwartet wurde, ging es besser. Schon nach wenigen Wochen saßen die Schüler ruhig im Klassenraum. Sie meldeten sich, bevor sie sprachen. Sie lernten die ersten deutschen Sätze. »Da wurden viele Lehrer verschlissen, die aufgegeben haben«, berichtet Melanie Liebig. »Die Politik tat, als hätte es noch nie Zuwanderung gegeben.«

Auf die Ankunft der neuen Schüler waren die Schulen in Deutschland nicht vorbereitet. Rund 337 000 Zugewanderte zwischen sechs und 18 Jahren kamen von 2015 bis 2016 in die Klassenzimmer.[1] Mindestens die Hälfte von ihnen sind Flüchtlinge. Die Zahl der Asylsuchenden war schon seit einigen Jahren gestiegen. Doch nur in wenigen Bundesländern gab es an den Schulen Angebote für Schüler, die nicht Deutsch sprechen, und zunächst ging es auch nur darum, möglichst jedem Kind einen Platz an einer Schule zu verschaffen.

Das erwies sich als gar nicht so leicht, denn all das, was man benötigte, ist an vielen Schulen in Deutschland ein akuter Mangel. Man brauchte weitere Räume, weil die Schülerzahl anstieg. Vor allem aber brauchte man neue Lehrer – sehr viele sogar – und Menschen, die es an den Schulen nicht genügend gab und gibt: Fachkräfte, die Deutsch als Zweitsprache vermitteln können, Sozialpädagogen und Dolmetscher. Man krempelte also die Ärmel hoch; die Bundesländer kratzten ihre Reserven zusammen, stellten zusätzliche Lehrer ein, und die Schulleiter – vor allem aber die Lehrer – nahmen ihre neuen Aufgaben teilweise sehr enthusiastisch an. Es ging nicht nur darum, sich auf acht verschiedene Sprachen und unterschiedliche Altersgruppen einzustellen; es saßen auch Kinder aus syrischen Bildungsbürgerfamilien neben jugendlichen Analphabeten aus Afghanistan in Schulklassen, und die Lehrer fragten sich, wie sie all den Schülern Deutsch beibringen sollten. Es herrschte Aufbruchstimmung an den Schulen. Das Engagement Tausender Lehrer führte dazu, dass Medien und Beobachter in kürzester Zeit die ersten euphorischen Bilanzen zogen: »Und siehe da: Sie schafften es«, hieß es in Medienberichten. Der Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Andreas Schleicher, erklärte im März 2016, Deutschland könne zum Musterbeispiel für eine erfolgreiche Integration werden, in aller Welt würde man »von Deutschland lernen können und wollen«.[2]

Der Eifer und das Engagement der Lehrer täuschte aber über fehlende Konzepte hinweg. Denn Deutschland hat trotz jahrzehntelanger Erfahrung mit Migration kaum wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse darüber gesammelt, wie man Kinder, die zuwandern, am besten unterrichtet.[3] Das sagt auch der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration Thomas K. Bauer: »Wir haben in der Vergangenheit viel verpasst. Es ist ja nicht die erste Zuwanderungswelle in Deutschland, aber es wurde versäumt, schulintegrationspolitische Konzepte, die wir in früheren Zuwanderungswellen zum Teil ausprobiert haben, wissenschaftlich zu evaluieren. Wir wissen relativ wenig darüber, was wirklich gut funktioniert und warum.«[4]

Es gibt also letztlich keine professionell ausgearbeitete und pädagogisch anerkannte Unterrichtsform für Schüler, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Und so verwundert es nicht, dass Einsatzbereitschaft und Euphorie der Lehrer nach der ersten Improvisationsphase nachließen. Das dumpfe Gefühl vieler Lehrkräfte, dass die eigentliche Aufgabe noch bevorstehen könnte, bestätigte sich. Denn es ging ja nicht nur darum, allen Kindern und Jugendlichen möglichst schnell einen Schulplatz zu verschaffen, sondern auch darum, dass sie an den Schulen einen Abschluss machen können, in der Schulgemeinschaft ankommen und Freundschaften knüpfen. Die Schulen – das war von Anfang an die Erwartung – sollten den Schülern nicht nur Deutsch beibringen, sondern sie auch in den Regelunterricht integrieren und dabei möglichst dafür sorgen, dass sie nicht unter sich bleiben. Sie sollten Integrationsmotoren werden.

Das Schulsystem ist aber eher ein Motor der frühen Trennung und des Aussortierens von Schülern, die aus Familien mit nicht akademischem Hintergrund kommen. »Heterogenität« im pädagogischen Sinne gehört zwar zum Alltag an den Schulen, doch darauf sind viele nicht eingestellt. Dieser Begriff umfasst die Merkmale, wie Schüler lernen. Dazu zählen unterschiedliche Leistungen und Begabungen, aber auch Alter und Geschlecht und die kulturelle oder soziale Verschiedenheit. Daraus ergibt sich die Zusammensetzung der Schülerschaft.[5] Die Lehrer haben kaum die Möglichkeit, die Schüler gemäß ihrem jeweiligen Tempo zu fördern; sie müssen schon in den Grundschulen vor allem aussortieren und einen Teil der Schüler auf das Gymnasium vorbereiten. Diese frühe Determinierung ist im internationalen Raum einzigartig und hält sich hartnäckig. Darüber ist viel diskutiert worden, und die Debatte ist ideologisch besetzt und bleibt pragmatischen Argumenten verschlossen. Doch dass sich in Deutschland schon im Kindergarten mitentscheidet, was ein Kind später lernen wird, hat unmittelbare Folgen für die Integration. Denn ausgerechnet die im deutschen Schulsystem unerwünschte Vielfalt bringt die Flüchtlingsgeneration in hohem Maße mit. Die Kinder und Jugendlichen sprechen nicht nur andere Sprachen. Sie legen auch scheinbar unerklärliche Verhaltensweisen an den Tag und sind von Erlebnissen geprägt, über die sie oft nicht sprechen wollen. Sie haben unterschiedliche Ansätze, Mathematikaufgaben zu lösen, und eine andere Form zu kommunizieren.

Diese Kinder treffen nun auf ein Schulsystem, das wenig Raum für individuelle Förderung bietet und einer möglichst perfekten deutschen Bildungssprache schon in den Grundschulen einen hohen Stellenwert beimisst. Die neuen Schüler brauchen aber besonders viel Aufmerksamkeit; außerdem müssen sie die deutsche Sprache von Grund auf lernen und obendrein den Weg von der Alltags- zur Bildungssprache schaffen, auf die der Fachunterricht aufbaut. Dass das mit den Mitteln der Schulen nur mit großen Einschränkungen zu bewältigen ist, erkennen Lehrer, Schulleiter und Verbände. Mit wem man auch spricht, die Aussagen wiederholen sich: »Das ist eine Riesenaufgabe für uns. Es muss noch jede Menge passieren.« – »Wir können das nicht schaffen. Wir wissen nicht, wie das gehen soll.« – »Da müsste endlich was passieren.« – »Wenn wir das nicht irgendwie lösen, bekommen alle bald ein großes Problem.« Die an vielen Schulen herrschende Stimmung fasst der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Udo Beckmann folgendermaßen zusammen: »Die Schulen fühlen sich alleingelassen. Sie haben keine Ansprechpartner.«

Das Engagement der Lehrer und die Improvisationsfreude der Schulen war und ist groß, aber man braucht Konzepte und Pläne, Personal und neue Strukturen. In einigen Bundesländern war die Ankunft der neuen Schüler der Anlass, veraltete Lehrpläne zu überarbeiten und neue Sprach- und Integrationskonzepte auszuprobieren.

An den Schulen zeigen sich drei Kernprobleme:

1.Es fehlen Lehrer, die Deutsch als Zweitsprache vermitteln können. Allein für die im Jahr 2015 ins Land gekommenen Flüchtlinge machte eine frühe Schätzung einen Bedarf von bis zu 35 380 Lehrerstellen und 7520 Stellen für Sozialarbeiter oder Integrationshelfer aus.[6] Dies trifft zusammen mit einem deutlichen Grundschullehrermangel. Bis zum Jahr 2030 müssen einer Studie zufolge allein wegen des Mehrbedarfs durch den Ausbau der Ganztagsschulen und wegen steigender Schülerzahlen deutschlandweit rund 45 500 Grundschullehrer zusätzlich eingestellt werden.[7]

2.Schulische Integration von ausländischen Kindern ist ein Bereich, der von der Forschung und den Bildungsinstituten vernachlässigt wurde. Die verschiedenen Zuwanderungsbewegungen hinterließen keine verlässlichen und vergleichbaren Erkenntnisse darüber, welche pädagogischen Methoden erfolgreich sind.

3.Es fehlt ein bundesweites schulisches Konzept zur Integration von Nichtmuttersprachlern an deutschen Schulen und zum Übergang in den Regelunterricht.

Deutsch lernen – aber wie?

Wie man Schülern mit unterschiedlichen Muttersprachen Deutsch beibringt und sie in den Schulalltag integriert, darüber weiß man eigentlich nichts, sagen Bildungsforscher. Überhaupt ist der ganze Bereich der Sprachförderung kaum evaluiert, obwohl fast jedes dritte Schulkind inzwischen Nachholbedarf hat.[8] Zwar ist über die Gesetze der Bundesländer die Schulpflicht der neu zugewanderten Schüler geregelt, aber für die Unterrichtsinhalte und die Struktur der Deutschlernklassen – oder »Vorbereitungsklassen«, »Willkommensklassen«, »Übergangsklassen«,[9] wie sie auch genannt werden – gibt es kaum schulrechtliche Vorgaben.[10] Das ist einigermaßen überraschend, denn Zuwanderung ist längst ein Normalfall in der deutschen Geschichte.[11] Bereits vor der im Jahr 2015 umfänglich einsetzenden Flüchtlingsbewegung aus dem Irak, Syrien und Afghanistan kamen schon Kinder und Jugendliche aus Russland und den EU-Mitgliedsstaaten Polen, Bulgarien, Rumänien, Italien, Griechenland, Spanien und Kroatien nach Deutschland.[12] Sie alle verbindet, dass sie erst einmal die deutsche Sprache lernen und den Weg in den regulären Schulunterricht finden müssen.

Schon in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Schüler aus dem Ausland, vor allem die Kinder der Arbeitsmigranten aus Südeuropa, oft in separaten »Ausländerklassen« oder sogar an eigenen Schulen unterrichtet – teilweise auch auf Wunsch der Zuwanderer selbst. So entstanden in Bayern griechische Volksschulen, die von den dort lebenden »Gastarbeitern« selbst eingerichtet wurden.[13]

Im Jahr 1971 galt noch die Empfehlung der Kultusminister, neu zugewanderte Kinder, die in Deutschland schulpflichtig wurden, »in der Regel« in die normale Schulklasse aufzunehmen, auch wenn sie noch nicht ausreichend Deutsch sprachen. Doch ein Beschluss aus dem Jahr 1976 löste diese Empfehlung ab. Seitdem konnten auch schon in der ersten Klasse solche Vorbereitungsklassen eingerichtet werden. Mit dem Beschluss durften die separaten Vorbereitungsklassen für ausländische Schüler aus zwei Jahrgangsstufen in eine Klasse zusammengeführt werden. Die Verweildauer wurde auf bis zu zwei Jahre angehoben. Durch diese Neuerungen im Jahr 1976 glichen diese Klassen in ihrer Organisationsstruktur einer regulären Schulklasse.[14]Außerdem machte der Beschluss von 1976 sogenannte »national homogene Klassen« möglich. Bei mehr als 25 Schülern einer Nationalität konnten die Schulen diese anbieten und dort muttersprachlichen Unterricht halten. Deutsch wurde als Fremdsprache unterrichtet. Kritiker sehen darin eine Unterrichtsform, die schulische Segregation verstärkte.[15]

Bis heute gilt in Deutschland das Prinzip, dass Schüler aus dem Ausland zunächst in Deutschlernklassen gehen, wenn sie erhebliche Probleme mit der Sprache haben. Erst später sollen sie in den regulären Unterricht wechseln. Die Grundlage für diese heute noch geltende Praxis lieferten ebenjener Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1976 und ein weiterer aus dem Jahr 1979, wonach Schulen für »Kinder ausländischer Arbeitnehmer« über mehrere Jahrgangsstufen hinweg reine »Ausländerklassen« einrichten durften, sobald mehr als ein Fünftel der Schüler zu dieser Gruppe zählte.[16]

Bis Anfang der 1990er-Jahre galten in den alten Bundesländern für die Kinder von Spätaussiedlern andere schulische Bestimmungen als für Kinder von Asylbewerbern. Untersuchungen zufolge führte das in Realschulen und Gymnasien zu besonderen Rechten von Schülern aus Spätaussiedler-Familien, etwa durch detailliertere Unterrichtsvorgaben. Forscher sprechen von »Bevorzugung« – wenn auch in eher geringem Maße.[17]Insgesamt hätten beide Migrantengruppen unter der »mangelnden pädagogischen Qualität« des Unterrichts gelitten. Umstritten ist, ob diese leichten Vorteile zu erkennbar besseren Schulergebnissen der Spätaussiedler-Schüler beitrugen oder ob die im Vergleich zu vielen Asylbewerbern besseren sozialen Bedingungen im Elternhaus die Ursache waren. Letztlich setzte sich Mitte der 1990er-Jahre in vielen Schulen ohnehin gemeinsamer Unterricht für Asylbewerber und Spätaussiedler durch.[18]

Diese Regelung der getrennten Klassen für die »Gastarbeiterkinder« ist heute in dieser Form politisch nicht mehr vorgesehen. Auch damals galt sie als Ausnahmeregel, führte aber dazu, dass unter anderem in Westberlin diese Schüler unter sich blieben und isoliert wurden. In Westberlin gingen 1985/86 rund 1700 Jugendliche aus ausländischen Familien an den Hauptschulen in andere Klassen als ihre deutschen Mitschüler. An vielen deutschen Grund- und Hauptschulen waren solche ausgrenzenden Unterrichts- und Schulformen bis Ende der 1990er-Jahre der Normalfall.[19] Verschiedene politische Impulse – unter anderem in Nordrhein-Westfalen –, zugewanderte Schüler mit in Deutschland geborenen Kindern in gemischten Klassen zu unterrichten, scheiterten auch daran, dass sich die Eltern der deutschen Schüler dagegen wehrten.[20]

Heute ist das pädagogische Ziel, Jugendliche möglichst schnell in den Regelbetrieb einzugliedern, vonseiten der Politik viel klarer formuliert als Ende der 1970er-Jahre.[21] Die Schüler kommen erst in Deutschlernklassen und sollen dann schrittweise oder nach einem festen Zeitpunkt in den regulären Unterricht gehen. Manche Schulen beginnen auch sofort mit teilintegriertem Lernen. Seit 2013 gilt die Empfehlung der Kultusministerkonferenz der Länder, die sogenannte Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, die 1996 beschlossen und danach überarbeitet wurde.[22] Die »Schule der Vielfalt« ist das Leitbild für alle Bundesländer. Experten sehen diesen Kurs als paradigmatischen Wandel, der Migration als Normalfall betrachtet. Zumindest ist der politische Wille da, dass sich die Schulen als Teil einer Migrationsgesellschaft aufstellen.[23]

Die Flüchtlinge sollen nicht von den anderen Kindern isoliert werden, sondern möglichst viele Kontakte haben. Dass die Schüler in den Regelunterricht integriert werden, ist in dieser deutlichen Formulierung im Gegensatz zu den 1970er-Jahren ein Novum.[24] Die Schulen betreten also gewissermaßen Neuland – obgleich sie eigentlich auf eine jahrzehntelange Zuwanderungskompetenz zurückblicken müssten.[25] Interessant ist zu beobachten, wie verschieden die Ansätze in Bayern, Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen sind, die ich mir für die Recherche dieses Buchs angeschaut habe.

In einem klassischen Einwandererland wie Kanada würde man sich die Augen reiben, dass in Deutschland darüber diskutiert wird, welche Bedürfnisse Schüler aus dem Ausland haben. In kanadischen Schulen ist es selbstverständlich, dass alle Zuwanderer die Sprache für ihre individuellen Bedürfnisse lernen können. Es gibt unzählige Kurse für alle Berufsgruppen. Man mag einwenden, dass Kanada eine aktive Einwanderungspolitik betreibt, dass unter den Zuwanderern gezielt angeworbene Kräfte sind und dies nicht mit der Situation der Asylsuchenden in Deutschland vergleichbar ist. Dennoch offenbart die kanadische Herangehensweise an den Schulen einen deutlich pragmatischeren und eher zielgerichteten Ansatz, der vieles erleichtert.

In Deutschland ist das komplizierter. Alles beginnt damit, dass jedes Bundesland selbst entscheiden kann, wie und in welchem Umfang die zugewanderten Kinder und Jugendlichen Deutsch lernen. Es gibt unterschiedliche Verordnungen, Vorschriften oder Leitfäden, die aber eher Empfehlungen sind,[26] und so werden an den Schulen unzählige Modelle und Zwischenformen verfolgt. Dass man die ausländischen Kinder und Jugendlichen sofort mit Deutschen zusammensetzt, damit sie in die Klasse integriert und in Zusatzstunden sprachlich gefördert werden, ist genauso möglich, wie dass sie eine reine »Flüchtlingsklasse« besuchen, in der sie zunächst Deutsch lernen. In Sachsen oder Bremen beispielsweise werden die Kinder vom ersten Tag an ins Regelsystem übernommen und lernen Deutsch in zusätzlichen Klassen. In Bremen lernen die Schüler jeden Tag vier Stunden die Sprache, den Rest des Tages verbringen sie im regulären Unterricht – erst mit Sport und Musik, später folgen weitere Fächer. In Berlin hingegen gibt es eine strikte Einteilung in Deutschlernklassen. Tatsächlich ist und wird in Deutschland nicht erfasst, wie viele ausländische Schüler wie lange in Deutschlernklassen gehen, welche Anschlussmöglichkeiten sie haben – und wie erfolgreich diese Klassen sind. Auch Schulleistungsstudien wie PISA oder der IQB-Ländervergleich klammern diese Klassen für Zuwanderer aus. Und die gesamte pädagogische Ausgestaltung dieser Klassen für Zugewanderte wurde nicht untersucht; man kann also kaum etwas darüber sagen, was die Schüler früherer Zuwanderungsbewegungen dort gelernt haben und wie ihre Kontakte zu den Regelschülern aussahen. Ganz offensichtlich wurde also in vielen Schulen für die Flüchtlingsschüler wieder bei null angefangen.[27]

Dass Schüler einen Platz in einer Schule zugeteilt bekommen, ist nur der erste verwaltungstechnische Schritt. Manche Schüler sind gut vorgebildet, doch ihr Lernniveau ist schwer einzuschätzen, und andere sind Analphabeten. Einige können nicht mit Büchern umgehen und wissen nichts mit einem Lineal anzufangen, andere rechnen nach wenigen Wochen komplexe Aufgaben in Mathematik, sodass die Lehrer nur erahnen können, dass der Schüler entweder sehr gute Vorkenntnisse hat oder Talent. Es ist schwer herauszufinden, was ein Schüler mitbringt. Viele haben keine Pässe oder Papiere mehr und auch keine Schulzeugnisse.

An den meisten Schulen hat sich inzwischen – auch aus organisatorischen Gründen – das Konzept der Deutschlernklassen durchgesetzt. Dort lernen Schüler einige Monate oder sogar zwei Jahre erst mal die Sprache, manchmal auch das Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat, was man als Wertekunde bezeichnen könnte. Einige Schulen verknüpfen dies mit einem Schulabschluss.[28] Manche Bundesländer haben feste Lehrpläne entwickelt und Vorgaben formuliert, wann und wie der Wechsel in den Regelunterricht erfolgt, andere nicht.[29] Oft stehen dahinter übergeordnete politische Ziele wie in Rheinland-Pfalz. Dort gehen Flüchtlinge in den Regelunterricht, weil die Landesregierung bewusst separate Unterrichtsformen vermeiden will. Ähnliche Gedanken verfolgte die frühere rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Man wollte aus den Versäumnissen der Vergangenheit lernen und separate »Ausländerklassen« vermeiden.

Häufig hat es aber auch pragmatische Gründe, dass man Schüler direkt zusammen mit Deutschsprachigen unterrichtet und parallel in Deutsch fördert, beispielsweise wenn es nicht genügend Schüler gibt, um eine Deutschlernklasse zu bilden. An vielen Grundschulen werden Kinder direkt in den regulären Unterricht eingeschult. Manche Schulen bieten eigener Recherche zufolge erst ab der dritten oder vierten Klasse eine Deutschlernklasse an.

Viele Schulen mussten 2015 also improvisieren – was auch an der großen Zahl der neuen ausländischen Schüler lag, die auf einmal kamen. Wo es keine Lehrpläne gab, musste man erst einmal welche erstellen, damit auch Lehrer, die keine Erfahrung mit Zuwanderern hatten, sich orientieren konnten. Die Recherche zeigte: Einige Bundesländer verfassten Handreichungen, beispielsweise Baden-Württemberg und Hessen, oder boten, wie Mecklenburg-Vorpommern, umfangreiche Materialien und Orientierung für die Lehrer an. Sachsen und Bayern konnten schon auf feste Lehrpläne für Deutsch als Zweitsprache zurückgreifen, die erweitert wurden. Niedersachsen und Thüringen hingegen entwickelten neue Lehrpläne. Sehr umfassend ist der Hamburger Lehrplan für Deutsch als Zweitsprache. Die Deutschlernklassen haben verglichen mit den regulären Klassen nur die halbe Schülerzahl und am Ende dieser Klassen steht ein Schulabschluss. Doch es gibt auch Bundesländer ohne Lehrpläne und vorgegebene Strukturen für die Deutschlernklassen.

Nordrhein-Westfalen ist eines dieser Länder. Dort gibt es keinen Lehrplan für den Unterricht mit Deutschlernern. Ein Kurswechsel der früheren rot-grünen Landesregierung führte dazu, dass sich zwei Modelle an den Schulen entwickelt haben. Im Sommer 2016 plädierte die damalige Schulministerin Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen) dafür, die Schüler statt in Deutschlernklassen besser direkt in den Regelunterricht zu schicken und parallel zu fördern. Löhrmann sagte schon im September 2015 im Ausschuss für Schule und Weiterbildung: »Wir wollen in Nordrhein-Westfalen keine Einheitsschule und auch bei der Integration keine Einheitsmuster. Daher werden wir im Sinne der individuellen Förderung und der standortbezogenen Konzepte die schnellstmögliche Integration ohne Segregation und Gettoisierung fördern.«[30] Nachdem Schulen und Lehrerverbände davor warnten, dass die Schüler damit nicht ausreichend sprachlich gefördert werden könnten, ruderte sie zurück. Jetzt bieten einige Schulen separate Deutschlernklassen an, andere wiederum integrieren die Schüler direkt in den Regelunterricht und setzen auf zusätzliche Sprachförderung, die aber nach zwei Jahren endet. Für die Schüler bedeutet das: Wenn sie bereits im regulären Unterricht sind, bekommen sie Zeugnisse. Werden sie in Deutschlernklassen unterrichtet, bekommen sie einen Lernstandsbericht und müssen den regulären Unterricht abwarten, um einen Schulabschluss machen zu können.[31] Diese Deutschlernklassen bestehen auch an Gymnasien, aber die meisten Schüler wechseln von dort aus später auf sogenannte Brennpunktschulen oder Gesamtschulen. Nordrhein-Westfalen schuf von 2015 bis 2017 nach Angaben des Ministeriums 7434 neue Lehrerstellen, um den Flüchtlingskindern Deutsch beizubringen. Hinzu kommen rund 3500 Stellen für Integrationshelfer, die die Lehrer bei der Sprachförderung unterstützen oder erzieherische Aufgaben übernehmen können und Kontakt zu den Eltern der Schüler aufnehmen.[32] Die im Jahr 2017 mit dem Regierungswechsel nachfolgende Ministerin für Schule und Bildung Yvonne Gebauer (FDP) hat nun ein Jahr nach Beginn ihrer Amtszeit einen Kurswechsel vorangetrieben. Ein neuer Integrationserlass soll von Herbst 2018 an mehr Verbindlichkeit und Regelungen bringen.[33] Zum Beispiel soll der geplante Erlass alle Schulen dazu verpflichten, Flüchtlinge höchstens zwei Jahre lang getrennt von deutschen Schülern zu unterrichten. Am Ende sollen die Lehrer pädagogisch darüber entscheiden, welche Schulform für den Schüler geeignet ist. Diese Entscheidung soll nach einem halben Jahr noch mal überprüft werden. Damit will man verhindern, dass zum Beispiel begabte Jugendliche auf Hauptschulen landen, nur weil dort ein Platz frei ist.

In Bayern werden Flüchtlinge entweder in Deutschlernklassen, sogenannten Übergangsklassen, unterrichtet oder parallel zum regulären Unterricht in Deutsch gefördert. Im Regelfall gehen sie im Sekundarbereich auf Mittelschulen, die Nachfolger der Hauptschulen. Wer älter ist als 16 Jahre, bekommt in der Regel einen Platz an der Berufsschule. Rund 17 000 Schüler besuchten im Herbst 2016 die 948 Berufsintegrationsklassen an den Berufsschulen, die sie auf die Ausbildung vorbereiten. Das Schulamt des Landkreises entscheidet darüber, ob eine Schule eine Deutschlernklasse einrichtet. Einzelne Flüchtlingsschüler und auch einige Lehrer aus ländlicheren Regionen berichten, dass neben dem regulären Unterricht keine DaZ-Förderung angeboten wurde. In Bayern gibt es einen festen Lehrplan für den Unterricht mit Flüchtlingen. Schüler, die in Deutschlernklassen an der Mittelschule gehen, machen am Ende einen Abschluss der Mittelschule, vergleichbar dem Hauptschulabschluss. Damit das gelingt, werden die Lehrer in den vergleichsweise großen Deutschlernklassen zusätzlich unterstützt. Um den Unterricht auszubauen, wurden im Jahr 2016 Sondermittel in Höhe von 10 Millionen Euro bereitgestellt.[34] Das Land stellte allein im Nachtragshaushalt für 2016 insgesamt rund 160 Millionen Euro für Deutschkurse und Deutschförderkurse an den Schulen zur Verfügung. Im Schuljahr 2017/18 gab es 610 Deutschlernklassen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will nun das bestehende System ändern und die dortigen »Übergangsklassen« namentlich in »Deutschklassen« ändern, in denen stärker auf Wertekunde gesetzt und die Schüler im Ganztag unterrichtet werden sollen. Der Plan stößt bei Lehrern, Verbänden und Opposition auf Verständnislosigkeit. Politische Beobachter werten diesen Vorstoß als Kurswechsel von dem bisherigen Integrationsansatz in Bayern hin zu einer Politik, die auf Exklusion und Abschottung setzt, da diese »Deutschklassen« das bevorzugte Modell an den Schulen werden sollen.

Berlin richtete 2011 »Willkommensklassen« für Zuwanderer ein. Sie lösten die vorherigen »Lerngruppen für Sprachförderung« ab, in denen ausländische Schüler, die kaum oder schlecht Deutsch sprachen, intensiv auf Deutsch als Unterrichtssprache vorbereitet wurden.[35] Die Vielzahl der Flüchtlinge und Asylbewerber, die in diesen Jahren nach Berlin kamen, hatte die Kapazitäten der Lerngruppen überstiegen. Damit begründet der Senat die Einrichtung der »Willkommensklassen«.[36]Auch diese folgen – formal gesehen – dem Prinzip, dass Schüler eine gewisse Zeit Deutsch lernen und auf den Regelunterricht vorbereitet werden. Der Senat betont: »Alle seit 1996/97 bestehenden Organisationsmodelle für zugezogene Kinder und Jugendliche waren temporär.«[37]

»Temporär« sollten allerdings auch schon die Vorgängermodelle jener Unterrichtsformen für ausländische Schüler gewesen sein. Auch die »Vorbereitungsklassen« für ausländische Schüler oder »Aussiedler-Förderklassen«, die bereits in den 1970er-Jahren im Schulrecht verankert wurden, hatten das Ziel, die Schüler auf den Besuch der Regelschule vorzubereiten.

Doch die Kinder und Jugendlichen blieben dort auch schon in den 1970er-Jahren Berichten zufolge länger als geplant oder wurden sogar in »Ausländerklassen« zusammengefasst. Der »Tagesspiegel« schreibt dazu: »Anfang der achtziger Jahre stieg die Zahl der Kinder, die über den sogenannten Familiennachzug nach Berlin kamen, stark an, ohne dass bildungspolitisch in besonderer Weise darauf reagiert worden wäre. Zudem wurde die Schulpflicht für Asylbewerber erst Ende der achtziger Jahre eingeführt. Tausende Kinder von Flüchtlingen etwa aus dem Libanon, heute oft selbst Eltern von schulpflichtigen Kindern in Berlin, haben deshalb keine Schulbildung erhalten.«[38]

Nun heißen diese Deutschlernklassen für ausländische Kinder und Jugendliche in Berlin also »Willkommensklassen«. Die Behörden entscheiden je nach Vorbildung, Entwicklung und Alter, ob die Schüler direkt in eine Regelklasse oder erst in eine der Deutschlernklassen mit maximal zwölf Schülern gehen.

Ein Lehrplan gilt für die Deutschlernklassen nicht; in regelmäßigen Abständen erscheinen Handreichungen, an denen sich die Lehrer orientieren sollen. Der Senat macht grobe Vorgaben. Ein Leitfaden aus dem Jahr 2012, der 2016 aktualisiert wurde, gibt den Schulen recht weit auslegbare Handlungsanweisungen.[39] Schüler sollen nach einem Jahr den Regelunterricht besuchen; der Lernstand und Spracherwerb sollen regelmäßig dokumentiert werden. Die Schüler bekommen am Ende der Deutschlernklasse keine Zeugnisse, sondern Lernstandsberichte. Statt festem Lehrplan bleibt vieles den Schulen selbst überlassen: »Die Lehrkräfte orientieren ihre Unterrichtsangebote an den sprachlichen und inhaltlichen Anforderungen des für den Übergang angestrebten Jahrgangs des Regelsystems«, heißt es aus der Berliner Senatsverwaltung für Bildung. »Sie sollen eng mit den dort unterrichtenden Lehrkräften zusammenarbeiten.«[40] Für die rund 20 000 Flüchtlingskinder, die im August 2017 die Berliner Schulen besuchten, wurden zusätzlich 1200 Lehrkräfte eingestellt.[41] Sie sollen nach Angaben des Senats ins Schulsystem übernommen werden. Bei 250 Lehrern sei das schon geschehen, die meisten als Seiteneinsteiger. [42]

In Sachsen ist man stolz auf das schulische Integrationskonzept aus dem Jahr 2000, das speziell für die zuziehenden Russlanddeutschen entwickelt wurde und seither gilt. Die Flüchtlinge bekommen einen Platz in einer normalen Schulklasse und in einer Deutschlernklasse. In drei Etappen sollen sie dann letztlich nur noch den Regelunterricht besuchen. In Etappe 1 bekommen Grundschüler 15 Stunden pro Woche Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ), maximal zwei Monate lang; an Oberschulen sind es 25 Stunden pro Woche für maximal zehn Wochen. In Etappe 2 bekommen die Schüler individuell zusätzlichen DaZ-Unterricht – an der Oberschule maximal ein Jahr. In Etappe 3 sind die Schüler voll in die Regelklassen integriert und bekommen auch Noten. Begleitend wird weiterer Sprachförderunterricht angeboten. Im Oktober 2017 standen für die rund 34 000 Schüler mit ausländischem Hintergrund nach Auskunft der sächsischen Staatsregierung 1107 Vollzeit-Lehrerstellen zur Verfügung. Das Staatsministerium für Kultus erklärte, dass nicht mehr alle zugewanderten Schüler Bedarf an zusätzlichem Sprachunterricht hätten; von allen Schülern mit ausländischen Wurzeln bekamen in diesem Vergleichszeitraum nur noch rund 28 000 in irgendeiner Form Deutschunterricht.[43] Wie Berlin leidet auch Sachsen unter einem eklatanten Lehrermangel, der sich vor allem an den Grundschulen zeigt.

Nach Angaben von Lehrern und Paten von Flüchtlingen schicken viele Koordinierungsstellen in den Bundesländern Flüchtlinge, die 16 Jahre oder älter sind, grundsätzlich an Deutschlernklassen in einer Berufsschule. Es wird vorausgesetzt, dass dies die richtige Schulform für die Neuankömmlinge ist. In Bayern gehen die Schüler in diesem Alter in die Berufsvorbereitungsklassen. In Berlin wiederum berichten Lehrer, Schulleiter und auch die Schüler selbst, dass 16-jährige Flüchtlinge grundsätzlich an ein Oberstufenzentrum verwiesen werden, weil an den Sekundarschulen kein Platz sei. Die Oberstufenzentren sind berufsbildende Schulen, in denen Schüler aber auch andere Abschlüsse machen können. Die Bildungsverwaltung bestreitet eine automatische Aufnahme der über 16-Jährigen in einem solchen Oberstufenzentrum; es werde immer der Einzelfall geprüft. In Kombination mit dem Raum- und Personalmangel im Regelschulsystem gelingt genau das aber oft nicht.[44] Für Flüchtlinge, die schon acht oder zehn Jahre Schulbildung mitbringen, werden diese Deutschlernklassen an den Oberstufenzentren dann zur Sackgasse. Denn inhaltlich bereiten diese Klassen nicht auf einen Schulabschluss vor, sondern führen in die Berufsqualifizierung. Wenn jemand aber schon viele Jahre auf der Schule war und trotzdem kein Zeugnis mitbringt, ist eine solche Klasse eigentlich der falsche Ort.

Deutschlernklassen als Vorbereitung

Deutschlernklassen für Zuwanderer sind eine von mehreren Wegen zum Regelunterricht. Kritiker sehen sie als Orte der Ausgrenzung, weil die Schüler unter sich bleiben oder kaum mit Deutschen in Kontakt kommen. Doch Befürworter sehen die Vorteile darin, dass sie dort erst einmal in geschütztem Raum die Sprache lernen können und verstehen, wie der Alltag in Deutschland funktioniert – das Schulsystem, die politischen Strukturen, die Verwaltung. Sie lernen Alltagsregeln, etwa, dass man sich erst meldet, bevor man spricht, oder welche Bearbeitungszeit bei Tests gelten. Sie sollen Demokratie im Klassenzimmer lernen, wie etwa durch die Wahl von Klassensprechern. Einige Schüler können gar nicht lesen und schreiben, andere beherrschen die kyrillische Schrift (zum Beispiel Russisch oder Serbisch) oder die arabische Schrift.[45] Analphabeten werden an manchen Schulen separat unterrichtet – beispielsweise in einigen Berliner Oberstufenzentren –, teilweise sitzen sie aber auch in den Klassen mit den anderen Deutschschülern. In den Deutschlernklassen gibt es ganz unterschiedliche Sprach- und Bildungsniveaus. Die Aufgabe der Lehrer ist es, auf alle Schüler einzugehen und diese verschiedenen Niveaus zu berücksichtigen, also auch unterschiedliche Aufgaben anzubieten. Es zeigt sich, dass das für einen Lehrer allein schwer möglich ist, insbesondere wenn die Klassen recht groß sind wie in Bayern, wo die Landesregierung bis zu 20 Schüler zulässt. In Berlin sollen es maximal zwölf sein.

In Bayern werden Flüchtlinge nach einem Lehrplan unterrichtet, der immer wieder aktualisiert und angepasst wurde. Die Lehrer sind entweder Mittelschullehrer oder Lehrer anderer Schulformen, die eine Zusatzqualifikation oder ein Aufbaustudium in Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache gemacht haben. Flüchtlinge besuchen vor allem die Mittelschulen, die reformierten Nachfolger der Hauptschulen. Die wenigen Extraklassen an Realschulen und Gymnasien sind Ausnahmen. Der Hauptschulabschluss ist in der Mittelschule mit der Deutschlernklasse verknüpft. Wer zwei Jahre diese Klasse besucht hat, macht am Ende diesen Schulabschluss. Danach können die Schüler entweder eine Berufsausbildung beginnen oder die zehnte Klasse besuchen. Dort, wo es nicht genügend Schüler für eine Deutschlernklasse gibt, bieten die Schulen Extraklassen an, in denen sie stundenweise in Deutsch gefördert werden können, während sie zugleich den regulären Unterricht besuchen. Ein ausgereiftes System der Deutschlernklassen, in Bayern Übergangsklassen genannt, kann man an der Simmernschule beobachten, einer Mittelschule in München-Schwabing.

»Ihr seid beim Arzt, er ruft euch herein. Und was sagt ihr zu ihm?« Von 20 Schülerinnen und Schülern der Übergangsklasse 8 melden sich fünf. »Abdel?« – »Guten Tag, Herr Doktor.« – »Richtig. Und wie sprecht ihr ihn an? Siezt ihr ihn oder duzt ihr ihn?« – »Siezen«, rufen mehrere Schüler. »Pscht. Erst melden!«, ermahnt sie der Lehramtsstudent Robert Miedenscheid.

Gleichzeitig verteilt die Klassenlehrerin Simone Pförtner kleine Kärtchen an die Schüler. Jetzt sollen sie sich in kleine Gruppen zusammensetzen und jeweils drei Dialoge aufschreiben, die sie beim Arzt führen. In der Übergangsklasse 8, wie die Deutschlernklassen in Bayern heißen, sitzen 13- bis 16-jährige Jungen und Mädchen aus zwölf verschiedenen Nationen. Seit Schuljahresbeginn wird in dieser Klasse in der Simmernschule im Münchner Stadtteil Schwabing Deutsch gelernt. Seit vielen Jahren hat man sich hier auf Zuwanderer eingestellt; rund 80 Prozent der Schüler haben ausländische Wurzeln.

Zwei Jahre lang werden die Schüler der Mittelschule auf den regulären Unterricht vorbereitet und dabei intensiv nach dem bayerischen Lehrplan in Deutsch geschult. In der achten Klasse sind das 24 Unterrichtsstunden pro Woche in Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte, Sozial- und Erdkunde, Ethik und Arbeit, Wirtschaft und Technik. Zehn Stunden davon wird Deutschunterricht erteilt, täglich zwei Stunden. Der Lehramtsstudent unterstützt die Klasse und die Klassenlehrerin Simone Pförtner. Der Besuch beim Arzt, den die Schüler jetzt in Dialogen nachspielen sollen, gehört zum Deutschunterricht, denn es geht um Vokabeln, die man im Alltag braucht. Die Inhalte hat Simone Pförtner allerdings dem Biologieunterricht entnommen, wo die Schüler gerade die verschiedenen Körperteile durchnehmen. Fächerübergreifendes Lernen steht an der Simmernschule täglich auf dem Programm, nicht nur im Klassenzimmer. Sprache vermitteln ist man hier gewohnt, denn schon lange kommen Kinder aus Zuwandererfamilien an die Schule, beispielsweise während des Balkankonflikts Mitte der 1990er-Jahre, als in mehreren jugoslawischen Nachfolgestaaten Krieg herrschte.

Klassenlehrerin Simone Pförtner geht mit den Schülern in den Supermarkt und ins Museum. Vor Weihnachten haben sie jede Woche einen christlichen Brauch besprochen. Wozu hat man eigentlich einen Adventskranz? Warum feiert man in Deutschland Weihnachten? Die Schüler waren begeistert. Simone Pförtner hat Englisch, Spanisch und Ethik für das Gymnasiallehramt studiert, sie hat eine berufsbegleitende zweijährige Zusatzqualifikation gemacht und schließlich ein Examen in Deutsch als Zweitsprache abgelegt. Danach wurde sie als Mittelschullehrerin verbeamtet. Seit drei Jahren leitet sie Deutschlernklassen und sagt, dass sie nur noch Sprachlerner unterrichten möchte, denn der »Lernzuwachs« sei enorm, und sie will zuschauen, wie die unterschiedlichen Schüler sich entwickeln. Einige sind mit ihren 13 Jahren noch richtig kindlich.

Die Schüler starten entweder in der fünften oder in der achten Übergangsklasse; sie haben dort zwei Jahre intensiven Unterricht und wechseln dann in den Regelunterricht der achten oder zehnten Klasse. Wer das nicht schafft, der hat am Ende der Schulzeit den Abschluss der Mittelschule. Die Abschlussprüfung ist praktischer gestaltet als für Muttersprachler. Wer es von den Schülern der Übergangsklasse 9 nach zwei Jahren in die reguläre zehnte Klasse schafft, um dann wie alle anderen den mittleren Schulabschluss zu machen, hat es oft noch richtig schwer.

Schwierig könnte es auch für den 13-jährigen Ali aus Syrien werden, dem jüngsten Schüler der Klasse mit noch sehr rudimentären Deutschkenntnissen. Er war Analphabet und hat in wenigen Monaten lesen und schreiben gelernt. In krakeligen Druckbuchstaben steht auf seinem Übungsblatt Ichhaisali untgehssuschul. Er wird es noch schwerer haben als die drei anderen Schüler in der Klasse, die keine lateinische Schrift beherrschen, doch immerhin können sie Arabisch lesen und schreiben. Ganz anders ist es bei der 15-jährigen Krystyna aus Bulgarien. Sie schreibt jede Probe in Schönschrift und fehlerfrei, aber auch sie muss erst einmal die Übergangsklasse 8 beenden und dann aller Voraussicht nach noch ein Jahr in die Deutschförderklasse. An der Wand hängen selbst geschriebene Schilder: »Ich spreche im Unterricht Deutsch.«, »Ich respektiere meinen Lehrer und meine Mitschüler.«, »Ich bleibe ruhig auf meinem Platz sitzen.« In der Ecke befindet sich eine Sitzgruppe, und dort steht auch ein Regal mit Bilderbüchern und einem Puzzle. Da gehen die jüngsten Schüler in den Pausen gerne hin. Bei 20 Schülern kommt die Klassenlehrerin ständig an ihre Grenzen; die Größe der Klasse liegt deutlich über dem bayerischen Schnitt von 13,3 Kindern. Eigentlich brauchte Simone Pförtner in jeder Schulstunde einen Kollegen wie Robert Miedenscheid, der als Drittkraft mit besonderen Fördermitteln finanziert wird, aber nur zehn Stunden pro Woche da ist. Wenn Simone Pförtner allein mit der Klasse ist, kann sie den Schülern nicht bei der Gruppenarbeit helfen.

Auch die Lehrer lernen hier immer noch dazu. Simone Pförtner merkte neulich, wie schwierig manche Themen sind, wie heikel scheinbar unverfängliche Bereiche sein können. Im Deutschunterricht sprach sie das Thema Familie an. Als das Wort »Papa« fiel, wurde es still in der Klasse. Einige Kinder haben keinen Vater mehr. Die Lehrerin hätte gern mit den Kindern über den Tod gesprochen, aber dafür reichen die Deutschkenntnisse der Schüler noch nicht aus. Vielleicht im nächsten Schuljahr.