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Deutschland trauert E-Book

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Beschreibung

In Deutschland wird nach großen Katastrophen der Toten zumeist in einer öffentlichen Feier gedacht. Sie verbindet religiöse und staatliche Trauerfeier. Die religiöse Feier wird dabei bisher als ökumenischer Gottesdienst gestaltet, welcher von den christlichen Kirchen vorbereitet wird. Daran sind immer wieder auch andere Religionsgemeinschaften, vor allem Juden und Muslime, beteiligt. Damit stellt sich die Frage nach Gestalt und Inhalt der Trauergottesdienste. Wie wird mit der Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen in solchen Feiern umgegangen? Wie bringen sich die Kirchen ein? Was ist die Funktion ihrer Rituale in dieser Situation? Welche Bedeutung messen Öffentlichkeit und Staat den Trauerfeiern bei? Sollen solche Feiern zukünftig multi- oder interreligiös begangen werden? Die Beiträge des Bandes diskutieren diese Fragen im gemeinsamen Gespräch von Fachleuten aus Theologie, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie verschiedenen Praxisfeldern.

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Brigitte Benz

Benedikt Kranemann (Hgg.)

Deutschland trauert

ERFURTER THEOLOGISCHE SCHRIFTEN

im Auftrag

der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt

herausgegebenvon Josef Römelt und Josef Pilvousek

BAND 51

Brigitte Benz

Benedikt Kranemann (Hgg.)

Deutschland trauert

Trauerfeiern nach Großkatastrophen als gesellschaftliche Herausforderung

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1. Auflage 2019

© 2019 Echter Verlag, Würzburg

E-Book-Herstellung und Auslieferung

Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN

978-3-429-05362-8

978-3-429-05023-8 (PDF)

978-3-429-06433-4 (ePub)

www.echter.de

Inhalt

Vorwort

Benedikt Kranemann

Deutschland trauert.

Gedenkgottesdienste in pluraler Gesellschaft

Trauern – Erinnern – Mahnen.Zum Umgang mit einer Katastrophe an betroffenen Einrichtungen

Christiane Alt

Kollektive Trauer und ihre Rolle im Aufarbeitungsprozess einer Schule

Brigitte Benz

Eine Stadt trauert.

Zum Umgang mit einem Schulamoklauf in Erfurt

Markus Hoffmann

Trauern und Erinnern – Über die Gedenkfeiern anlässlich des Absturzes des Fluges 4U9525.

Ein Interview mit Markus Hoffmann, Pilot und Theologe

Öffentliche Trauerfeiern aus staatskirchenrechtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive

Ansgar Hense

Öffentliche Trauerfeiern – aus staatskirchenrechtlicher Perspektive

Alexander Thumfart

Öffentliche Trauerfeiern und der Abschlussbericht von Bündnis 90/Die Grünen ‚Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat‘ – aus politikwissenschaftlicher Perspektive

Kirchliche Trauerfeier – staatliche Trauerfeier – Staatsakt: Nebeneinander oder miteinander?

Alexander Saberschinsky

Gottesdienst im Spannungsfeld von kirchlicher und staatlicher Feier.

Ein Blick in die Werkstatt mit liturgietheologischem Erkenntnisinteresse

Michael Meyer-Blanck

Glauben zeigen.

Kirchliche Trauerfeiern als Formen symbolischer Diakonie

Multireligiöse Feiern als Zukunftsperspektive?

Winfried Haunerland

Multireligiöse Feiern als Herausforderung für die Kirchen

Jochen M. Arnold

Zur Praxis und Theologie öffentlicher Rituale und multireligiöser Feiern – eine evangelische Perspektive

Stephan Winter

Das „… letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz …“. Überlegungen zu multireligiösen Gebetsakten anlässlich von Großschadensereignissen aus einer römisch-katholischen Sicht

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Vom 5. bis 6. Juli 2018 hatten der Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät und das Theologische Forschungskolleg an der Universität Erfurt Interessierte aus verschiedenen theologischen und benachbarten Disziplinen sowie aus unterschiedlichen Praxisfeldern zu einer Tagung über Trauerfeiern und Gedenken nach Großkatastrophen eingeladen. Dabei standen das Miteinander von Kirche und Staat und die Einbeziehung unterschiedlicher Religionen in diesen Feiern im Zentrum des Interesses.

Die bisherige Diskussion innerhalb der Theologie(n) hat sich zumeist ausschließlich mit der Rolle der Kirchen und ihrer Gottesdienste beschäftigt. Doch mit diesen Trauerfeiern verbinden sich Anliegen von Kirche und Staat. Auch die Gottesdienste greifen die Trauer einer ganzen Gesellschaft auf. Nur verhalten hat eine Diskussion begonnen, ob man allein den Kirchen die Gestaltung dieser Trauerfeiern überlassen dürfe. Die folgenden Beiträge aus Theologie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft befassen sich mit den damit verbundenen Aspekten und beziehen durchaus kontrovers Position.

Zugleich ist damit eine weitere Frage angesprochen: Wie werden, wenn Deutschland trauert, Nichtchristen, Menschen ohne religiöses Bekenntnis und Nichtgläubige in die Liturgien einbezogen? Unter welchen theologischen Prämissen können sie an den Trauergottesdiensten teilnehmen? Für die Debatte um die Beteiligung von Menschen anderer Religionen an solchen christlichen Gottesdiensten und multireligiösen Feiern analysieren Beiträge verschiedener Theologen die derzeitige Praxis und setzen unterschiedliche Akzente.

Die einzelnen Aufsätze zeigen, wie unterschiedlich gegenwärtig die christlichen Trauergottesdienste innerhalb und außerhalb der Theologie eingeschätzt werden. Eine gesellschaftliche wie kirchliche Auseinandersetzung mit diesen Gottesdiensten ist im Sinne aller Beteiligten, vor allem aber der Trauernden, dringend notwendig. Die folgenden Aufsätze wollen dazu anregen und Impulse für die weitere Diskussion liefern.

Fast alle Referentinnen und Referenten haben ihre Vorträge für den vorliegenden Band zu Aufsätzen ausgearbeitet, die nun für die weitere Diskussion zur Verfügung stehen. Den Autorinnen und Autoren sowie Alfrun Wiese, die die Beiträge kritisch durchgesehen hat, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dank gilt auch dem Echter-Verlag und seinem Lektor Heribert Handwerk für die gute verlegerische Betreuung des Buches.

Erfurt, im Mai 2019

Brigitte Benz – Benedikt Kranemann

Deutschland trauert

Gedenkgottesdienste in pluraler Gesellschaft

Benedikt Kranemann

1. Gottesdienst in der pluralen Gesellschaft –ein Feld liturgiewissenschaftlicher Forschung

Mehr denn je stellt sich heute in Deutschland die Frage, wie gesellschaftliches Zusammenleben angesichts sozialer, politischer und kultureller Unterschiede gelingen kann. Dabei spielt das Neben- und Miteinander der Religionen und insbesondere ihrer Rituale eine Rolle. Dass Religionsgemeinschaften ihre Feste feiern und ihre Rituale zu Lebenswenden praktizieren, ist unproblematisch, denn dabei bleiben diese in aller Regel unter sich. Immer öfter aber gibt es Situationen, in denen nicht nur christliche Konfessionen in mittlerweile eingeübter Ökumene gemeinsam Gottesdienst feiern, sondern das Zusammenwirken von Religionen im Rituellen und Gottesdienstlichen erwartet wird.1 Das kann im familiären Bereich u. a. Trauung und Begräbnis meinen, kann im schulischen Bereich z. B. bei Feiern zu Einschulungen oder Schulentlassungen zum Thema werden und ist mittlerweile eine Herausforderung für Trauerfeiern, die nach Großkatastrophen öffentlich begangen werden.

Diese Trauerfeiern fallen aus dem vertrauten Rahmen der Liturgie,2 werden als „riskant“ empfunden,3 dürften aber mehr und mehr zu einer Normalität werden. Nicht nur das Verhältnis der Religionen zueinander, sondern auch das Zusammenwirken von Staat und Kirchen ist angesprochen. Gerade in diesen Gottesdiensten trifft aufeinander, was gesellschaftliches Zusammenleben ansonsten beeinflusst und prägt. Zudem zeigt sich angesichts einer Katastrophe: Eine Gesellschaft spürt, dass sie solche Formen der gemeinschaftlichen Feier braucht und sie aktiv entwickeln muss.

Das Folgende gilt dem Neben- und Zueinander der Religionen und – was nicht vergessen werden darf – der Weltanschauungen. Das ist derzeit die Herausforderung: Wie stehen diese Rituale der Religionen zueinander, wo ergibt sich die Möglichkeit, wo geradezu eine Notwendigkeit zu Ritualen, die verschiedene Religionsgemeinschaften, aber auch Konfessionslose und Atheisten integrieren oder von ihnen gemeinsam verantwortet werden? Und welche Räume für gemeinschaftliches rituellgottesdienstliches Handeln lassen Liturgien der christlichen Kirchen zu, die bei Trauerfeiern nach Großkatastrophen bis heute die Hauptakteure sind?

Für die Liturgiewissenschaft, die von ihrer Fachgeschichte her ursprünglich Gottesdienste innerhalb einer Religion oder Konfession analysiert,4 hat sich längst ein neues Aufgabenfeld aufgetan. Insbesondere ist an liturgische Feiern im öffentlichen Raum (Schule, Krankenhaus, Militär etc.) mit einer diffusen Gruppe von Teilnehmenden zu denken. Solche Feiern können interreligiöse Elemente enthalten oder als Feiern, in denen verschiedene Religionen zusammenwirken, konzipiert sein. Diese Liturgien folgen einer anderen „Grammatik“ als beispielsweise die Eucharistiefeier oder Tagzeitenliturgie in der Gemeinde. Das tradierte Repertoire von Liturgien mit seinen Normen kommt angesichts der Situation, der Teilnehmenden, der Einmaligkeit der Feier usw. an seine Grenze. Um die Trauerfeiern verstehen und reflektieren zu können, müssen neue Fragestellungen entwickelt, überkommene Untersuchungsansätze kritisch gesichtet und vor allem die theologischen Kriteriologien liturgischer Feiern angesichts veränderter empirischer Befunde diskutiert und weiterentwickelt werden. Für Trauerfeiern nach Großkatastrophen stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, wie das Zusammenstehen der Gesellschaft in der Situation der Katastrophe und wie gemeinsame Trauer in ritueller Form ermöglicht werden können. Solche Feiern sind weniger unter den üblichen normativen als unter situativen Gesichtspunkten zu betrachten.5 Menschen sind radikal erschüttert, trauern, wollen ihre Verunsicherung und Verzweiflung klagend zum Ausdruck bringen, suchen Trost, Hoffnung und Perspektive. Sie verlangen nach Gemeinschaft, die schützt, stärkt und ermutigt. Die christlichen Kirchen mit ihrem Hoffnungs- und Trostpotenzial müssen aufgrund ihres diakonischen Anspruchs helfen. Sie haben in den vergangenen Jahren bereits reagiert und vorsichtig bislang rein christlichökumenische Gottesdienste für die Mitwirkung von Juden und Muslimen geöffnet.6 Bei der Vorbereitung dieser Feiern ist der Bezugspunkt das konkrete Ereignis. Die jeweilige Liturgie richtet sich an den Betroffenen aus, insbesondere den unmittelbaren Angehörigen. Die plurale Gesellschaft muss als Trauer-„Gemeinschaft“ wahrgenommen werden. Das lässt sich an der verbalen Sprache, aber ebenso an den unterschiedlichen nonverbalen Zeichensprachen ablesen. Zunehmend werden Angehörige anderer Religionen als aktiv Handelnde in diese Feiern einbezogen, ein deutliches Signal einer Öffnung in die Gesellschaft hinein. „Deutschland trauert“ – das wird immer mehr im umfassenden Wortsinne ernstgenommen.

Was lässt sich angesichts einer jeweils extremen Trauersituation nach einer Katastrophe und mit Blick auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer ganz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen über solche Feiern anhand der bisherigen Praxis sagen? (Kap. 2) Gehört aus theologischer Perspektive Trauerfeiern die Zukunft, die nach dem sogenannten Assisi-Modell7 Religionen im Nebeneinander handeln lassen, dies aus Sorge, sonst die Bekenntnisse zu vermischen oder gegeneinander zu stellen? Oder eröffnen sich im Rahmen christlich verantworteter Wortgottesdienste gerade neue Möglichkeiten, andere Religionen einzubeziehen, eigene Texte verlesen und Gebete sprechen zu lassen bis hin zur Möglichkeit gemeinsamen Gebets, indem innerhalb einer Feier verschiedene Bekenntnisse akzeptiert werden?

Das kirchliche Dokument „Tote begraben und Trauernde trösten“8 beschreibt, wie Ritus und Liturgie angesichts von Tod und Trauer gestaltet sein sollen, wenn die Toten nicht der Kirche angehört haben (s. u. 3.1). Was besagt das mit Blick auf das Handeln in Trauerfeiern nach Großkatastrophen? Die kirchliche Arbeitshilfe „Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen“9 setzt sich mit Gebetszusammenkünften von Juden, Christen und Muslimen auseinander. Ist es wirklich ausgemacht, so muss die Theologie fragen, dass ein gemeinsames Gebet dabei nicht möglich ist? (3.2) Vom Neuen Testament her kann die breitere Perspektive aufgemacht werden, dass Liturgie in dieser Situation eine „Praxis der Barmherzigkeit“ ist (3.3). Dann allerdings diskutiert man Trauerfeiern nach Großkatastrophen in der pluralen Gesellschaft unter neuen Vorzeichen.

Die These, die zugrunde gelegt wird, lautet, dass in genau dieser Situation der Katastrophe und des Leidens theologisch begründet ein Miteinander der Religionen im Gottesdienst möglich ist. Mit Blick auf die Kirchen und ihre Gottesdienste sind diese Trauerfeiern eine Art Nagelprobe für die Pluralismusfähigkeit der Kirchen und ihre liturgische Praxis in der säkularen Öffentlichkeit.10 Hier entscheidet sich, wie ernst es den Verantwortlichen ist, wenn von Liturgie mit diakonischer Bedeutung gesprochen wird.

2. Befunde

Die Trauerfeiern nach Katastrophen sind in Deutschland in den letzten Jahren auf eine gute Resonanz gestoßen und haben sich in problematischen Situationen bewährt. Der Journalist Matthias Dobrinski hat 2016 in der Süddeutschen Zeitung kommentiert, gerade im Zwecklosen liege „Sinn und Stärke des Trauerrituals“. Er fährt dann fort: „Ein Ritual bleibt ohne Fragen und Antwort, es urteilt und verurteilt nicht, es bildet eine Gemeinschaft, bei der die Zugehörigkeit nicht ausdiskutiert werden muss.“ Öffentliche Trauer sei deshalb „ein zutiefst menschlicher und zivilisierender Vorgang“. Er zählt die „Stunden der gemeinsamen Trauer zu den stärksten Momenten des Republikanismus, der Demokratie, der Zivilität in der Geschichte der Bundesrepublik.“11

Dem widerspricht auch ein Positionspapier der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ der Partei Bündnis 90/ Die Grünen zur „Religions- und Weltanschauungspolitik“ nicht, das 2016 vorgelegt wurde.12 Es diskutiert das Verhältnis von Staat, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und fragt nach Veränderungsbedarf. Dabei kommen die Trauergottesdienste nach Großkatastrophen und ihre Rolle in der pluralen Gesellschaft zur Sprache. Sie werden wertgeschätzt, aber es wird zugleich Kritik geäußert:

„Die Ausschließlichkeit, mit der der Staat bei solchen Anlässen Sinnstiftung an diese beiden Glaubensgemeinschaften delegiert, kann angesichts der ständig zunehmenden Anzahl von Nichtchristinnen und -christen in Deutschland keinen Bestand mehr haben. […] Das gegenwärtig deutliche Übergewicht an christlichen Inhalten und von kirchlichen Repräsentanten bei solchen Ritualen hat auch eine vereinnahmende Dimension, die religionsfreie oder andersgläubige Menschen – als Betrauerte und Trauernde – in ihrer Weise[,] zu trauern und Leid zu verarbeiten, ausgrenzt.“13

Es wird deshalb eine öffentliche Debatte über diese Feiern angeregt, die allerdings bislang nicht stattgefunden hat.

Folglich haben diese Feiern ihre Probleme, das weitere Nachdenken über sie ist unerlässlich. Überhaupt bedarf es in Deutschland einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion über solche Rituale und Feiern im öffentlichen Raum. Trauer der Gesellschaft angesichts einer Katastrophe ist etwas höchst Sensibles und für das Zusammenleben von herausragender Bedeutung. Rückfragen betreffen Formen und Elemente, Rollen, Beteiligungsformen, Räume. Es gibt um diese Trauerfeiern derzeit also ein Ringen. Es handelt sich nicht um eine kirchlich geordnete Liturgie in einem fest umrissenen institutionellen Kontext. Es geht vielmehr um eine kirchlich verantwortete Trauerfeier in einer Notsituation und in einer sich verändernden Gesellschaft mit je neuer Teilnehmergruppe. In einer extremen Ausnahmesituation helfen Menschen mit ritueller Erfahrung und einer sie tragenden Überlieferung – einer großen Erzählung – Trauernden, Verzweifelten, Gläubigen und Nichtgläubigen. Kirchliche Rituale oder einzelne Elemente dieses Rituals, die in dieser Situation Hilfe bieten können, kommen zur Anwendung. Man kann diese Zeit der Trauer mit Victor Turner als liminale Phase, als Phase des Durchgangs und Übergangs beschreiben,14 in der viele Gesetze außer Kraft gesetzt sind, darunter Gesetze der vertraut geordneten Liturgie. Es braucht eine Hilfestellung in dieser diffusen Situation, ein Geländer, an dem man sich festhalten kann auf dem Weg durch ein für Menschen schwieriges Terrain. Liturgie bietet sich mit ihrer diakonischen Qualität auch denen als Halt an, die diesen Halt sonst nicht suchen. Das funktioniert, weil solche liturgischen Rituale vielfältig deutbar und anschlussfähig sind. Das Licht einer Kerze kann Orientierung im Dunkeln geben, kann auf eine transzendente, wie auch immer geartete Hoffnung verweisen, kann Christus, das Licht, symbolisieren.15 Es ist für vielfältige Assoziationen offen und deshalb vielfältig lesbar. Aus solchen Riten und Elementen, die zum Grundrepertoire christlichen Gottesdienstes gehören, lebt eine Liturgie nach Großkatastrophen.

Mit den folgenden Reflexionen soll auf einige Erkenntnisse und Einschätzungen aus der bisherigen Forschung zu diesen Trauerfeiern hingewiesen werden.16 Dabei werden Aspekte herausgegriffen, die besonders in der Diskussion stehen. Welche Feierform ist zum „Normalmodell“ geworden? Welche Räume werden genutzt? Mit welchen Teilnehmern ist zu rechnen? Und in welche rituellen Kontexte sind sie eingebunden? Im Weiteren soll dann der Versuch einer vorläufigen theologischen Einordnung unternommen werden.

2.1 Der Wortgottesdienst als Grundmodell

Analysiert man Trauerfeiern der vergangenen 20 Jahre auf der Basis von Berichten, Ablaufplänen, Fernsehmitschnitten, Gebets- und Predigttexten, so wird für Deutschland eine Grundform sichtbar, die sich sehr an kirchlichen Wortgottesdiensten (unterschiedlicher Kirchen) orientiert.17 Wiederkehrende Elemente sind die Verlesung biblischer Texte, Predigten, Fürbittgebet, Segensgebet. Zeichen, die immer wieder auftauchen, sind Licht- oder Kerzenriten, die unterschiedlich ausgeprägt sind und entsprechend verschiedene Rezeptionen zulassen.18 Dass Zeichen – wie beispielsweise Holzengel – überreicht werden, dass eine Performance in die Liturgie eingebaut wird usw., ist die Ausnahme.19 Eine große Bedeutung kommt in diesen Trauerfeiern der Musik zu. Regelmäßig begegnen instrumentale wie vokale Musik. In der Regel ist ein Chor beteiligt, weil gemeinsamer Gesang in dieser Situation für eine inhomogene Teilnehmergruppe schwierig ist.

Man kann von einer bewährten Grundform mit einigen wiederkehrenden Elementen sprechen, die mittlerweile zu einer Ritualisierung innerhalb der Feiern geführt haben. Diese Grundform ist ausbaufähig, wie die Integration von Gebeten anderer Religionsgemeinschaften zeigt.

Die Leitung solcher Gottesdienste liegt heute in der Hand von Geistlichen, Männern und Frauen unterschiedlicher christlicher Konfessionen. Zumeist handelt es sich um Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Kirchenleitung. Sie sind durch liturgische Kleidung als Amts- und Rollenträger ausgewiesen und unterscheiden sich darin beispielsweise sowohl von anwesenden Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern, die ihre eigene Dienstkleidung tragen, als auch von den Politikerinnen und Politikern der in aller Regel folgenden staatlichen Trauerfeier. Über Kleidung, Sprache, Ritus, Gestus usw. werden kirchenamtliches, weiteres seelsorgliches und staatliches Handeln voneinander abgesetzt.20

Eine Ausnahme sind bislang Trauerfeiern, die nicht das Miteinander, sondern das Nebeneinander der Trauernden und ihrer Religionsgemeinschaften betonen. Bei der Gedenkfeier in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, die am 20. Dezember 2016 und damit am Tag nach dem Terrorakt stattfand, kamen die Religionsgemeinschaften im Nebeneinander zur Sprache.21 Das Gedenken entsprach eher dem Assisi-Modell, der Form eines durch Papst Johannes Paul II. initiierten Friedensgebets, in dem die Religionsgemeinschaften von Feier zu Feier immer mehr in ein Nebeneinander gebracht worden sind.22 Wo überwiegt bei einer solchen Anordnung der Feier das Nebeneinander, wo das Miteinander der Religionsgemeinschaften? Welche Form des Totengedenkens wird dem in dieser Situation entscheidenden Aspekt des Miteinanders gerecht? Es muss diskutiert werden, ob ein solches Modell für die Situation gemeinschaftlicher Trauer geeignet ist und ob sich nicht andere Modelle eher anbieten.23 Wie immer man sich entscheidet: Von der Lebenssituation her, die zur Sprache gebracht wird, aus der Perspektive der Betroffenen wie aus der Verantwortung der beteiligten Kirchen, die zu wirklicher Seel-Sorge aufgerufen sind, geht es um Erstrangiges.

2.2 Kirchenräume als Heterotopien der Trauerfeiern

Die Trauerfeiern sind in den letzten Jahren in aller Regel in Kirchenräumen durchgeführt worden. Eine Ausnahme war die Trauerfeier in Erfurt (2002) nach dem Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium, die auf dem Domplatz und damit dort stattfand, wo Kirche und Stadt aneinandergrenzen. In Duisburg (2010) fand parallel zum Gottesdienst in einer Kirche eine Trauerfeier in einem Stadion statt. Kirchenräume – Kölner Dom, Münchener Frauenkirche, Dresdener Frauenkirche, Berliner Dom, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – „bieten in jedem Fall die Möglichkeit einer Beruhigung und Abstandgewinnung, der Transzendenz.“24 Sie sind Heterotopien der Gesellschaft: utopische Orte, Andersorte inmitten der Gesellschaft, die eine Geschichte jenseits des Alltags und somit von Tod und Terror erzählen. Die christlich-religiöse Nutzung im Umgang mit Leben und Tod hat Spuren hinterlassen. Es sind umbaute Räume mit einer u. a. durch Licht und Bildprogramme sowie durch religiöse Praxis geschaffenen Atmosphäre, die Beziehungsräume stiftet. Die Räume haben mehr Gewicht, als das erste Hinsehen vermuten lässt. Sie ermöglichen Miteinander und Zusammenrücken, Gemeinschaftserfahrung in Notlagen. Diesen Räumen wohnt eine eigene Ordnung inne, die im Gegensatz steht zur Un-Ordnung anderer Räume – gerade in dieser Situation der Bedrängnis. Deshalb sind Kirchenräume nicht beliebig gegen andere Räume austauschbar.

Nach Michel Foucault versiegen die Träume in einer Zivilisation, wenn sie solche Heterotopien nicht kennt.25 Mit Blick auf die Orte der Trauerfeiern darf dieser Aspekt nicht vernachlässigt werden. Gerade solche öffentlichen Räume, die ja nicht nur Räume der Kirche, sondern, was nicht vergessen werden darf, der ganzen Gesellschaft sind,26 erzählen von einer anderen Wirklichkeit, die das grausam Erlebte übersteigt und dadurch Lebensmut und Perspektiven zusprechen kann. Sie sind „herausragende Orte der Kontrastierung des Alltäglichen“27 und damit des Schrecklichen der Katastrophe. Gerade in multireligiösen und säkularen Kontexten, so neuere Untersuchungen, besteht dafür eine besondere Sensibilität.28 Die Unterscheidung „gläubig“ – „ungläubig“ tritt hierbei zurück zugunsten einer Unterscheidung von Beheimateten und Suchenden, so Jörg Seip unter Rückgriff auf eine Aussage des tschechischen Theologen Tomáš Halík. „Sakrale Orte würden dann weniger bestimmt durch normative Trennungen und viel eher durch praktische Überschreitungen bzw. Übertretungen.“29

Die Trauerfeiern in Köln (2015) und München (2016) bestätigen das. Juden und Muslime waren an den Feiern als Betende beteiligt. In Köln traten eine Muslima und ein Jude an den Ambo, um Fürbitten zu sprechen. In München beteten Vertreter beider Religionen und ein griechischorthodoxer Priester in einer Raumzone vor dem Altar. Der orthodoxe Geistliche verließ dafür sogar den Altarbereich. Wenn man analysiert, was im Raum geschah und was unterschwellig, wenn auch sicherlich unbewusst, vermittelt wurde, stellen sich Fragen: Wurde eine Grenze im Raum markiert? Wurde ein neuer Raum aufgemacht, in dem nun Juden, Christen und Muslime gemeinsam beteten? Geschah dies dann vor den Augen der Christen? Was bedeutete die gemeinsame Gebetsrichtung zum Altar hin? Und warum betete ein orthodoxer Geistlicher mit einem Juden und einer Muslima zusammen? Das sind Fragen an die Durchführung einer solchen Feier, nicht aber an die Entscheidung an und für sich, andere Religionen zu integrieren. So viel kann gesagt werden: Ein Raum im Raum entstand, den man als ausgrenzenden wie als schützenden Raum interpretieren konnte. Ausgrenzung, weil der Zutritt zum Altarbereich augenscheinlich vermieden werden sollte; Schutz, weil im Rahmen des christlichen Gottesdienstes ein neuer ritueller Raum geschaffen wurde, in dem im Angesicht Andersgläubiger, aber von deren Solidarität mitgetragen, jüdisches und muslimisches Gebet erklingen konnte. Solche praktischen „Überschreitungen“ oder „Überschreibungen“ oder „Verschiebungen“30 sind sehr gut zu beobachten. Das entspricht heutigen Raumtheorien, in deren Analysen Raum nicht wie ein Behälter abgegrenzt und festgelegt verstanden wird, sondern als etwas, das in unterschiedlichen Nutzungen und Wahrnehmungen je neu konstituiert wird.31 Es zeigt sich zugleich, dass es Unterschiede von Feier zu Feier gibt und dass die Kirchen gerade im Umgang mit anderen Religionen auf der Suche sind.

2.3 Vielfältige Beteiligungen

Zunehmend werden also andere Religionen in die Gruppe der Akteure eingebunden, besonders eindrücklich geschah dies in München. Konfessions- und Religionsgrenzen verlieren angesichts des Geschehenen an Gewicht. Das religiöse Ritual segregiert im Idealfall nicht zwischen religiösen Gruppen, sondern integriert in neuer Weise. Eine temporäre Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse und Weltanschauungen wird durch das gottesdienstliche Ritual begründet.32 Es geht im besten Sinne des Wortes für alle Beteiligten, nicht nur die Kirchen, um einen Lernprozess. Er steht allerdings noch ganz am Anfang. Das zeigen Kerzen für getötete Muslime bei einer Trauerfeier in Duisburg, die mit christlicher oder zumindest als christlich deutbarer Ikonografie geschmückt waren,33 und die gerade erwähnten Suchbewegungen bei der Verortung jüdischer oder muslimischer Gebete im Ritus. Zudem muss die Frage diskutiert werden, wie Menschen ohne Religionszugehörigkeit in solchen Feiern vorkommen.34 Positiv gewendet experimentieren die Kirchen in eine Richtung, die für das Zusammenleben der Gesellschaft insgesamt von Interesse ist.

Vielfalt der Partizipation spricht ein Doppeltes an: Die Vorstellung einer „tätigen Teilnahme“, wie sie mit längerer Vorgeschichte durch die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert und dann durch die nachkonziliare Kirche, kirchliche Praxis und Liturgiewissenschaft vor allem für den Gemeindegottesdienst weiter ausgearbeitet worden ist, greift nur zum Teil. Das traditionelle Verständnis liturgischer Teilnahme geht vom Mitbeten und Mitfeiern aus und hat das christlich-konfessionell sozialisierte und initiierte Glaubenssubjekt vor Augen.35 Heute bedarf es eines breiteren Verständnisses von Teilnahme, welches das Handeln der Gemeinschaft wie des Subjekts besser zusammendenken kann.36 Dazu zählt die Akzeptanz unterschiedlicher Formen der Teilnahme, und zwar vom wirklichen Mitbeten bis hin zu einem bewussten Anwesendsein.37 Das gilt für die Trauerfeiern, ist aber ebenso auf andere Liturgien hin zu diskutieren.

Müssen diese Trauerfeiern religiös exklusiv, also dem Wortsinn nach „ausschließend“ sein, oder müssen sie andere Religionen und Weltanschauungen so einschließen (können), dass diese aktiv partizipieren können? Sie sollten sich dann als Trauernde im jeweiligen Ritual in der Weise angesprochen fühlen, dass sie trauern und Hoffnung schöpfen können; es kann aber auch heißen, dass sie selbst aus ihren heiligen Schriften Texte verlesen und Gebete sprechen können. Insbesondere die Trauerfeier in München zeigt, dass dies offensichtlich praktikabel ist. Dafür gibt es theologische Gründe wie kirchliche Grundlagen(dokumente).

Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra Aetate, eröffnet insbesondere in den Art. 1 und 2 Perspektiven, ohne dass die bestehenden theologischen Differenzen zwischen den Religionen negiert werden.38 Das Dokument geht von der Einheit der Heilsgeschichte aus, die alle Menschen umgreift. Diese Erkenntnis wird trinitätstheologisch unterlegt. Gottes- und Menschenliebe werden eng aufeinander bezogen, sodass das Engagement für die Menschheit jenseits religiöser Grenzen als Ausdruck der Gottesliebe verstanden wird.39Nostra Aetate hat nicht nur eine enorme Wirkung in der Doktrin der katholischen Kirche40 und in der Theologie41 bis in die Gegenwart entfaltet, sondern zugleich rituell-liturgische Konsequenzen gehabt, beispielsweise in den – in unterschiedlicher Form durchgeführten – Gebetstreffen von Assisi seit 1986.42 Gemeinschaft kann in extremer Bedrängnis wie nach einer Naturkatastrophe oder einem Anschlag auch im Gebet innerhalb einer Liturgiefeier zum Ausdruck kommen. Dafür gelten aus guten Gründen besondere Kriterien. Es muss situationsgerecht beurteilt werden, wann wie zu handeln ist, und es darf nicht nach starren Normen verfahren werden.43 Die Trauerfeier muss seitens religiöser Akteure so gestaltet sein, dass sie der pluralen Gesellschaft eine Hilfe bietet. Dementsprechend ist mit religiösen und konfessionellen Identitäten und Profilen umzugehen. Entscheidend ist das Miteinander, das durch den Rahmen einer Feier und an einem Ort begangen wird. So entsteht ein gemeinsamer Raum zum Trauern.

2.4 Trauerfeiern im Kontext eines Trauerprozesses

Eine kurze Bemerkung muss genügen, eigene Forschung ist notwendig: Solche Trauerfeiern stehen im Kontext weiterer Feiern und Riten, was bislang wenig beachtet und untersucht worden ist. Bevor eine solche Trauerfeier überhaupt geplant ist, gibt es fast immer schon Orte, an denen Kerzen, Blumen, Briefe, Bilder, Blätter mit Gebeten, ein Plakat mit der Frage „Warum?“ abgelegt werden. Hier findet individuelle Trauer statt. Einzelne können sich mit dem, was sie für sich persönlich als wichtig erachten, ausdrücken. Es gibt oft zudem schon Gottesdienste im kleinen Kreis, die nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind.

Und es gibt ein Nachher, Trauerzeiten und Gedenkgottesdienste. Die Angehörigen der Toten der Loveparade in Duisburg treffen sich bis heute zum Gedenken und zum Gottesdienst. In Erfurt wird weiterhin am Gedenktag des Amoklaufs in einem Gymnasium der Toten gedacht und in einem Gottesdienst für alle Betroffenen gebetet. Andernorts werden Gedenkorte eingerichtet.44 Die Trauerfeiern stehen folglich nicht isoliert da, sondern sind Teil eines vermutlich lebenslangen Weges. Sie sind aber der Akt, in dem Gemeinschaft angesichts der Katastrophe dicht erfahrbar wird. Auch das spricht für eine gemeinsame Feier, wie sie heute üblich ist, und macht skeptisch gegenüber anderen Formen – wie etwa dem Assisi-Modell, die letztlich nach Religionsgemeinschaften und damit Menschen trennen.

3. Liturgie mit diakonischem Anspruch

3.1 Kirchliche Perspektive

Eine Liturgie mit diakonischem Anspruch will in einer schwierigen Lebenssituation helfen und muss sich folglich nach den Anforderungen dieser Lebenssituation richten, wenn sie Trost und Hoffnung zusprechen will. Die Liturgie erweist sich dabei als dynamisch und richtet sich an der jeweiligen Lebenssituation aus. Das ist katholischer Liturgie im Umfeld von Tod und Trauer offensichtlich nicht fremd, wie eine Analyse von Dokumenten der katholischen Kirche zeigt. So hat die Deutsche Bischofskonferenz 2017 in dritter Auflage eine Broschüre „Tote begraben und Trauernde trösten“ veröffentlicht, in der u. a. Möglichkeiten der Bestattung von Nichtkatholiken beschrieben werden. Der entsprechende Passus im Heft steht unter der Überschrift „Begleitung, wenn ein kirchliches Begräbnis nicht möglich ist“. Es handelt sich um Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind und mit ihr gebrochen haben. Dabei geht es um ein Ritual – die Arbeitshilfe spricht nicht von „Liturgie“, obwohl es sich faktisch darum handelt –, dem sich die katholische Kirche lange verweigert hat. Aber die Kirchenleitung kann sich eine solche Form der Beteiligung mit Blick auf die Angehörigen vorstellen, die bewusst kirchlich leben und deshalb um diese seelsorgliche Unterstützung bitten. „Die Teilnahme eines Seelsorgers kann Angehörige in ihrer Trauer stützen und heilsam begleiten.“45

In der Situation des Verlustes eines Menschen kann, so muss man diese Arbeitshilfe lesen, aus seelsorglichen und theologischen Gründen eine durch die Kirche gesetzte Norm von ihr selbst überschritten werden. Der Ritus, der angeboten wird, kann Einführung, Gebet, Lesung, Ansprache, Stilles Gedenken, den Gang zum Grab, Beisetzung, Gebet des Herrn und Segenswort umfassen. Der Unterschied zum Begräbnis wird durchgehalten, wenn es beispielsweise heißt: Der Priester, Diakon oder eine andere beauftragte Person „geht nicht vor dem Sarg, sondern begleitet die Angehörigen zum Grab.“46 Dennoch handelt es sich um eine kirchlich mitgestaltete Liturgie, in der die Kirche aber mit Respekt vor der Entscheidung des Toten wie der Bitte der Angehörigen mit einem anderen Habitus handeln will als bei einem kirchlichen Begräbnis. Wie immer man den Ritus im Einzelnen beurteilen mag: Im Umgang mit dem Tod kennt die Kirche unterschiedliches rituelles Auftreten. Sie kann ihre Rollen ändern und auf Menschen zugehen, die sich von ihr abgewandt haben. Jeder Mensch ist von Gott „geschaffen und geliebt“, heißt es etwa in der Eröffnung. Die verstorbene Person wird Gottes Erbarmen empfohlen. Es wird Trost für die Trauernden erbeten.47 Wenn das für Menschen möglich ist, die sich von der Kirche abgewandt haben, muss es dann nicht ebenso für Menschen gelten, die in einer Notsituation die Kirche um ihre Hilfe in Gottesdienst und Ritual bitten?

Menschen werden in der Trauer nicht allein gelassen, Seelsorgerinnen und Seelsorger sollen ihnen zur Seite stehen, soweit dies kirchlicherseits eben möglich ist. Dafür wird ein eigener Ritus der Beisetzung entworfen. Die Frage ist, ob es im Szenario für Trauerfeiern nach Großkatastrophen nicht eine ähnliche Entwicklung geben kann und bereits gegeben hat. Auf eine neue pastorale Situation hin ist ein neuer Ritus entwickelt worden. Die Kirche kommt aber nicht begleitend hinzu, sondern hat die Leitung inne.48 Sie muss jetzt die Offenheit zeigen, anderen Religionen Platz zu bieten. Die Beispiele aus Köln und München zeigen, dass dies im Angesicht des Todes möglich ist.

Interessant ist eine andere Situation, zu der sich das kirchliche Dokument „Tote begraben und Trauernde trösten“ ebenfalls äußert. Es geht um die Mitwirkung der Kirche an der Bestattung von Nichtkatholiken. Das Papier geht von einem Handeln „aus Gründen der Pietät gegenüber dem Verstorbenen wie auch der christlichen Diakonie an den Hinterbliebenen“ aus.49 Die Kirche trennt zwischen doktrinär-rechtlichen Vorgaben – genauer benannt wird das nicht – und pastoralen Erfordernissen. Die Bitte der Hinterbliebenen könne „Ausdruck dafür sein, dass in der Situation der Trauer vom christlichen Glauben Halt und Trost erhofft werden.“50 Im Blick ist ein Nichtgetaufter, „der in einer gewissen äußeren oder inneren Nähe zur katholischen Kirche gelebt hat“.51 Die Situation wird so beschrieben: „In der Praxis der Seelsorge kommt es vor, dass für verstorbene Nichtkatholiken von den Angehörigen die Mitwirkung der katholischen Kirche bei der Bestattung erbeten wird.“52 Es werden dann verschiedene pastorale Situationen durchgespielt und das mögliche Handeln der Kirche reflektiert. Was sind die Motive dafür, einen Nichtgetauften zu bestatten? Genannt werden die „Pietät gegenüber dem Verstorbenen“, hingewiesen wird auf die „christliche […] Diakonie“, aber ebenso auf Trost aus dem Glauben heraus.53 Das sind nun durchaus Motive, die sich auf die Trauerfeiern nach Großkatastrophen übertragen lassen. Das Andenken der Verstorbenen steht im Vordergrund. Es geht klar um ein diakonales Handeln sowohl an den Toten als auch an ihren Hinterbliebenen und der gesamten Gesellschaft. Der Zuspruch von Trost ist selbstverständlich zentral für diese Feiern. Anders ist zum einen, dass es um Verstorbene geht, die nicht dem christlichen Glauben nahestanden, und dass solche Trauerfeiern zum anderen Elemente verschiedener Religionen enthalten sollten. Aber wieder zeigt sich, dass es bereits katholische Liturgien gibt, in denen situationsbezogen gehandelt werden soll.54

Ein weiteres kirchliches Dokument soll noch hinzugenommen werden, um mögliche Positionen der katholischen Kirche weiter herauszuarbeiten. Gemeint sind die „Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen“. Sie sprechen von verschiedenen „Anlässe[n] zu religiösen Begegnungen“ und meinen damit offensichtlich Gottesdienste, denn anders würde der folgende Satz keinen Sinn ergeben: „Sie können für keine der genannten Religionen und für Christen insbesondere das eigene kirchliche, also das konfessionelle sowie das ökumenische Gebet ersetzen.“ Es handelt sich um Ausnahmeereignisse, zu denen u. a. Katastrophen gerechnet werden.55 Es wird nicht von „Gottesdiensten“, sondern von „Gebetstreffen“ gesprochen. Dabei müssten die „Unterschiede zwischen den Vertretern der christlichen Konfessionen und der anderen beteiligten Religionen von den Mitfeiernden wahrgenommen werden können.“56 Wichtig ist vor allem, dass solche „Gebetstreffen“ anlässlich von „Ausnahmeereignissen“ denkbar sind. Das passt zu der diakonal-pastoralen Grundierung, die sich in der Schrift „Tote begraben und Trauernde trösten“ finden lässt. Wie ein roter Faden zieht sich durch, dass keine religiösen Handlungen und Gebete gewünscht sind, die Unterschiede zwischen den Religionen verwischen oder einen der beteiligten Partner vor den Kopf stoßen könnten. Als Ort wird ein neutraler Raum empfohlen, doch handelt es sich allein um eine Empfehlung. Denkbar ist, dass nach dem Vorbild des Assisi-Modells alle Religionen zunächst an einem eigenen Ort beten und dann erst zusammenkommen. Aber das wird nicht vorgeschrieben, scheint allerdings favorisiert zu werden. Vieles davon wäre nach dem bereits Dargelegten kritisch zu diskutieren.

Für die Gebetstreffen verschiedener Religionen werden zwei Modelle der Vorbereitung angeboten: gemeinsame Vorbereitung (Team-Modell) oder Einladung in den Gottesdienst einer Religion (Gastgeber-Modell). Die bisherigen Trauerfeiern nach Großkatastrophen entsprechen dem letztgenannten Modell. Es soll kein gemeinsames Gebet geben. Vielmehr ist ein Rahmen mit Eröffnung und Abschluss vorgesehen, innerhalb dessen einzelne Partner Texte vortragen und Gebete sprechen. Dies muss so geschehen, dass jeder mit Respekt folgen kann.

Zweierlei muss festgehalten werden: Im Blick sind Juden und Muslime, zu anderen Religionsgemeinschaften werden keine Aussagen gemacht. Und: Die Erstauflage der Leitlinien sprach noch im Titel von „multireligiösen“ Feiern. Nun ist der Begriff getilgt worden, er kommt im Text nur ganz am Rande vor. Die kirchlich Verantwortlichen scheuen offensichtlich Entsprechendes, obwohl theologisch gesehen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben sind und die Praxis zum Teil schon weiter ist. Dennoch zeigt dieses kirchliche Dokument, dass sich Suchbewegungen beobachten lassen, und zwar gerade im Umgang mit Tod und Trauer.

3.2 Kein gemeinsames Gebet? –Theologische Rückfragen

Aus theologisch-wissenschaftlicher Perspektive müssen allerdings gerade an das zuletzt genannte Dokument einige Fragen gestellt werden, die für die weitere Diskussion hilfreich sein können:

Ist angesichts der Tragödie, die sich hinter solchen Trauerfeiern verbergen, ein gemeinsames Gebet wirklich kategorisch ausgeschlossen? Wenn man die Aussagen von Nostra Aetate und die theologische Aussage der gemeinsam geteilten Heilsgeschichte ernst nimmt, muss in einer solch extremen pastoralen Situation eine Nähe im Gebet vor Gott möglich sein. Es gibt eine Geschwisterlichkeit der Menschen, die schon allein aus christlichem Schöpfungsglauben resultiert, die sich in solch bedrohlicher Lage bewähren muss. Bewährung kann bedeuten, einen Schritt zu tun, der in anderen Situationen so nicht möglich wäre. Mit LG 16 geht die Kirche davon aus, dass Juden und Muslime mit den Christen „den einen Gott anbeten“. Und über die „anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen“, heißt es, Gott sei ihnen „nicht ferne“. Wenn man hinzunimmt, dass NA 2 im Rekurs auf Hinduismus und Buddhismus sagen kann, die Kirche lehne in diesen Religionen nichts ab, was in ihnen „wahr und heilig ist“, dann ist so viel Nähe beschrieben, dass eine sensibel gestaltete gemeinsame gottesdienstliche Trauerfeier im Angesicht der Toten möglich sein muss.

Zugleich muss gefragt werden, ob alles, was an „Doktrin“ der Kirche in einem Gottesdienst zur Sprache kommt, in jedem Detail von allen geglaubt und dadurch mitvollzogen werden muss.57