Dezemberblues - Olaf Maly - E-Book

Dezemberblues E-Book

Olaf Maly

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Der Christkindlmarkt war voll in Gang. Es roch nach Kerzen, Zimtsternen, Räucherstäbchen und Jägertee. Der Weihnachtsbaum am Marienplatz strahlte in allen Farben. Ein Chor sang Weihnachtslieder. Die Heilsarmee sammelte und ließ ihr Glöckchen klingen. Die Luft war kalt. Sehr kalt. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. In dieser anheimelnden Stille wurde in der Viscardigasse ein Toter gefunden. Steif gefroren lag er gegen die Hauswand gelehnt. Erschossen. Bekleidet nur in Hemd und Hose, ohne Jacke oder Mantel. Niemand hatte bemerkt, dass er dort hingelegt worden war. Sehr schnell stellte sich heraus, dass er ein Bauunternehmer war, der hauptsächlich alte Wohnungen saniert und teuer verkauft hatte. Ein einträgliches Geschäft, in dem man sich nicht nur Freunde machte. Nicht nur in München. Gab es da einen Zusammenhang mit seinem vorzeitigen Tod? Wollte sich jemand rächen? Niemand in seinem Umfeld schien sehr viel über ihn zu wissen – oder nicht wissen zu wollen. Er war nicht sehr kontaktfreudig. Kommissar Wengler musste langsam herausfinden, was der Tote eigentlich getan und wie er gelebt hat und was letztlich dazu geführt hat, dass man ihn auf diese Art beseitigt hatte. Eigentlich wollte er Weihnachten bei seiner Cousine in Aschau verbringen und nicht in München einen Mörder suchen. Er freute sich schon auf die Weihnachtsgans, die das ganze Jahr extra für diesen Anlass gemästet wurde. Das gab ihm nicht viel Zeit, den Fall zu lösen, noch dazu, da niemand sonderlich gewillt war, ihm hilfreich Auskunft zu geben.

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Olaf Maly

Dezemberblues

Eine Kommissar Wengler Geschichte

Ich möchte mich an dieser Stelle bei zwei Personen bedanken, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Da wäre zuallererst meine langjährige Partnerin Marita Stepe, die es stets auf sich nimmt, die erste Fassung meiner Bücher zu lesen, und mit konstruktiver Kritik auf die Handlung Einfluss nimmt. Und dann noch meine Lektorin, Alice Scharrer, die mit Engelsgeduld meine Fehler ausmerzt. BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kapitel 1

Es war kalt an diesem Abend. Sehr kalt. Saukalt, sagte man in Bayern. Oder auch arschkalt. Es gab noch viele mehr solcher Ausdrücke, die aber immer nur dasselbe bedeuteten. Dass es eben kalt war. Der kälteste Tag seit Jahren. In der letzten Woche fror sogar der Nymphenburger Kanal zu, sodass man auf ihm Schlittschuh laufen konnte. Das hatte es seit Jahren nicht gegeben. Die ganze Strecke, vom Hubertusbrunnen bis zum Schloss. Das waren fast zwei Kilometer. Nicht, dass Herbert Wengler seine Schlittschuhe aus dem Keller geholt hätte, nein, aber er hätte können, wenn er hätte wollen. Er hatte sie noch, das Paar Eishockey-Kufen, das er sich gekauft hatte, als er jung war. Er wollte eine Dame beeindrucken, die Eiskunstläuferin war. Wie das eben so ist. Es brachte nichts. Sie verließ ihn für einen Skiläufer, was er damals, in dem Moment, überhaupt nicht hatte verstehen können. Seitdem lagen die Kufen im Keller.

Eisstockschießen wäre ihm sowieso lieber gewesen, aber auch darauf hatte er in dieser Kälte keine gesteigerte Lust. Obwohl er in seinen mittleren Jahren ganz gut darin war. Jedes Wochenende waren sie draußen, er und seine Freunde. Bei Wind und Wetter. Der Eisstock war aus niederbayerischer Eiche. Handverlesen und nach seinen Maßen gebaut. Sein Heiligtum. Keiner durfte ihn anfassen. Sie schafften es bis zur Stadtteilmeisterschaft. Giesing gegen Harlaching. Er führte die damalige Niederlage allein auf die Tatsache zurück, dass sie vor dem Wettkampf zu viel getrunken hatten. Es war einfach kalt, die Harlachinger kamen zu spät, und die Flasche Obstler war leer, bevor sie überhaupt angefangen hatten, einen Stock die Bahn hinunterzuschießen. Sie sagten das auch den Harlachingern, da man eine gewisse Taktik dieser Leute in ihrem Zuspätkommen vermutet hatte, woraufhin man sich dann auch noch ausgiebig und handgreiflich die Meinung sagte. Das Regionaltreffen fiel also aus. Man wertete das Ergebnis als unentschieden.

Kommissar Herbert Wengler saß in seiner braunen Cordhose mit einem Holzfällerhemd und einer dicken Jacke aus Schafwolle auf seinem Sessel im Wohnzimmer, in dem er immer saß, wenn er aus dem Fenster sehen wollte. Er hörte Wagner. Götterdämmerung. Eines seiner Lieblingsstücke. Nur die Stehlampe war an und spendete gedämpftes Licht, das von der Wand verschluckt wurde. Sanfte Schatten zeichneten sich ab, von den wenigen Blumen, die er im Zimmer hatte und der Figur des heiligen Franziskus. Er hatte sie einmal auf einem Trödelmarkt erstanden. Irgendwie gefiel sie ihm. Dass es der heilige Franziskus sei, hatte ihm der Trödelhändler gesagt. Er sei sich da ganz sicher. Und dass sie sehr wertvoll sei und er sie ihm praktisch schenken würde, für die paar Mark, die er dafür bezahlte. Er ließ es dabei und nannte sie einfach Franz.

Sein Fenster war eigentlich eine Tür, die, da er im vierten Stock unter dem Dach wohnte, ein Geländer davor hatte. Man nannte das einen französischen Balkon. Im Sommer machte er die Tür auf, um im Freien zu frühstücken. Oder fast so wie im Freien. Was allerdings nur am Sonntag ging, da sonst die Straßengeräusche und der Gestank von den Autos nicht zu ertragen waren. Am Sonntag hingegen fuhr meistens nur die Straßenbahn an seinem Haus vorbei. Bevor sie das tat, musste sie allerdings eine Kurve nehmen, was sie sehr geräuschvoll tat. Auch der Bus, der keine hundert Meter entfernt vor dem Haus, in dem er wohnte, hielt, konnte das nicht ohne ein Gequietsche tun, sodass es einem fast die Ohren zerriss. Dann, als würde dieser sich total entspannen, weil er gerade zum Halten gekommen war, zischte es laut und er entließ eine große schwarze Wolke in den bayerischen Himmel, die, wenn der Wind richtig wehte, genau am französischen Balkon des Kommissars endete und sich dort gleichmäßig verteilte. Teilweise auch im Wohnzimmer.

„Wahrscheinlich ham die sich keinen richtigen Balkon nicht leisten können da drüben in dem Frankreich“, meinte er einmal, als er von seinem Freund dem Egon Hintermeier aus der Glockenbachstraße danach gefragt wurde, warum man das einen französischen Balkon nannte.

„Wundern würd mich des nicht – sind doch alles Hungerleider, die Franzosen“, meinte dieser mit einem mitleidigen Lächeln.

Sie saßen gerade mit dem Schäfer Franz aus Giesing bei einem gemütlichen Abend, den sie mit Schafkopfen, Bier und Brezeln verbrachten. Dazu gab es noch Romadur und Radi. Das spielte sich allerdings im Sommer ab, bei lauen Temperaturen. An einem Samstag. An diesem Tag hatte der Egon zu Mittag Kraut und Bratwurst gegessen, was den Herbert Wengler geradezu dazu nötigte, seine Tür weit aufzumachen. Wegen des Romadur natürlich auch.

Das Hemd, das er gerade anhatte, hatte er vor ein paar Jahren von seinem Freund Egon Hintermeier bekommen. Es war ein Original aus Kanada. Nicht, dass weder er selbst noch der Egon nach Kanada gereist waren, nur um ein Hemd zu kaufen. Nein, ganz bestimmt nicht, aber der Neffe vom Egon, der Franz, der Sohn seiner Schwester, war dort. Zum Skifahren. Als ob man in Bayern nicht genug Berge hätte, sagte er zu seinem Neffen, als dieser ihm das voller Begeisterung erzählt hatte. Als Wiedergutmachung sozusagen, und um seinem Onkel eine Freude zu machen, schenkte ihm dieser also dieses Holzfällerhemd. Rote und braune Karos. Dick gewebte Wolle, schon fast wie ein Pullover. Direkt aus Kanada. Mit einem Ahornblatt im Kragen. Der Egon Hintermeier hatte dafür absolut keine Verwendung, da er immer nur Trachtenhemden trug. Da dieses Hemd als solches absolut nicht durchging, überließ er es also seinem Freund Herbert Wengler, der so ziemlich alles trug, was ihm irgendwie passte. Er hatte nie einen Sinn für Mode oder dergleichen gehabt, also war es ihm ziemlich egal, wie das Hemd aussah. Das Hemd war warm, und das war ihm wichtig. Besonders in dieser Jahreszeit.

Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Am nächsten Tag sollte der zweite Advent sein. Die stille Zeit, in der man sich des vergangenen Jahres besann und nachdachte, warum es so schnell verflogen war. Es hatte doch gerade erst angefangen, und schon war es wieder vorbei. Die Lichtbänder der Geschäfte, die man für die vorweihnachtliche Zeit angebracht hatte und die wie Eiszapfen aussahen, waren um diese Zeit noch an. Auch einige Bäume hatte man mit kleinen Lampen ausgestattet, die dann erleuchtet wurden. Es sah seltsam aus, wie er sie so von seinem Fenster aus betrachtete. Leuchtende Bäume. Irgendwie passte das nicht. Bäume leuchten nicht, dachte er sich. Wenn sie leuchten sollten, hätten sie Lampen, die daran wachsen.

Er freute sich auf Weihnachten. Es würde wieder nach Aschau fahren, zu seiner Cousine. Wie jedes Jahr. Er dachte an den Schnee, der so schön unter den schweren Sohlen seiner Stiefel knirschte, wenn er die verschneiten Wege den Bach entlangging. Ins Dorf. Um sich ein Bier zu genehmigen. Man kannte ihn bereits. Er war der Kriminaler aus der Stadt. Man hatte Respekt vor ihm und lud ihn ein, am Stammtisch Platz zu nehmen. Was keineswegs normal und eine gewisse Ehre war. Und den Kommissar oft eine Runde kostete.

Dann, am Heiligabend würde es Weißwurst geben, und danach würden sie den Weg zur Christmette in die kleine Kirche gehen. Mit einer Kerze in der Hand, wie in einer Prozession. Seine Cousine sang immer leise Weihnachtslieder, wenn sie diesen Weg gingen. In der Kirche war immer ein kleiner Weihnachtsbaum aufgebaut, mit ausschließlich roten Kugeln und viel Lametta. Alle waren festlich gekleidet, hatten ihre schönsten Trachten und den Schmuck an, den schon die Vorfahren getragen hatten. Entlang der Bänke waren große Kerzen aufgestellt und daran mit roten Schleifen grüne Tannenzweige befestigt. Der Pfarrer hielt seine Ansprachen, man sang feierliche Lieder und nach der Messe würde jemand „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen und dabei auf der Gitarre leise die Saiten zupfen. Wie es war, als man das Lied das erste Mal aufgeführt hatte. Schöne Gedanken. Und er freute sich auf die Gans, die seine Cousine das ganze Jahr gemästet hatte. Nur für diesen Tag.

Ein schrilles Klingeln schreckte ihn aus seinen Träumen. Wie es eben so war. Man lehnte sich zurück, dachte an nichts Böses und wurde einfach so herausgerissen aus der Stille, an die man sich gewöhnt hatte. Gnadenlos. Es war das Telefon. Er hatte sich erst vor Kurzem eines zugelegt, eins, das man mitnehmen und durch die ganze Wohnung tragen konnte. Ohne Schnur. Irgendwie war das besser, dachte er sich, als er bei seinem Freund, dem Schäfer Franz war und es gesehen hatte. Dann ging er auf dem Weg vom Büro kurz im Kaufhof vorbei und nahm sich eines mit. Die Verkäuferin, ein junges Mädchen mit engen Hosen, die fast vollständig aufgerissen waren, und einem noch engeren Oberteil, die ständig lächelte, als wäre ihr Gesicht eingefroren, versuchte, ihm zu erklären, wie das funktionierte. Nach vergeblichen Bemühungen ihrerseits, die Betriebsanleitung, die in einer unverständlichen Sprache abgefasst war, zu entziffern, gab sie endlich auf. Dann meinte sie, dass sie so etwas nie gebrauchen würde, also eigentlich gar nicht daran interessiert war, wie so ein Ding funktionierte. So ein altes Modell, das gehöre ins Museum, aber wenn er es denn unbedingt wolle, solle das nicht ihr Problem sein. Auf den Gedanken, dass dieses Gerät nicht für sie, sondern für ihn war, schien sie nie gekommen zu sein.

Es klingelte also. Man konnte den Klingelton ändern, hatte er gelesen, aber nach einigen vergeblichen Versuchen diesbezüglich fand er, dass der eingebaute Ton schon in Ordnung sei.

„Ja, was is?“, meinte er etwas aufgebracht, als er den Knopf gedrückt und die Verbindung hergestellt hatte.

„Herr Kommissar ...“

„Armin, ich hätt des wissen sollen. Und ich Depp hab auch noch abg’nommen. Hamma an Toten, oder warum störst du mich an einem beschaulichen Samstag? War grad so schön dag’sessen.“

„Ja, Herr Kommissar. Leider muss ich Sie stören, weil wir wirklich einen Toten haben. Mitten in München. Ich könnte Sie abholen, wenn Sie wollen. Ist doch ziemlich kalt heute.“

„Des machst, Armin, weil ich heut nicht mehr mit der U-Bahn fahr.“

„Dann bin ich in zwanzig Minuten da.“

Ohne darauf zu antworten, drückte der Kommissar den Knopf, um das Telefon auszuschalten und steckte den Hörer wieder in die Ladevorrichtung.

„Ja, Richard, musst a bisserl warten. Werd schon wiederkommen.“

Damit meinte er Richard Wagner, mit dem er ein besonders inniges Verhältnis hatte. Er hätte gerne in dieser Zeit gelebt. Nicht nur wegen Richard Wagner, auch wegen seinem König Ludwig, den er sein ganzes Leben verehrte. Manchmal dachte er sich, dass er wahrscheinlich deswegen Kommissar geworden war, da er es nicht verwinden konnte, dass sein König so hinterlistig umgebracht worden war. Und man nie den Täter gefunden hatte. Er wollte, mehr unterbewusst vielleicht, sicherstellen, dass Mörder gefasst werden. Wenn er auch für seinen König ein paar Jahre zu spät auf die Welt gekommen war.

Langsam zog er sich seine Pelzstiefel an, die er aus dem Fundus der Bundeswehr erstanden hatte. Sie waren schwer und warm. Beides gute Attribute im Zeichen der Kälte. Nachdem er sich noch den Parker übergeworfen hatte, ging er langsam die Treppen hinunter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Der Anruf kam gegen neun Uhr abends. Das Protokoll besagte einundzwanzig Uhr zwei. Eine Frau Krämer, Sigrid Krämer, war auf dem Weihnachtsmarkt und wollte gerade von der Theatinerkirche in Richtung Marienplatz gehen, an den Buden vorbei. Sie wollte möglichst schnell zur U-Bahn kommen, da es sehr kalt war und das schon eine Weile ertragen hatte. Sie war nicht in der Kirche, sondern eben auf dem Markt. Der Weg an den Buden vorbei war sehr verstopft. Wie die Autobahn am Wochenende nach Kufstein im Winter. Die Leute strömten in alle Richtungen, blieben plötzlich stehen, rempelten sich an, fluchten und warfen sich giftige Blicke zu. Manche standen mit roten Nasen an den hohen Tischen neben den Ausschankstationen und ließen sich mit Glühwein volllaufen. Oder Jägertee. Jedenfalls mit viel Alkohol. Ein Kinderchor hatte sich vor der Theatinerkirche aufgebaut und sang alte Weihnachtslieder. Die Frau, die sie dirigierte, sang leise aber bestimmt mit. Alle hatten einen dicken Schal um den Hals gewunden, um ihre Stimmbänder anzuwärmen.

Der einzige Weg, schnell zum Marienplatz zu kommen, war, sich einen Weg hinter den Buden zu suchen. Also überquerte sie die Theatinerstraße und verschwand im Dunkel zwischen den Häusern und den Buden. Es war eng, aber es ging. Als sie ein paar Schritte gegangen war und nach links blickte, sah sie in ihrem Blickfeld einen Mann dort in der Viscardigasse gegen die Mauer gelehnt sitzen. In der Kälte, auf einem kleinen Berg von Schnee.

Für die Leser, die nicht mit dieser Gasse vertraut waren, eine kurze Einführung. Die Viscardigasse erstreckte sich, auf gerade einmal fünfzig Metern, zwischen Theatinerstraße und Residenzstraße, direkt hinter der Feldherrnhalle. Im Volksmund wurde sie auch Drückebergergasse genannt. Das kam daher, dass im Dritten Reich die Feldherrnhalle eine besondere Bedeutung hatte. In der Hauptstadt des Führers, der Bewegung. Es war der Platz des ersten Putschversuches. Man hatte dann im Dritten Reich, zum Gedenken an die Gefallenen dieses Ereignisses, ein Denkmal an der Feldherrnhalle errichtet, das immer von zwei Soldaten bewacht wurde. Jeder, der an diesem Mahnmal vorbeiging, war angehalten, die Hand zu heben und zu grüßen. Wer das nicht wollte, nahm dann eben die Viscardigasse. Damit bekam sie ihren Namen, die Drückebergergasse.

Dort saß also dieser Mann, der scheinbar schlief, auf diesem kleinen Hügel aus Schnee. Ein bisschen zu kalt, um dort Rast zu machen, dachte sich Sigrid Krämer. Aber vielleicht hatte er ja zu viel getrunken und war ganz einfach umgefallen. Man sah ja all die Leute, die nicht mehr gerade gehen konnten. Nur seine Kleidung passte irgendwie nicht zur Umgebung. Er hatte nur ein weißes Hemd an, mit einer schwarzen Fliege, die aufgelöst um seinen Hals hing. Die dunkle Hose sah sehr fein aus, nicht gerade etwas, was man an einem so kalten Tag im Freien tragen sollte. Mehr zu einer Weihnachtsfeier oder jedenfalls einer in geschlossenen Räumen stattfindenden Veranstaltung. Auch seine feinen Schuhe waren nicht gerade für Schnee geeignet. Sie ging zu ihm, da sie dachte, es sei nicht gut, gerade an dieser Stelle in dieser Kälte ein Schläfchen zu halten. Noch dazu ohne Mantel oder Jacke. Sie wollte ihm das sagen. Sie stupste ihn an. Ganz leicht. Er bewegte sich nicht. Noch einmal ein bisschen stärker. Dann sagte sie noch:

„Hallo, Sie. Des is keine gute Idee, hier zum Schlafen bei der Kält’n. Sie sollten sich schon amal woanders hinsetzen.“

Mit dem ein wenig heftigeren Stoß fiel der Mann zur Seite um. Wie ein Stück Eis. Gefroren, steif und unbeweglich. Sie stand dort und sah sich um. Schaute, ob jemand das gesehen hatte. Niemand war in der Nähe. Irgendwie fühlte sie sich schuldig, dass er umgefallen war. Keiner sah, wie sich ihre Augen weiteten und wie ihr vor Angst die Knie weich wurden, dass sie fast umgefallen wäre. Nur ein schneller Griff an die Hauswand, die neben ihr war, verhinderte das. Langsam ging sie zurück und nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche. Ihre Hände zitterten. Dann wählte sie 110 und wartete, dass sich jemand meldete. 

Kapitel 3

Kommissar Wengler stand im Gang, unten vor der Haustür, und trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seinen Parker bis oben hin zugemacht, was aber nur bedingt gegen die Zugluft half. Das Gesicht war frei, und dort tat es am meisten weh. Zwar hatte er noch seinen Hut aufgesetzt, aber das half auch nur wenig. Er hatte vor Kurzem gelesen, dass im Gesicht die empfindlichsten Nerven am ganzen Körper wären. Eigentlich, genau gesagt, rangierte das Gesicht nur an zweiter Stelle. Die erste war weiter unten, in der Mitte, wie man sich denken konnte. Die war allerdings gut eingepackt. Also nahm in diesem Moment das Gesicht den ersten Platz ein.

Alle zwei Minuten musste er das Licht einschalten, das immer wieder automatisch ausging. Er wartete auf Armin. Vor der Tür zu warten, war ihm zu kalt. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ die Eingangstür leicht gegen den Rahmen schlagen. Es hatte angefangen, leicht zu schneien. Ganz winzige Flocken. Vielleicht war es auch der aufgewirbelte Schnee der Straße. Genaues konnte man nicht ausmachen. Es war ihm auch ziemlich egal. Jedenfalls schwebten die Flocken durch den offenen Spalt und sammelten sich in der hinteren Ecke, wo der Wind keine Macht mehr hatte.

Das Schloss passte schon lange nicht mehr. Der Rahmen war verzogen, die Tür selbst hielt sich nur noch mit gutem Willen in den Angeln. Der Hausmeister reparierte, was möglich war, ohne es wirklich endgültig zu schaffen.

„Des is a alt’s G’lump, die Tür“, sagte er immer, wenn man ihn wieder etwas festschrauben sah. Dann fluchte er leise vor sich hin. Kommissar Wengler dachte immer, dass er nur so viel reparieren würde, wie nötig, damit ihm die Arbeit nicht ausging. Aber sicher war er sich da nicht.

Ein junges Paar, das sich aneinanderschmiegte, kam herein. Sie lachten und küssten sich ununterbrochen. Beide waren scheinbar ziemlich betrunken. Sie hatten ihre Mäntel weit offen und schienen trotzdem nicht zu frieren. Sie gingen an ihm vorbei und registrierten ihn nicht. Als würde er nicht existieren. Der Kommissar kannte sie nicht, wie er viele hier in diesem Haus nicht kannte. Zu viele zogen aus und andere wieder ein. Es war ein altes Haus, und die Mieten waren verhältnismäßig billig. Ein Glücksfall in München. Die Wohnungen standen keine zwei Tage leer, bevor wieder jemand Neues einzog. Die zwei Turteltauben schwankten verdächtig schlendernd die Treppe hinauf. Sie machten sich keine Mühe, leise zu sein. Im ersten Stock fiel eine Tür ins Schloss. Das Licht ging wieder aus. Jemand rief „Ruhe“ durch das Haus. Dann war es wieder still.

Alte Zeitungen lagen herum, Reklame, die die Leute einfach auf den Boden geworfen hatten. Jeder der ramponierten Briefkästen hatte einen Aufkleber, keine Reklame hineinzuwerfen, aber das interessierte den Postmann nicht im Geringsten. Der Reinigungsdienst, den man hatte, kam dann einmal die Woche und schaufelte alles weg.

Die Straßenbahn mühte sich um die Kurve und verursachte ein die Ohren zerreißendes Geräusch, das durch die Stille der Nacht noch stärker zu sein schien als am Tage. Funken, die man durch einen schmalen Spalt sehen konnte, stoben von der Oberleitung und den Schienen.

Ein Auto hielt vor dem Haus. Langsam öffnete Kommissar Wengler die Tür und blickte nach draußen. Es war, wie er vermutet und auch gehofft hatte, Armin, der auf dem Bürgersteig parkte. Es war Samstagabend, also kein großartiger Verkehr. Aber das hätte er auch im Feierabendverkehr gemacht. Da kannte er keine Hemmungen. Immerhin war er im Dienst.

Das Licht ging an im Auto, als der Kommissar sich näherte. Und die Tür wurde von innen aufgemacht. So schnell es ging, wandte er sich seitlich herum und ließ sich schwerfällig in den Sitz fallen.

„Armin, morgen beantragst so an SUV, weißt schon, was die Frauen immer ham, damit’s ihre Bagage in den Kindergarten fahren können. Da sitzt ma wie auf einem Stuhl und nicht so tief wie in einem Sportauto. Des is nix mehr in meinem Alter.“

„Auch einen schönen Abend, Herr Kommissar. Ich hoffe, es geht gut?“

„Wie kann des gut geh’n, wenn wir da raus müssen bei dem Wetter?“

„Na ja, die Toten suchen sich das nicht aus.“

„Da hast recht. Und dene ist des auch ziemlich egal, wie des Wetter is.“

Das nächste, was der Kommissar tat, war, das Radio auf Bayern 4 zu stellen. Ohne das wäre er keinen Meter weitergefahren. Die Heizung lief auf Hochtouren. 

„So, erzähl, was is los?“

„Viel weiß ich nicht, aber eine Frau hat einen Toten in der Viscardigasse gefunden. Sie wollte zur U-Bahn und meinte, das sei ein schnellerer Weg, da hinter den Buden zu gehen. Das hat sie natürlich bereut, meinte sie, weil sie nun schon seit einer Stunde auf uns wartet. Die Polizisten, die dort auf uns warten, meinten, sie solle so lange bleiben, bis wir da sind.“

„Was ein totaler Schmarren is, weil die sowieso ins Präsidium muss. Und was kann die schon erzählen?“

„Wissen wir nicht, werden wir aber bald wissen.“

„Dann fahr. Und schalt die Heizung auf meine Füß ein, weil die schon wie Eiszapfen sind. Die Bundeswehrstiefel war’n auch schon amal besser.“

 

 

Kapitel 4

Als Frau Sigrid Krämer die 110 gerufen hatte, standen wenige Minuten später zwei uniformierte Polizisten neben ihr. Sie sahen die kleine Menschenmenge, die sich mittlerweile um den Toten herum versammelt hatte und drängten sich durch die Menge.

„Jetz geht’s doch amal auf’d Seiten, Herrgott Sakrament, lasst’s uns durch“, meinte Wachtmeister Georg Schrammel, der ältere der beiden. Er hatte einen relativ kräftigen Bauch an einer breiten Figur. Die schwarze Lederjacke spannte und drohte jeden Moment zu explodieren. Wie eine Walze ging er ganz einfach weiter. Die Leute mussten ihm Platz machen, ob sie nun wollten oder nicht. Sein Kollege, Fritz Hochtaler, der von kleinerer Statur war, ging dicht hinter ihm. Im Windschatten, sozusagen.

„So, wer hat hier die Polizei g’rufen?“, fragte Georg Schrammel mit seiner tiefen, sonoren Stimme.

Sigrid Krämer, die nahe am Toten an der Mauer angelehnt stand, hob leicht die Hand.

„Ich hab des. Sie sind aber schnell da g’wesen, Herr Wachtmeister.“

„Ja, wir waren grad da an der Feldherrnhalle. War nur a paar Meter. So, und jetz gemma da amal a bisserl z’rück, meine Damen und Herrn, des is ein polizeilicher Befehl. Und du, Fritz, hol doch amal a Band, dass ma des hier absperr’n.“

Dann ging der Wachtmeister auf den Toten zu, nahm seine Taschenlampe, die er am Gürtel hängen hatte, und leuchtete diesem ins Gesicht. Ohne den Toten zu berühren, versuchte er, sich einen Eindruck von der Lage zu verschaffen. Sein Kollege kam mit dem Band zurück und fing an, den Bereich großzügig abzusperren.

„Fritz, jetzt schau dir des an. Da is a Blutfleck, da im Schnee. Ich glaub, da brauchen wir die von der Mordkommission. Die werd’n a Freud ham, so am Samstagabend und so. Ruf doch amal an, dass da jemand kommt. Ich bleib hier und pass auf.“

Mittlerweile hatte sich die Menge einigermaßen aufgelöst. Sogar Tote waren auch nur für eine begrenzte Zeit interessant. Man hatte ihn gesehen, und das war genug. Mehr konnte nicht mehr passieren. Tote bewegten sich nicht mehr, ließen nicht mehr mit sich reden und vollbrachten keine aufregenden Dinge mehr. Nur Frau Krämer stand noch dort an der Mauer und schien elendiglich zu frieren. Sie hielt sich ihren Mantel fest um den Hals und zitterte.

„Kann ich jetz auch gehen, Herr Wachtmeister? Ich frier hier schon wie ein Schuster. Ich wollt eigentlich nur heim.“

„Des müssen’s jetz schon amal aushalten, Frau ...“

„Krämer, Sigrid Krämer.“

„Ja, Frau Krämer, da kann ich nix machen, Sie müssen dem Kommissar dann erzählen, was Sie g’sehn ham. Wenn der da is.“

„Nix hab ich g’sehn, Herr Wachtmeister. Nicht mehr als wie Sie. Dass da halt jemand liegt, der sich nicht mehr rührt. Des war alles. Dann hab ich die Polizei g’rufen. Und jetz sind’s ja da. Da kann ich doch geh’n.“

„Franz“, sagte er zu seinem Kollegen, der neben ihm stand und die beiden eindringlich beobachtete, „bring die Frau ins Auto. Die kann im Auto warten. Ich bleib hier und halt die Stellung. Dann gehst an den Funk und sagst der Zentrale, dass wir hier wahrscheinlich ein Verbrechen ham. Ein Toter. Und dass die den Kommissar anrufen sollen, der wo heut seinen Dienst hat.“

„Zentrale anrufen, ganz klar, mach ich“, antwortete Fritz Hochtaler, nahm Frau Krämer am Arm und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Georg Schrammel nahm sich eine kleine, flache Flasche aus der Innentasche seiner Lederjacke, die er anhatte, und genehmigte sich einen kleinen Schluck. Das war zwar nicht erlaubt, aber unter diesen Umständen sollte man ihm es verzeihen. Es war selbst gebrannter Obstler von seinem Bruder, der unten in Krün wohnte und den Hof der Familie führte. Er selbst wollte in die große Stadt, etwas erleben, nicht auf dem Land versauern.

Erleben, so ein Schmarren, meinte er zu sich selbst, als er daran dachte. Nun war er jeden freien Tag dort unten und beneidete ihn.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5

Kommissar Wengler und Armin Staller kamen mit ihrem Wagen die Theatinerstraße herauf. Armin fuhr, auf Geheiß des Kommissars, so weit wie möglich zum Tatort. Sie hatten den Polizeiwagen an der Feldherrnhalle gesehen, waren kurz stehen geblieben und hatten den Wachtmeister gefragt, wo der Tote sei. Daraufhin hatte Armin das kleine blaue Licht auf dem Dach befestigt und eingeschaltet. Das gab ihm den Weg frei. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, gingen zur Seite.

Der Weihnachtsmarkt war noch in Gang, wenn auch die Leute langsam nach Hause gingen und die Stände nach und nach schlossen. Die Tische an den Theken leerten sich. Manche Buden montierten Holzwände vor die Öffnungen. Die Leute räumten auf, verpackten ihre Sachen in Regale und Schachteln. Es war Samstagabend, sie hatten vielleicht noch etwas anderes vor. Oder ganz einfach genug.

Am anderen Ende der Viscardigasse war auf einmal Hochbetrieb. Autos fuhren vorbei, Richtung Norden, die Ludwigstraße hinauf. Die Oper hatte gerade die Türen aufgemacht. Die Vorstellung war zu Ende. Die Leute wollten nach Hause.

Der Kommissar stieg aus dem Wagen und ging auf die Absperrung zu. Der erste Luftzug, als er aus dem Wagen stieg, ließ ihn leise fluchen und seinen Parker bis oben hin schließen. Er erkannte den Wachtmeister, als er ihn sah. Er stand immer noch dort und hatte scheinbar langsam genug davon. Man sah es ihm an.

„Schorsch, frierst?“

„Und wie. So kalt war des schon lang nicht mehr. Wenn ich noch länger hier steh, könnt’s mich als Eisfigur ausstellen. Wo bleibst denn? Ich steh hier schon a Ewigkeit. Hab denkt, ihr kommt’s überhaupt nicht mehr.“

Der Kommissar überging diesen Kommentar, auch wenn er sich eine Antwort verbeißen musste. Viel lieber als hier zu stehen, hätte er sich die Götterdämmerung anhören wollen.

„Hast den Mergentheimer und den Brunner schon ang’rufen?“

„Und wie hätt ich des machen sollen, Herbert? Ich hab den Tatort g’sichert und auf euch g’wart.“

„Ja, is schon in Ordnung“, meinte der Kommissar ein wenig frustriert. Es würde eine lange Nacht werden.

„Armin, wir brauchen die ganze Blasmusik. Brunner und Mergentheimer. Ruf die amal an.“

„Sind schon unterwegs.“

Der Kommissar schaute Armin an und nickte zufrieden mit dem Kopf. Sein Assistent schien so langsam zu wissen, was zu tun war. Das beruhigte ihn, da er allmählich darüber nachdachte, dass Heft abzugeben. Besonders Einsätze dieser Qualität machten diese Entscheidung immer attraktiver.

Dann ging er  zu dem Toten.

„Gib mir amal deine Lampe, Schorsch“, sagte er und streckte die Hand aus.

Dann sah er sich den Toten und die nähere Umgebung um ihn herum an. So vorsichtig wie es irgendwie ging. Er wollte nicht wieder einen Vortrag vom Mergentheimer hören. Dem Chef der KTU. Dass er den Tatort „verschmutzt“ habe und es nun seine Schuld sei, wenn man den Täter nicht überführen könne.

„Der hat a Loch in der Brust, Herr Kommissar.“

Immer wenn es dienstlich wurde, nannte Georg Schrammel Herbert Wengler „Kommissar“. Privat und auf diversen Feierlichkeiten der Polizei war er „der Herbert“. Man traf sich oft, da beide ein gemeinsames Interesse hatten. Den Augustiner in der Neuhauserstraße. Auch ging man ab und zu zusammen kegeln. Kommissar Wengler war zwar kein guter Kegler, aber man lud ihn gerne ein. Wie er meinte, war das nur, weil derjenige, der keinen Kegel traf, die Kugel also seitlich in die Rinne laufen ließ, die nächste Runde Bier ausgeben musste. Seltsamerweise war er derjenige, der oft die ganze Mannschaft freihalten musste. Deswegen hielt sich seine Beteiligung an diesen Abenden auch sehr in Grenzen.

„Deswegen hab ich euch g’rufen. Ich hab des erst gar nicht g’sehn, aber hinten hat der stark geblutet, was man an dem roten Schnee da sehen kann. Ich glaub, den ham’s hier erschossen. Mitten neben dene Buden. Und keiner hat was g’merkt.“

„Hast dich schon umg’hört, oder warum nimmst des an?“

„Nein, bin doch hier ’blieben, dass da keiner was anfasst. Aber die Frau, die den g’funden hat, war die erste, die ang’rufen hat, und da war der schon total eing’froren. Muss also schon a bisserl da g’legen ham.“

„Ja, da magst recht ham. Aber bei der Kält’n kann des schnell geh’n. Und wo der erschossen worden is, des find’t ma schon noch raus.“

Der Kommissar gab dem Wachtmeister die Lampe zurück.  Er hatte fürs Erste genug gesehen.

„Und was hat die Frau g’sagt, die den g’funden hat?“

„Nix, nur dass sie da ’gangen is, weil’s schnell zur U-Bahn wollt, und dann hat’s den da liegen seh’n. Die wart’ im Auto, weil ich g’meint hab, dass ihr die sprechen wollt’s.“

„Nein, des is schon in Ordnung. Nimm die Personalien auf, und dann kann’s geh’n. Und du kannst dann auch wieder gehen und die Stadt bewachen, damit die Münchner gut schlafen können.“

Man sah die Erleichterung in Georg Schrammels Gesicht. Der Kommissar lächelte ihn an.

„Dann hab dich gut, Herbert.“

„Du auch, Schorsch.“

Schnellen Schrittes verzog sich Wachtmeister Schrammel, bevor sich der Kommissar das vielleicht anders überlegen konnte.

„Armin, frag doch amal rum, ob jemand was g’sehn oder g’hört hat. Ich bleib hier und wart auf den Mergentheimer.“

Armin stand schon eine Weile neben dem Kommissar und wartete auf Anweisungen. Dann ging er langsam zu den Buden, die in der Nähe und noch offen waren, und fragte sich durch.

Der Kommissar ging vorsichtig die Gasse entlang. Er dachte sich, dass er vielleicht irgendwas finden würde, was darauf hinweisen könnte, wie das passiert war. Alles schien normal. Die Mitte der Gasse war geräumt, der Schnee war seitlich aufgehäuft. Es war nicht sehr viel Schnee, nur ein wenig. Der ganze Weg war relativ sauber. Die Geschäfte, die es dort gab, waren alle geschlossen. Sie hatten Sand vor den Türen gestreut. Normalerweise fand man in der Gasse ein paar Obdachlose, die dort ihr Lager aufschlugen. Nur diese Nacht nicht. Erstens war es zu laut, wegen dem Weihnachtsmarkt, und zweitens ganz einfach zu kalt. Bei diesem Wetter waren die U-Bahnschächte und Bahnhöfe bessere Alternativen.

Kommissar Wengler fragte sich, warum jemand in diesen Temperaturen ohne Jacke herumlief. Dafür gab es eigentlich nur zwei Gründe. Einer war, dass man ihn dazu gezwungen hatte, so dorthin zu gehen, der andere, dass er irgendwo in der Nähe war und nur kurz hinausgehen wollte. Ein weiterer wäre, dass man ihn hierhergebracht hatte. Es gab nicht viele Lokalitäten in der Nähe, wo er hätte gewesen sein können. Das nächste Lokal war um die Ecke, Richtung Marienplatz. Das Spatenhaus, gegenüber der Oper. Ein Betrieb der besseren Sorte, ein Lokal, das der Kommissar nicht oft besuchte. Nur wenn es eben nicht anders ging.

Einmal, im Sommer, hatte er dort auf eine alte Freundin gewartet, bis sie aus der Oper kam. Nur, um ihr zu sagen, dass er wieder einmal ihre Verabredung verpasst hatte. Nicht richtig verpasst, mehr für sich selbst abgesagt, ohne sie das wissen zu lassen. Sie freute sich überhaupt nicht darüber. An diesem Abend saß er lange vor dem Spatenhaus, bis sie ihn fast hinauskomplimentieren wollten. Es fiel ihm spontan ein, und er musste lächeln, als er daran dachte.

Als er sich den Toten angesehen hatte, fiel ihm sofort auf, dass die Hose und das Hemd von sehr guter, heißt teurer- Qualität, waren. Er schätzte diese Art Kleidung nicht, aber kannte die Läden, in denen man so etwas kaufen konnte. Ein Anzug kostete dort mehr als als er im Monat verdiente. Und wenn man eine Fliege trug, dachte er sich, musste er von irgendeiner Veranstaltung gekommen sein. Vielleicht war es eine Weihnachtsfeier oder so etwas. Um diese Zeit herum hatte jedes Lokal Weihnachtsfeiern. Er würde es herausfinden.

Als er so in Gedanken langsam die Gasse entlangging, hörte er mehrere Wägen in die Theatinerstraße fahren. Das musste die Spurensicherung sein, dachte er bei sich. Er drehte sich um und sah, dass er recht hatte.

Langsam ging er auf die Wägen zu, die einer nach dem anderen dort vor der Gasse parkten. Es war nicht viel Platz, aber es musste reichen. Das Gute war, dass die Buden langsam schlossen. Kommissar Wengler erwartete seinen alten Freund Klaus Mergentheimer, der normalerweise die Arbeiten führte. Er war nicht zu sehen. Reges Treiben begann, die Leute packten aus, zogen sich die weißen Anzüge an, stellten Tische und große Scheinwerfer auf. Irgendwie kam sich der Kommissar verloren vor. Man beachtete ihn nicht. Das war er nicht gewohnt.

„Wo is denn der Mergentheimer“, fragte er einfach einen, der zwei Aluminiumkoffer aus dem Wagen geholt hatte und zum Tatort brachte.

„Der is in Urlaub. Der Dieter macht des heut.“

„Der Dieter? Welcher Dieter?“

„Ja, der Dieter Lohmann halt. Da drüben, der in der Lederjacken.“

Ein mittelgroßer Mann, Mitte dreißig, mit einem Zweitagebart, stand am Wagen und gab Anweisungen. Er hatte eine schwarze Lederjacke an und eine blaue Wollmütze auf dem Kopf. Seine Füße steckten in halbhohen Pelzstiefeln, die Hände hatte er in seinen Hosentaschen vergraben. Kommissar Wengler ging auf ihn zu.

„Sind Sie der Ersatz für den Klaus?“

„Ja, und wer sind Sie?“

Der junge Mann hatte eine sehr tiefe Stimme. Ungewöhnlich tief für sein Alter. Und nicht sehr freundlich. Allerdings war die Frage des Kommissars auch nicht gerade liebevoll gestellt.

„Kommissar Wengler. Des is unser Fall, und wir ham Sie g’rufen.“

Dieter Lohmann nahm sein Telefon aus der Jackentasche, drückte ein paarmal darauf herum und meinte:

„Uns hat ein Herr Staller ang’rufen. Von einem Wengler weiß ich nichts. Wo is der eigentlich, der Staller? Wissen Sie des? Der sollt doch auf uns warten.“

„Und mich kennen’s nicht? Wie lang sind’s denn schon bei unserm Verein?“

„Ich bin grad erst ’kommen. Vor a paar Tag. War in Niederbayern, wollt aber in’d Stadt. Und jetz hab ich den ersten Fall hier. Und des bei der Kält’n. Müsst ich Sie kennen?“

Dieter Lohmann sah den Kommissar eindringlich an. Bevor der Kommissar antworten konnte, stand Armin Staller neben ihm und übernahm das Gespräch.

„Sie sind der Dieter Lohmann?“

„Ja, und Sie der Armin Staller?“

„Bin ich. Und das ist unser Chef, der Hauptkommissar Wengler.“

Dieter Lohmann nahm seine Hand aus der Hosentasche, wo er sie wieder versteckt hatte, und reichte diese dem Kommissar. Kommissar Wengler jedoch drehte sich um und ging zum Tatort.

„Ich muss wissen, ob der Papiere dabeihat. Kann amal jemand schau’n?“

Er sprach niemanden direkt an, sondern sagte das in die Menge der Leute, die um den Toten herumstanden und Bilder machten. Irgendwie hatte er das Gefühl, ignoriert zu werden. Inzwischen hatte man ein Zelt aufgebaut und auch einige Heizstrahler beschafft, die den Platz ein bisschen erwärmten. Dort stellte sich der Kommissar hin und wartete.

Wenige Minuten später hörte er seinen Namen.

„Ja, Herr Kommissar, des is aber schön, dass man sich wieder amal sieht.“

Der Kommissar drehte sich um. Er kannte die Stimme. Es war Dr. Brunner.

„Wenigstens einen, den ich heut kenn. Alles neue Leut. Ich glaub, ich mach des auch nicht mehr lang.“

„Nein, Herr Kommissar, auf Sie können wir nicht verzichten, des wissen’s doch. So, und was hamma heut für uns?“

„A g’frorene Leich. Schön tiefg’froren. Liegt da vorn.“

„Dann schau’n wir uns des doch amal an.“

Langsam ging Dr. Brunner auf das Opfer zu, kniete sich hinunter und drehte die Leiche etwas um. Der Kommissar stand hinter ihm.

„Und?“

„Herr Kommissar. Ich bin doch erst a paar Minuten da. Wie des aussieht, is der erschossen worden. Ein Schuss. Der muss gut getroffen ham. Wer immer des war. Wahrscheinlich genau ins Herz, wie ich des seh, aber Genaues ...“

„Ja, wiss ma schon. Nach der Obduktion. Ich wollt nur wissen, ob der an Ausweis oder so was dabeihat. Könnens da mal schau’n für mich?“

Dr. Brunner drehte die Leiche so weit um, dass er in die hintere Tasche der Hose greifen konnte.

„Nix, Herr Kommissar. Alles leer. Auch vorn is nix drin.“

„Ja sauber. Dann wissen wir nicht einmal, wer des is. Des wird ja immer besser.“

Mittlerweile war Armin Staller erschienen.

„Der von der KTU ist nicht sehr happy. Ich glaube, den haben Sie verärgert.“

„Ja, da kann ich jetz wochenlang nicht schlafen deswegen. So was. A richtig schlecht’s G’wissen hab ich jetz.“

An Dr. Brunner gerichtet, fragte der Kommissar, ob er wisse, wie lange der schon tot sei, der da lag.

„Schwer zum Sagen, Herr Kommissar. Bei der Kälte is der fast sofort eing’froren. Den muss ich erst wieder auftauen, bevor wir da was wissen. Weil der schon so kalt is wie alles hier, nehm ich an, mindestens zwei Stunden oder so.“

Kommissar Wengler sah auf die Uhr. Es war gerade zehn Minuten vor elf.

„Also so um neun rum?“

„Ja, so etwa.“

Dr. Brunner wandte sich seiner Arbeit zu.

„Armin, mach amal a Foto von dem. Wir gehen amal rum und fragen die Leut, ob die was g’sehn ham. In die Wirtschaften, mein ich. Irgendwo muss der ja her’kommen sein.“

Nachdem Armin mehrere Bilder von dem Toten gemacht hatte, zog man los. Dieter Lohmann stand neben dem Tisch, auf dem all die Koffer standen, die man brauchte, und sah auf sein Telefon. Pausenlos drückte er auf dem Bildschirm herum. Als der Kommissar an ihm vorbeiging, meinte er:

„Mit der Drückerei hat noch niemand nix rausg’funden, junger Mann.“

Herr Lohmann sah von seinem Bildschirm auf, der Kommissar beachtete ihn nicht weiter. Es würde keine Freundschaft werden. Jedenfalls nicht so schnell.

 

Der Weg war nicht weit zum Spatenhaus. Nur um die Ecke. Mittlerweile hatte sich der Platz vor dem Theater wieder geleert. Ruhe war eingekehrt. Ein paar Taxis standen noch herum und warteten auf die Letzten, die eventuell noch Bedarf hatten, nach Hause gefahren zu werden. Es kam niemand mehr. Die Lichter gingen eines nach dem anderen aus, Türen wurden zugesperrt. Die Kultur ging schlafen. Die letzten Taxis fuhren weg.

  Auch im Spatenhaus machte man zu. Wenn das Theater  vorbei war, kam niemand mehr. München machte zu. Sperrstunde. Eine Bedienung stand an der Tür und rauchte eine Zigarette.