Diablo III: Sturm des Lichts - Nate Kenyon - E-Book

Diablo III: Sturm des Lichts E-Book

Nate Kenyon

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Beschreibung

Die Hohen Himmel erholen sich nur langsam von der letzten verheerenden Schlacht gegen das Oberste Übel Diablo. Das Böse ist besiegt und der Schwarze Seelenstein liegt wohlverwahrt tief in der Silberstadt. Währenddessen hadert Tyrael mit seiner Aufgabe als neuer Aspekt der Weisheit. Er fühlt sich unwohl als einziger Sterblicher unter seinen geflügelten Brüdern und glaubt nicht an seine Bestimmung. Während er versucht, neues Vertrauen und Zuversicht in seine Kräfte zu gewinnen, spürt er zunehmend den schädlichen Einfluss des Schwarzen Seelensteins auf seine Heimat. Wo einst nur Harmonien des Lichts zu vernehmen waren, erschallen nun plötzlich beängstigende Misstöne, die das Reich in den Abgrund zu zerren drohen. Da sich Imperius und die anderen Erzengel standhaft weigern, das düstere Artefakt zu zerstören, sieht sich Tyrael erneut gezwungen, das Schicksal der Hohen Himmel in die Hand der Sterblichen zu legen.

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DIABLO III Graphic Novel: Das Schwert der Gerechtigkeit

Softcover, ISBN 978-3-86201-310-4

DIABLO III: Die Cain-Chronik

Flint Dille – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2389-1

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Nate Kenyon – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2438-6

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Nate Kenyon – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2860-5

DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet

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Richard A Knaak – ISBN 978-3-8332-1267-3

Weitere Infos und Titel unter:

www.paninicomics.de

NATE KENYON

BASIEREND AUF DEM VIDEOSPIEL VON

BLIZZARD ENTERTAINMENT

Ins Deutsche übertragen

von Tobias Toneguzzo & Andreas Kasprzak

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In neuer Rechtschreibung.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO III: STORM OF LIGHT“

von Nate Kenyon, erschienen bei Gallery Books/Simon and Schuster, Inc.,

Februar 2014.

Deutsche Übersetzung © 2014 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87,

70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2014 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

„Diablo III: Storm of Light“, Diablo, Blizzard Entertainment sind Marken

und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc.

in den USA und/oder anderen Ländern.

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Jonas-Philipp Dallmann für Grinning Cat Productions,

Katharina Reiche

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Titelillustration von Laurel Austin/Blizzard Entertainment

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2882-7

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2860-5

www.paninicomics.de

www.blizzard.de

Ellie Rose gewidmet,

die während Daddys frühmorgendlicher Schreibsessions

stets so friedlich schlummert

PROLOG

Die Hohen Himmel

Seit Anbeginn der Zeiten stehen die Mächte der Dunkelheit und des Lichts miteinander in ewigem Streit. Im Verlauf der Jahrhunderte wüteten unsere Schlachten wie Flammen, die aus glühender Kohle hervorbarsten. Wann immer die Engel einen Schlag gegen die Dunkelheit führten, erhob sie sich wieder, stärker denn je. Und doch behaupteten die Hüter des Lichts und die Herrscher der Hohen Himmel jedes Mal, den endgültigen Sieg errungen zu haben.

Am Ende der Tage blendete uns närrischer Stolz, und Diablo erhob sich aus der Asche in Gestalt eines Kindes, um durch Sanktuario zum Diamanttor emporzusteigen und es zu zerschmettern. Und fürwahr, sein Triumph stand kurz bevor, denn der Kristallbogen, Quelle der Macht aller Engel, lag in Reichweite des Obersten Übels.

Bis die Menschheit eingriff.

Eine sterbliche Seele stellte sich gegen die Zerstörung beider Welten. Der Mut des Nephalem schenkte uns allen Stärke und wendete das Blatt des Schicksals. Er führte zum Sturz Diablos und zur Rettung Sanktuarios und der Hohen Himmel.

Doch die Dunkelheit weicht nicht so leicht. Einmal mehr nahmen wir zu früh den Sieg für uns in Anspruch.

Das Oberste Übel ist niedergestreckt. Doch es gibt andere Mächte, die gegen die Welt der Menschen ziehen.

Einem vorbeifliegenden Falken wäre die Stadt vielleicht als Reihe silbergekrönter Berggipfel erschienen, die aus dem Nebel emporragten, so gewaltig, dass sie die Vorstellungskraft eines Menschen überstiegen. In ihrer Mitte erhob sich ein Gebilde, noch mächtiger als die anderen: ein schimmernder Turm mit einem facettenreichen Bogen an der Spitze, der strahlte wie geschliffener Diamant. Das Licht der Himmel küsste seine funkelnde Oberfläche, erfüllte sie mit solchem Feuer, dass die Szenerie aus himmelwärts gereckten Steinsäulen leuchtete wie ausgebreitete Schwingen, während Funken von dem schillernden Kristall stoben, um die Dunkelheit zu erwärmen.

Die Silberstadt.

In der Welt der Engel, dies hatte der Erzengel der Weisheit unlängst begriffen, gibt es keine Betten.

Müde und mit verquollenen Augen hob Tyrael den Blick von seinem Federkiel auf dem Pergament. Wärme und Licht brandeten durch den hohen Bogen und die Säulen darunter und erfüllten den gewaltigen offenen Raum rings um ihn mit Leben. Er hatte nie Grund zum Schlafen gesehen, bis seine sterbliche Seele sich in seiner Brust eingenistet hatte. Nun verwirrte das immerwährende Licht der Himmel seinen inneren Rhythmus, und er sehnte sich danach, den Kopf auf eine weichere Oberfläche zu betten als auf den steinernen Boden der Gemächer. Doch noch hatte er sich nichts Behaglicheres bringen lassen. Der Verlust seiner Flügel gab seinen Brüdern und Schwestern schon Anlass genug, nach Zeichen der Schwäche an ihm zu suchen, und er hatte nicht vor, ihnen noch weitere zu bieten.

Tyrael streckte die verkrampften Finger. Er hatte Deckards unleserliches Gekrakel mit eigenen Notizen ergänzt, aber trotz seines wortlosen Versprechens an Deckard und Leah, zu Ende zu bringen, was sie begonnen hatten, wollte er heute Nacht nicht weiterarbeiten. Doch konnte er sich auch nicht dazu überwinden, die Augen zu schließen. Noch nicht. Es gab so viel, worüber er nachdenken musste, über seine eigenen sterblichen Fehler hinaus. Die immer tiefer werdende Kluft zwischen ihm und Imperius und dem Rat, zum Beispiel. Oder die Rolle der Menschen bei der Bestimmung über ihr Schicksal. Oder das Schicksal Sanktuarios.

Und über allem anderen jedoch schwebte die Frage, was wegen jenes Dings unternommen werden sollte, das hier unter ihnen weilte, scheinbar stumm und reglos, während seine Fühler über geheiligten Boden krochen wie schwarzer Teer.

Der Erzengel verließ die Einsamkeit seiner Gemächer. Als er durch die verlassenen Räume und Korridore stapfte, welche die Höfe und den Ring der Richtbarkeit säumten, hallten seine Schritte wider von den endlosen Böden aus poliertem Stein. Es war schwer für seine sterblichen Sinne, die Umgebung zu begreifen; zwar lebte er hier schon seit zahllosen Millennien, und doch sah er nun alles in neuem Licht. Jeder Raum mündete in einen anderen, größer und staunenswerter als der vorige; spitz zulaufende Bögen und kunstvolle Rippenkuppeln schwangen sich hoch über ihm dahin; dicht gedrängte Säulen reihten sich aneinander bis in die Unendlichkeit, und das Licht ergoss sich willkürlich aus zahllosen Kristallfacetten, die ihre Form und Farbe nach Belieben zu verändern schienen.

Wenn die Engel hier weilten, formte ihr Gesang mit dem Schein des Bogens eine perfekte Einheit aus Licht und Tönen. Doch jetzt lagen die Höfe der Gerichtsbarkeit verwaist, seine weiten Plätze, Bänke und Sitzgelegenheiten leer und kalt, und die Musik der Himmel erklang nur leise und gedämpft.

Der Erzengel spürte einen merkwürdigen Schmerz in seiner Brust, ein Verlangen nach Dingen, die er hinter sich gelassen hatte. Obwohl die Engel an diesem Ort noch immer ihre Beschwerden vortrugen, lag Tyraels früheres Zuhause seit der Transformation die meiste Zeit verlassen. Die Luminarei, die Verteidiger des Bogens, hatten sich bei Imperius in den Hallen des Heldenmuts niedergelassen.

Und ich sollte diesen Ort ebenfalls verlassen, dachte er. Er ist das Echo eines früheren Selbsts, das nie wiederkehren wird. Doch er brachte es einfach nicht über sich. Seit Malthaels Verschwinden war es auch in der Domäne der Weisheit still geworden, und der Angiris-Rat litt darunter. Tyrael hatte geplant, sich dieser Pflichten anzunehmen und bei den schwierigsten Entscheidungen, die der Rat treffen musste, als weisende Hand zu agieren. Doch die Becken der Weisheit waren ihm fremd geworden, und der Ruf von Chalad’ar war ein Lied, das er nicht zu beantworten wagte. Er war nicht sicher, ob er noch die Fähigkeiten besaß, die für den Umgang mit dem legendären Kelch erforderlich waren.

Tyrael spürte einen Schmerz im Rücken, ein Zwicken in den Knien. Seine körperliche Form war bereits im Verfall begriffen, jenem schleichenden Niedergang ins Grab, dem alle Sterblichen unterworfen waren. In seinem Herzen aber wusste er, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Und doch zweifelst du an dir selbst.

Was bedeutete es für einen Erzengel, wenn er zerbrechlich geworden war? Wie konnte er die Finsternis zurückschlagen, wenn sein neuer Leib durch jeden Angriff verwundet werden konnte? Wäre er besser für die bevorstehenden Herausforderungen gewappnet gewesen, wenn er sich anders entschieden hätte?

Die Höfe der Gerichtsbarkeit waren inzwischen einem Atrium gewichen, das sich hoch über seinem Haupt wölbte. Er passierte einen weiteren Bogen, und dann lag vor ihm eine Plattform aus Kristall und Stein, in die komplexe, fließende Muster geschnitzt waren: der Angiris-Ratssaal. Tyrael gegenüber erhoben sich jene Throne, von welchen die Erzengel ihre Argumente vortrugen, doch der Raum war leer, und das Licht, das zuvor durch die geschwungenen Fenster geströmt war, blieb diesem Ort auf mysteriöse Weise fern.

Der Schwarze Seelenstein lag auf seinem Podest. Er lag dort, als wartete er auf Tyraels Ankunft. Seine scharfen Facetten und Kanten ragten von seiner Basis empor wie eine geschwärzte Klaue, doch er war kaum größer als der Schädel eines Menschen. Wie konnte einem solchen Gegenstand nur eine derart schreckliche Finsternis innewohnen?

Langsam trat Tyrael darauf zu, zugleich fasziniert und angewidert von der Macht des Objekts; dabei überlief ihn ein fremdartiger Schauder, ein Warnschrei seines sterblichen Körpers. Das blutige Licht des Schwarzen Seelensteins war erloschen, nachdem sie Diablo besiegt und den Stein aus einer niederen Ebene der Himmel zurückgebracht hatten, doch als Tyrael sich ihm nun näherte, glaubte er einen unmerklichen Schimmer in seinem Inneren wahrzunehmen.

„Halt!“

Der Erzengel hatte die Hand nach dem Stein ausgestreckt. Nun zog er sie rasch wieder zurück und drehte sich zu der Stimme, die gesprochen hatte.

Balzael stand unter dem bogenförmigen Eingang des Saals, die Ehrfurcht gebietende Gestalt teilweise verborgen in den Schatten. Die rechte Hand von Imperius. Der Luminarei-Krieger trat auf die Plattform und entfaltete seine mächtigen Schwingen, sodass Ranken aus Licht zur Decke des Saals hochpeitschten. Seine Rüstung glänzte golden, und auf seiner Brustplatte prangte das Symbol seines Ranges.

„Was treibt Weisheit hier ganz allein?“

Hörte Tyrael bei der Erwähnung seines neuen Titels einen Hauch von Spott?

„Hinterfrage mich nicht, Balzael. Ich gehe, wohin ich will. Hat Imperius dich geschickt, mir nachzuspüren?“

„Ich bewache den Stein“, erwiderte der Luminarei. „So, wie es mir aufgetragen wurde. Das ist meine Aufgabe.“

„Aber es ist gewiss nicht die einzige Aufgabe, die der Erzengel des Heldenmutes dir aufgetragen hat, nicht wahr? Traut er seinem Bruder nicht?“

„Sterbliche Seelen sind leicht verführbar.“

Angesichts der Dreistigkeit des Kriegers schlug Tyraels Herz schneller. Die Anspielung war offensichtlich: Balzael hatte Flügel, Tyrael nicht; deshalb stand er nicht auf der gleichen Stufe mit ihm – nicht mehr.

„Die Engel sind so geblendet von ihrem Stolz, dass sie ihr Schicksal nicht sehen“, entgegnete er. „Vor Kurzem noch nahmst du meine Befehle entgegen. Hast du so schnell vergessen?“

Statt zurückzuweichen, trat Balzael näher. „Du hast mich genug gelehrt, dass ich weiß, wann ich misstrauisch sein muss.“

Die Hand des Kriegers bewegte sich auf sein Schwert zu, eine kaum erkennbare Regung, doch was er damit zum Ausdruck bringen wollte, war deutlich. Die Herausforderung erfüllte Tyrael mit Zorn, und auch er tat nun einen Schritt nach vorn. Es juckte seine Finger, nach El’druin zu greifen, das an seiner Hüfte hing. Gleichzeitig war er sich jedoch seiner Grenzen bewusst. Obgleich ein fähiger Kämpfer in der Schlacht, war er nicht mehr so stark wie als Unsterblicher.

Einen Moment lang glaubte er, Balzael ziehe tatsächlich seine Waffe, doch dann wurde ein Lichtschimmer am Eingang des Raums sichtbar. Der Erzengel der Hoffnung erschien vor ihnen, und noch während Auriel auf die beiden zuschritt, schien sie die Situation in Sekundenschnelle abzuschätzen.

„Geh“, wandte sie sich an Balzael, „wir kommen bald zusammen.“

„Man hat mir nicht von einem Treffen …“

„Der Angiris-Rat ist nicht verpflichtet, dich über all seine Schritte zu unterrichten“, entgegnete Auriel. Das Licht, das sie einhüllte, veränderte sich leicht; jetzt pulsierte es wie ein schlagendes Herz. Es kam nicht oft vor, dass sie sich so kurz fasste, und das verlieh ihren Worten noch größere Wirkung. „Ich wache über den Stein. Geh jetzt.“

Balzael zögerte einen Moment, bevor er sich andeutungsweise verneigte. „Wie du wünschst“, sagte er. Dann wandte er sich ab und verschwand durch den Bogengang, wo sein Licht in der Düsternis verblasste.

Auriel und Tyrael blieben allein zurück. Nach ein paar pulsierenden Herzschlägen drehte sie sich zu ihm herum.

„Seine Erhebung hat ihn hochmütig gemacht.“

„Mut und Hochmut sind miteinander verwandt“, meinte Tyrael. „Im Kampf gegen das Oberste Übel bewies er Heldenmut und schickte mehr Dämonen zurück in die Hölle als jeder andere. Imperius traf die naheliegende Wahl. Ich an seiner Stelle hätte das Gleiche getan.“

„Vielleicht.“ Auriels Licht wurde schwächer und wärmer, während sie ihn musterte. „Ich wollte glauben, dass du hier weilst, um jemanden zu treffen. Nur tritt der Rat heute nicht zusammen. Du wirkst … müde, mein Bruder. Vermagst du nicht zu schlafen?“

„Ich wünschte, ich hätte es nicht nötig zu schlafen.“

„Oh, aber so ist es nun einmal“, erwiderte sie. „Ich spürte deinen inneren Konflikt. Er war es, der mich von den Gärten hierher zog. Balzael ist …“ Sie machte eine Bewegung, wie um Gedanken zu verscheuchen. „Die Himmel sind kein Ort der Versöhnlichkeit – und auch nicht der Feinfühligkeit. Die Engel haben wenig Verständnis für deine Entscheidung, Tyrael. Aber das heißt nicht, dass diese Entscheidung keine Berechtigung hätte.“

Auriel zog Al’maiesh hervor, die Kordel der Hoffnung, und streckte den Kampfhandschuh vor, in den ihre Rüstung und fließenden Roben ausliefen. Sie war die Verkörperung des Lichts selbst, und als sie ihm die Kordel über die Schulter legte, flutete Wärme durch sein sterbliches Fleisch, begleitet von einem Gefühl der Ruhe und des Behagens.

Die Zeit hörte auf, zu existieren, solange das Band um ihn geschlungen war. Dann zog Auriel es zurück, und die Wärme verebbte.

„Du sorgst dich“, meinte sie nach einer Weile. „Meinetwegen?“

„Ich würde nie an dir zweifeln“, entgegnete Tyrael. Er hatte Mühe, teilnahmslos zu bleiben, wie es sich für einen Erzengel gehörte, denn er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Wenn er nachts schlief, träumte er so, wie die Sterblichen träumten; er erblickte nicht die Visionen der Engel, sondern versank in einen tieferen, fließenderen Zustand und besuchte Orte, die er nie zuvor gesehen hatte. Zunächst waren diese Träume fröhlich, erfüllt von Eindrücken der Hohen Himmel und seiner früheren unsterblichen Existenz. Doch im Verlauf der Nächte hatten sie begonnen sich zu wandeln: Das strahlende Licht und die Musik der Traumlandschaften verfinsterten sich. Er träumte davon, dass etwas ihn verfolgte, etwas, dem er nicht entkommen konnte – ein Schatten, gnadenlos und eisig kalt. Er schloss sich fest um ihn, bis sein schlagendes Herz verstummte. Er träumte davon, wie Menschenstädte vernichtet wurden und ihre Einwohner vor Qualen schrien, während etwas ihre sterblichen Leiber Stück für Stück auseinanderriss. Er träumte davon, wie Häuser einstürzten, der Boden aufbrach und sich selbst zerfleischte, bis nur noch Staub übrig war …

Auriel hätte diese Träume nicht verstanden, denn er war jetzt sterblich, und die Kluft zwischen ihnen zu weit geworden. Gleichzeitig ermöglichte seine sterbliche Schwäche ihm jedoch Einblicke, die dem Rest des Angiris-Rats verborgen blieben. Der Stolz der Erzengel machte sie blind für die Gefahr, die ihnen drohte …

Auriel rollte Al’maiesh an ihrer Seite auf, sodass die Kordel aus Licht wieder eins mit ihr wurde.

„Du bist Weisheit“, sagte sie. „Und doch weigerst du dich, bei den Becken zu ruhen. Du hast deine Rolle noch nicht angenommen. Aber nur, wenn du sie annimmst, helfen deine Ratschläge uns, die Geschicke der Himmel zu lenken.“

„Sofern der Rat mir Gehör schenkt.“

„Die anderen spüren deinen Konflikt“, erklärte sie. „Sie verstehen nicht, warum du deine Flügel aufgegeben hast. Falls du ohne jeden Zweifel sagen könntest, wem du Treue geschworen hast …“

„Was ist mit meinem Schwur, ein Band zwischen Engeln und Menschen zu schmieden? Vor vielen Jahrhunderten bewahrten unsere Stimmen Sanktuario vor dem Untergang. Heute haben die Menschen uns vieles zu bieten. Vergiss nicht: Ohne den Nephalem hätte das Oberste Übel den Bogen zerstört, und die Himmel selbst wären gefallen!“

„Aber ohne die Menschen wäre solch ein Gegenstand auch nimmermehr erschaffen worden“, gab Auriel zurück, wobei sie zu dem Stein auf dem Podest deutete. „Der Rat muss diesen Punkt erörtern, Tyrael. Das ist der richtige Ort für eine solche Beratung.“

„Eine Beratung wird nichts ändern“, wandte er ein. „Imperius wird sich nicht von seinem Standpunkt abbringen lassen. Ich glaube, auch Itherael wird gegen das Überleben Sanktuarios stimmen. Das ist nicht die Zukunft, die ich mir für uns wünsche, Schwester. Nur gemeinsam können Engel und Menschen die Finsternis endgültig zurückdrängen.“

Sie wandte sich zum Gehen, doch Tyrael stellte sich ihr in den Weg.

„Die Entscheidung liegt bei uns. Wirst du dieses Mal an meiner Seite stehen, so wie zuvor?“

Es widersprach den Konventionen des Rats, außerhalb einer Sitzung offen über derartige Angelegenheiten zu sprechen, und der Erzengel blieb ihm jede Antwort schuldig. Tyrael spürte zudem eine Starre und Kälte in Auriels Haltung, die er zuvor nicht an ihr erlebt hatte. Bislang war sie stets für das Überleben der Menschheit eingetreten; daher verstand er ihr Schweigen nicht.

Doch er fürchtete, was diese Stille bedeuten mochte.

Einen Moment lang standen sie einander gegenüber, dann wurde ihm klar, dass er zu weit gegangen war. Betrübt trat er zur Seite. Ohne ein weiteres Wort huschte sie an ihm vorbei, und er ließ sie gehen. Der Schmerz in seiner Brust weitete sich, als sie durch den Bogen verschwand und ihn allein zurückließ. Ihre Freundschaft hatte Jahrtausende überdauert, und die Zurückweisung fühlte sich an wie tausend kleine Messerstiche. Er nahm alle Affekte inzwischen viel stärker wahr, ebenso, wie er das wachsende Misstrauen der Erzengel tiefer in sich spürte.

Er wandte sich wieder dem Schwarzen Seelenstein zu. Still und leblos lag er da, wie um ihn zu verhöhnen. Als Tyrael ihn genauer betrachtete, stellte er fest, dass sein Aussehen sich verändert hatte; da war er sicher. War der Stein größer geworden, seit er den Raum betreten hatte?

Er reagiert auf meine Gegenwart, genau, wie ich vermutet habe. Sollte dem so sein, blieb ihnen wirklich nicht mehr viel Zeit. Eine Dunkelheit durchdringt die Himmel, auf eine Art wie niemals zuvor. Es ist nicht wie der dreiste Angriff des Obersten Übels auf die Tore. Nein, es ist subtiler, hinterhältiger … ein schleichendes Unheil, das nur ich spüre.

Weisheit fürchtete um die Zukunft der Hohen Himmel und Sanktuarios, und mehr denn je war er davon überzeugt, dass ihnen allen Schreckliches bevorstand.

In den Schatten jenseits der Angiris-Ratskammer beobachtete Balzael, wie Auriel davonging und das Leuchten ihrer Flügel im Dunkel verblasste. Er hatte nicht jedes Wort hören können.

Doch es war genug gewesen.

In den Korridoren herrschte um diese Zeit Stille; Engel schliefen nicht, jedenfalls nicht so wie die Sterblichen, doch es gab Phasen schweigsamen Sinnierens und Studierens, während derer die Musik der Himmel leiser wurde und Ruhe unter ihren Einwohnern einkehrte. Eigentlich hätte auch er diesem Beispiel folgen sollen. Doch ihm war eine wichtige Aufgabe anvertraut, und er war entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen.

Bislang war alles genau so geschehen, wie der Wächter es vorhergesagt hatte. Doch sein Plan konnte nur dann gelingen, wenn jeder Schritt vollkommen durchgeführt wurde. Bis es so weit war, musste Tyrael genauestens beobachtet werden, ungeachtet von Auriels jüngster Einmischung.

Als Weisheit wenige Augenblicke später auftauchte, zog Balzael sich zurück und verhüllte seine Schwingen, um nicht entdeckt zu werden. Sterbliche Augen mochten in vielerlei Hinsicht schwach sein, doch Licht gegenüber waren sie empfindlich. Er sah zu, wie Tyrael den Versammlungsort des Rates hinter sich ließ. Seine Schritte hallten in dem Korridor, und er zog den penetranten Gestank von Fleisch hinter sich her. Balzael musste ein angewidertes Knurren unterdrücken. Wie ein legendärer Erzengel so schnell so tief fallen konnte, überstieg sein Verständnis. Doch nicht mehr lange, dann würde dieser widerwärtige Geruch für alle Zeit fortgewischt sein …

Er wartete, bis Tyraels Schritte in der Ferne kaum noch zu hören waren, dann folgte er ihm, wobei er sich sorgsam im Verborgenen hielt. Später wollte er dem Wächter Bericht erstatten und sich seine nächsten Anweisungen geben lassen. Weisheit wusste es vielleicht nicht, doch er spielte eine Schlüsselrolle in einer Angelegenheit, bei der es für Engel wie Menschen um Leben und Tod ging, bei der das Ende des Ewigen Kriegs in der Waagschale lag – des Kampfes zwischen den Himmeln und den Höllen.

Ganz gleich, was geschah: Tyrael durfte keine Gelegenheit bekommen, jene Dunkelheit aufzuhalten, welche sich schleichend im Reich der Engel ausbreitete.

Die Zukunft der Himmel selbst stand auf dem Spiel.

1. TEIL

Das Schleichende Dunkel

Eins

Der Wanderer, Caldeum

„Der Eingang zur Gruft war so schwarz wie der Rachen eines Dünenhais“, erzählte der fette Mann mit gedämpfter Stimme; dabei beugte er sich vor, als spräche er ein schreckliches Geheimnis aus. „Unsere Fackel enthüllte nur die ersten Stufen, bevor die Schwärze alles Licht verschluckte. Der Geruch der Verwesung, der aus dem Loch aufstieg, kündete von toten Wesen, die begraben bleiben wollten.“

Im raucherfüllten, flackernden Licht blickte er sich um im Kreis der Gesichter, die ihm zugewandt waren, und er fing von jedem von ihnen den Blick auf, um ihre Aufmerksamkeit von den wimmernden Klängen der Leier auf der anderen Seite der Taverne fort zu lenken. Sein Gehrock und seine Hosen hätten zu einem Edelmann Caldeums gepasst, wären sie nicht so abgetragen und mit Flicken übersät gewesen.

Die Runde, die sich um die Feuerstelle versammelt hatte, wurde noch größer, denn jetzt trat eine Frau zu ihnen und warf eine klingende Münze in die umgedrehte Schweinsledermütze auf dem Tisch. Sie trug ein Kleid aus einem umgenähten Leinensack, und ein Geruch nach Hefe und saurer Milch umwehte sie, als sie sich auf einen Hocker setzte.

„Was hat das alles mit dem Kindkaiser zu tun?“, rief ein Gast. „Du wolltest vom Aufstand und von der Evakuierung der Stadt erzählen!“

„Es ist kein Geheimnis, was da geschehen ist“, meinte ein Mann, der auf der anderen Seite des Raumes saß. „Manche behaupten, es war der Herr der Höllen, der grünes Feuer vom Himmel regnen ließ. Doch die Zakarum-Priester sind mit dem Rat des Handelskonsortiums im Bunde und wollen die Führung an sich reißen. Ich sage, sie stecken dahinter! Hakan kann von Glück reden, dass er überlebt hat!“

„Lass ihn die Geschichte doch erzählen“, sagte die Frau im Sackkleid und deutete auf den feisten Kerl. Sie grinste und entblößte schwarze Lücken, wo ihre Schneidezähne hätten sein sollen. „Die Stadt hat genug Schwierigkeiten. Wir können alle eine gute Geschichte vertragen.“

Der Schankwirt, der wie ein Barbar gebaut war, bedachte sie mit einem finsteren Blick, dabei wischte er weiter mit seinem schmutzigen Tuch über die Theke und brummte vor sich hin. „Es ist nicht bloß eine Geschichte, das versichere ich euch“, erklärte er rasch. „Jedes Wort ist wahr.“ Das Feuer wärmte seinen Rücken, und ein Rinnsal aus Schweiß sickerte von seinem hohen Haaransatz über seine Schläfen. Kurz nickte er der Frau zu, und seine hängenden, von einem grauen Bart bedeckten Wangen zuckten unter einem angedeuteten Lächeln, bevor er wieder den Ausdruck furchtsamen Grauens aufsetzte, der seiner Geschichte angemessen war.

„Wo war ich? Ach ja, es war die vergessene Gruft eines mächtigen horadrischen Magiers, müsst ihr wissen. Eines Magiers, der von einem schrecklichen Übel verdorben worden war und sich mit Dämonen zusammengetan hatte. Er war schon lange tot, aber mein Meister war nach ausgedehnten Nachforschungen zu dem Schluss gekommen, dass sein Ruheort durch tödliche Zauber geschützt sein musste. Wir alle vermuteten, dass die Dinge, die uns dort unten erwarteten, nicht von dieser Welt wären. Nicht ein Einziger, weder Mann noch Frau noch das junge Mädchen, das uns an diesen verfluchten Ort geführt hatte, wollte als Erster hinabsteigen. Doch wir mussten in die Gruft, denn die Zukunft von Sanktuario stand auf dem Spiel.

Genau in jenem Moment ertönte ein unmenschlicher Schrei aus der Tiefe, wie von einer Kreatur, die auf der Streckbank gefoltert wird, wo man ihr Gliedmaße um Gliedmaße auseinanderreißt! Es klang wie der Schrei des Todes selbst. Die Furcht, die mich überlief, war so mächtig, dass sie mir alle Kraft aus den Knochen saugte. Doch al-Hazir entriss dem Magier die Fackel und marschierte zu den Stufen. ‚Worauf wartet ihr noch?‘, rief er. ‚Ich bin vielleicht nur ein reisender Schreiberling, aber ich werde der Erste sein, der Licht in dieses schwarze Dämonenloch bringt!‘“

Seine Stimme schwoll an, während er den Abstieg in die Gruft beschrieb. Die Menge murmelte, und kurz übertönte das Scharren von Stuhlbeinen seine Worte, als sich weitere Gäste zu ihm gesellten. Noch mehr Münzen klingelten in seiner Mütze, und während die einen kopfschüttelnd über solchen Unsinn lachten, lächelten die anderen ihm nervös zu. Caldeum war eine Stadt in Aufruhr, und Geschichten über schwarze Magie und Dämonen beflügelten stets die Fantasie der Einwohner.

An einem Tisch in der Ecke, ungefähr zehn Meter von der Feuerstelle entfernt, saß ein blonder Mann, die Hände um einen Humpen Met geschlossen. Nur die leichte Neigung seines Kopfes zeigte, dass auch er der Schauermär lauschte. Seine Kleidung bestand aus der schlichten, staubfarbenen Robe eines Nomaden und einer schwarzen Schärpe um die Hüfte, unter die er die Hülle eines Kurzschwerts geschoben hatte. Schlank war er, und obwohl seine kantigen Züge im Schatten lagen, sah er nicht aus, als wäre er in Caldeum geboren. Doch niemand in der Taverne hätte sagen können, aus welchen Landen er stammte. Kein Gast hatte ihn angesprochen, seit er den Wanderer betreten hatte, so, als spürten sie, dass er keine Gesellschaft wünschte.

Während die Geschichte sich weiter entfaltete, begann der fette Mann immer heftiger mit den Stummelarmen zu wedeln, bis es aussah, als kippe er jeden Moment vom Hocker. Sein Meister, Al-Hazir, so berichtete er, war gewaltigen unmenschlichen Bestien aus Stein und Sand begegnet, und als die Zauber und Schwerter der anderen Abenteurer keine Wirkung gezeigt hatten, hatte er sie mit seinem Geist bezwungen.

„Kull war vor Jahrhunderten von den Horadrim enthauptet worden, damit er sich nicht wieder von den Toten erheben konnte“, sagte der Mann. „Wir fanden seine grausigen Überreste in der Ritualkammer. Trotz aller Warnungen meines Meisters begann die Hexe mit ihren Zaubern. Al-Hazir hatte im Demonicus gelesen, welches von Zoltun Kull höchstselbst verfasst worden ist …“

„Ach, raus mit dir!“, rief der Schankwirt plötzlich. Er hatte mit seinem schmutzigen Tuch weiter energisch die zerkratzte und abgenutzte Theke geschrubbt, und inzwischen war sein Gesicht rot vor Zorn. „Ich habe genug gehört! Du kannst deine Märchen auf der Straße erzählen – aber nicht in meiner Taverne!“

Der Leierspieler brach seine Melodie abrupt ab, und die wenigen Gäste, die das Spektakel an der Feuerstelle bislang ignoriert hatten, drehten sich um und starrten hinüber. Der fette Mann blinzelte wütend.

„Noch eine Runde, Marley, für deine Mühe …“

Der Wirt klatschte das Tuch auf die Theke, streifte die fleckige Schürze ab und trat hinter dem Tresen hervor. Während er auf den Erzähler zu stampfte, nahm er ein Stück Feuerholz vom Stapel an der Wand und schwenkte es wie einen Knüppel.

„Du bestellst hier gar nichts mehr! Raus mit dir, sage ich!“ Er richtete das Holzscheit auf den Kreis der Zuhörer am Feuer. „Ihr anderen könnt mitgehen und es euch draußen in der Kälte gemütlich machen, wenn ihr euch diesen Schwachsinn anhören wollt! Oder ihr bleibt hier, wo es warm ist, und gebt euer Geld für gutes Essen aus, statt es zu verschwenden.“

Der Schankwirt warf das Scheit aufs Feuer, und die Menge brummte, als Funken aufstoben, begleitet von einer Wolke schwarzen Qualms, die einige von ihnen husten oder zurückweichen ließ. Andere lachten, denn der Geschichtenerzähler stolperte betrunken, während er sich jetzt, noch immer protestierend, in die Höhe stemmte. Er griff nach seiner Mütze, und beinahe hätten die Münzen sich über den Boden ergossen, als der Wirt ihn am Arm packte und weitere unverständliche Verwünschungen brummte.

„Geh doch zu deinem Meister“, knurrte er, nachdem er den Mann zum Ausgang bugsiert hatte, „vielleicht kann er deine Zunge ja mit einem Zauber belegen, damit du sie endlich stillhältst!“

„Ich bitte dich, überleg es dir noch mal“, erging sich der Geschichtenerzähler in einem letzten Versuch. Doch der Schankwirt hatte bereits die Tür aufgestoßen, und ein Hauch eisige Luft wehte herein.

„Die Leute müssen hören, was ich zu sagen habe! Al-Hazir ist Tyrael persönlich begegnet, dem Erzengel der Gerechtigkeit …“

„Mir wär es sogar egal, wenn er wüsste, wo der Kindkaiser zum letzten Mal geschissen hat“, grollte der Wirt. „Ich will nichts mehr von ihm hören! Und dich will ich auch nicht mehr hören!“

Er stieß den feisten Mann nach draußen, dann knallte er die Tür zu, um die Kälte auszusperren. Einen Moment lang flackerte das Feuer und sandte zuckende Schatten über die Gesichter. Keiner machte Anstalten, zu gehen. Also winkte der Wirt dem Leierspieler zu, und nachdem die disharmonische Melodie von neuem begonnen hatte, widmeten die Zecher sich wieder ihren Trünken. Einige von ihnen lachten noch immer, während das Feuer knisterte und Funken spuckte.

Niemandem fiel auf, dass der blonde Mann sich ein paar Sekunden später von seinem Ecktisch erhob und wortlos zum Ausgang ging. Wie ein Geist verschwand er in der windigen Nacht.

Draußen klapperte und knallte das verwitterte Holzschild des Wanderers gegen seine Einfassung, und der frostige Wind ließ die Ketten rasseln, an denen es hing. Böen wirbelten in beißenden Wogen von der Straße, und von den nahen Ställen wehten sie Strohklumpen und den Gestank von Dung herbei. Einige Fackeln waren bereits erloschen, und der abendliche Mond hatte sich hinter Wolken verborgen, was die Düsternis noch vertiefte. Jacob aus Staalbreak nahm sich einen Moment, die Kapuze seiner Tunika hochzuschlagen und sie um seinen Hals zusammenzuziehen, bevor er mit zusammengekniffenen Augen in den umherwirbelnden Staub blickte und nach dem Geschichtenerzähler suchte. Tyrael, hat er gesagt. Der Erzengel, der El’druin trug. Der feiste Kerl hatte viele Details der Wiederauferstehung von Zoltun Kull auf groteske Weise verfälscht; keine Frage, er war ein Narr, der einem echten Dämon nie auch nur nahe gekommen war. Doch die beifällige Erwähnung des Erzengels, als man ihn aus der Taverne geworfen hatte, hatte Jacob aufhorchen lassen. Er musste wissen, ob in seiner Erzählung nicht doch ein Funken Wahrheit steckte.

Der Besitzer des Alchemieladens hämmerte gerade hektisch dicke Bretter vor seine Fensterläden, damit sie nicht weggerissen wurden, und der Lärm hallte über die leere Straße wie das hohle Donnern von Streitäxten, die auf Schilde schlugen. Abgesehen davon wirkte die Stadt verlassen; alle schienen sich in ihre Behausungen zurückgezogen zu haben, bis der Sturm vorüber war.

Als er den Geschichtenerzähler schließlich fand, war er schon fast verschmolzen mit der Dunkelheit. Sein Rücken war gebeugt und sein Gang unsicher vom Schnaps. Jacob ging raschen Schrittes los, um zu ihm aufzuschließen.

Der fette Mann bog um eine Ecke und setzte seinen Weg in stetigem Tempo fort, ohne über die Schulter zu blicken. Die Münzen hatte er in die Tasche geschüttet und die alte Mütze auf seinen Kopf gedrückt, sodass sie bei jedem Schritt hin- und herrutschte. Je länger er ging, umso sicherer wurden seine Schritte, und als er schließlich zwischen baufälligen Hütten auf eine schlammige Straße in den Außenbezirken von Caldeum einbog, wankte er gar nicht mehr. Jacob war jetzt nur noch ein paar Schritte hinter ihm.

Dieser Teil der Stadt lag in der Nähe der Handelszelte und wurde größtenteils von Tagelöhnern und Prostituierten, von Dieben und Wahnsinnigen bewohnt. Es gab keine Fackeln auf den Gassen, sodass die Schatten tiefer wurden und nur vage Umrisse preisgaben. So betrunken er auch wirken mochte, der Geschichtenerzähler gehörte nicht in dieses Viertel – nach Einbruch der Dunkelheit kam selbst die Stadtwache nur selten hierher. Die Behausungen waren aus Schlamm und Sand, die Dächer mit Maishülsen gedeckt, die im Wind knisterten und flatterten. Das Geräusch übertönte Jacobs Schritte, aber der fette Kerl hätte ihn wohl auch sonst nicht gehört; im Laufe vieler Jahre hatte er gelernt, wie man sich einem Ziel unauffällig näherte.

Vielleicht, überlegte er, war er seit dem Verlust von El’druin, dem Schwert der Gerechtigkeit, schwächer oder verzweifelter geworden. Mit der Klinge hätte er die wahren Absichten des Mannes gewiss leicht erkannt. Jacob zog nun schon seit beinahe zwanzig Jahren durch diese Lande und suchte nach Orten, wo das Verhältnis von Gut und Böse aus dem Gleichgewicht geraten war, und das Schwert des Erzengels Tyrael war dabei ebenso ein Teil von ihm geworden wie sein schlagendes Herz. Ohne die Waffe fühlte er sich blind; er tastete in der Dunkelheit, bis er auf einen Widerstand stieß, und das war gefährlich. Vor allem hier, wo jeder Schatten ein Messer oder einen zutretenden Stiefel verbergen konnte.

Er war kein Held, jetzt nicht mehr. Nicht, dass er sich je als Heroen betrachtet hätte. Andere mochten ihn in diesem Licht gesehen haben, doch er war einfach dem Willen des Schwertes gefolgt und hatte nach Gerechtigkeit gestrebt. Doch nachdem er schon so weit gekommen war, wäre es sinnlos gewesen, jetzt noch kehrt zu machen. Er musste herausfinden, was am Ende dieses Weges lag.

Jacob konnte den Umriss des Geschichtenerzählers nur mit Mühe ausmachen, während dieser auf das größte der Gebäude zuging. Es war außerdem das Einzige, in dem Licht brannte: Ein rötlicher Schimmer flackerte durch ein kleines Fenster in den dicken Schlammwänden, hell genug, um das Gebäude zu einem Leuchtfeuer in der Nacht zu machen. Vielleicht fühlte der feiste Kerl sich einfach nur dorthin gezogen, weil er nach einem Ort suchte, wo der eisige Atem des Sturms nicht mehr nach ihm griff? Oder gehörte er doch hierher? Seine Kleidung deutete zwar an, dass er einst wohlhabend gewesen sein mochte, doch ein Mitglied der Oberschicht von Caldeum wäre vermutlich lieber gestorben, als den Wanderer zu besuchen. Diese Straßen waren der letzte Außenposten auf dem Weg in die Vergessenheit.

An der Tür holte Jacob den fetten Mann ein. Der Kerl fummelte gerade an dem rauen, verknoteten Stück Seil herum, das den Eingang geschlossen hielt, und als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, stieß er einen leisen Schrei aus. Jacob drehte ihn zu sich herum. Er sah, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war; die kalkweiße Haut ließ ihn in der Dunkelheit wirken wie ein Phantom. Sie waren ungefähr gleich groß, aber obwohl der Erzähler mindestens zweihundert Pfund mehr wog, sah er nicht aus, als stelle er eine Bedrohung dar.

„Deine Geschichte“, sagte der Mann aus Staalbreak, „wie endet sie?“

„Ich bitte Euch“, stammelte der Kerl, und seine Schweinsäuglein quollen aus den Höhlen, während er in die Schatten unter Jacobs Kapuze starrte. „Ich … Ich habe kein Geld …“

Der Wind riss eine Maishülse vom Dach über ihnen los, sodass sie raschelnd zu Boden wirbelte.

„Die Geschichte, die du im Wanderer erzählt hast – ich will mehr darüber wissen. Was weißt du noch über den Erzengel Tyrael?“

„Ich … gar nichts. Ich meine, nicht wirklich. Ich bin nur ein armer Tropf, der sich ein paar Münzen für ein Mahl verdienen will.“ Der fette Kerl kniff die Augen zusammen; er schien nach irgendeiner Verbindung zu suchen. „Wurdet Ihr hierhergeschickt, um den armen Abd al-Hazir zu suchen?“

„Al-Hazir, der reisende Schreiberling? Ist er da drinnen?“

Die Verwirrung auf dem Gesicht des Erzählers war größer, als es angesichts der Frage gerechtfertigt gewesen wäre. Er öffnete den Mund, wie um zu antworten, doch nichts kam heraus. Stattdessen tastete er mit ungeschickten Fingern nach seiner Hosentasche und ergoss ihren Inhalt über den Boden. Münzen rollten durch den Staub.

„Oh, nein“, haucht er, dann wich er kopfschüttelnd zurück, bis sein Rücken die Tür berührte. „Nehmt alles, was ich habe. Lasst mich nur gehen … Oder seid Ihr ein Dämon, der gekommen ist, mein Leben zu fordern?“

Jacob antwortete nicht. Stattdessen hob er ein Medaillon auf, das ebenfalls aus der Tasche des Mannes gefallen war. Er hielt es an seiner goldenen Kette in die Höhe, sodass es im rötlichen Schein des Fensters funkelte. Das Bild einer Waage zierte die Oberfläche des Schmuckstücks: der Glücksbringer eines Alchemisten. Ein Schauder rann durch Jacobs Leib, und sein Herz übersprang ein paar Schläge.

„Woher hast du das?“

Ein Stöhnen waberte durch die Düsternis. Im ersten Moment glaubte der Abenteurer aus Staalbreak, es sei nur der Wind, der über den Dachvorsprung pfiff; dann begriff er, dass das Geräusch aus dem Inneren des Hauses gekommen war. Einen Moment hörte er nur das Rascheln und Zischen der Maishülsen.

Und dann erklang das hohe, schrille Kreischen einer Frau.

Der fette Kerl bewegte sich behänder, als Jacob es für möglich gehalten hätte. Er hatte nur kurz zum Fenster geblickt, und als er den Kopf wieder drehte, stand die Tür der Behausung sperrangelweit offen, und der Geschichtenerzähler war verschwunden.

Jacob schob das Medaillon unter seine Tunika, dann trat er durch den Eingang in das tiefe Halbdunkel und schob die Kapuze aus dem Gesicht. Der Geruch von verrottetem Fleisch hing schwer in der Luft. Jacob zog sein Kurzschwert aus der Scheide, ein Familienerbstück, und schloss die Finger fest um den abgewetzten hölzernen Griff, die Klinge nach vorn gerichtet.

Der Vorraum war leer, abgesehen von einem Heuballen in der Ecke. Daneben befand sich eine steinerne Feuerstelle, aber die Kohlen waren längst kalt und erloschen.

Der Erzähler war nirgendwo zu entdecken, ebenso wenig das rote Glühen; es musste aus einem anderen Zimmer tief im Innern des Hauses stammen. Jacob trat dicht vor eine zweite Tür, die einen Spalt weit offenstand, und hielt inne, um zu lauschen. Ein Rascheln drang an sein Ohr.

Was immer du dort drinnen finden magst, es ist das Wagnis nicht wert. Dennoch spürte er den Drang, dem Kerl zu folgen. Das Medaillon … und der Schrei der Frau. Das hatte etwas zu bedeuten, etwas Wichtiges!

Er stieß die Tür auf; sie quietschte wie ein abgestochenes Schwein, als sie nach innen schwang. Dann prallte sie gegen die Wand und verharrte dort.

Im Inneren des Raumes stand ein Halbkreis aus schmalen, hohen Schatten um eine gefesselte Gestalt auf einem Stuhl. Die schlanke Figur war zweifelsohne die einer Frau. Ein schmutziger Umhang lag um ihre Schultern; außerdem hatte man ihr einen Sack über den Kopf gezogen und am Hals zusammengebunden, sodass ihr Antlitz verborgen blieb. Die wartenden Schatten waren Männer in dunklen Roben, die lange, gefährlich aussehende Dolche in ihren Händen trugen. Die gekrümmten Klingen schimmerten blutrot im Licht der glühenden Runen, die auf die hölzernen Dielen gezeichnet waren. Jacob hatte derlei Symbole nie zuvor erblickt, doch das Ritual, das sie beschrieben, würde zweifelsohne mit Blutvergießen enden.

Es war nicht das erste Mal, dass dieser Raum für böse Zwecke benutzt worden war: Der Abenteurer zuckte zurück, und der Atem stockte ihm in der Kehle, die unvermittelt staubtrocken wurde. Alte Blutflecken, schwarz wie Teer, bedeckten die Wände und den Boden.

Kultmitglieder in Diensten der Hexe.

Er hatte geglaubt, jener Zirkel wäre inzwischen ausgelöscht oder nach dem Tode Maghdas in alle Winde zerstreut. Jacob hielt inne, das Schwert erhoben. Sein Herz raste, als die Worte seines längst verstorbenen Vaters in ihm erklangen: Wenn du nicht willst, dass es dein letzter Kampf ist, dann stürme nicht los wie ein verwundeter Stier! Er hatte eine Grundregel verletzt, an die er sich in der Vergangenheit stets gehalten hatte. Kurz überlegte er, ob er umdrehen und fliehen sollte. Er war diesen Gegnern nicht gewachsen – nicht mehr. Er war nicht länger die Inkarnation der Gerechtigkeit, seit El’druin in der Nacht verschwunden und er macht- und kraftlos zurückgeblieben war. Doch falls er jetzt flüchtete, würde diese Frau sterben. Sie ist unschuldig. Nein, das durfte er nicht zulassen.

Einen Moment lang herrschte Stille in dem Gemach; dann richteten die Männer alle gleichzeitig ihre kapuzenverhüllten Gesichter auf Jacob. Der Stuhl knirschte, als die Frau sich unter ihren Fesseln wand, ein verzweifeltes Geräusch. Kurz spürte der Abenteurer beinahe den kalten Biss der Kultistendolche, als wären sie gegen sein eigenes Fleisch gerichtet, um sein Lebensblut über den Boden zu vergießen.

Da hörte er einen Laut hinter sich. Er wirbelte herum und sah, dass der fette Kerl es irgendwie geschafft hatte, hinter ihn zu kommen, obwohl Jacob ihn auf dem Weg hierher eigentlich nicht hätte übersehen können. Jetzt blockierte der Geschichtenerzähler den Ausgang, die fleischigen Arme vor der Brust verschränkt. Er schüttelte lachend den Kopf.

„Jacob aus Staalbreak.“

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Der Ruhestand hat dich faul gemacht. Hast du denn wirklich geglaubt, es wäre so einfach, mich um die Früchte meiner harten Arbeit zu bringen? Dachtest du, ich würde dir einfach alles erzählen, was du hören willst, ganz ohne Gegenwehr?“

„Habe ich … Sind wir uns schon einmal begegnet?“

Erneut lachte der feiste Kerl.

„Nicht in dieser Hülle.“

Er hob die Hände und begann sein Gesicht zu zerkratzen. Seine Nägel gruben tiefe Furchen in seine aufgedunsenen Wangen und rissen die Haut in langen, gelben Streifen ab, die sich dehnten und dann rissig wurden wie Lehm in der Sonne. Was darunter zum Vorschein kam, war eine bluttriefende Monstrosität aus glänzenden Sehnen, glitschigen Muskeln und gehörnten Knochen. Die roten Augen der Kreatur glühten, als brannten die Feuer der Höllen hinter ihnen.

„Bar’aguil“, hauchte Jacob.

Er war dem Dämon vor Jahren schon einmal begegnet. Die Brennenden Höllen waren inzwischen zwar zurückgeschlagen, doch ihre Diener durchstreiften weiter Sanktuario und dürsteten nach dem Blut Unschuldiger. Jacob dachte zurück an die Taverne, wo der Erzähler so beifällig Tyraels Namen erwähnt hatte; dieser einfache Trick und die Larve eines tollpatschigen Narren hatten genügt, um ihn in den Sturm hinaus zu locken. Der Dämon hatte ihm eine Falle gestellt – und Jacob war geradewegs in sie hineingetappt.

Und das Medaillon? Das Blut rann noch kälter durch seine Adern. Der Gedanke, was dieses Schmuckstück bedeuten mochte, war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu führen …

„Mörder“, zischte Bar’aguil und trat vor. Das Fleisch des einstigen Geschichtenerzählers hing wie eine groteske Maske von seinem glühenden Antlitz. „Heuchler. Monster. Jahrelang hast du uns gejagt. Jetzt ist es Zeit, dass wir den Spieß umdrehen.“

„Maghda ist tot. Und Belial ist längst untergegangen.“

„Wir stehen jetzt im Dienste eines neuen Meisters.“

Der Dämon bewegte sich über den Boden wie ein Insekt; dann blieb er stehen und blickte Jacob mit schräg gelegtem Kopf an. „Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wer es ist! Aber so lange wirst du leider nicht mehr leben. Kannst du dir vorstellen, was wir mit dir anstellen werden, Mörder? Weißt du, wo deine Seele enden wird, wenn wir mit deinen Knochen fertig sind?“

Jacob schwenkte das Schwert erst in die eine Richtung, dann in die andere, um die Gegner auf beiden Seiten in Schach zu halten. Die robengewandeten Kultanhänger hatten sich inzwischen näher an ihn herangeschoben, und der vertraute Druck panischer Furcht breitete sich in seiner Magengrube aus.

Als einer der Kapuzenträger vorsprang, hatte Jacob gerade noch Zeit, sich in seine Richtung zu drehen, dann schlang die Gestalt auch schon ihre Arme um seine Schultern. Ihr fauliger Atem schlug ihm ins Gesicht, begleitet von einem penetranten, sauren Fleischgeruch.

Das Gewicht des Mannes riss Jacob zu Boden, doch es gelang ihm, das Schwert unter die Rippen des Angreifers zu stoßen. Noch im Fallen riss er die Klinge hoch, und eine heiße Woge aus Blut durchtränkte seine Gewänder. Einen Moment später landeten sie schwer auf dem Boden, und der Kerl grunzte und ächzte, während sein Körper zu zucken begann und seine Beine über das Holz schabten.

Bevor er den sterbenden Kultanhänger von sich schieben konnte, hatten die anderen Jacob bereits an den Armen gepackt und rissen ihn in die Höhe. Sie verdrehten ihm die Schwerthand, bis er die Klinge fallen ließ; anschließend hoben die beiden größten Kapuzenmänner ihn hoch, sodass seine Füße über dem Boden baumelten, und drückten ihn gegen die Wand.

Nun trat Bar’aguil vor. Blut und Fett tropften von seinem Gesicht, und seine Dämonenaugen glühten in den Schatten, als er die Hand ausstreckte. Die Fingerspitzen waren aufgeplatzt wie gekochte Würste, und gekrümmte, scharfe Klauen ragten daraus hervor.

„Dafür wirst du bezahlen“, zischte die Kreatur. Dort, wo die Lippen des Geschichtenerzählers sich befunden hatten, formte ihr Speichel blutigen Schaum.

„Das Schwert deines heiß geliebten Erzengels kann dich nicht mehr beschützen! Tyrael ist tot, und für Sanktuario ist der Tag der Abrechnung nah! Die Menschen sollen leiden! Und wir, wir werden uns aus der Asche erheben, stärker und mächtiger denn je!“

Die Runen auf dem Boden pulsierten in rotem Licht, als der Dämon Jacob bei der Kehle packte. Klauen schnitten in sein Fleisch, und er würgte, während sie ihm langsam die Luft abschnitten. Sterne blitzten in seinen Augen auf, ein Lichterwirbel, der greller wurde, bis er alles zu verschlingen drohte, was der Abenteurer je gekannt und geliebt hatte …

Er konnte nicht sagen, was als Nächstes geschah. Die Lichter in seinem Kopf wurden plötzlich von einem Gleißen hinter ihm überstrahlt, und als er wieder zu sich kam, hatte der Dämon ihn losgelassen und seine Füße standen wieder auf dem Boden. Keuchend rang er um Luft, sog in heißen, gequälten Zügen Sauerstoff in seine Lungen.

Bar’aguil war mit den anderen Mitgliedern des Hexenzirkels zu der Frau herumgewirbelt, die eben noch an den Stuhl gebunden gewesen war. Nun jedoch stand sie hoch aufgerichtet, ihre Arme frei, und die Überreste der Fesseln lagen zerrissen zu ihren Füßen. Zwischen ihren gekrümmten Händen schwebte ein heller Ball purpurnen Feuers. Jacobs Augen aber waren wie gebannt auf ihr makelloses Antlitz gerichtet.

„Shanar?“

„Runter“, rief die Zauberin; dann zuckten ihre schlanken Handgelenke, und die Kugel aus reiner arkaner Energie sauste auf den nächsten Kultisten zu. Im selben Moment, in dem sie seine Brust traf, explodierte sie, und Jacob warf sich zu Boden, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Als er mit klingelnden Ohren wieder aufblickte, standen nur noch Bar’aguil und zwei seiner Kapuzenträger. Der Dämon fauchte voll Zorn und sprang mit ausgefahrenen Klauen vor, als wollte er mit einem einzigen Hieb den Kopf von den Schultern der Zauberin trennen.

Da breitete sich rings um Shanar eine glühende Blase aus Licht aus, die Bar’aguil und die verbliebenen Kultanhänger einschloss und ihre Bewegungen verlangsamte. Die Zauberin bewegte sich hingegen umso schneller: Sie beschwor Stacheln aus knisternder Energie zwischen ihren Händen und schleuderte sie wie schillernde Purpurspeere auf die hilflosen Gestalten, die in ihrem Netz gefangen waren.

Und dann, nur wenige Sekunden, nachdem der Kampf begonnen hatte, war er auch schon wieder vorbei. Die Lichtblase verblasste, die Überreste des fetten Mannes, den Bar’aguil als Wirt genutzt hatte, bluteten zweigeteilt auf dem Boden aus, und die toten Kultisten lagen wie auf einem makabren Tableau rings um ihn verstreut.

Im Zentrum der Verwüstung stand Shanar, die nackten Schultern straff gespannt, während ihr runder Busen unter einem Lederkorsett wogte. Das dunkle Haar hatte sie auf Schulterlänge geschnitten; davon abgesehen sah sie noch genauso aus wie jene Frau, der Jacob vor zwanzig Jahren hinterhergeschmachtet hatte, ohne jede Falte, ohne jeden Makel.

Sie begegnete seinem Blick mit jenem vertrauten Trotz, der ihn schon früher im wahrsten Sinne des Wortes in den Wahnsinn getrieben hatte.

„Immer ist es dasselbe mit dir“, meinte sie. „Ich bin es allmählich leid, dir ständig die Haut retten zu müssen! Ich habe so lange gewartet, wie es ging. Aber wenn man die ganze Zeit an einen Stuhl gefesselt ist, verliert man irgendwann die Geduld.“

„Du hättest ruhig etwas früher eingreifen können, Shanar“, entgegnete er, während er sich leichtfüßig in die Höhe stemmte, nach seinem Schwert griff und die Klinge säuberte. Anschließend betastete er die oberflächlichen Schnitte, die Bar’aguils Klauen an seinem Hals zurückgelassen hatten, und blickte hinab auf seine Finger. Die Blutung hatte bereits aufgehört, doch der Kratzer, den sein Stolz davongetragen hatte, würde nicht heilen.

„Wo wäre da das Vergnügen geblieben?“

Den Hauch eines Lächelns auf den Lippen stieg sie anmutig über eine der Leichen hinweg. „Ich musste dich erst hierherlocken und warten, bis der Dämon sich zu erkennen gab, bevor ich etwas unternehmen konnte. Außerdem hatte ich eigentlich erwartet, dass du die Jungfrau in Nöten rettest und unter Beweis stellst, dass du nicht ganz wertlos bist …“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Aber bevor uns Nostalgie überkommt und wir vom Thema abschweifen – ich glaube, du hast etwas, was mir gehört.“

Jacob griff unter die Tunika und zog das Medaillon hervor, einen der wenigen Gegenstände, der ihr am Herzen lag und der Wert für sie hatte. Das Symbol des Alchemisten. Einst hatte sie ihm erzählt, wie sie es vom Hals ihres toten Vaters genommen hatte, bevor sein Sarg ins Grab gesenkt wurde. Jacob hatte sie noch nie ohne dieses Schmuckstück gesehen.

„Als ich das sah, fürchtete ich schon, du wärest …“ Er ließ die Worte in der Luft hängen. Selbst nach all den Jahren vermochte er seine Gefühle für sie nicht auszudrücken. Das war einer der vielen Gründe gewesen, warum ihre Wege sich am Ende getrennt hatten.

„Die Geschichten über meinen Tod sind in der Regel übertrieben“, kommentierte Shanar; sie nahm das Medaillon und steckte es ein. „Ich gab es dem Dämonen freiwillig; es hat seinen Zweck erfüllt. Außerdem wusste ich, dass ich lange genug leben würde, um es zurückzufordern. Du hingegen …“ Sie musterte ihn prüfend, und kurz glaubte er, ein wenig Zärtlichkeit in ihrem Blick zu sehen, wenngleich er sich das nur einbilden mochte. „Du siehst mitgenommen aus.“

„Es war ein langes Jahr. Was hat dich in diesen Teil der Stadt verschlagen?“

„Nicht hier“, sagte sie mit einem Blick auf das Blutbad. Die Runen hatten bereits begonnen zu verblassen, und die Dunkelheit griff in dem Gemach um sich. Shanar hob den Zauberstab auf, der im Zentrum des Kreises lag und bislang unter den Schriftzeichen verborgen gewesen war.

„Draußen.“

Das Vorzimmer war noch schwärzer als die Nacht, bis Shanar mit ein paar gemurmelten Worten eine Kugel aus blauem Licht an der Spitze ihres Stabes erstrahlen ließ. Das trieb die Dunkelheit zurück. Jacob folgte ihr, als sie die Eingangstür aufstieß, und der Wind peitschte um ihre Leiber wie das Heulen einer Todesfee. Mit sich trug er eine Kälte herein, die ihnen bis ins Mark ging, und den stechenden, aufgepeitschten Schmutz von der Straße.

„Warte“, hielt er sie zurück. „Du hast mir noch immer nicht erklärt, warum du hier bist?“

Sie seufzte, als fordere er ihr einen Gefallen ab.

„Erinnerst du dich noch, wie du diese Höhle entdecktest, wo El’druin auf dich wartete – und ich gleichfalls?“

Er nickte. „Du hast meine Lebensgeschichte auf die Wände gebannt.“

„Ich folgte damals dem Klang des Kristallbogens“, erklärte sie. „Die Himmel führten mich zu dir und dem Schwert. Und nun, all die Jahre später, haben sie mich wieder zu dir geführt. Unter den gegebenen Umständen bin ich mir nicht sicher, welchen Grund es dafür gibt. Aber ich dachte mir, es wäre besser, ihrem Ruf zu folgen.“

Eine vertraute Aufregung erfüllte ihn.

„Ich … ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch einmal sehe.“

„Das war ja auch der Plan.“ Shanar schauderte und beugte die Schultern. „Doch Pläne ändern sich. Ob es uns nun gefällt oder nicht.“ Sie wandte sich ab und trat durch die Tür.

„Wohin gehst du?“, rief er ihr nach.

„Einen alten Freund abholen“, antwortete sie über den Wind hinweg. „Jetzt komm! Ich erkläre dir den Rest unterwegs, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir verlassen die Stadt noch heute Nacht.“

Er griff nach ihrem Arm. „Einen Moment, Shanar. Du trittst einfach so wieder in mein Leben und erwartest, dass ich mit dir gehe, als wäre nichts geschehen?“

Mit einem Schulterzucken streifte die Zauberin seine Hand ab. „Hör zu, ich weiß, dass es noch einige unbeglichene Rechnungen zwischen uns gibt. Aber im Moment hast du nur eine Wahl: Entweder du ergehst dich in Selbstmitleid und ertränkst deine Sorgen im Schnaps oder du kommst mit mir auf ein Abenteuer, wie in alten Zeiten. Und wer weiß? Als ich dem Ruf des Kristallbogens das letzte Mal folgte, führte er mich geradewegs zu El’druin. Vielleicht weist er mir jetzt wieder den Weg zu dem Schwert? Und vielleicht will er, dass du mich begleitest.“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand in der Nacht.

Jacob blieb, hin- und hergerissen, auf der Türschwelle stehen. Das war ein unfaires Manöver. Sie wusste genau, wie sehr der Verlust des Schwerts ihn schmerzte, und ebenso genau wusste sie, welche Wirkung es auf ihn haben würde, wenn sie auch nur andeutete, er könnte es wiedererlangen. Doch was hatte er schon zu verlieren? Shanar hatte recht: Er hatte sich schon viel zu lange in Selbstmitleid ergangen, und hier in Caldeum gab es nichts mehr für ihn zu tun. Die Begegnung hatte viele alte Gefühle wiedererweckt. Er wollte ihr Gesicht sehen. Und vielleicht, nur vielleicht, führte Shanar ihn ja tatsächlich zu El’druin.

Er schob sich die Kapuze in die Stirn, um gegen den beißenden Wind gefeit zu sein. Dann rannte er ihr nach.

zwei

Tristram – einige Wochen später

Der Mönch verharrte auf der Hügelkuppe und bedeutete seinen beiden Gefährten, zurückzubleiben; dann blickte er hinab auf die Ruinenlandschaft und suchte nach Anzeichen von Gefahr. Stille herrschte in dem kleinen Tal. Die Abenddämmerung hatte bereits begonnen, der Nacht zu weichen, und der Halbmond war weit genug zwischen den Wolken hervorgebrochen, um die verkrüppelten, skelettartigen Bäume zu erhellen, die ihre knochigen Finger zum schwarzen Himmel emporreckten.

Gerade weit genug, um die Ruinen der alten Kathedrale zu enthüllen, welche sich über den Hügeln erhoben.

Das einst so stolze Bauwerk war zerstört worden, als der Erzengel wie ein Meteor von den Himmeln gestürzt war. Die Götter hatten es dem Mönch in einer Vision offenbart: ein Schweif aus Licht, der über den Himmel rast. Der Turm und die Mauern waren noch größtenteils intakt, doch im Boden klaffte ein Abgrund wie ein gezacktes Maul. Er reichte bis tief hinab unter die Grundmauern und legte die oberen Ebenen der geheimen Katakomben bloß, welche dort unten schlummerten. Geborstene Stützpfeiler ragten aus den Trümmern, und wohin man auch blickte, sah man zerbröckelnde Haufen aus Holz und Stein.

Das Innere der Kathedrale war von Flammen verschlungen worden, doch im schwachen Mondlicht sah Mikulov, dass einige der hölzernen Kirchenbänke überlebt hatten. Sie schienen nur darauf zu warten, dass die Gläubigen kamen.

Der Mönch hatte dies alles schon oft in seinen Träumen gesehen, doch es nun tatsächlich vor sich zu haben, die verkohlten Überreste im Wind zu riechen, die Verderbnis im Herzen der Ruine zu spüren – das war etwas anderes. Die Götter schwiegen hier, und er konnte es ihnen nicht verübeln, dass sie sich von diesem verlorenen Ort abgewandt hatten.

Die beiden Männer, die mit Mikulov reisten, warteten auf sein Zeichen, dass alles in Ordnung war; dann stiegen sie ebenfalls hinauf zur Kuppe. Dank ihres Trainings waren sie in besserer körperlicher Verfassung als die meisten, doch mit der legendären Gewandtheit und Kraft eines Ivgorod-Mönches konnten nicht einmal sie mithalten. Zudem war die Reise von Gea Kul in Kehjistan lang und beschwerlich gewesen, und die schweren Rucksäcke, die sie auf den Schultern trugen, vermehrten ihre Last. Dennoch dachte keiner der beiden auch nur eine Sekunde daran, sie abzulegen. Sie waren Horadrim, und die Schriften, die sie mit sich führten, waren ebenso überlebenswichtig für sie wie das Blut in ihren Adern.

Cullen, der klein gewachsene Mann, der den Gipfel als Erster erreichte, schob die Brillengläser nach oben und spähte zu den Ruinen. Er hatte Cains Texte jahrelang studiert und hegte schon seit langer Zeit den Wunsch, die Kathedrale von Tristram zu besuchen. Man musste ihn schon sehr gut kennen, um die Aufregung zu spüren, die er hinter einem scheinbar ruhigen Gebaren verbarg.

Thomas warf seinen Rucksack zu Boden und berührte Cullen am Arm. Die Augen des größeren Horadrim funkelten im Zwielicht.

„Denk nur daran, wie viel Geschichte hier begraben liegt!“, sagte er. „Falls wir bis zu den unteren Ebenen vordringen könnten …“

„Das wäre unklug.“ Mikulov drehte sich zu seinen Gefährten. „Sie sind instabil, und ich muss erst noch die Umgebung auskundschaften. Sanktuario ist vielleicht vom Obersten Übel befreit. Aber niedere Dämonen treiben sich noch immer in diesen Gefilden herum. Wir müssen also äußerst vorsichtig sein.“

„Dann suchen wir nach dem Scheiterhaufen“, meinte Thomas. „Wir müssen einen Schrein bauen, falls es dort noch keinen gibt, und sei er noch so bescheiden. Das ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.“

Mikulov musterte die Gesichter seiner Freunde. Unter der Tonsur von Cullen, dem Gelehrten, lagen noch immer die vertrauten jungenhaften Züge, aber seine Wangen waren während der langen Reise eingefallen. Thomas, der seinen Freund um einen Fuß überragte, war zwar schmaler, doch leuchtete in seinen Augen die Zuversicht des Kriegers. Die beiden hatten sich verändert, seit er sie in Gea Kul zum letzten Mal gesehen hatte – nach dem Sieg über den Finsteren und dem Fall des Schwarzen Turms – und er fragte sich, welchen Eindruck er wohl auf sie machte.

„Bleibt hier“, wies er sie an. „Die Götter schweigen. Ich muss herausfinden, warum.“

Die Männer sahen zu, wie Mikulov den Hügel hinabhuschte, von einem verkümmerten Baum zum nächsten, bis Dunkelheit ihn verschluckte. Er bewegte sich wie ein Geist (aber tat er das nicht immer, dachte Cullen), und nicht einmal das Mondlicht schien willens, ihn zu enthüllen. Der Gelehrte erinnerte sich an die Mischung aus Unbehagen und Bewunderung, die er damals, vor mehr als zehn Jahren, bei seiner ersten Begegnung mit dem Mönch verspürt hatte.

Es waren dieselben Gefühle, die ihn vor ein paar Monaten erfasst hatten, als der Mönch nach Gea Kul zum neuen horadrischen Tempel zurückgekehrt war. Mikulov hatte überrascht gewirkt, an diesem Ort ein blühendes Zentrum akademischer Studien vorzufinden, geführt von einer stetig wachsenden Gruppe von Horadrim unter der Leitung von Thomas und Cullen. Doch eigentlich gab es keinen Grund zur Überraschung: Nach dem Sturz des Schwarzen Turms war Deckard Cain innerhalb der Gruppe zur Legende geworden, und sie hatten geschworen, zu tun, worum er sie gebeten hatte, bevor er davongezogen war. Seitdem folgten sie sklavisch seinen Lehren und Schriften.

Nach seiner Rückkehr hatte Mikulov damit begonnen, mit den anderen die alten Schriften zu studieren, aber er blieb dennoch rastlos. Die Götter hatten ihm während der zehn Jahre auf seinen Reisen manches offenbart, doch sein wahres Schicksal, das hatte er ihnen verraten, musste er erst noch finden. Als er eines Abends die Ruinen des Turms durchstreift hatte, wo die letzte Schlacht gegen den Finsteren geschlagen worden war – und wo Mikulov beinahe Eins mit allen Dingen geworden wäre –, hatte er schließlich eine neue Vision gehabt: Er war von einem heiligen Fremden in einem Mantel aus Licht zur Rede gestellt worden, einer Verkörperung der Götter selbst, wie er behauptete. Dieser Fremde hatte ihm erzählt, er müsse nach Tristram reisen und die Überreste der Kathedrale aufsuchen.

Es sah den Göttern nicht ähnlich, in solcher Gestalt hervorzutreten, hatte der Mönch Cullen erzählt. Doch mehr gab er über seine Vision nicht preis. Was immer sich ihm offenbart hatte: Es beunruhigte ihn so sehr, dass er sich in Schweigen hüllte. Nichtsdestotrotz war er entschlossen gewesen, die alte Kathedrale zu besuchen, und als er Thomas und Cullen fragte, ob sie ihn begleiten wollten – verbunden mit der Aussage, dass das Schicksal von ganz Sanktuario von dieser Reise abhängen könnte – hatten sie nicht gezögert.

Wenn man jahrelang auf der Suche nach der Wahrheit durch die Welt gezogen ist und sich dabei etlicher Ivgorod-Attentäter erwehrt hat, so wie unser Freund, hat man sich einen kleinen Vertrauensvorschuss verdient. Wenn er sagt, die Götter rufen ihn zur Kathedrale, dann soll mir das genügen.

Natürlich war dies nicht der einzige Grund, warum er Mikulov begleitete.

„Ich hatte mir die Kathedrale irgendwie … größer vorgestellt“, meinte Thomas. „Beeindruckender.“

„Wir studierten jahrelang, was sich hier zugetragen hat. Dieses Bauwerk ist von unermesslicher Bedeutung für unsere Sache. Und vergiss nicht: Hier wütete ein Feuer.“

Thomas’ Blick glitt an den Ruinen entlang, und einen Moment lang schwieg er, während er die verbrannten Hügel musterte. Cullen wusste, wonach er Ausschau hielt.

„Deckards Grab liegt nahe bei dem Friedhof, wo sein Leib auf einem gewaltigen Scheiterhaufen in heiliger Flamme und Rauch zu Asche verbrannte“, sagte er. „Der Erzengel Tyrael selbst sah es mit an. So stand es in dem Brief, den Leah uns sandte, bevor sie … bevor sie von uns ging. Ich sehe keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.“ Er warf den Rucksack zu Boden und wühlte darin herum, bis er ganz unten eine Karte fand. Es war eine jener originalgetreuen Abbildungen von Tristram, die sie selbst in Gea Kul angefertigt hatten. Da Cullen im Tempel für alle alten und neuen Schriften zuständig war, hatte er auch die umfassende Schriftensammlung der Horadrim katalogisiert und das Kopieren jener Bücher überwacht, die zu Staub zu verfallen drohten. Er wusste also, dass diese Karte zu den genauesten gehörte.

Er breitete sie über einer dicken Wurzel aus, die wie eine schwarze Schlange aus dem felsigen Boden ragte, und murmelte ein paar zauberkräftige Worte. Die Linien begannen leicht zu glühen, sodass die grobe Zeichnung der Kathedrale und ihrer Umgebung deutlicher sichtbar wurde.

Grob, aber mit Sorgfalt aufs Pergament gebracht