Diamantdrache - Marie-Luis Rönisch - E-Book

Diamantdrache E-Book

Marie-Luis Rönisch

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Beschreibung

Nichts als Staub und Asche bedeckt das Königreich Candiora, über welches Ewalyn eines Tages herrschen soll. Auf ihren Schultern lastet die Bürde eines hungernden Volkes, das schon seit vielen Jahrhunderten von einem Drachen terrorisiert wird. Die Bestie von Dorion verbrennt Getreidespeicher, tötet ohne Reue und ist gleichzeitig der Hüter einer fremden Welt. Denn im Schatten der Berge von Dorion befindet sich Dahana. Dort gibt es einen Überfluss an Nahrung, fruchtbaren Boden und Hoffnung auf eine Zukunft. Um ihren Untertanen zu helfen, begibt sich Ewa auf eine gefährliche Reise. Sie stellt sich der Bestie und erkennt, dass sich hinter den goldenen Augen ein Mann verbirgt, der einst einem mächtigen Fluch zum Opfer fiel. Nicht einmal die Liebe kann seinen Panzer durchdringen, denn sein Herz ist umschlossen von Diamant. Bereits ein einziger Kuss könnte für sie beide tödlich enden.

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Diamantdrache - Feuerrosen-Trilogie

eBook Ausgabe 11/2016

Copyright ©2016 by Eisermann Verlag, Bremen

Umschlaggestaltung: Casandra KrammerIllustrationen: Katharina Pilchowski

Satz: André Ferreira

Lektorat: Sabrina SchumacherKorrektur: Katrin Reinelt

http://www.Eisermann-Verlag.de

ISBN: 978-3-946172-35-2

MARIE-LUIS RÖNISCH

DIAMANTDRACHE

FEUERROSEN-TRILOGIE

Einst herrschten vier Götter

in jeder Welt.

Sie waren Kinder des Windes,

ohne Vater und Mutter gestellt.

Der Süden bringt Wärme,

der Osten das Licht,

der Norden die Sterne,

der Westen das Nichts.

Prolog

Cassius blickte verträumt zum Himmel und malte sich eine Zukunft mit seiner wunderschönen Frau aus. Die Wolken formten sich zu freischwebenden Bildern und erinnerten ihn an eine Zeit, bevor er die Last der beiden Welten auf seinen Schultern tragen musste …

Einst beschenkte ihn die Natur mit dem Hauch der Magie. Seine Selbstlosigkeit und Liebe hatten in den Göttern, welche verborgen in den Winden lebten, Hoffnung geweckt. Seit jeher war Cassius unvoreingenommen, hegte Gefühle für beide Reiche und kämpfte für jeden Unschuldigen, egal ob Mensch oder Wesen. Wesen, so wurden wohlwollend jene Geschöpfe genannt, die in Dahana, dem mystischen Reich neben dem der Sterblichen, lebten. Man sprach von niederen Kreaturen, die sich nach dem Blut der Menschen verzehrten und ihre Gaben zum Morden einsetzten. Diese Wesen sollten schon bald zu seiner Lebensaufgabe werden.

Cassius folgte der Bitte der Götter und nahm sich derer an, die sich nicht allein zu verteidigen wussten. Er sprach vor den Menschen, seinen eigenen Leuten, um die Wesen von Dahana zu schützen. Schon immer waren es die Menschen gewesen, die sich – angetrieben durch einen gierigen König, naiven Thronerben oder grausamen Herrscher – das kostbare Land und die Gaben der dort lebenden Geschöpfe einverleiben wollten. Man beutete ihre Erde aus, stahl ihre Ressourcen, nahm ihnen das Heim, trennte Familien. Die Landschaft war durch Kriege gezeichnet. Die Herrschaft der Menschen dauerte bereits Jahrhunderte an und sollte nun, mit Cassius als Vermittler, enden. Statt ihn für seine Taten mit Reichtum zu überschütten, gaben ihm die Götter eine unvorstellbare Macht, um Gerechtigkeit in seiner Welt geltend machen zu können.

Während Cassius treu seiner Aufgabe nachging, die ersten Schlachten stoppte oder hinauszögerte, verbrachte er die meiste Zeit im Kreise der Ausgestoßenen, der Töchter und Söhne von Dahana. Er vermochte nie mit Gewissheit zu sagen, welchem Geschöpf er gerade in die Augen sah. Meist erblickte er lediglich ein flüchtiges Funkeln in einer sonderbaren Farbe. Er versuchte, ihre Seelen zu ergründen und scharrte sie als Freunde um sich, bis er auf die Eine traf, die sein Herz zum Beben brachte.

Myra war eine vollkommene Schönheit mit blondem Haar, einer roten Aura und einem Feuer in ihrer Iris, das zumindest ein wenig über ihre Herkunft preisgab. Als Anführerin ihres Stammes ragte sie aus der Gruppe heraus, trug ihre schwarze, hautenge Kleidung voller Stolz, denn sie war von den Flammen geküsst worden. Das Symbol des Phönixes leuchtete auf ihrem Schulterblatt und Cassius folgte dem Zwang, es zu berühren. Es brauchte nicht lange und die beiden verliebten sich ineinander.

Die Völker, die ewige Zeiten im Krieg lagen, wurden durch dieses Band des Schicksals miteinander verknüpft. Das Paar erhielt Zuspruch auf beiden Seiten, denn Cassius zog es vor, die Menschen aufzuklären, und Myra nahm ihren Freunden, ihrer Familie, den Hass auf das Königreich hinter dem Nebel. Schon bald standen sie kurz vor einer Einigung und der Reichtum, den sie ihren Welten dadurch verleihen konnten, schien grenzenlos. Nicht allein Gold und Nahrung zählten zu den wichtigsten Gütern, sondern auch der Frieden, der das fröhliche Kinderlachen zurück auf die Straßen holen würde.

Die Wolkenschleier hatten sich inzwischen zu einem Wesen mit sonderbaren Schwingen geformt. Die Abendröte ließ die Gestalt erstrahlen und erweckte den Gedanken, dass Cassius einen Phönix am Himmel betrachtete.

Heute war ein wichtiger Tag für ihn. Myra und er würden gemeinsam die letzten Schritte für den Frieden planen und schon morgen ein Treffen mit dem König aushandeln. Noch immer ruhte Cassius auf der grasgrünen Wiese, die saftig genug war, dass sich so manche Pflanzenfresser hier tummelten. Schmatzend stand ein Accyn neben ihm, welches die frischen Kräuter genoss. Cassius richtete sich auf, strich dem Wesen über die Mähne und klopfte ihm sanft auf das Hinterteil. Das Accyn schnaufte und vergrub seinen Kopf wieder in den langen Halmen der Wiese.

Cassius pflückte einige Blumen und band sie zu einem bunten Strauß zusammen. Dann machte er sich auf den Weg zu seiner Hütte, die am Fuße des Gebirges Dorion lag. Sie war aus einfachem Holz gebaut worden und bot gerade genug Platz für ein großes Ehebett, eine Nischenküche mit offener Feuerstelle und ein Vorratslager – was sich in seinem Fall auf ein altes Regal beschränkte. Seit einigen Wochen ruhte neben ihrem Bett eine Wiege, deren Holzstränge er selbst geflochten hatte. Myra hatte Cassius am ersten Sommertag zum glücklichsten Mann in beiden Reichen gemacht – durch die Geburt seines Kindes.

Cassius lief den Hügel hinab, kam vorbei an einer eingefallenen Höhle eines Berges. Als er in der Ferne sein Haus erblickte, stockte sein Atem. Er sah keine Hütte aus Holz, keine Wäsche, die zum Trocknen in einer aufkommenden Brise flatterte, und er vernahm ebenfalls nicht das Lachen seiner Frau. Stattdessen schlugen Flammen bis zum Himmel hinauf, erleuchteten die Gegend und versengten selbst den angrenzenden Wald. Er hörte die Schreie seiner Geliebten, das Weinen seines Babys und rannte los. Das Verlangen, seine Frau und sein Kind zu schützen, stieg ins Unermessliche. Würde er sie rechtzeitig erreichen? Was war überhaupt geschehen?

Cassius stolperte über einige Steine, denn der Boden zwischen dem Wald und dem Hügel bestand aus Geröll. Trotzdem hetzte er weiter. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die letzten Meter ließ er in wenigen Wimpernschlägen hinter sich. Dann war er da.

Vor ihm tauchten etwa dreißig Männer auf – Soldaten des Königs – soweit er das erkennen konnte. In feine Rüstungen gehüllt, mit Schwertern bewaffnet und von einem General angetrieben, stürzten die Soldaten auf ihn zu. Sie hatten sich im Schatten des Berges aufgehalten und kamen für Cassius aus dem Nichts. Es war für ihn unverzeihlich, dass ihn dieser Angriff überraschte.

Cassius streckte seine Hand aus. Er wollte diese Männer vor einer Dummheit bewahren. Seine Magie kitzelte an seinen Fingerspitzen. Ein unglaubliches Gefühl, das er nicht zulassen wollte. Würde er diesen Soldaten etwas antun, wäre ein Krieg unausweichlich.

Seine Augen weiteten sich, als er einen jungen Burschen erblickte, der eine zierliche Frau in den Armen hielt. Er war der Einzige, der sich nicht an Cassius’ Hab und Gut vergriff. Dunkles Haar hing ihm wirr in die Stirn. Die silberne Rüstung funkelte auf eine seltsame Weise schwarz. Seine Augen leuchteten blau.

Der Bursche wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine rechte Wange war mit Blut besudelt. Das Schwert war seinen behandschuhten Fingern längst entglitten. Die Klinge war rot vom Blut seines Opfers. Er zitterte, erbebte scheinbar unter dem Wissen der Schuld, die seine Miene völlig verzerrte. Er presste die Frau fester an sich und obwohl Cassius nicht in der Lage war, ihr Gesicht zu erkennen, wusste er, um wen es sich handelte. Myra. Seine geliebte Myra lag tot in den Armen ihres Mörders. An ihrer Brust ragte ein Bündel hervor. Sein Kind, eingehüllt in ein weißes Tuch, welches mehrere Blutflecken aufwies.

„Was habt ihr getan?“, schrie Cassius und wollte zu seiner Familie, doch die Soldaten drängten ihn zurück.

Sie richteten ihre Schwerter auf ihn, attackierten ihn, konnten seinem Zorn allerdings nicht standhalten. Die Magie entlud sich über seine Fingerspitzen und er genoss das Kribbeln, das sich durch all seine angestaute Wut in ein schmerzendes Stechen verwandelte. Für diesen einen Augenblick verdrängte Cassius den Wunsch der Götter aus seinen Gedanken. Es war ihm gleich, was mit diesen Männern geschehen würde. Einzig ihr Tod konnte ihm die Erfüllung bringen, nach welcher er sich sehnte.

Cassius stürzte nach vorn, breitete seine Arme in je eine Richtung aus und stieß unter dem Gebrauch seiner Macht seine Feinde von sich. Das Geräusch der metallischen Klingen, die die Luft zerschnitten, verhallte. Lediglich das Knistern der Flammen und das Keuchen des Mörders waren zu vernehmen.

Cassius stellte sich ihm entgegen. Er war überwältigt von seinen Emotionen, unfähig, sich bei diesem Anblick länger auf den Beinen zu halten. Der junge Soldat legte Myra behutsam ab und trat einige Schritte zurück. Seine Augen baten um Vergebung, seine Lippen formten Worte, die seine Verzweiflung schließlich erstickte.

Cassius ließ sich auf die Knie fallen. Behutsam zog er Myra zu sich, legte seine Stirn an ihre und lauschte ihrem längst nicht mehr schlagenden Herzen. Ihr Körper war warm, doch die innere Flamme war erloschen. Er fuhr mit seinen Fingern durch ihr von Blut verklebtes Haar. Hin und wieder lösten sich dabei einige blaue Funken von seiner Haut und huschten durch die blonden Strähnen. An ihrer Wange konnte man eine Schramme erkennen, der Rest ihres Gesichtes war bleich. Jemand hatte Myra geschlagen, sie aufs Schlimmste misshandelt. Unter ihren Nägeln sammelten sich Haut und Blut. Somit war sich Cassius sicher, dass seine Liebste bis zu ihrem Ende gekämpft hatte, um ihr Kind und sich selbst zu schützen. Das schneeweiße Kleid schmiegte sich, feucht von Blut, an ihre Taille. Cassius hielt ihren Kopf mit einer Hand und küsste sie innig. Ihre Lippen schmeckten metallisch und längst nicht mehr so süß, wie er es gewöhnt war. Tränen brannten in seinen Augen und raubten ihm die Sicht. Er musste sie beiseite wischen, um die verblassende Schönheit seiner geliebten Frau zu sehen.

„Verlass mich nicht, Myra!“, flehte er, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war. Er wiegte sie in seinen Armen. Sein Herz rebellierte in seiner Brust. Erst das Glucksen des Kindes forderte seine Aufmerksamkeit.

Cassius nahm das Bündel an sich. Die Finger seiner Frau hielten es noch immer umklammert, als würde sie das Kind auch nach dem Tod weiterhin behüten wollen. Wie lange war er fort gewesen? Wann hatte der Tod Myras Leben gefordert?

Von Wut gepackt, blickte er zu dem einzigen Feind hinüber, der ihm geblieben war. Dem Mörder. Ein junger Bursche, der seine Hände betend gen Himmel geneigt hatte. Seine Worte jedoch richtete er nicht an die Götter, sondern an Cassius selbst.

„Ich wollte das nicht“, versicherte er ihm. „Sie sollte nicht sterben!“ Seine Augen waren vom Weinen gerötet. Immer wieder biss er sich auf seine Unterlippe, sodass inzwischen ein Rinnsal an Blut daran hinab lief. „Ich konnte sie nicht retten.“

„Sie retten? Du hast sie getötet!“ Cassius presste sein Kind an sich. Es war das Einzige, das dieser unbarmherzige Soldat ihm nicht hatte nehmen können. „Deinetwegen ist sie tot!“

Dieser leugnete die Tat nicht einmal, sondern senkte lediglich seine Schultern. Cassius konnte deutlich seine Angst riechen und er rümpfte die Nase.

„Steh zu deinem Vergehen, andernfalls wird dich die Unterwelt begrüßen und deine Seele in die Verdammnis stürzen.“

Der Soldat fiel vor Cassius auf seine Knie. „Bitte, Herr, vergebt mir!“

Er fürchtete sich. Zu Recht! Was Cassius ihm antun würde, sollte die Jahrhunderte überdauern und für jeden seiner Feinde als Abschreckung dienen. Der Tod allein wäre eine gnädige Bestrafung und für einen Mörder wie ihn ein zu schnelles Ende. Daher entschied sich Cassius für einen mächtigen Fluch, den nicht einmal er selbst jemals brechen könnte. Er streckte eine Hand nach dem Mörder aus und nuschelte einige Worte in der Sprache der Dahaner, die von einem Schluchzer verschluckt wurden. Blaue Funken kitzelten an seinen Fingern und legten sich wie Ketten um die Gliedmaßen des Mannes. Er fasste sich an seine Brust, stieß ein Wimmern aus und riss sich sowohl Kleidung als auch Haut vom Leib. Sein Fleisch dampfte, brannte und erstrahlte in einem gefährlichen Rot, wie Glut, welche jedoch niemals erlöschen würde. Er wand sich, rutschte über den Boden und starb.

Sowie er seine Augen, welche von Blut verklebt waren, wieder aufschlug, lauerte in ihnen ein gefährlicher, goldener Ton. Cassius wollte den Mörder seiner Frau leiden sehen. Deshalb erschuf er ein wahres Monster, das sowohl der König als auch seine Nachkommen zu fürchten hätten.

Der Soldat verwandelte sich unter schrecklichen Qualen in ein Untier. Seine Knochen knackten in einem fürchterlichen Ton, sie wurden länger, brachen entzwei, um sich an einer anderen Stelle zu vereinen. Seine Haut riss auf, wuchs aber sofort nach und wurde mit Schuppen bedeckt. Sein letzter Schrei ging in ein hilfloses Keuchen über und schließlich war da nur Rauch, gefolgt von einem Atem aus Feuer.

Cassius hatte den Soldaten in den ersten lebenden Drachen verwandelt, ein Kind der Flammen in seiner wahren Gestalt, unfähig, seine Erscheinung auf eigenen Wunsch hin zu verändern. Er würde dieses Geschöpf die Grenze zum Reich Dahana bewachen lassen. Jeder, der es wagte der Kreatur zu nahe zu kommen, wäre schon bald nur noch ein Häufchen Asche. „Ich verdamme dich dazu, mein Reich als Drache vor den Königen Candioras zu schützen. Und weil du mir das genommen hast, was ich am meisten begehrte, verfluche ich zudem dein Herz. Du wirst niemals in der Lage sein, schmerzlos zu lieben. Solltest du es dennoch versuchen, werden deine Gefühle einen qualvollen Tod bedeuten.“ Er atmete tief ein. „Dieser Fluch wird erst enden, wenn du das opferst, was dich am meisten innerlich zerstört.“

Macht staute sich in Cassius an, während sich der Hass durch ihn hindurchfraß. Er hatte mit Absicht verdrängt, wieso ihm die Geister der Natur diese Kräfte geschenkt hatten. Nun wollte er sie nutzen, um sich derer zu entledigen, die ihm alles genommen hatten. Sowie er einen Arm zum Himmel streckte, brach ein Sturm aus den Wolken hervor. Blitze sanken auf die Erde hinab und versengten das Getreide der Bauern auf den angrenzenden Feldern. Eine Flutwelle bäumte sich hinter Cassius auf, brachte den Fluss dazu, sich zu erheben. Die Welle kroch über das Land und riss Häuser mit sich. Elend überschwemmte Candiora, das Reich der Menschen. Ihre Nahrung würde zu Asche zerfallen und all das kostbare Wasser, das sie als selbstverständlich betrachteten, würde einem trügerischen Gift weichen. Die Winde würden den Geruch des Todes in alle Teile des Landes tragen. Jeder von ihnen würde den Fehler des Königs am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Cassius wandte sich ab. Er schmiegte das Baby an seine Brust und hielt es auf seinem rechten Arm, während er mit der freien Hand dem Drachen über die Schuppen streichelte. Seine Finger spürten die Zerstörungskraft, die in diesem Tier schlummerte. Dennoch spendete ihm die Wucht seines Hasses, mit der er die Menschen getroffen hatte, wenig Trost. Denn er könnte seinem Kind niemals das bieten, was es am meisten benötigte – eine Mutter. Darum beschloss er, sein Baby für die nächsten Jahre mit einem Zauber zu belegen, der es nicht altern lassen würde. Er plante, das Kind in einen tiefen Schlaf zu versetzen.

Cassius zerschmetterte mit der Kraft seiner Gedanken das Gebirge von Dorion, direkt an der Grenze zu beiden Reichen. Er formte aus den Gesteinsbrocken einen Berg mit einer Höhle, die weit ins Innere reichte. Dort versteckte er seinen Erben. Mit einem Hauch von Magie erschuf er eine Schale, gepolstert und gerade groß genug, um das Kind wie in einem Bett ruhen zu lassen. Er ließ die Finger seiner freien Hand durch die Luft gleiten, bis blaue Funken dazu führten, dass sich seine Härchen aufstellten. Das Gestein entzog der Erde blutige Tropfen, filterte sie und füllte die Schale mit dem Lebenselixier des Drachen.

Cassius dachte an die Überreste seiner Frau, die zwar in seinen Armen gelegen hatte, deren letzter Atemzug allerdings dem Fremden gehörte. Er rief den Phönix in ihr und erinnerte ihn an seine Pflicht. Asche ergoss sich aus seinem Ärmel, noch ehe er die flehenden Worte an seine tote Geliebte gerichtet hatte. Es waren die Überreste seiner Frau, welche sich nun mit dem Blut des Drachen vermischten. Wenn ein Phönix starb, konnte er zumeist aus seiner eigenen Asche auferstehen. Doch Myra war dies nicht gelungen, denn ihre Wunden stammten nicht von Feuer und Flammen, sondern von einem Menschen. Ihr war es keinesfalls vergönnt, dies zu überleben, hatte sie doch erst vor wenigen Wochen ihrem Kind das Leben geschenkt und somit an Kraft verloren. Nun sollten Mörder und Opfer auf ewig vereint sein, um den Schutz seines Kindes zu sichern. Blut und Asche würden das Kind während seines Schlafes behüten und vor Feinden bewahren.

Er legte sein Baby sanft in die Schale hinein. Es streckte weinend die Finger nach Cassius aus. Er beugte sich vor und küsste es auf die Stirn. Cassius schluchzte, wollte es nicht verlassen. Das Baby schrie, als wüsste es, was nun folgen würde. Cassius wandte sich kurz ab, wischte seine Tränen von den Wangen. Sein Herz war schwer wie Blei.

Der Drache schritt langsam auf die Wiege zu und so wie er das Kind musterte, verstummten die Schreie. Cassius drehte sich zu ihnen, streifte die Schuppen des Drachen. Er ließ seine Hände durch die Luft gleiten, sprach einige Worte, deren Sinn das Kind gewiss niemals verstehen würde und versetzte es in einen tiefen Schlaf. Der Drache würde das Kind behüten und mit seinem Leben verteidigen. Es sollte nicht eher erwachen, bis er eine Mutter gefunden hatte.

Der Abschied von seinem Kind war schmerzhaft und herzzerreißend. Er gab seinem Erben einen Kuss auf die Stirn und wiederholte immer wieder den Namen seiner Frau, als könnte sich das Kind, gefangen in der Einsamkeit, daran klammern.

Cassius verließ den unheilvollen Ort in dem Glauben, sein Kind wäre dort sicher. Er begab sich auf die Suche nach einer Würdigen, einer Frau voller Stärke und Vollkommenheit. Denn er hatte einen Plan geschmiedet und war bereit bis ans Äußerste zu gehen. Er würde einen Weg finden, um die Seele seiner Myra zu retten, und sobald die Familie wieder vereint wäre, würde er die Menschenwelt im Feuer ersticken …

Es vergehen 758 Jahre.

Kapitel 1

Ungewollte Ehemänner

Ewa strich sich das wirr in die Stirn hängende Haar beiseite und betrachtete ihr Ebenbild verunsichert im Spiegel. Das hellblaue Kleid mit den verspielten Rüschen an den Ärmeln passte perfekt zu ihrer bleichen Haut, den geröteten Wangen und dem Schmollmund, den sie aus reinem Frust zog. Jeder würde ihr einreden, dass sie wunderschön aussah, dabei besaß sie so viel Grazie wie ein Fuchs im Hühnerstall. Sie fühlte sich fehl am Platz, ganz zu schweigen davon, dass sie Kleider über alles hasste und sich nur für einen besonderen Anlass in diese furchtbaren Stoffe zwängte.

Seufzend beugte sie sich vor, musterte die fein säuberlich genähten Ränder, die in der Mitte ihrer Taille zusammenliefen und von einem dunkelblauen Band mit schwarzen Enden abgedeckt wurden. Der Rock fiel locker um ihre Beine herum, man konnte dennoch keine größeren Schritte wagen – außer man wollte aussehen wie ein Morass, ein Greifvogel, der weniger zum Gehen und mehr zum Jagen und Fliegen geeignet war.

Ewa wollte sich das Kleid von der Haut reißen, denn es ließ ihr Herz wild in ihrer Brust schlagen. Jedoch keineswegs aus Freude, sondern aus Scham. Sie war einfach nicht der Typ für diesen Frauenkram. Bereits im Kindesalter hatte es sie in den Stall zu den Tieren oder in die Arena gezogen, wo man die Krieger des Reiches ausbildete.

Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. „Atme tief aus“, meinte ihre Mutter, und Ewa brauchte sich nicht umzudrehen, um ihr Lächeln spüren zu können. Sie tat, wie ihr befohlen, und als ihre Mutter das angebrachte Korsett fester zog, wurde Ewa schwindelig. Keuchend fummelte sie mit ihren Fingern an den Bändern herum, konnte den Knoten aber nicht lösen.

„Dieses Kleid wird mich umbringen“, flüsterte sie und rang nach Luft.

„Hast du jemals eine tote Frau im Ballsaal gesehen?“, fragte ihre Mutter und nickte Ewa im Spiegel zu.

Ewa zog ihre Brauen nach oben. Sie kannte die Antwort, dennoch protestierte sie innerlich, jene zu akzeptieren. „Wie lange muss ich dieses scheußliche Teil tragen?“

Ihre Mutter drehte Ewa zu sich und stupste behutsam ihr Kinn nach oben. „Vergiss nicht deine Manieren. Die Hofschneiderin hat mehrere Wochen an diesem wunderschönen Kleid gearbeitet. Es betont alles, was du zu bieten hast.“ Sie tätschelte Ewas Taille, bevor sie nach der perfekt in Szene gesetzten Hochsteckfrisur tastete. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, deren Haar in einem edlen Pechschwarz leuchtete, war Ewa strohblond. Schon immer hatte sie sich gewundert, wie Mutter und Tochter sich äußerlich dermaßen unterscheiden konnten.

„Es sieht aber eher aus, als würden meine Brüste gleich rausfallen. Bist du sicher, dass das so sein muss?“ Die Schamesröte stieg Ewa in die Wangen, denn sie war es nicht gewöhnt, so viel von ihrer Weiblichkeit zu zeigen. In ihrer Freizeit, neben den Pflichten einer Prinzessin, ritt sie gerne mit einem Accyn aus und es kümmerte sie wenig, ob sich Schlammspritzer auf ihren Hosen sammelten.

Die Accyns waren stolze Tiere mit den Vorderläufen eines Pferdes und den Sprungbeinen einer Raubkatze. Diese waren stark ausgeprägt und sie gaben die Musterung des Tieres an. Hatte man das Accyn mit einem Tiger gekreuzt, zierten lange Streifen in einem weißen Farbton das dunkle bis schwarze Fell. Es gab auch blau gemusterte mit gelben Flecken und in seltenen Fällen Wesen mit Fell so weiß wie Schnee. Zumeist verfügten die Accyns neben den spitzen, raubtierartigen Zähnen und den Klauen an den Hinterbeinen über vier lange Fühler an ihrem Kopf, die man sanft als Zügel benutzen konnte. Ewa liebte das Gefühl, wenn sie einen der Fühler in ihre Hand nahm. Das pelzige Ende erschien ihr wie der fluffige Bommel der Mütze, die ihr ihre Mutter im Winter als Kind stets aufgesetzt hatte.

Seit jeher waren die Accyns treue Begleiter. Man hatte sie in den letzten Jahrhunderten mit so vielen Spezies gekreuzt, dass sich Ewa eher selten wunderte, wenn ihr ein neues Exemplar unter die Augen trat.

„Unsinn. Du siehst aus wie eine Frau“, holte ihre Mutter sie aus ihren Überlegungen und bedeutete Ewa, den Ankleideraum zu verlassen.

„Wieso um alles in der Welt muss ich herumlaufen wie eine Puppe?“, fragte sie und eilte den geräumigen Gang entlang. An jeder Ecke standen Diener, die ihr zuvorkommend zunickten oder sich verbeugten. Sie kam vorbei an dem geschichtlichen Pfad, der jeden König seiner Zeit zeigte. Ihr Urgroßvater hatte damals damit begonnen, ihre Gesichter und Köpfe in die steinernen Wände meißeln zu lassen, damit man sich auf ewig an sie erinnern würde. Ewa kannte die Legenden und sie wusste, was das Volk munkelte. Keiner wagte es offen auszusprechen, aber beinah ein jeder König war früher oder später dem Wahnsinn verfallen und hatte seine eigenen Leute verraten. Trotzdem hatte sie in jungen Jahren nie verstehen können, warum sie die erste Prinzessin dieses Reiches werden sollte. Jeder ihrer Ahnen hatte einen Sohn gezeugt, der wiederum als wahnsinniger König den Thron bestieg. Ewa war eine Frau, eine wahre Schande, ein niederes Geschlecht. Aber ihre Eltern zeigten ihr nie weniger Liebe oder Wertschätzung. Im Gegenteil: Ewa fühlte sich an manchen Tagen eindeutig zu sehr bemuttert und behütet, auf eine nervende, aber wunderbare Weise.

„Dein Vater hat eine Überraschung für dich“, verkündete ihre Mutter.

Ewa hielt inne. „Er will mich doch nicht schon wieder zum Heiraten zwingen, oder?“ Sie stemmte ihre Hände in die Seiten und zerknitterte dabei das Kleid.

Ihre Mutter zupfte an dem Stoff herum, um ihn wieder in die richtige Form zu bringen. „Er macht sich Sorgen um sein Reich. Wer könnte ihm das verübeln?“ Sie seufzte. „Dieses Mal hat er sich etwas anderes einfallen lassen.“ Ihre Mutter schmunzelte, hob ihren Zeigefinger an die Lippen und zeigte Ewa damit, dass sie nichts verraten durfte.

Ewa zuckte mit den Schultern. „Wann lernt er endlich, dass ich nicht die Art Frau bin, die sich Männer vorstellen?“

Ohne weiter zu diskutieren, nahm Ewa all ihren Mut zusammen und trat in den Empfangssaal, wo ein Thron auf sie wartete.

Nach den jahrelangen Kriegen zwischen den Dahanern und ihrem Volk war das alte Schloss bis auf die Grundmauern zerstört worden. Der Fluch des Magiers, den man in den alten Schriften Cassius nannte, hatte sowohl in den Menschen als auch in der Erde etwas ausgelöst. Das Vieh war gestorben, die Pflanzen waren verdorrt, die Fische aus den Flüssen verschwunden und die Quellen versiegt. Wer überleben wollte, musste sich mit dem zufriedengeben, was ihm die Götter des Windes gelassen hatten. Ewa mochte nicht an diese Zeit zurückdenken. Aber jedes Mal, wenn sie diese Halle betrat und den toten Baum, der zu einer steinernen Hülle erstarrt war, betrachtete, kam alles wieder hoch. Sie sah die alten Frauen, die das Leid beklagten, ihre Kinder verloren hatten und durch das verunreinigte Wasser aus dem Erdreich krank geworden waren. Sie sah die Tränen, die ein jeder von ihnen vergossen hatte, als wäre die Geschichte erst vor wenigen Tagen passiert und nicht bereits Jahrhunderte vor ihrer Geburt.

Der Baum, der inmitten der Halle stand, war ein Symbol für all die Gräueltaten, die man dem Magier andichtete. Beim Wiederaufbau hatte man versucht diese eine Pflanze zu retten. Nichts als Staub war ihren Urahnen geblieben. Die Nahrung kam von Feldern direkt an der Grenze zu Dahana. Wer freiwillig Fisch aß, musste mit einer Immunschwäche rechnen.

Trotz all dieser Vorkommnisse und der Tatsache, dass ihr Volk hungerte, war Ewas Tisch immer reichlich gedeckt. Meistens bekam sie keinen Bissen herunter, wenn sie die verstohlenen Blicke der Dienerschaft auffing. Gerne hätte sie ihr Hab und Gut geteilt. Früher hatte sie das nie in Erwägung gezogen. Der Sinneswandel kam, als sie durch Zufall bei einem Ausritt mit ihrem Accyn in den Armutsvierteln gelandet war. Der grauenvolle Gestank von Urin und Exkrementen, die abgemagerten Kinder, die Häuser, die nicht einmal einer Böe des Windes standhalten konnten – all diese Dinge hatten sie geprägt und verändert. Ewa wollte als Königin etwas gegen das Elend unternehmen und mit einem aufgezwungenen Ehemann könnte sie niemals ihre Pläne umsetzen.

„Mein König“, begrüßte sie ihren Vater und ließ sich neben ihn auf ihren kalten, steinernen Thron sinken. Die wenigen Treppenstufen, die auf die Anhöhe geführt hatten, waren für sie wie ein Spießrutenlauf gewesen. Alle Augen waren auf Ewa gerichtet und sie befürchtete, man könnte ihr ansehen, dass sie es hasste, hier in diesem Kleid anwesend zu sein.

„Meine liebreizende Tochter, ich habe dich rufen lassen, um dir von meiner Idee zu erzählen.“ Ein zufriedenes Grinsen lag auf den Lippen ihres Vaters. Seine Miene war locker und offen, genau wie seine Haltung. Er bewies Anmut und Stolz, mit einem Hauch von Arroganz, der sich in einer geraden Falte über seine Brauen legte. Sein Umhang bestand aus einigen Fellen von seltenen, längst ausgestorbenen Tieren und bewies, wie viel Reichtum in seinen Kammern darauf wartete, das Land zu überschwemmen. Er war von Natur aus ein Geizhals, wie sein Vater vor ihm. Keinen einzigen Goldtaler hätte er freiwillig einem Bauern geliehen. Die Felder ließ er zwar bestellen, doch der Lohn dafür fiel mager aus. Zudem erhielt der König den größten Teil der Ernte, um sich, seine Familie und den Hofstaat zu versorgen.

Bevor er mit Ewa ein Gespräch begann, flüsterte er seinem erhabenen Diener etwas ins Ohr. Eigentlich schickte sich eine solche Geste nicht, aber die beiden waren beinahe wie Brüder, kannten sich seit Ewas Geburt und nichts auf der Welt schien sie entzweien zu können.

Der Mann neben ihrem Vater war von großer Statur und hatte ein kleines Bäuchlein, das unter der braunen Weste hervorragte. Zumeist verdeckte er dieses geschickt mit seinem Umhang. Er hörte auf den Namen Crowley, was laut der göttlichen Mythologie so viel wie Ausgestoßener bedeutete. Ewa hatte sich als Kind stets gefragt, wie es ausgerechnet dieser Mann in die Nähe ihres Vaters geschafft hatte. Seine Manieren waren dem Umfeld auch nach all der Zeit nicht angepasst, denn er pflegte Entscheidungen über den Kopf ihres Vaters hinweg zu treffen. Eine seltsame Angewohnheit, die den König schon mehrere schlaflose Nächte gekostet hatte, laut den Angaben ihrer Mutter. Heute jedoch schien er zufrieden. Er lachte, sodass kleine Grübchen in seinen Wangen zu erkennen waren. Der stoppelige, dunkelbraune Bart betonte seine eisblauen Augen, um die ihn jede Frau beneidete. Einige tuschelten gern über sein Aussehen. Am Hof war er als eine gute Partie bekannt. Es gab ein Sprichwort zu den Augenfarben in der Männerwelt, welches den Frauen oft und gern über die Lippen kam. Blaue Augen kalt wie Eis sind voller Sehnsucht, wie jeder weiß. Doch sie bürgen auch Gefahren, halten Frauen gern zum Narren. Verzehren sich nach Liebe, Lust und Leidenschaft, ein solcher Kerl verfügt über viel Manneskraft.

Ewa schmunzelte, denn sie verstand nun endlich den Sinn. In ihrer Kindheit war sie nie dahinter gekommen, was dieses Sprichwort bedeutete. Mittlerweile war sie eine Frau, und obgleich sie es hasste, zu tratschen, so erfreute es sie, dass die Damen am Hof keinen Bogen um sie machten, nur weil sie die Prinzessin war. Stattdessen teilten sie eben solche Weisheiten mit ihr.

Crowley nickte Ewa freundlich zu und verabschiedete sich. Sie hoffte inständig, dass er ihre geröteten Wangen nicht bemerken würde, denn sie galten weniger ihm und vielmehr der Neugierde, ob in der Welt auch auf sie eines Tages ein Mann mit blauen Augen warten würde.

„Lasst die Männer eintreten.“ Ihr Vater winkte einem Soldaten zu und dieser ging zu den großen Toren, die wegen ihres schimmernden Goldes das Prunkstück der ganzen Halle waren.

Der Soldat öffnete sie und fünf Männer traten ein. Gediegen näherten sie sich der königlichen Familie, als würde sie ihre Ehrfurcht zurückhalten.

Ewa musterte einen jeden von ihnen, und als sie Thorald Cumare, einen guten Freund von ihr, erkannte, stockte ihr unweigerlich der Atem. Wenn sie schon jemanden heiraten musste, dann wäre er ihre erste Wahl gewesen. Thorald war beherrscht, liebevoll und mutig. Er hatte das Herz am rechten Fleck und sah durch seine wilde, hellbraune Mähne auf dem Kopf interessant aus. Seine Augen lachten vor Freude, heute hier sein zu dürfen und bevor er die erste Treppenstufe, die zur Anhöhe hinaufführte, erreicht hatte, fiel er auf seine Knie. Die anderen taten es ihm gleich. Sie zogen ihre Schwerter, streckten ihre Hände nach vorn und balancierten die Klinge auf ihren Fingerkuppen.

„Mein Leben gehört Euch, König von Candiora“, sangen sie im Chor.

Ewas Vater erhob sich, berührte jeden von ihnen sanft an ihren Handgelenken und bat sie, sich wieder aufrecht hinzustellen, damit er ihnen in die Gesichter schauen konnte. Ewa zwinkerte Thor zu, denn es amüsierte sie, dass er heute hier war.

„Ich habe euch herbestellt, damit ihr die Chance erhaltet, in den Geschichtsbüchern unsterblich zu werden.“

Ein Raunen ging durch die Halle und die Diener schienen genauso gespannt wie Ewa selbst, was die Aufgabe der Krieger war. Vielleicht würde ihr Vater Spiele veranstalten? Ein harmloses Duell? Oder würde er sie auf die Suche nach einer verbotenen Frucht schicken, die man nur an der Grenze zu Dahana finden konnte, und deren Süße sich bereits jetzt gedanklich auf Ewas Zunge legte?

Der König kehrte zu seinem Thron zurück und setzte sich. „Seit Jahrhunderten lebt eine Kreatur zwischen den beiden Welten, die mein Reich der Unfruchtbarkeit verschrieben hat. Das Getreide zerfällt zu Staub, der wohltuende Regen bleibt aus, und sobald wir zu ein wenig Nahrung kommen, nimmt die Bestie sie uns, indem sie alles in Flammen erstickt.“

Ewa zuckte zusammen. Zu ihrer eigenen Überraschung schlug ihr Vater eine ganz andere Richtung ein.

„Mein Volk stirbt. Nach all den Jahrhunderten des Überlebens, des Kämpfens und des Bangens wurde ich gestern informiert, dass dieses Ungeheuer jede Scheune an der Grenze niedergebrannt hat. Wir haben so gut wie nichts, um dem bevorstehenden Winter zu trotzen.“ Er atmete tief ein. Die folgenden Worte schienen ihm sichtlich schwerzufallen. „Viele werden verhungern, werden sterben – wegen ihm.“

„Der Drache“, platzte es aus Ewa heraus. Im selben Moment nahm ihr Vater sanft ihre Hand und strich zärtlich über ihre Haut.

„Ja, ich meine den Drachen.“ Es gab in ihrem Reich durch die offene Grenze viele Monster, die bezwungen werden mussten. Doch das Kind des Feuers war ein unangetasteter Gegner mit der Unsterblichkeit auf seiner Seite.

„Vater, wo soll diese Unterhaltung hinführen?“, fragte Ewa und zitterte allein bei dem Gedanken an dieses Monster.

„Das Untier muss sterben“, verkündete der König. Er schien abzuwägen, ob die Krieger von ihrer Angst ergriffen wurden oder der Gefahr mutig entgegenblickten.

„Natürlich soll er das, seit mehr als siebenhundert Jahren“, bestätigte Ewa, denn sie wollte verdeutlichen, wie viel zerstörerische Gewalt in diesem Monster steckte. Keinem Mann war es je gelungen, ihn zu bezwingen.

Ihr Vater runzelte die Stirn. Die dunkelblonden Brauen hoben sich auffordernd und ließen seine blauen Augen herausstechen wie Kristalle in einem Berg. „Es gibt kein Zurück mehr. Wir müssen endlich handeln oder wir verlieren alles.“ Er zögerte. „Oder ich verliere alles“, verbesserte er sich.

Darum ging es also. Ewa hatte von den Aufständen in den Dörfern gehört und sie war alles andere als begeistert gewesen, wie ihr Vater darauf reagiert hatte. Er nahm sie seit Monaten schweigend zur Kenntnis, schickte hin und wieder einige Fladen Brot, um die Bevölkerung zu beruhigen. Er hatte scheinbar die Kontrolle verloren. Seine Miene spiegelte Furcht wider und als er sanft einen Kuss auf Ewas Wange hauchte, glaubte sie, seine Lippen würden sie warm und feucht berühren.

„Ich gebe demjenigen meine Tochter zur Frau, der den Drachen erschlägt und mir einen Schneidezahn der Bestie als Beweis bringt. Darüber hinaus erhaltet ihr in absehbarer Zeit als mein Erbe ein Anrecht auf den Thron und meinen Reichtum. Es wird einem von euch in der Zukunft an nichts fehlen.“ Ewas Vater wandte sich nun direkt den Soldaten zu und ließ seinen Vorschlag wirken.

Einige schauten verunsichert, andere neugierig. Kein Zweifel, die Legenden über den Drachen waren jeder Seele bekannt, aber niemand glaubte daran, sich der Bestie je stellen zu müssen. Die Soldaten senkten ihre Köpfe und ihre Mienen versteinerten.

„Das ist Selbstmord. Versucht es erst gar nicht“, warf Ewa ein, denn es wäre ein törichter und äußerst tödlicher Versuch.

„Eine solche Echse macht mir keine Angst. Was erwartet mich schon, außer Schuppen und ein wenig Feuer?“, fragte einer der Männer hochnäsig.

Thor seufzte. Er fuhr sich angespannt durch sein leicht gelocktes, wildes Haar. „Mein Freund, du hast scheinbar keine Ahnung, von welcher Bestie wir hier reden. Er meint keine Libellenechse, die ausgewachsen vielleicht knapp einen Meter groß ist, sondern einen echten Drachen. Wenn er Feuer speit, sind die Flammen so dicht, dass es deine Haut schmelzen kann. Er hat Klauen, so scharf wie tausend Klingen, Zähne, so gebieterisch, dass er dich zermalmen wird, und eine Haut, so dick, dass keine mir bekannte Waffe sie je durchdringen konnte.“

Ewa lächelte, denn Thor war ihr bei der Aufklärung über den Drachen zuvorgekommen. Die silberne Rüstung, die aus einer besonderen Metalllegierung hergestellt worden war und an einigen Stellen den schwarzen Obsidian zeigte, stand ihm unverschämt gut.

„Ich gehe, mein Herr“, sagte er und zog sein Schwert zurück. Verhalten steckte er es in die Metallscheide und wagte es, zu Ewa hinaufzuschauen. Nur kurz trafen sich ihre Blicke. Es war dieser eine Moment, der ausreichte, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Ohne eine Reaktion abzuwarten, stürmte Thor aus der Halle und Ewa sprang von ihrem Thron. Sie verfluchte das Kleid, das sie innehalten ließ. Ewa wollte ihn erreichen, bevor er sein Accyn satteln und etwas Dummes anstellen konnte. Nahm er diese Bürde nur ihretwegen auf sich? Was kümmerten Thor Reichtümer und ein Thron, wenn er einer der angesehensten Krieger am Hofe ihres Vaters war und mit seiner Stellung ein gutes Leben genoss?

Das Kleid brachte Ewa fast zu Fall. Nur kurz schaute sie sich um, dann nahm sie den Stoff in ihre Hände und riss den Rock links und rechts an den Beinen entzwei. Endlich bekamen ihre Beine die Freiheit, die sie benötigten, um rechtzeitig zu Thor zu gelangen.

Ewa stürzte nach draußen, eilte auf die Stallungen der Accyns zu. Sowie sie Thor erreichte, lockerte sie die Schnalle seines Sattels, ehe er das Accyn besteigen und losreiten konnte.

„Was tust du da?“, fragte er verwundert.

Ewa gab ein Keuchen von sich. So schnell hatte sie sich seit Tagen nicht bewegt. Sie war nun mal ein Sportmuffel und das machte sich jetzt bemerkbar. „Ich …“, presste sie hervor, während sie sich die Seite hielt. Sie hob ihren Zeigefinger und bedeutete ihm, kurz zu warten, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hätte.

Thor starrte sie an. Ein charmantes Lächeln legte sich über seine perfekt geschwungenen Lippen, die unter dem Bart hervorlugten. „Ewa?“ Der Klang seiner Stimme benebelte ihre Sinne.

„Wie kannst du nur dem Vorschlag meines Vaters nachkommen? Bist du lebensmüde?“ Sie klammerte sich am Sattel des Accyns fest, um sicherzustellen, dass Thor nicht mitten im Gespräch verschwinden würde.

„Er hat recht.“

„Mein Vater? Das wäre mir neu“, entgegnete sie.

„Ich war in den Armenvierteln, ich habe das Elend gesehen. Die Menschen verhungern und zum ersten Mal in seinem Leben scheint er daran etwas ändern zu wollen.“

Thor wandte sich ab, doch Ewa hielt ihn zurück und legte zärtlich eine Hand auf seine Schulter. Ihr Kopf war auf Höhe seiner Brust und zu gerne hätte sie ihn genau dort vergraben, Thors Wärme in sich aufgenommen. Wie immer herrschte außerhalb des Schlosses eine klirrende Kälte, die alles vernichtete, was der Fluch verschont hatte.

„Ein Mann allein kann den Drachen nicht zu Fall bringen“, wisperte sie, als wäre es die logischste Sache der Welt.

Thor nickte und sein langes Haar fiel über seine Schultern. „Ich kann es dennoch versuchen.“

„Wieso bist du so hartnäckig? Sehnst du dich nach dem Tod?“ Ewas Hand rutschte von seiner Schulter hinab auf seine Brust.

Thor schien diese Berührung zu genießen, denn er entspannte sich. Ohne Vorwarnung zog er sie an sich. Der innige Moment dauerte gefühlte Minuten, verhallte aber gewiss in Sekunden. Ewa streifte das kalte Metall seiner Rüstung. Wie gerne hätte sie seinen Körper und nicht das feuerfeste Obsidian gespürt.

„Meine Schwester …“ Mehr brachte Thor nicht heraus. Seine Stimme klang schwach, beinah kränklich.

Ewa riss sich los. „Was ist mit ihr?“

„Sie ist krank.“

„Aber wieso? Du bist ein Diener des Königs und wirst ausreichend belohnt und versorgt. Bitte um einen Arzt und Narzia wird genesen.“ Ewa fühlte, wie sich Verwirrung in ihr ausbreitete.

„Dein Vater hat bereits vor Monaten aufgehört, uns zu bezahlen. Sieh dich um! Merkst du nicht, dass die Wachen am Tor nur noch Haut und Knochen sind? Dass deine Hofdamen und Dienerinnen sich erbrechen müssen, weil sie die falsche und dazu giftige Nahrung zu sich genommen haben? Hast du in den letzten Tagen je ein Kind im Hof spielen sehen? Sie sind alle krank, schwach und dem Tod näher als je zuvor. Dein Vater hat einen logischen Schritt veranlasst und jeden, nicht nur uns fünf, zusammengerufen, um das Schicksal von Candiora zu verändern. Was du im Thronsaal miterlebt hast, war eine Chance ausschließlich für jüngere Soldaten, die sich als würdig erweisen und später König werden könnten.“ Thors Lippen bebten und er ballte seine Hände zu Fäusten. „Unsere Welt ist kaputt und die Menschen sterben. Deshalb bin ich bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um die Bestie zu bezwingen. Scheitere ich, wird meine Schwester den Winter nicht überleben.“ Thor wandte sich ab, zog den Gürtel seines Ledersattels fest und setzte sich auf das Accyn. Er wollte gerade losreiten, als ein Grollen die leere Landschaft erfüllte.

Ewa legte ihren Kopf in den Nacken und schaute ehrfürchtig zum Himmel hinauf. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen, dennoch verdunkelte ein Schatten den Hof. Ein Kreischen setzte ein, sodass sich Ewa die Hände auf die Ohren presste und in die Knie ging, als sich das Untier über sie fortbewegte, direkt auf den Kornspeicher zu. Mit Entsetzen verfolgte sie seine Route und bevor sie verstand, was sie tat, bewegten sich ihre Beine. Thor schrie, um sie aufzuhalten, doch sie wich seinen flinken Fingern aus und rannte auf den Speicher zu. Um diese Uhrzeit arbeiteten dort fleißige Bauern und bei einer Attacke des Drachen wären sie wohl verloren. Väter, Brüder, Söhne. Ein Verlust, den ihr Volk niemals ertragen könnte, und der Ewa den Verstand rauben würde.

Sie biss die Zähne zusammen, verdrängte den angsteinflößenden Ton aus ihrem Kopf, den der Drache erzeugte. Während das Untier am Himmel über seinem Ziel kreiste, stürzte sie in den Kornspeicher hinein. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Herz raste vor Aufregung. Die Arbeiter musterten sie unwissend und Furcht spiegelte sich in ihren Mienen wider, als ihr der Schatten bis zum Eingang folgte und die Gegend plötzlich in vollkommene Stille tauchte. Die Morass hatten ihr Hoheitsgebiet, den Himmel, der Bestie überlassen. Die Accyn, welche bei den Stallungen wenige hundert Meter hinter Ewa auf ihre Reiter warteten, rissen an ihren Zügeln. Hatten die Tiere zuvor noch ihre altbekannten Laute von sich gegeben, so schwiegen sie nun, vor Angst unfähig, dem Monster etwas entgegenzubringen.

„Sofort raus hier!“, rief Ewa. Ein jeder von ihnen hätte sie auch blind verstanden, aber sie schrie sich die Seele aus dem Leib, bis der Letzte sich aufraffte, den Speicher zu räumen. Es blieb kaum Zeit, das wusste sie.

Ein Dröhnen setzte ein und ein Feuerball traf das Ziegeldach. Die Flammen brachen durch einige Stellen hindurch und der Aufprall riss selbst Ewa von den Beinen. Der Boden bebte, als würde sich die Hölle unter ihren Füßen auftun. Der nächste Hieb mit den Klauen des Drachen ließ das Dach bersten und die Ziegel segelten wie Geschosse auf Ewa hinab. Sie sprang beiseite, rollte sich an die nächste Wand und stieß einen Fluch aus, der allerdings nichts an ihrer Situation zu ändern vermochte. Hinter ihr befand sich der Weg in die Freiheit, der von Trümmern verdeckt wurde. Vor ihr standen einige Arbeiter, die panisch versuchten, dem Speicher zu entfliehen.

„Verschwindet endlich!“, rief sie erneut. Die Arbeiter waren wie erstarrt. Als der Drache sich erneut dem Dach zuwandte, nutzen die Arbeiter ihre Chance und zwängten sich durch das offene Tor. Ihre Stimmen verhallten. Die Erde erbebte abermals und der Drache setzte sich direkt vor den Eingang.

Ewa war wie versteinert, sie konnte sich kaum rühren. Die Angst, von einem Ziegel getroffen oder von dem Drachen gefressen zu werden, war zu groß. Sie erkannte seine muskulösen, schuppigen Beine und einen Teil seiner Brust, die glühend einen weiteren Schub an Feuer ankündigte. Ewa rollte sich auf die Seite und robbte voran. Sie musste verschwinden oder sie würde sterben.

Ewa presste ihren Körper an die mittlerweile aufgeheizte Wand. Ihr Atem ging unregelmäßig und ihre Lider flatterten. Sie japste nach Luft. Ihre Kehle war staubtrocken. Was hätte sie nicht alles für ein Glas kaltes Wasser gegeben!

Ewa lugte um die Ecke. Sie erblickte die roten und schwarzen Schuppen des Untiers, welches sich nun herab beugte und durch das offen stehende Tor hineinschaute. Das Korn lag ungeschützt herum, es hätte ein gesamtes Volk sicher durch den Winter bringen können. Ewa wusste, dass sie etwas tun sollte, allerdings war ihre Situation ausweglos. Sie rief sich die hungernden Menschen in ihren Verstand zurück, hörte deren Klagen in ihren Gedanken widerhallen und sie entschloss sich, ihrem törichten Herzen zu folgen. Es war kein Mut, der sie zu dieser Tat trieb, sondern die pure Verzweiflung, ihrem Volk eines Tages eine schlechte Königin gewesen zu sein. Würde sie heute sterben, dann zumindest bei dem Versuch, ihren Landsleuten zu helfen.

Ewa stieß sich von der Wand ab und taumelte einige Schritte vorwärts, bis ihre Beine sie sicher voran trugen. Sie erblickte die ersten Züge eines Gesichtes, einer langen Schnauze mit messerscharfen Zähnen, die über die Lippen hinausragten, und an denen dunkler Geifer hinab lief. Die Miene des Tieres war zu einer Fratze verzerrt und in ihr lag so viel Tiefe, dass Ewa erschauderte. Die goldenen Augen zogen Ewa in ihren Bann und sie erstarrte.

Das Untier öffnete seinen Schlund und stieß ein tiefes Knurren aus, als würde sie allein zwischen seinem Ziel und seiner Aufgabe stehen, die Ausführung verhindern. Fort waren ihre Zweifel, ihre Gedanken, ihre Hoffnung. In Ewa brodelte die Furcht und vermischte sich mit Panik. Wie hatte sie nur eine Sekunde glauben können, dass sie etwas ausrichten konnte? Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie spürte die Hitze des Feuers auf ihrer Haut und stolperte einige Schritte zurück. Ihre Kehle war zugeschnürt und kein einziges Wort glitt über ihre Lippen. Sie war verloren, hatte sich übernommen und aus Arroganz und Stolz versucht, sich selbst etwas zu beweisen.

Der Drache steckte seinen Kopf durch den Eingang. Er zerschmetterte die Steinmauern, als würden sie kaum einen Widerstand bieten. Das Gebäude bebte und Ziegel stürzten abermals auf die Erde hinab. Ewa war wie versteinert, unfähig, sich zu rühren. Sie starrte lediglich in diese goldenen Augen, die ihr seltsamerweise vertraut erschienen und sie beruhigten. Der Tod kam ihr keineswegs grausam vor, sondern wie ein Segen, der sie zu erfüllen drohte.

Intuitiv wagte sich Ewa voran. Hinter, neben und vor ihr krachten Ziegel auf den Boden herab und zerbrachen. Ewa würdigte sie kaum eines Blickes. Sie streckte begierig ihre Hand nach dem Drachen aus, dessen Zähne gebieterisch nach einem Opfer zu verlangen schienen. Das Untier hielt seine Flammen im Zaun, setzte den Kornspeicher nicht weiter in Brand.

Ewa war nur noch wenige Meter entfernt und kurz davor, das Wesen zu spüren, an der schuppigen Haut entlang zu streichen. Eine letzte Bewegung …

Ruckartig richtete sich der Drache auf. Die Wände wackelten, das Dach gab ein Ächzen von sich. Die Balken, die es an Ort und Stelle hielten, zersplitterten mit einem lauten Knall und auf einmal stürzte die Decke auf Ewa hinab. Der Drache schrie, sodass sie zusammenzuckte. Wie in Zeitlupe schaute sie ihrem Ende entgegen.

Dann wurde sie von zwei blutigen Händen gepackt und herumgerissen. Jemand hob Ewa in seine Arme, wich den Steinbrocken und dem Schutt gekonnt aus, tänzelte durch den Kornspeicher, als hätte er nie etwas anderes getan. Er warf sich schützend auf sie, rollte mit ihr über den Boden, direkt zum Ausgang, und blieb neben den schuppigen Beinen des Drachen liegen. Das Wesen schaute zu Ewa und seine goldene Iris grub sich abermals in ihren Verstand. Als sich ein Holzsplitter in ihren Oberschenkel bohrte und sie der aufkommende Schmerz zurück in die schreckliche Realität holte, verstummte ihre innere Stimme und der Bann war gelöst. Ihr Retter fand hastig auf die Beine zurück, warf sich Ewa über die Schulter, um auch die letzten Meter in Richtung Sicherheit zurückzulegen. In der Nähe der Stallungen brach er schließlich zusammen und beide landeten auf dem staubigen Untergrund.

Der Drache hatte sich indessen in die Lüfte erhoben und spuckte sein Feuer auf die Reste an Nahrung, die den Menschen geblieben war. Schreie erfüllten die Gegend, Tränen benetzten die Wangen der Bauern. Was ihre Hände in langer und harter Arbeit gesät und zusammengetragen hatten, war in wenigen Minuten vernichtet und zu Asche gestampft worden.

Ewa hätte ihren Retter am liebsten von sich geschubst, um dem Drachen hinterher zu blicken, so wie die anderen Menschen, die am Hofe lebten. Nie zuvor hatte sie etwas Gefährlicheres und gleichzeitig Schöneres gesehen. Sie war gebannt, fasziniert und fühlte sich gleichzeitig unglaublich dumm. Dumm genug, in den Speicher zu laufen und Fremde zu retten. Dumm genug, um sich einem Drachen entgegenzustellen, der gewiss tausende Tode zu seinen verübten Taten zählen konnte. Und dumm genug, um auf das Zusammenbrechen des Speichers zu warten, unfähig, sich zu rühren oder zu fliehen. Für einen Augenblick zweifelte Ewa an ihrem geistigen Zustand. Doch dann fing sie sich wieder und schob ihr Verhalten auf die Furcht – obgleich ein seltsames Verlangen in ihr erwacht war, das sie kaum zu kontrollieren wusste.

Ein Stöhnen weckte ihre Aufmerksamkeit. Ewa blickte ihrem Retter mitten ins Gesicht, das von Ruß und Blut entstellt war. Seine blauen Augen leuchteten ihr glücklich entgegen, und bevor sie sich versah, drückte Thor sie fest an sich und sein Bart kitzelte an ihrer Kehle. Er fuhr durch ihr Haar, klopfte ein wenig Dreck von ihrem Kleid – konnte man den Stofffetzen auf ihrer Haut wirklich noch so nennen? – und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Bei den Göttern, ich dachte, ich hätte dich verloren.“

Ewa betrachtete ihn mit einem Feuerwerk an Gefühlen, die ihren Magen zum Rumoren brachten. „Es tut mir so leid.“

Thor hob eine seiner dunklen Brauen. „Was genau? Dass du mich zuvor wegen dem Drachen beschimpft hast und einen Dummkopf nanntest oder dass ich dich vor eben diesem Geschöpf retten musste?“

„Ich habe dich nie einen Dummkopf genannt“, protestierte Ewa und richtete sich auf. Sie sah an sich hinab. Von dem Kleid, das ihre Mutter für sie hatte anfertigen lassen, war kaum etwas übrig. Man hätte sie durchaus mit einem Bauernmädchen verwechseln können. Auf ihrer Haut klebte Ruß und der Geruch des Feuers haftete an ihr. Ihre Knie waren von Blut verkrustet und an ihrem Oberschenkel klaffte eine tiefe Wunde.

„Aber du hast es gedacht. Ich kenne dich gut genug, um so etwas zu wissen.“ Ein erleichtertes Grinsen bildete sich auf seinen Lippen.

Seine Rüstung war an einigen Stellen verbeult und erst jetzt begriff Ewa, was Thor auf sich genommen hatte, um sie zu retten. Er war keinesfalls durch den Eingang an dem Untier vorbeigekommen, sondern schien mit seinen Fingern ein Loch unter den Mauern des Speichers hinweg gegraben zu haben. Zugegeben, die Erde war an den lose aufgerichteten Steinmauern keineswegs fest, sondern wurde von den Bauern regelmäßig gelockert. Trotz allem war es eine enorme Leistung, in der kurzen Zeit genug davon zur Seite zu schieben, um in den Speicher zu gelangen. Seine Nägel waren blutig, an zwei Fingerkuppen fehlte ihm sogar Haut. Er sah mitgenommen aus. Selbst an seinem Hinterkopf hatte das Feuer einige Haarsträhnen versengt, die nun verbrannt rochen und Ewa würgen ließen.

Ewa verringerte den Abstand zwischen sich und Thor. Sie streckte ihre Arme aus und drückte ihren ganz persönlichen Helden an sich. Wie zuvor gewünscht, vergrub sie ihre Wange an seiner Brust, welche unter der Rüstung hervorlugte. „Danke.“

Thor erwiderte ihre Zuneigung, bis eine Stimme sie auseinanderriss.

„Ewalyn!“, kreischte ihre Mutter, welche an der Seite des Königs auf den Trümmern des Speichers stand. An einigen Stellen loderten kleinere Feuer oder die Glut hatte sich die Reste des Korns einverleibt. „Geht es dir gut? Bist du verletzt?“

Ihre Mutter rannte zu ihr und ließ prüfend ihre zitternden Hände über Ewas Körper gleiten, auf der Suche nach einer Wunde. Anschließend zog sie die nun blutigen Finger zurück, schluchzte und zerrte Ewa fort von Thor. Ewa hatte Einwände, konnte dem eindringlichen Griff ihrer Mutter allerdings nicht entkommen. Bevor sie im Schloss verschwand, drehte sie sich zu Thor um. Der Mann saß noch immer an Ort und Stelle. Blut und Asche klebten an ihm und zeigten, dass in seiner Brust das Herz eines guten Soldaten schlug.

Ewa schaute ihn gebannt an. „Geh nicht fort! Du hast gesehen, zu welch zerstörerischer Kraft der Drache fähig ist“, rief sie ihm zu.

Thor senkte seinen Kopf. „Ein jeder von uns hat seinem Schicksal zu folgen. Du musst deinen Platz als Erbin des Königs einnehmen und ich einen Ausweg für meine Sorgen finden.“ Er machte kehrt.

Ewa stemmte sich gegen ihre Mutter. Ein letztes Mal sah sie seine Rückseite, seine geballten Fäuste und sie vernahm seine Worte, die ihrem Herzen einen Stich verpassten.

„Mögen die Götter mit uns sein, oder uns verdammen.“

*

Thor wischte sich mit wenigen Tropfen des kostbaren Wassers Dreck und Schweiß von der Haut. Seine Gedanken kreisten lediglich um zwei Frauen, die seinem Leben einen Sinn verliehen. Seine Schwester Narzia und Ewalyn, die er seit Kindertagen Ewa nannte und die über all die Jahre seine beste Freundin gewesen war. Seit sich unter ihrem Kleid ein Busen wölbte und sie die Hosen zur Freude ihrer Mutter für besondere Anlässe abgelegt hatte, konnte Thor nicht länger leugnen, dass Ewa zu einer Frau erblüht war. Einer Frau, deren einzige Aufgabe darin bestand, einen Ehemann zu finden, um dem Reich Candiora und ihrem Vater viel Ehre zu bringen.

Thor war keiner dieser Männer, die sich nach dem Bund der Ehe sehnten. Für Ewa hätte er allerdings jederzeit eine Ausnahme gemacht.

Sein Herz schlug noch immer wild in seiner Brust, denn er sah das Bild dieser skurrilen Szene mit dem Drachen vor seinen Augen. Ewa, die sich der Bestie schutzlos stellte, mit Furcht und Vertrauen zugleich in der Miene.

In seinen Fingern ruhte ein Stück Stoff von ihrem Kleid. Das einzige Andenken, das er auf seine Reise mitnehmen würde. Der Duft nach Jasmin und Rosen umfing ihn. Als Prinzessin erhielt sie die kostbarsten Güter, Parfüme und Wasserbäder. Wenn er sich nur vorstellte, wie Ewa nackt in einer Wanne voller Rosenblüten lag und der Schaum ihren Busen bedeckte, stieg ihm die Röte ins Gesicht. Thor begehrte sie wie nichts anderes in seinem Leben. Doch etwas hielt sie voneinander fern: Sie kamen aus unterschiedlichen Welten. Nie würde er sie besitzen, lieben und verführen können.

Dass er nun aufbrechen und sich der Bestie stellen würde, war der beste Weg, um der Verdammnis zu entkommen. Vielleicht waren die Götter auf seiner Seite und er würde als Held zurückkehren. Falls nicht, musste er immerhin nie mit ansehen, wie Ewa entgegen ihres Herzens einem anderen Mann versprochen wurde.

Thor schüttelte seinen Kopf und zog den Gürtel seines Sattels fest. Das Accyn jaulte auf und gab ein Zischen von sich. Das borstige Fell der Hinterbeine wurde am Rücken von weicheren Flecken abgelöst. Es hatte einen dunkelblauen Ton, hin und wieder unterbrochen von weißen und gelben Punkten, die es wie einen Schimmel in anderen Farben erscheinen ließen. So zumindest hatte sich Thor stets einen Schimmel vorgestellt, wenn seine Mutter ihm und seiner Schwester von den Legenden Candioras erzählte.

Es war seltsam, zu wissen, dass da draußen nichts als der Tod auf ihn wartete. Wenn Ewa ahnen würde, wieso Thor diesen Weg einschlug, hätte sie ihn wahrscheinlich geohrfeigt. Narzia ging es den Umständen entsprechend schlecht, und da er sie keineswegs mit genügend frischen und ungiftigen Lebensmitteln versorgen konnte, musste er gehen. Er konnte ihr Elend nicht länger ertragen. Auf einen Arzt hätte er nur Anspruch, wenn er siegreich wäre. So lauteten die Gesetze des Königs.

Seit seine Eltern vor zwei Jahren gestorben waren, kümmerte er sich um Narzia. Eine schwere Aufgabe, der er nicht gewachsen war, das musste er einsehen. Dennoch würde er sein Glück versuchen und er hoffte inständig, dass die Götter sein Opfer akzeptieren und seiner Schwester Gesundheit und ein langes Leben schenken würden. Ein törichter Gedanke, aber gleichzeitig die einzige Hoffnung, an die er sich klammerte.

Thor klopfte dem Accyn behutsam auf den Rücken und stieg auf. Dann nahm er die Fühler in seine Hände, genoss für einen Moment die Wärme, welche das Geschöpf mit ihm teilte, und ritt los. Hinter ihm verstummten die Rufe der Bevölkerung, die sich begierig auf die Suche nach Resten vom Korn begeben hatten. Doch es war nichts übrig geblieben, der Drache hatte ihnen alles genommen.

Das Accyn trabte den engen Feldweg entlang, vorbei an den Elendsvierteln außerhalb des Schlosses. Hier lebten die Bauern, Mägde, Schmiede und Köche. Gehobenere Gesellschaft befand sich hinter den sicheren Mauern des Schlosses, damit sie von dem König ausreichend versorgt werden konnte. Selbst die treusten Soldaten rutschten auf ihren Knien herum, bettelten um etwas Brot, Mehl oder Fleisch. Nicht einmal Wasser erhielten sie und so schwanden ihre Kräfte, was sie gleichzeitig in den Augen des Königs unbrauchbar machte. Der Kreislauf schloss sich. Schon bald würde Thor einer von ihnen sein, weshalb er gezwungen war, aufzubrechen. Bevor er dies jedoch tun würde, musste er sich von seiner geliebten Schwester verabschieden.

Am Ende des Weges setzten die verbrannten Wälder ein, von denen nur graue Asche zurückgeblieben war. Der Staub wehte über das karge Land, verhinderte eine klare Sicht und legte sich schwer auf die Haut eines jeden Menschen. Nur wenige wohnten so weit von der Stadt entfernt.

Thor schwang sich von seinem Accyn und ging näher an sein Haus heran. Er trat ein, ohne nach seiner Schwester zu rufen, denn er wusste, dass sie nicht fähig war, sich zu erheben und ihn zu begrüßen. Im Inneren des Hauses, welches aus purem Stein erbaut worden war, loderte ein Feuer im Kamin, das ihn wärmte. Ein Kessel mit etwas Wasser dampfte über der Feuerstelle. Er warf einen Blick hinein. Narzia hatte etwas Asche unter die Brühe gemischt, weshalb das Wasser mehr einem dunklen Brei gleichkam, der seltsam roch und Thors Magen schmerzhaft zusammenzog.

Thor nahm den Kessel von der Feuerstelle und setzte ihn auf den steinernen Tisch. Er fragte sich, ob Narzia den Vorrat an Holz aufgebraucht hatte. Das Stuhlbein, das er aus den Stallungen des Königs gestohlen hatte, brachte seine letzten Reserven hervor. Schnell zog er eine Metallpfanne von einem niedrigen Schrank, legte einen mitgebrachten Fladen auf die glatte Seite und hielt ihn über das Feuer. Die normale Ration für die Soldaten und Thor nahm nicht einmal die Hälfte davon zu sich, denn er teilte es mit seiner Schwester. Der Fladen schmeckte fade, also bestreute er ihn mit dem einzigen Gewürz, das sie zuhauf hatten: Salz. Hastig stellte er die Pfanne auf den Steintisch und erstickte das Feuer mit etwas Erde. Die restlichen noch verwertbaren Holzstücke sammelte er aus der Glut und legte sie für einen neuen Kochversuch an einem anderen Tag bereit.

Dann verließ er die Kochstelle und ging in das anliegende Wohnzimmer. Trotz des Kamins war es fürchterlich kalt. Auf einem mit Stroh gepolsterten Bett ruhte seine Schwester Narzia, eingehüllt in mehrere Decken. Da sie die einzige Person im Haus war, hatte sie sich sämtliches Bettzeug unter den Nagel gerissen. Das war auch gut so, andernfalls wäre sie wahrscheinlich längst erfroren.

Thor setzte sich neben sie und streichelte an ihrer Wange entlang. Narzia war in Ewas Alter, eine junge Frau. Im Gegensatz zu Ewa hatte sie keine rosige Haut, roch natürlich nicht nach kostbaren Blüten und war vollkommen abgemagert. Er fuhr durch ihr haselnussbraunes Haar, das ihr wild und lockig vom Kopf abstand. Sie rümpfte ihre Nase, scheinbar hatte sie den Fladen gerochen, und blinzelte gegen das Licht.

„Thor? Bist du schon zurück?“ Sie setzte sich auf, schaffte es aber nicht ohne Hilfe. Ein Lächeln lag auf ihren rissigen Lippen. Gierig streckte sie ihre dünnen Finger nach dem Brot aus. Bevor sie jedoch einen Bissen nahm, zögerte sie. „Hast du schon etwas gegessen?“

Thor nickte. „Aber sicher, Schwesterherz. Der König versorgt mich gut. Ich habe das für dich rausgeschmuggelt.“

Narzia musterte ihn. Ihre blauen Augen hatten vor einiger Zeit ihren Glanz verloren. „Thor, wieso belügst du mich?“

Er zwang sich zu einem selbstsicheren Grinsen. „Das tue ich nicht, Schwesterherz.“

„Du bist blass und deine Hände zittern. Du kannst nicht mal die Pfanne richtig halten“, stellte sie fest und zerteilte den Fladen in zwei Hälften. Sie streckte ihm etwas davon entgegen, doch er lehnte ab.

„Narzia, du bist krank, du musst zu Kräften kommen. Bitte iss etwas.“ Er machte sich Sorgen. Ihre Augenringe waren dunkler geworden. Sie schauderte, obwohl sie in so viele Decken gehüllt war. Oft hatte er ganze Haarbüschel in seinen Händen, wenn er durch ihre Strähnen fuhr. Mangelerscheinungen, die der Hunger und die falsche Ernährung hervorbrachten.

„Vielleicht sollten wir dein Accyn schlachten?“, schlug sie vor und kippte zurück auf ihr Kissen. Langsam nahm sie einen Bissen und schluckte das trockene Brot hinunter.

„Er ist meine einzige Möglichkeit, an Nahrung zu kommen. Wenn wir ihn töten, können wir vielleicht einige Wochen davon leben, doch was machen wir danach? Ich kann dem König kein Soldat mehr sein. Wir würden verhungern.“

„Das tun wir jetzt schon“, meinte Narzia und kuschelte sich in ihre Decken. Ihr spitzes Kinn stach hervor und er brauchte sie nicht zu betrachten, um zu wissen, dass sich ihre Rippen unter dem Kleid deutlicher abzeichneten als noch vor einem Monat. „Was wollte der König von dir?“

Der Themenwechsel kam Thor gelegen. „Er hat mir eine Aufgabe erteilt, durch welche ich großen Ruhm erhalten kann.“

Narzia rollte mit den Augen. „Darfst du seine Stiefel putzen oder den Narr für seine Tochter spielen?“

„Narzia!“

„Ach komm, wann hat der König je etwas Ehrenhaftes von dir verlangt? Du bist sein Diener, kriechst im Dreck und musst ihn behandeln wie einen Gott. Und wofür? Für die dünnen Fladen, die mir im Hals stecken bleiben?“

„Ja, der König ist ein Barbar, aber Ewa ist anders.“

„Unsere Prinzessin wird seine Erbin sein und das Land mit genauso eiserner Hand regieren. Falls es dann noch existiert.“ Während Thor tief durchatmete, fragte sie: „Was darfst du dieses Mal für ihn tun?“

„Ich werde an die Grenze reiten und mich dem Drachen stellen.“

„Der Bestie? Bist du wahnsinnig geworden?“ Narzia streckte ihre Arme nach Thor aus und zog ihn zu sich. „Brüderchen, der Drache wird dich töten. Ich lasse das auf keinen Fall zu!“ Sie schloss Thor in ihre Arme, drückte ihn mit ihrer verbliebenen Kraft fest an sich.

„Narzia, ich habe keine Wahl. Wenn ich siegreich bin, können wir uns einen Arzt leisten und du wirst wieder gesund.“