Dicke Luft - Saskia Hula - E-Book

Dicke Luft E-Book

Saskia Hula

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Beschreibung

Eigentlich ist Daniel ja nur irrtümlich auf dem Abenteuercamp für Übergewichtige gelandet. Und am liebsten würde er auch sofort wieder abreisen. In Wirklichkeit hat er nämlich ganz andere Sorgen: sein einziger Freund Rico ist stinksauer auf ihn, und möglicherweise ist Daniel sogar schuld daran, dass dieses dicke Mädchen aus seiner Schule verschwunden ist ... Kann man so etwas wirklich lösen, während man sich in der schwedischen Wildnis mit Muskelkater, Stromschnellen und Giftschlangen herumschlagen muss?

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Saskia Hula

DICKELUFT

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neue Rechtschreibung

© 2022 by Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien

Lektorat: Regina Zwerger

Cover: Angelika Ullmann

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: Florjančič tisk d.o.o, Maribor, Slowenien

ISBN 978-3-99128-078-1

eISBN 978-3-99128-085-9

www.obelisk-verlag.at

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

DIE AUTORIN

1.

„Frau Kowalski!“ Die Kuschelbauer strich ihren Rock glatt. „Wie schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten!“

Sie deutete auf zwei freie Stühle, setzte sich und schlug ein makelloses Bein über das andere.

Daniel und seine Mutter setzten sich auch. Die Mutter zog ihre Kostümjacke zurecht. Seit sie gelesen hatte, dass Schwarz nicht unbedingt schlank machte, trug sie Hellblau. Darin sah sie aus wie ein Wölkchen am Himmel. Rund, weich und wehrlos. Nur ein bisschen schwerer.

Daniel steckte eine Haarsträhne in den Mund. Sein Magen fühlte sich mit einem Mal viel leerer an, als er war. Er hatte einen vagen Verdacht, warum er hier war, und der betraf seinen letzten Deutsch-Aufsatz. Ich in zehn Jahren. Daniel hatte sich nicht besonders viel Mühe gegeben. Was wusste er schon von sich in zehn Jahren? Aber die Kuschelbauer war da gnadenlos. Sie verlangte Ernsthaftigkeit und guten Willen. Ja, sicher hatte es mit dem Aufsatz zu tun. Um die „Kuschelbauer – Nein, danke!“-Buttons konnte es jedenfalls nicht gehen. Die waren schon eine Ewigkeit her, und außerdem hätten sie dann Rico und seine Mutter auch vorladen müssen. Daniel kaute an seiner Haarsträhne.

Die Kuschelbauer holte eine Mappe aus der Schublade und legte sie vor sich auf den Tisch. Ihre Fingernägel leuchteten silbern.

„Sie werden ja sicher schon ahnen, warum ich Sie in die Schule gebeten habe“, sagte sie und sah die Mutter erwartungsvoll an. Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Er hat doch nichts angestellt?“, fragte sie.

Die Kuschelbauer lachte auf.

„Nein, nein, keine Sorge.“

Daniel versuchte, sich zu entspannen und ein möglichst neutrales Gesicht aufzusetzen. Ein buttonfreies Gesicht, offen für alles und jeden.

„Er hat überhaupt nichts angestellt“, sagte die Kuschelbauer und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Aber … sein Übergewicht macht uns schön langsam Sorgen.“

Im Schulhof fiel gerade ein Tor. Die Spieler jaulten auf. Daniels neutrales Gesicht begann zu schmerzen.

Die Mutter zog die Augenbrauen hoch.

„Sorgen?“, fragte sie verständnislos. „Wieso denn das?“

Frau Kuschelbauer hüstelte.

„Nun, Frau Kowalski, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Übergewicht in dieser Ausprägung ein gesundheitliches Risiko darstellt. Und selbst wenn wir davon einmal absehen …“ Sie nahm ihre Brille ab und schaute zur Decke. „Selbst dann werden Sie mit mir einer Meinung sein, dass es nicht unser Ziel sein kann, diese Neigung zum Übergewicht zu unterstützen. Im Gegenteil. Wir sollten gemeinsam …“, sie setzte ihre Brille wieder auf und schaute der Mutter fest in die Augen, „… gemeinsam daran arbeiten, dass aus Daniel ein normalgewichtiger, glücklicher Junge wird. Das ist doch sicher auch das, was Sie als seine Mutter wollen, oder?“

Daniel spürte ein unbändiges Verlangen, seine Hände um ihren schlanken Hals zu legen und zuzudrücken. Ganz, ganz fest. Seine Mutter schnaufte leise. Ein Schweißtropfen löste sich von ihrer Stirn und rann langsam über ihre Schläfe. Die Kuschelbauer redete weiter. Erbarmungslos.

„Sie selbst werden ja am besten wissen, wie es sich mit Übergewicht lebt“, sagte sie. „Wollen Sie Ihrem Sohn dieses Schicksal nicht ersparen?“

„Hm“, sagte die Mutter. Sie war noch nie sehr schlagfertig gewesen.

Die Kuschelbauer schlug mit der flachen Hand auf die Mappe vor sich, dass die Stifte im Stiftebecher vibrierten.

„Ich habe bereits alles für Sie recherchiert“, sagte sie. „Es gibt jede Menge Selbsthilfegruppen. Sporttreffen für Sportmuffel. Diätferien. Psychologen, die sich auf Übergewicht spezialisiert haben. Gesprächstherapien. Hypnose. Autogenes Training. Ernährungsberatung. Kuraufenthalte. Heutzutage ist das alles kein Problem mehr. Wenn man nur wirklich will!“

Daniels Mutter nickte. Manchmal war sie wirklich unerträglich. Endlich sagte sie: „Ich dachte immer, Daniel wäre ein glückliches Kind.“

Frau Kuschelbauer schaute sie mit großen, runden Augen an.

„Aber das glaube ich Ihnen doch aufs Wort!“, sagte sie und legte ihre Hand mit den silbernen Fingernägeln auf den hellblauen Oberschenkel der Mutter. „Niemand will Ihnen einen Vorwurf machen. Soviel ich weiß, sind Sie noch dazu ganz allein mit Daniel?“

Die Mutter öffnete den Mund, doch die Kuschelbauer ließ sich nicht unterbrechen.

„Es ist einfach nicht möglich, beide Elternrollen zu übernehmen“, sagte sie. „Das wissen wir schon lange. Und dann ist Daniel ja auch noch ein Einzelkind, nicht? Da ist es umso schwerer, altersgemäße soziale Verhaltensmuster zu entwickeln. Heutzutage sitzt jedes zweite Kind nur mehr vor dem Fernseher. Oder vor dem Computer, was fast noch schlimmer ist. Und das ist auch der Grund, warum ich Sie hergebeten habe: Wir wollen Ihnen zeigen, dass Sie nicht allein sind!“

Frau Kuschelbauer strahlte die Mutter an.

„Zuallererst machen Sie sich einen Termin bei unserer Schulpsychologin aus“, sagte sie. „Frau Dr. Streibl hat langjährige Erfahrung und wird alle weiteren Schritte mit ihnen planen.“

Sie zog ihre Hand wieder zurück.

Die Mutter strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. Sie hatte wieder mal ihre roten Flecken am Hals.

„Nun ja“, sagte sie schließlich. „Wir werden das zu Hause besprechen. Wenn es Ihnen recht ist. Aber vielen Dank für Ihre Mühe!“

Sie stand leicht schwankend auf. Ihre Kostümjacke war am Rücken völlig zerknittert. Unter den Achseln hatte sie große Schweißflecken.

Die Kuschelbauer nahm die Mappe vom Schreibtisch und drückte sie der Mutter in die Hand.

„Sehen Sie sich das zu Hause in Ruhe an“, sagte sie. „Sicher ist etwas für Daniel dabei. Und ich höre dann von Ihnen, ja?“

Die Mappe war zum Bersten voll, und noch bevor Daniel sie überhaupt aufgeschlagen hatte, ahnte er bereits: Die Buttons wären vielleicht doch das kleinere Problem gewesen.

2.

Zu Hause legte Daniels Mutter die Mappe auf einen der Stapel mit unerledigtem Zeug, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und machte sich einen Milchkaffee. Daniel setzte sich vor den Fernseher. Es lief The Big Bang Theory. Eine von den Folgen, die Daniel fast auswendig konnte, weil Rico sie ständig nachgespielt hatte. Daniel sah sie sich trotzdem an. Dazwischen kontrollierte er, ob Rico online war. Fehlanzeige. Genau wie sonst auch. Entweder hatte Rico WhatsApp völlig aufgegeben, oder er hatte Daniel blockiert. Daniel wollte gar nicht daran denken, was das hieß.

Die Mappe blieb auf ihrem Stapel liegen. Einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Andere unerledigte Dinge wurden auf die Mappe gelegt, der Stapel wurde höher. Langsam hätte man sie in Anstand und Würde vergessen können.

Das einzige Problem war die Kuschelbauer, die ständig nachfragte.

„Na, Daniel, hast du schon etwas gefunden?“ und „Wie wäre es mit einem Termin bei Frau Dr. Streibl?“

Das war überhaupt das Letzte! Niemand ging freiwillig zur Streibl, mit oder ohne Problem. Die Streibl musste sich Daniel um jeden Preis vom Hals halten! Und wenn er dazu die Mappe durchackern musste …

Daniel wartete einen Nachmittag ab, an dem seine Mutter bei ihrer Rückengymnastik war. Seit ihr Chef ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er Übergewicht für eine Folge mangelnder Selbstdisziplin hielt, bemühte sie sich, regelmäßig Bewegung zu machen. Zwar kam sie jedes Mal mit hochrotem Kopf, nassgeschwitzt und unglücklich nach Hause, aber noch glaubte sie an einen Erfolg.

Mit spitzen Fingern fischte Daniel die Mappe aus dem Stapel und öffnete sie.

„Bei unserem Test erfährst du ganz schnell, ob dein Körpergewicht im Normbereich liegt, oder ob du von Übergewicht oder Adipositas betroffen bist“, las er auf der ersten Seite. Daniel verzog das Gesicht. Wer wollte so etwas wissen?

Er kämpfte sich weiter durch Diättabellen und Sportangebote für Übergewichtige.

Schwimmen, Nordic Walking, Gruppentänze. Schwimmen schied schon allein wegen der Aufmachung aus. Daniel hatte nicht die geringste Lust, sich der Welt in nichts als einer Riesenbadehose zu präsentieren. Er war glücklich, dass er den Schwimmkurs in der Schule überlebt hatte. Nordic Walking war etwas für alte Leute, die nicht mehr allein gehen konnten. Und Gruppentänze? Einfach nur bescheuert.

Es gab auch Kochseminare mit gemeinsamen Essen. Auf dem Folder hielten zwei Mädchen einen Bund Karotten und eine Gurke hoch. Daniel blätterte weiter.

Ein ganzer Katalog mit Freizeitangeboten für übergewichtige Kinder und Jugendliche. „Dicke Freunde“ hieß er. Sehr originell. Drei dicke Freunde strahlten vom Titelbild, wobei sie vermutlich schon einige erfolgreiche Freizeitangebote hinter sich hatten, denn so richtig dick waren sie alle drei nicht, eher mollig, aber eigentlich nicht einmal das. Neben ihnen ein semmelblonder Labrador mit Idealfigur, seidenweichem Fell und Schlappohren, der hechelnd Sommerferien voller Spaß versprach. Der Hund gefiel Daniel. Genau so einen hätte er auch haben wollen.

Er schaltete den PC ein und gab die Internetadresse der Dicken Freunde ein. Auf der Website sprangen die Kinder mit dem Hund über eine grüne Wiese. Man hätte glauben können, in einer Hundeschule zu sein und nicht auf enier Diätseite. Vielleicht war das ja der Trick. Jeder einzelne Menüpunkt war mit dem Hund bebildert. Bei den Donnerstagtreffen trug er ein kariertes Halstuch. Bei den Wochenendausflügen mit Ernährungsberatung saß er im Kofferraum eines Geländewagens. Bei den Bewegungstipps sprang er zu einem Stöckchen hoch. Und beim Abenteuercamp schwamm er durch einen Fluss.

Das Abenteuercamp war allerdings bereits ausgebucht. Ein traurig aussehendes, schiefgelegtes Hundegesicht mit Sprechblase wies darauf hin. Man kriegte richtig Lust, sein Leben mit diesem Hund zu verbringen, selbst wenn man dafür Mitglied bei den Dicken Freunden werden musste. Aber Daniel war ja nicht blöd. Der netteste Hund der Welt konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Seite nur so gestaltet war, um möglichst viele übergewichtige Kinder zur Ernährungsberatung zu locken. Und darauf konnte Daniel gut verzichten.

Er schloss die Seite. Vielleicht sollte er lieber noch einmal mit seiner Mutter über einen neuen Hund reden. Sammy war jetzt seit über einem Jahr tot. Und ein Hund war der ideale Grund, sich zu bewegen. Viel besser als Rückengymnastik. Das musste doch auch seine Mutter einsehen!

Am nächsten Tag fing ihn die Kuschelbauer wieder ab. Nach der Deutschstunde, genau in dem Moment, in dem er beschlossen hatte, sich endlich mit Rico auszusprechen.

Rico war bereits aus der Klasse draußen und auf dem Weg in den Hof. Das war die Gelegenheit! Jetzt oder nie, dachte Daniel und stand auf. Er machte drei Schritte zur Tür, da versperrte ihm die Kuschelbauer den Weg.

„Na, Daniel?“, fragte sie. „Hast du dich schon entschieden?“

Daniel holte tief Luft, dann nickte er langsam.

„Ich möchte gern am Abenteuercamp teilnehmen“, sagte er. „In Schweden. Mit Wildnistour, Radfahren und Kanuwoche.“

Die Kuschelbauer lächelte erfreut.

„Wie schön!“, rief sie. „Da hast du dir ja etwas ganz Feines ausgesucht! Wann geht es los?“

„Mitte Juli.“ Das musste ungefähr hinkommen.

„Aha. Und welcher Verein organisiert das, wenn ich fragen darf?“

Im letzten Moment fiel es ihm ein: „Die Dicken Freunde.“

„Oh, wie nett! Bei den Dicken Freunden arbeitet eine Freundin von mir, da bist du sicher gut aufgehoben.“

Na, wenn sie das sagte …

Die Kuschelbauer entließ ihn zufrieden. Irgendwann würde er ihr erzählen müssen, dass das Abenteuercamp, an dem er so gern teilgenommen hätte, leider ausgebucht war. Aber bis dahin hatte er seine Ruhe.

So schnell er konnte, sauste Daniel die Stiegen hinunter zum Hof. Rico spielte mit ein paar anderen Fußball. Es war unmöglich, jetzt mit ihm zu sprechen. Die Gelegenheit war dahin. Vielen Dank, Frau Kuschelbauer.

3.

„Wir beginnen bereits mit dem Landeanflug auf Stockholm. Bitte schnallen Sie sich an und schalten Sie Ihre elektronischen Geräte aus!“

Daniel blinzelte unwillig. So schnell war man in Stockholm? Sie waren doch gerade erst abgeflogen! Verdammt. Er hätte nichts dagegen gehabt, noch eine Weile vor sich hinzudämmern wie ein bewusstloser Maulwurf. Schließlich war er seit vier Uhr Früh auf den Beinen.

Neben ihm schwitzte das dicke, blonde Mädchen. Es trug ein ärmelloses Oberteil mit Blumenmuster, das verdächtig nach Küchenschürze aussah. Ihre Arme waren blass und warm und voller Sommersprossen und wabbelten bei jeder Bewegung. Zum Glück bewegte sie sich nicht viel. Trotzdem war es fast unmöglich, ihre warmen Arme nicht zu berühren, sosehr sich Daniel auch ans Fenster drückte.

Die Stewardess ging lächelnd vorbei. Auf der anderen Seite des Mittelganges holte der Türke eine Tafel Schokolade aus seinem Rucksack. Der hatte vielleicht Nerven! Müsliriegel und Äpfel waren auf der Liste gestanden, ganz sicher keine Schokolade! Aber vermutlich wollte er die Zeit nützen, in der er noch selbst über sein Essen bestimmen konnte. Man konnte es ihm nicht übelnehmen.

„Auch ein Stück?“, fragte er grinsend und hielt die Tafel über den Gang.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und presste sich an die Rückenlehne, als wollte es der Schokolade großräumig ausweichen. „Das ist sehr nett“, sagte es. „Aber ich esse keine Schokolade.“ Sie lispelte auch noch.

Der Türke zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Sicher nicht?“

Sie wurde rot. „Ich will abnehmen.“ Dabei lächelte sie unsicher, als wäre das etwas Unanständiges. Auf einem Diätcamp! Der Türke zuckte mit den Schultern.

„Alles klar“, sagte er. „Für Abnehmen ist Schoko nicht gut. Was ist mit dir?“

Er schaute Daniel erwartungsvoll an.

Daniel griff zu, nur damit der Türke nicht auf die Idee kam, er würde ebenfalls abnehmen wollen. Es war Erdbeer-Joghurt, genau die Sorte, die Daniel hasste.

„Ich bin Hikmet“, sagte der Türke und streckte Daniel seine braune, pralle Hand entgegen. „Du kannst Hicke sagen, wenn du willst. Wie meine Freunde. Hicke, der Dicke.“ Er grinste wieder breit.

„Daniel“, sagte Daniel und streckte ebenfalls die Hand aus.

Die beiden Hände trafen sich genau über der Küchenschürze des Mädchens und verhedderten sich in einer Schleife über ihrem riesigen Busen. Peinlicher ging es nicht. Daniel und das Mädchen wurden beide gleichzeitig rot. Hikmet schien es nicht einmal zu bemerken.

„Schönes Top“, sagte er todernst. „Prima Schleife.“

Das Mädchen lächelte. „Danke“, sagte sie. „Ich heiße Vicki.“

„Vicki, ja?“, sagte Hikmet. „Ist ja super! Passt ja gut zusammen: Vicki und Hicki, hahaha!“

Jetzt hielt er auch ihr seine Pranke unter die Nase. Daniel drehte sich zum Fenster. Seine neuen Trekkingschuhe drückten jetzt schon. Wahrscheinlich waren sie doch eine Nummer zu klein. Er hätte nicht auf diese dämliche Verkäuferin hören sollen, die behauptet hatte, sie würden sich noch dehnen. Und was, wenn nicht? Sein rechter Fuß fühlte sich jetzt schon taub an.

„Ich war noch nie in Schweden“, sagte Vicki. „Und du?“

Daniel schüttelte den Kopf. Nein, er auch nicht. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er Schweden auch nie kennenlernen. Aber das musste er Vicki ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

Kurze Zeit später standen sie alle sieben in der Ankunftshalle des Flughafens und warteten auf Georg, der sie abholen sollte.

„Sicher kommt er gleich“, sagte Julia und biss in einen Apfel. „Er ist sonst immer ganz pünktlich.“ Ihre Zähne blitzten, der hellblonde Pferdeschwanz wippte fröhlich.

Die verrückte Carmen warf ihr einen verächtlichen Blick zu und zog geräuschvoll die Nase auf. Dann setzte sie sich auf ihren dunkelgrünen Rucksack und streckte die Füße in den klobigen Stiefeln aus. Mit ihren schwarzweiß gefärbten, abstehenden Haaren und dem missmutigen Gesichtsausdruck sah sie aus wie ein zorniges Stachelschwein. Ihre grüne Military-Hose war vom Knie hinunter zerrissen. Dazu trug sie ein riesiges, graues T-Shirt, auf dem „Heute ist ein guter Tag zum Sterben“ stand. Da Handys auf dem Trip verboten waren, hatte sie offensichtlich irgendwo einen uralten MP3-Player aufgetrieben, der jetzt auf voller Lautstärke lief. Wumm wumm wumm. Dann und wann zerplatzte eine Kaugummiblase vor ihrer Nase. Daniel wandte sich schaudernd ab. Alles in allem machte sie nicht gerade den Eindruck, als wäre sie auf der Suche nach neuen Freunden.

Hikmet war da anspruchsloser. Er unterhielt sich angeregt mit Vicki, als würde er sie seit Jahren kennen. Die beiden verglichen ihre Trinkflaschen, tauschten ihre Erfahrungen mit Regenhosen aus und schienen sich wie die Kinder auf das Abenteuercamp zu freuen. Auch nicht das, was Daniel unbedingt sehen wollte.

Der Pfadfinder stieß ihn von der Seite an.

„Schon mal so eine Tour gemacht?“

Daniel schüttelte den Kopf, worauf der Pfadfinder zufrieden nickte.

„Hab ich mir schon gedacht“, sagte er. „Du schaust nämlich echt nicht so aus.“

Daniel spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

„Und wieso?“

„Lascher Gesamteindruck.“ Der Pfadfinder grinste. „Aber keine Sorge, das wird schon noch. Schau mich an! Ich war auch mal so, bevor ich mit den Touren angefangen habe.“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Aha.“

„Aber natürlich mache ich auch sonst viel Bewegung.“ Der Pfadfinder geriet jetzt so richtig in Fahrt. „Schwimmverein, Boxen, Schifahren, was halt so anfällt.“

Mit einer schnellen Bewegung schnippte er ein Krümel von seinem beigen Uniformhemd.

Und warum bist du dann noch immer so fett, hätte Daniel um ein Haar gesagt, wenn du doch so großartig viel machst? Aber er sagte es natürlich nicht. Er musste sich ja nicht schon am ersten Tag verfeinden.

„Halt dich einfach an mich“, sagte der Pfadfinder. „Dann bist du auf der sicheren Seite.“

Daniel nickte. Zwei Mädchen, ein Türke und ein Größenwahnsinniger, das war echt nicht viel. Daniel sah sich suchend um. Einer fehlte noch.

Der Pfadfinder stieß ihn schon wieder an.

„Jetzt schau dir mal den an“, sagte er und deutete zum Buffet, wo Pickel-Nils stand und sich eine Packung Kartoffelchips kaufte.

Der Pfadfinder grinste.

„Mit dem werden wir noch viel Spaß haben“, sagte er. „Was meinst du?“

Daniel sagte nichts. Nils war von allen der Schlimmste. Schon bei der Abfahrt hatte er ein Gesicht gemacht, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung fahren. Entsetzt aufgerissene Augen, zitternde Unterlippe, verzweifeltes Schlucken. Und das Ganze mit geschätzten 120 kg Lebendgewicht. Das war kein schöner Anblick. Und ganz sicher kein Anblick, den Daniel auf die Dauer ertrug.

„Hurra, da ist Georg!“, rief Julia in diesem Augenblick und schwang sich ihren Rucksack auf den Rücken. „Kommt, Leute, jetzt geht es los!“

4.

Natürlich hatte sich die Kuschelbauer nicht so einfach zufriedengegeben. Nachdem ihr Daniels Antworten eine Spur zu ausweichend waren, rief sie kurzerhand seine Mutter an. Und musste dabei leider erfahren, dass die von dem Abenteuercamp mit den Dicken Freunden noch gar nichts wusste.

Daniel war gerade dabei gewesen, verschiedene Labrador-Züchter im Internet anzusehen. Wenn er einen in der Nähe fand, konnte er seine Mutter vielleicht zu einem Besuch überreden. Und wenn sie dann die Hundewelpen sah … Sie waren einfach total süß. Auf unzähligen Fotos purzelten sie übereinander. Und alle schienen gerade auf die Welt gekommen zu sein und auf einen netten Besitzer zu warten.

Daniel hörte gar nicht richtig hin, als seine Mutter zum Telefon ging. Erst als sie „Frau Kuschelbauer!“ und „Natürlich erinnere ich mich!“ sagte, hörte er damit auf, Adressen anzuklicken. Mit dem Telefon in der Hand kam seine Mutter ins Zimmer. Sie nickte schon wieder dauernd, warf ihm dazwischen aber sehr, sehr fragende Blicke zu. Daniel zog die Schultern hoch. Woher sollte er wissen, was die Kuschelbauer wollte?

Die Mutter ging nervös im Zimmer auf und ab. Sie sagte ein paar Mal „Aha“ und „Aja“ und zum Schluss „Ja, vielleicht ist das wirklich eine gute Idee.“

Dann verabschiedete sie sich und legte auf.

„Was ist denn das für eine Schnapsidee?“, fragte sie mit leicht kippender Stimme. „Was willst du denn auf einem Abenteuercamp?“

Aus ihrem Mund klang Abenteuercamp wie Kriegsberichterstattung inmitten von Selbstmordattentätern.

„Gar nichts.“ Daniel lächelte schwach. „Das Camp ist doch längst ausgebucht.“

Sie blinzelte misstrauisch.

„Wolltest du dich denn anmelden?“

Er zuckte mit den Schultern. „War nur so eine Idee.“

Sollte sie es doch ruhig glauben, dass er sich bemühte.

„Und es ist vollständig ausgebucht?“

„Bis auf den letzten Platz.“

„Na dann.“ Sie seufzte erleichtert. „Was hätte es denn gekostet?“

„Keine Ahnung. Aber sicher eine Menge. Mit all der Ernährungsberatung, du weißt schon.“

Sie schüttelte weiterhin seufzend den Kopf. Sie schwammen nicht gerade im Geld. Es war das erste Mal, dass Daniel richtig froh darüber war.

„Und dann ist es ja auch noch in Schweden. Eines der teuersten Länder Europas“, sagte er. „Jedenfalls, was die Lebenshaltungskosten betrifft.“

„Wirklich?“ Sie schien erschüttert.

Daniel nickte. „Haben wir in Geografie gelernt.“

Die Mutter lachte. „Dann bleib mal lieber da“, sagte sie. „Ich glaube, Abenteuer sind sowieso nicht so richtig deine Sache, hab ich recht?“

Sie hatte recht. Wenn Daniel etwas im Leben überhaupt nicht vermisste, dann waren es Abenteuer. Außer vielleicht die mit Rico.

„Und was sagen wir jetzt der Kuschelbauer?“, fragte er.

Die Mutter kratzte sich an der Nase.

„Jetzt, wo wir wissen, dass das Camp ausgebucht ist, können wir dich ja gefahrlos anmelden“, meinte sie zögernd. „Oder es zumindest versuchen. Dann müssen wir sie wenigstens nicht anlügen.“

Und genau das taten sie. Sie schrieben eine nette E-Mail an die Dicken Freunde, in dem sie Daniel für das Abenteuercamp in Schweden anmeldeten. So, als hätten sie das AUSGEBUCHT in der Hundesprechblase zufällig übersehen. Ein paar Stunden später bekamen sie eine nette Antwort. Das Abenteuercamp war für dieses Jahr leider ausgebucht. Daniel könnte sich aber gerne auf die Warteliste setzen oder für das nächste Jahr vormerken lassen.

Nun, das war auch nicht gerade notwendig.

5.

„Tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagte Georg. „Aber wir mussten noch ein Kanu bergen.“

Er umarmte Julia freundschaftlich, dann schüttelte er jedem von ihnen die Hand.

Sie gingen über den Parkplatz zu einem weißen Kleinbus. „Dicke Freunde“ stand in bunten Buchstaben darauf. Im Wageninneren saß der semmelblonde Labrador. Er sah genauso aus wie auf der Website, glücklich und abenteuerlustig. Er hatte sogar das gleiche karierte Halstuch um. Es kam Daniel wie eine Ewigkeit vor, dass er ihn auf dem Bildschirm bewundert hatte.

„Das ist Balu“, sagte Georg und öffnete die Autotür. „Er wird uns begleiten.“

Balu stürzte schwanzwedelnd auf Julia zu, als wäre sie gerade von den Toten auferstanden, und begrüßte sie stürmisch. Georg verstaute das Gepäck im Kofferraum.

„Alles einsteigen!“, rief er und schwang sich hinter das Lenkrad. Die anderen kletterten deutlich weniger schwungvoll ins Auto.

Daniel drückte sich ans Fenster, Vicki zwängte sich auf den Nebensitz. In der Reihe vor ihnen versuchte Pickel-Nils stöhnend, seinen Gurt zu schließen.

Dann ging es los. Sie hatten noch etwa 600 km vor sich. 600 km Landstraße. Das konnte ewig dauern. Daniel schlief bereits nach der ersten Kurve ein.

Als er das nächste Mal die Augen aufmachte, fühlte er sich wie gerädert. Sein Nacken war steif, sein Rücken schmerzte, sein Hals war ausgedörrt und seine linke Hand taub. Er bewegte die Finger vorsichtig auf und ab. Innerhalb kürzester Zeit begannen sie zu kribbeln, als würden sich tausend Ameisen darauf stürzen.

Draußen zogen schwarze Wolken über den Himmel. Wenigstens regnete es nicht. Abenteuercamp mit Regen war eines der wenigen Dinge, die sich Daniel noch schlimmer vorstellte als Abenteuercamp ohne Regen.

Müde starrte er aus dem Fenster. Das war also Schweden. Es sah genauso aus wie in den Kitschfilmen, die seine Mutter jeden Sonntag Abend sah. Ein dunkler See, dahinter Wald. Und am Seeufer ein rot gestrichenes Holzhaus.

Wie auf der Postkarte.

Neben Daniel schnarchte Vicki. Ihr Mund war offen, das Kinn herabgefallen. Jeder Schnarcher war eine Spur lauter als der vorherige. Beim lautesten schreckte sie hoch, kam kurz zu sich und fiel sofort wieder in Trance. Ein paar leise Atemzüge, dann begann sie wieder zu schnarchen. Leise, etwas lauter, noch lauter, ganz laut.

Daniel überlegte, ob er sie anstoßen sollte. Dieses Schnarchen war echt eine Zumutung. Er wurde ganz kribblig davon. Überhaupt machte ihn die ganze Vicki kribbelig. Dick waren sie ja alle, aber dick war ein dehnbarer Begriff. Sie war nicht nur dick, sie war unförmig, fett und schwabbelig. Und noch dazu so blass. Sie hatte echt nichts an sich, was gut aussah. Und dazu ihr unsicheres Getue! Vielleicht sollte er sie wirklich anstoßen, damit wenigstens dieses Schnarchen endlich aufhörte! Aber bevor sich Daniel dazu entschließen konnte, fuhr Georg auf einen Parkplatz und hielt an.

„Frühstückspause!“, rief er und sprang aus dem Auto. Draußen streckte er sich und gähnte. Seine muskulösen Oberarme waren braungebrannt. So müsste man aussehen, dachte Daniel und betrachtete seine eigenen teigigen Arme. Wenn es da irgendwo Muskeln gab, dann hatten sie sich jedenfalls sehr gut versteckt.

Auch Julia stieg aus und vertrat sich die Beine. Sie trug feste Bergschuhe und dicke Socken, darüber eine sandfarbene Short und ein rosa Poloshirt. Ihre Beine waren schlank und lang und ebenfalls braun. Nahtlos braun. Sie sah aus wie aus der Outdoor-Werbung.

„Hu-hu!“, rief sie und klopfte ans Autofenster. „Aufwachen! Frühstück!“

Balu sprang begeistert um sie herum. Er bellte. Seine Ohren flatterten.

Hikmet gähnte laut. „Sind wir da?“, fragte er und rieb sich die Augen.

„Wir machen nur eine Pause“, sagte Daniel. „Zum Frühstücken.“

Der Pfadfinder öffnete schnaufend den Kofferraum und holte die Frühstückskiste heraus. Daniel schlüpfte in seine drückenden Schuhe und kletterte hinter Hikmet und Viktoria hinaus ins Freie. Draußen war es kühler, als er gedacht hatte. Hinter dem Parkplatz plätscherte ein kleiner Bach. Daniel zog seinen Pullover an und stapfte zur Frühstückskiste, mit einer vagen Hoffnung im Bauch.

Ein Blick hinein genügte, und er gab die Hoffnung wieder auf. Knäckebrot in allen Sorten. Vakuumverpackter Pumpernickel, dunkelbraun und feucht. Hartkäse. Vollkornmüsli, Milchpulver. Äpfel. Diätmargarine.

Julia setzte sich breitbeinig auf eine Bank und begann einen Apfel aufzuschneiden.

„Das wird ein schöner Tag“, sagte sie und deutete auf die dunklen Wolken, die sich langsam auflösten.

„Wird aber auch Zeit!“, rief Georg. „Die letzten zwei Wochen hat es nur geregnet!“ Er ging gerade auf den Händen bis zum Bach.

Angeber, dachte Daniel und fühlte sich schlecht dabei. Aber wenigstens war er nicht der Einzige mit bösen Gedanken. Die verrückte Carmen durchbohrte Georg mit ihren düsteren Blicken, als wollte sie ihn umbringen. Ihr MP3-Player lief schon wieder in voller Lautstärke. Daniel fragte sich, wie lange der Akku das wohl aushalten würde.

„Magst du?“ Hikmet hielt ihm Brot und Käse hin.

„Ja, danke.“ Von irgendetwas musste er ja in den nächsten Wochen leben, da war es besser, sich gleich daran zu gewöhnen. Der Käse schmeckte scharf und trocken.

Vicki kam mit Balu an ihrer Seite zu ihnen herüber geschlendert. Wenn sie Pech hatten, wollte sie sich jetzt tatsächlich mit ihnen unterhalten. Daniel schaute sich nach einem Fluchtweg um, aber Hikmet kam ihm zuvor.

„Gib den Hund ins Auto“, sagte er.

Vicki starrte ihn verständnislos an. „Wieso denn das?“

„Das ist ein Frühstück für Menschen, nicht für Hunde.“ Hikmet runzelte die Stirn und wich zurück. Balu setzte ihm nach, hechelnd und wedelnd.

„Gib den Hund weg!“, rief Hikmet. Seine Augen flackerten.

Daniel grinste. „Hast du Angst vor Hunden?“, fragte er.

„Er ist doch ganz lieb“, sagte Vicki. „Du kannst ihn auch streicheln!“

Wie zum Beweis schob sie Balu auf Hikmet zu. Der schnaubte empört.

„Weiß er das auch selbst, wie lieb er ist?“

„Du kannst ihn streicheln“, wiederholte Vicki, als wollte sie ihn hypnotisieren. Mit der Hand auf Balus Halsband ging sie auf Hikmet zu.