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Die phantastische Erbschaft der sagenhaften Begum müssen sich zwei Männer teilen, ein Franzose und ein Deutscher. Während der Franzose damit eine vorbildliche Industriestadt errichtet, baut der Deutsche eine waffenstarrende Stadt: Stahlstadt, von der aus er die ganze Welt erobern - und die Stadt des Franzosen als erste vernichten will. Ist dieser größenwahnsinnige Erfinder zu stoppen? Eine unglaublich große und leistungsstarke Kanone ist bereits fertig und wird auf France-Ville ausgerichtet...
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Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jules Verne
Die 500 Millionen der Begum
Weitere Bände der Reihe sind lieferbar, sowohl als kleinformatige Taschenbuchausgaben, als eBooks wie auch als Paperback-Bände, die die Illustrationen enthalten und im Format A 5 erscheinen.
Jules Verne
Die 500 Millionen
der Begum
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
In dem Roman werden Ausdrücke verwendet, die heute nicht mehr üblich sind. Sie wurden jedoch beibehalten um den Stil der Zeit zu bewahren.
Texte: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald nach der Ausgabe des Hartleben-Verlages 1880 und der von mir betreuten Taschenbuchausgabe im Pawlak-Verlag 1984 durchgesehen und korrigiert
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by
Thomas Ostwald
Edition Corsar
Dagmar u. Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Erstes Kapitel. In dem Mr. Sharp sich bei dem Leser einführt.
»Diese englischen Zeitungen leisten doch wirklich alles Mögliche!«, sprach der wackere Doktor so für sich hin, während er sich's in dem großen, lederüberzogenen Lehnstuhl bequem machte. Doktor Sarrasin liebte den Monolog von jeher als eine Art Zerstreuung.
Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit feinen Zügen, lebhaften, durch die Stahlbrille hervorblitzenden Augen und ernster, doch liebenswürdiger Physiognomie, kurz, er gehörte zu den Leuten, bei deren erstem Anblick man sich sagt: Das ist ein braver Mann. Auch in heutiger früher Morgenstunde zeigte sich der Doktor, ohne dass seine Erscheinung etwas Gesuchtes verriet, schon frisch rasiert und mit blendend weißer Krawatte.
In seinem Hotelzimmer zu Brighton lagen da und dort die »Times«, der »Daily Telegraph« und die »Daily News« ausgebreitet. Es schlug eben zehn Uhr, doch hatte der Doktor schon Zeit gefunden, einen Weg in die Stadt zu machen, ein Krankenhaus zu besuchen und, nach seinem Hotel zurückgekehrt, in den wichtigsten Tagesblättern Londons den ausführlichen Bericht über eine Denkschrift zu lesen, die er erst vorgestern dem großen internationalen hygienischen Kongress vorgelegt hatte und welche einen von ihm erfundenen »Blutkügelchen-Zähler« betraf.
Auf einem mit sauberer Serviette überdeckten Teebrett standen vor ihm ein schwach gebratenes Kotelette, eine Tasse dampfenden Tees und mehrere delikate Röstschnittchen, welche die englischen Köchinnen so vorzüglich zubereiten, weil ihnen die Bäcker dazu eine besondere Sorte kleiner Brote liefern.
»Ja, ja«, wiederholte er, »die Zeitungen des Vereinigten Königreichs leisten wirklich alles Mögliche, das ist nicht zu leugnen! . . . Der Speech des Vizepräsidenten, die Antwort des Doktor Cigogna aus Neapel, die Darlegung aus meiner Denkschrift – Alles ist im Fluge, auf frischer Tat erfasst, fotografiert möcht' ich's nennen.
– Doktor Sarrasin aus Douai hat das Wort. Das ehrenwerte Mitglied des Kongresses spricht französisch. ›Die verehrten Zuhörer werden entschuldigen,‹ beginnt er, ›dass ich mir diese Freiheit nehme; Sie verstehen aber jedenfalls alle meine Muttersprache besser, als ich mich in der ihrigen auszudrücken vermöchte . . .‹
– Fünf Spalten kleiner Schrift! . . . Ich weiß nicht, ob der Bericht der ›Times‹ den Vorzug verdient, oder der im ›Telegraph‹ . . . . zuverlässiger und eingehender kann man eben nicht referieren! . . .«
Hier stand Doktor Sarrasin eben in seinem Gedankengang, als der Zeremonienmeister in höchsteigener Person – einen geringeren Titel würde man der untadelhaft schwarzgekleideten Persönlichkeit kaum beizulegen wagen – an die Tür klopfte und anfragte, ob »Monsiou« zu sprechen sei . . .
»Monsiou« ist eine beliebte Allgemeinbezeichnung bei den Engländern, welche sie instinktiv allen Franzosen gegenüber gebrauchen, so wie sie gegen alle Regeln des Anstandes zu verstoßen fürchten würden, wenn sie einen Italiener nicht mit »Signor« und einen Deutschen nicht mit »Herr« anredeten. Gewiss hat diese durchgängig eingebürgerte Gewohnheit mindestens den Vorteil, die Nationalität der Leute gleich von vornherein kenntlich zu machen.
Doktor Sarrasin hatte die ihm überreichte Karte in der Hand. Erstaunte er überhaupt schon darüber, in einem Land, wo er keinen Menschen kannte, Besuch zu erhalten, so war das noch mehr der Fall, als er auf dem kleinen, länglichviereckigen Kärtchen las:
»Mr. Sharp, Sollicitor, 93 Southampton row, London,«
Er wusste, dass ein »Sollicitor« der einheimische englische Anwalt war, oder vielmehr ein Bastard-Rechtsbeflissener, ein Zwischending zwischen Kanzleianwalt und Advokat, etwa der frühere Prokurator.
»Was zum Teufel kann ich mit diesem Mr. Sharp zu schaffen haben?«, fragte er sich selbst. »Sollte ich mich unbewussterweise vergangen haben? . . . Sind Sie sicher, dass diese Karte mir gilt?«
»O, yes, Monsiou.«
»Gut, lassen Sie den Herrn eintreten.«
Der Zeremonienmeister öffnete die Tür einem noch jungen Mann, den der Doktor auf den ersten Blick als Angehörigen der großen Familie der »Totenköpfe« erkannte. Seine dünnen, oder vielmehr vertrockneten Lippen, die langen weißen Zähne, die unter der pergamentartig durchschimmernden Haut fast offen liegenden Schläfengruben, der mumienhafte Teint und die kleinen Augen mit ihrem wahrhaft stechenden Blick versetzten ihn unzweifelhaft in die Klasse jener, uns immer etwas abstoßenden Erscheinungen. Sein Skelett verbarg sich von den Fersen bis zum Hinterhaupt unter einem großkarierten Überrock und in der Hand trug er eine Reisetasche von lackiertem Leder.
Diese Person trat ins Zimmer, grüßte flüchtig, legte Reisetasche und Hut ab, setzte sich, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und sagte: »William Henry Sharp junior, Associé des Hauses Billows, Green, Sharp & Comp . . . Ich habe doch die Ehre, Herrn Doktor Sarrasin . . .«
»Gewiss, mein Herr.«
»François Sarrasin?«
»Das ist mein Name.«
»Aus Douai?«
»Mein gewöhnlicher Aufenthaltsort.«
»Ihr Vater hieß Isidore Sarrasin?«
»Ganz richtig.«
»Wir gehen also davon aus, dass er Isidore Sarrasin hieß.«
Mr. Sharp zog ein Notizbuch aus der Tasche und fuhr fort: »Isidore Sarrasin, gestorben zu Paris im Jahre 1857, 6. Arrondissement, Rue Taranne Nr. 54, Hotel des Ecoles, jetzt abgebrochen.«
»Alles in Ordnung«, bestätigte der Doktor mit wachsendem Erstaunen. »Würden Sie mir nun erklären . . .«
»Seine Mutter hieß Julie Langevol«, fuhr Mr. Sharp unbeirrt fort. »Sie stammte aus Bar-le-Duc, war eine Tochter von Benedict Langevol, wohnhaft in der Sackgasse Loriol, gestorben 1812, wie aus den amtlichen Registern genannter Stadt hervorgeht – diese Register sind eine höchst schätzbare Einrichtung, mein Herr, eine ungemein unschätzbare – Hm! . . . Hm! . . . und Schwester von Jean Jacques Langevol, Tambourmajor des 36. leichten . . .«
»Ich gestehe Ihnen«, fiel hier der über diese umfassende Kenntnis seiner Genealogie verwunderte Doktor ein, »dass Sie über verschiedene Punkte besser unterrichtet scheinen, als ich es selbst bin. Wirklich lautete meiner Großmutter Familienname Langevol, das ist aber auch alles, was ich von ihr weiß.«
»Sie verließ Bar-le-Duc im Jahre 1807 mit Ihrem Großvater Jean Sarrasin, den sie schon 1799 geheiratet hatte. Beide wandten sich zur Etablierung eines Klempnergeschäftes nach Melun und verblieben dort bis 1811, in welchem Jahr Julie Langevol, verehelichte Sarrasin, mit Tod abging. Ihrer Ehe entstammte nur ein einziges Kind, Isidore Sarrasin, Ihr Vater, mein Herr. Von hier ab weiß man nun nichts Weiteres, bis auf den Todestag des Letzteren, der in Paris wieder auftauchte . . .«
»Den verlorenen Faden bin ich aber imstande, wieder anzuknüpfen«, sagte der Doktor, den diese wirklich mathematische Genauigkeit wider Willen mehr und mehr fesselte. »Mein Großvater etablierte sich später in Paris, um sich die Erziehung seines Sohnes, der medizinischen Studien oblag, zu erleichtern. Er starb im Jahre 1832 in Palaiseau bei Versailles, woselbst mein Vater praktizierte und ich selbst 1822 geboren wurde.«
»Sie sind mein Mann«, erklärte Mr. Sharp. »Keine Brüder oder Schwestern? . . .«
»Nein. Ich war und blieb der einzige Sohn und meine Mutter starb schon, als ich erst zwei Jahre zählte. Doch werden Sie mir endlich mittheilen, mein Herr, wozu das . . .«
Mr. Sharp erhob sich.
»Sir Bryah Jowahir Mothooranath«, sagte er, diese Worte mit all' dem Respekt aussprechend, den jeder Engländer gegenüber vornehmen Titeln beobachtet, »ich schätze mich glücklich, Sie gefunden zu haben und als der Erste Ihnen meine Huldigung darzubringen.«
»Der Mann ist von Sinnen«, dachte der Doktor, »kommt ja bei ›Totenköpfen‹ häufiger vor.«
Der Sollicitor erriet seinen Gedanken. »Halten Sie mich um alles in der Welt nicht etwa für geisteskrank«, sagte er sehr ruhig. »Zur Stunde sind Sie der einzige bekannte Erbe des Baronet-Titels, welcher auf Vorschlag des Generals-Gouverneurs einst Jean Jacques Langevol verliehen wurde, der 1819 in den englischen Untertanenverband eintrat und später Witwer und Nutznießer der Besitzungen der Begum (Ehrentitel der indischen Fürstinnen) Gokool war, welche 1841 starb und nur einen Sohn hinterließ, der als Idiot ohne Nachkommen und ohne Testament im Jahre 1869 verschied. Die Nachlassenschaft betrug vor dreißig Jahren schon gegen fünf Millionen Pfund Sterling. Sie ward unter vormundschaftliches Sequester gestellt und während der Lebenszeit des schwachsinnigen Sohnes Jean Jacques Langevol's fast durch die vollen Zinsenerträgnisse vermehrt. Im Jahre 1870 berechnete sich jene Verlassenschaft auf rund einundzwanzig Millionen Pfund Sterling oder fünfhundertfünfundzwanzig Millionen Francs. In Ausführung einer Entscheidung des Gerichtes in Agra, welche die höhere Instanz in Delhi und zuletzt auch der Geheime Rat des Reiches bestätigte, wurden die beweglichen und unbeweglichen Güter des Erblassers veräußert, der Ertrag des Verkaufes eingezogen und das Ganze bei der Bank von England deponiert. Jetzt liegen daselbst fünfhundertsiebenundzwanzig Millionen Francs, die Sie durch eine einfache Anweisung erheben können, sobald Sie dem Kanzleramt die Beweise Ihrer Abstammung beigebracht haben und auf welche Summe ich mich schon hiermit erbiete, Ihnen bei der Bankfirma Trollop, Smith und Compagnie einen Vorschuss in jeder beliebigen Höhe . . .«
Doktor Sarrasin war versteinert. Eine kurze Zeit lang vermochte er keine Worte zu finden. Dann erwachte aber doch der Geist des Zweifels wieder in seinem Innern, und da er diese Verwirklichung eines Traumbildes aus »Tausend und eine Nacht«, nicht so ohne Weiteres anerkennen wollte, sagte er: »Ja, mein Herr, welche Beweise können Sie mir beibringen für die Wahrheit dieser ganzen Geschichte, und wie sind Sie auf meine Spur gekommen?«
»Die Beweisstücke befinden sich hier«, erwiderte Mr. Sharp, auf die Glanzledertasche klopfend. »Dass ich Sie jetzt auffand, ging sehr einfach zu. Eigentlich suche ich Sie schon seit fünf Jahren. Die Auskundschaftung der Berechtigten, der ›next of kin‹, wie das englische Recht sich ausdrückt, für die vielen unbeanspruchten Nachlassenschaften, welche die Gerichte in den britischen Besitzungen in Verwaltung nehmen, ist eine Spezialität unseres Hauses. Gerade die Erbschaft der Begum Gokool hält uns nun schon seit einem ganzem Lustrum in Atem. Wir streckten unsere Fühlhörner nach allen Seiten hin aus und stellten Nachforschungen über mehr als hundert Familien Sarrasin an, ohne darunter eine zu finden, welche von jenem Isidore herstammte. Ich beruhigte mich schon mit der Überzeugung, dass es einen Sarrasin in Frankreich nicht mehr gäbe, als ich gestern morgens bei der Durchlesung der ›Daily News‹ den Bericht von dem hiesigen hygienischen Kongress und darin den Namen eines Arztes fand, den ich noch nicht kannte. Sofort nahm ich meine eigenen Notizen vor, verglich sie mit den Tausenden von Schriftstücken, die wir bezüglich dieser Angelegenheit aufgesammelt haben, und erkannte daraus zur größten Verwunderung, dass die Stadt Douai unserer Aufmerksamkeit entgangen war. In dem beinahe sicheren Bewusstsein, hiermit die richtige Spur entdeckt zu haben, benutzte ich den ersten Zug nach Brighton, sah Sie selbst beim Verlassen des Kongresses und – meine Ahnung war erfüllt. Sie sind das lebendige Ebenbild Ihres Großvaters Langevol, wie ihn eine in unserem Besitz befindliche, nach einem Ölbilde des indischen Malers Saranoni angefertigte Fotografie darstellt.«
Mr. Sharp nahm eine Photographie aus seinem Notizbuch und übergab sie Doktor Sarrasin. Das Bild zeigte einen hochgewachsenen Mann mit prächtigem Bart, einen Turban mit flimmernder Aigrette und einem grün verbrämten Brokatrock in der beliebten Haltung der historischen Porträts eines kommandierenden Generals, der den Befehl zu einem Angriff ausfertigt, während sein Auge auf das des Beschauers gerichtet ist. Den Hintergrund bildete die Andeutung des Gewühls einer Schlacht und einer Reiter-Attacke.
»Diese Schriftstücke werden Ihnen mehr sagen als ich«, nahm Mr. Sharp wieder das Wort. »Ich lasse dieselben jetzt in Ihren Händen und komme mit Ihrer Erlaubnis nach zwei Stunden wieder, Ihre Aufträge entgegenzunehmen.«
Mit diesen Worten entnahm Mr. Sharp seiner Reisetasche sechs bis sieben teils gedruckte, teils geschriebene Aktienpakete, legte dieselben auf den Tisch nieder und näherte sich rückwärts schreitend, langsam der Tür.
»Sir Bryah Iowahir Mothooranath, ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Halb vertrauend und halb zweifelnd ergriff der Doktor die Aktenhefte und begann, sie zu durchblättern. Schon eine flüchtige Prüfung genügte, ihn zu überzeugen, dass die Sache in Ordnung und jeder Zweifel unbegründet sei, gegenüber so vollwichtigen Dokumenten wie dem folgenden:
»Bericht an die hochehrwürdigen Lords des Geheimen Rates der Königin, deponiert am 5. Januar 1870, betreffend die unbeanspruchte Nachlassenschaft der Begum Gokool von Ragginahra, Provinz Bengalen.
»Tatbestand, – Es handelt sich um das Eigentumsrecht mehrerer Mehals und 43.000 Bengales Ackerlandes, verschiedener Gebäude, Paläste, Wirtschaftshöfe, Mobilien, Kapitalien, Waffen u. s. w. u. s. w., welche aus der Nachlassenschaft der Begum Gokool von Nagginahra herrühren. Aus mehrfachen, dem Zivilgericht in Agra und dem Appellations-Gericht in Delhi unterbreiteten Darlegungen geht hervor, dass die Begum Gokool, Witwe des Rajah Luckmissur und Erbin höchst umfangreicher Besitzungen, im Jahre 1819 einen Ausländer, einen Franzosen von Geburt, namens Jean Jacques Langevol ehelichte. Dieser Ausländer diente mit dem Grad eines Unteroffiziers (Tambour-Majors) bis 1815 im 36. Infanterie-Regiment der französischen Armee und schiffte sich, als die sogenannte Loire-Armee damals aufgelöst wurde, in Nantes als Faktor eines Kauffahrers ein. Er langte in Calcutta an, begab sich in das Innere des Landes und erhielt bald die Stelle eines Instruktions-Hauptmanns der kleinen Armee von Eingebornen, welche der Rajah Luckmissur zu halten berechtigt war. In kurzer Zeit avancierte er zum Oberbefehlshaber derselben und erhielt, bald nach dem Tod des Rajah, auch die Hand von dessen Witwe. Aus Rücksichten der Kolonialpolitik und in Anbetracht der wichtigen Dienste, welche Jean Jacques Langevol den Europäern in Agra unter misslichen Verhältnissen erwiesen, sah sich der Generalgouverneur der Präsidentschaft Bengalen veranlasst, für den Gemahl der Begum den Baronetstitel zu erbitten, der ihm auch zugestanden wurde. Das Gebiet von Bryah Jowahir Mothooranath wurde infolgedessen zum Lehn erhoben. Die Begum verstarb im Jahre 1839 und hinterließ die Nutznießung aller ihrer Besitzungen an Langevol, der ihr zwei Jahre später ins Grab nachfolgte. Ihrer Ehe entspross nur ein einziger, von Kindheit auf schwachsinniger Sohn, der sofort unter obrigkeitliche Vormundschaft gestellt werden musste. Bis zu seinem im Jahr 1869 erfolgten Tod wurden dessen Güter u. s. w. getreulich administriert. Jetzt existieren für die ungeheure Nachlassenschaft keine bekannten Erben. Da das Gericht von Agra und der Appellationshof in Delhi auf Ansuchen der Lokalbehörden im Namen des Staates die Licitation dieses Nachlasses verfügt haben, geben wir uns die Ehre, die Lords des Geheimen Rates um ihre Bestätigung der beabsichtigten Maßnahmen zu ersuchen u. s. w. u. s. w.«
Folgen die Unterschriften.
Die beglaubigten Kopien der Gerichtsbescheide aus Agra und Delhi, die Verkaufsakten, Duplikate der Depositenscheine der Bank von England, ein Bericht über die in Frankreich getanen Schritte zur Auffindung der Erben Langevol's, nebst einer großen Menge auf dieselbe Sache bezüglicher Dokumente verscheuchten auch Doktor Sarrasin's letzte Zweifel. Er war nach Gesetz und Recht der »next of kin« und Erbe der Begum. Zwischen ihm und den in den Kellern der Bank von England deponierten 527 Millionen lag nur noch die Erfüllung gewisser Formalitäten, die einfache Herbeischaffung der beglaubigten Geburts- und Totenscheine.
Ein so unerhörter Glücksfall bringt ja wohl auch das ruhigste Gemüt etwas in Aufregung und auch der gute Doktor konnte sich derselben, gegenüber dieser unerwarteten Gewissheit, nicht völlig erwehren. Jedenfalls hielt seine Erregung jedoch nicht lange an und machte sich nur in einer kurzen Promenade durch das Zimmer Luft. Dann gewann er wieder die vollkommene Herrschaft über sich, tadelte jenes vorübergehende Fieber als eine seiner unwürdige Schwäche, warf sich in einen Lehnstuhl und versank eine Zeit lang in tiefes Nachsinnen.
Hierauf schritt er nochmals im Zimmer auf und ab. Jetzt leuchteten seine Augen, aber in reinerem Feuer, man sah, dass sich aus seinem Inneren ein großer edelmütiger Gedanke emporrang. Er erkannte ihn, überlegte, pflegte ihn mit Liebe und adoptierte ihn zuletzt.
Eben klopfte es an der Tür, Mr. Sharp kehrte zurück.
»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen meines Zweifels«, redete ihn der Doktor vertraulich an. »Jetzt bin ich überzeugt und danke Ihnen vorläufig tausendmal für Ihre gehabte Mühe.«
»Bitte, bitte . . . ein einfaches Geschäft . . . mein Metier . . .«, antwortete Mr. Sharp. »Darf ich hoffen, dass mir Sir Bryah sein wertes Vertrauen zuwenden wird?«
»Das versteht sich von selbst. Ich lege die ganze Sache in Ihre Hände . . . nur darum bitte ich: Verschonen Sie mich mit jenem lächerlichen Titel . . .«
Lächerlich! Ein Titel im Wert von einundzwanzig Millionen Pfund Sterling!, sagten etwa die Gesichtszüge des Mr. Sharp, der aber viel zu sehr Hofmann war, um nicht sofort nachzugeben.
»Wie es Ihnen beliebt, Sie haben zu befehlen«, antwortete er mit einer Verbeugung. »Ich werde also wieder nach London zurückfahren und erwarte Ihre weitere Entschließung.«
»Darf ich diese Aktenstücke behalten?«, fragte der Doktor.
»Gewiss, wir besitzen davon Duplikate.«
Als Doktor Sarrasin allein war, begab er sich nach dem Schreibtisch, nahm ein Stück Briefpapier und schrieb wie folgt:
»Brighton, am 28. Oktober 1871.
Mein lieber Sohn! Es ist uns plötzlich ein enormes, ungeheures, übergroßes Vermögen zugefallen! Halte mich nicht etwa für geistig gestört, sondern lies zunächst die gedruckten Aktenstücke, welche ich diesem Brief beilege. Du wirst daraus ersehen, dass ich Erbe des Titels eines englischen oder vielmehr indischen Baronets und eines, jetzt bei der Bank von England deponierten Kapitals von mehr als einer halben Milliarde Francs bin. Ich weiß schon im Voraus, mein lieber Octave, mit welchen Empfindungen Du diese unerwartete Nachricht aufnimmst. Du wirst, gleich mir, einsehen, dass solche Schätze uns ganz andere Pflichten auferlegen, und die Gefahren begreifen, die sie uns wegen ihrer Verwendung bereiten können. Kaum eine Stunde mit dem Sachverhalt bekannt, erstickt mir doch die Sorge um eine derartige Verantwortlichkeit schon halb die Freude, welche mir derselbe zuerst um Deinetwillen bereitet hatte. Vielleicht wirkt dieser Glückswechsel gar ungünstig auf unser späteres Schicksal ein? . . . Als bescheidene Pioniere der Wissenschaft fühlten wir uns in der Verborgenheit glücklich. Wird das so bleiben? Nein, vielleicht; doch ich will jetzt einen in mir aufgestiegenen Gedanken noch unterdrücken – wenn jenes uns zugefallene Vermögen zu einem neuen mächtigen, wissenschaftlichen Hilfsmittel, zu einem fruchtbringenden Werkzeug der Zivilisation würde . . . Doch davon sprechen wir später. Schreib' mir und sag' mir schnell, welchen Eindruck diese hochwichtige Neuigkeit auf Dich gemacht und sorge, dass auch Deine Mutter davon erfährt. Ich hoffe, dass sie als verständige Frau diese Nachricht mit Ruhe und Gelassenheit aufnimmt. Deine Schwester ist noch zu jung, als dass ihr irgendetwas Derartiges das Köpfchen verwirren könnte. Freilich ist sie schon recht verständig; doch auch wenn sie sich alle möglichen Folgen der Dir übermittelten Nachricht zu vergegenwärtigen vermöchte, bin ich doch der Überzeugung, dass sie durch diesen plötzlichen Wechsel unserer Verhältnisse am wenigsten berührt würde. Einen Händedruck unserem lieben Marcel. Er ist bei keinem meiner Zukunftspläne vergessen.
Dein wohlgewogener VaterDr. Fr. Sarrasin.«
Nachdem er diesen Brief mit den wichtigsten Dokumenten in ein Couvert gesteckt und dieses mit der Aufschrift »Herrn Octave Sarrasin, Studierender an der Zentralschule für Künste und Gewerke, 32, Rue du Roi-de-Sicile, Paris« versehen, nahm der Doktor seinen Hut, legte den Überrock an und begab sich zum Kongress. Eine Viertelstunde später dachte der brave Mann nicht im Geringsten mehr an seine Millionen.
Zweites Kapitel. Zwei Stubenburschen.
Octave Sarrasin, der Sohn des Doktors, gehörte nicht geradezu unter die Faullenzer. Er war weder dumm noch gescheit, weder schön noch hässlich, weder blond noch braun und überhaupt ein Muster von Mittelmäßigkeit nach allen Seiten. Im Kolleg errang er sich gewöhnlich einen zweiten Preis und zwei oder drei Accessits. Beim Baccalaureats-Examen lautete seine Zensur »leidlich«. Einmal bei der École Zentrale abgewiesen, wurde er bei einer zweiten Prüfung mit Nummer hundertsiebenzwanzig aufgenommen. Er war einer jener unentschiedenen Charaktere, einer der Geister, die sich schon mit einer unvollständigen Sicherheit zufrieden geben, die mit dem »Ungefähr« auf vertrautem Fuße stehen und durchs Leben wandeln wie ein Mondstrahl. In der Hand des Schicksals gleichen diese Leute dem Korkpfropfen auf dem Wellenkamm, je nachdem der Wind von Norden oder Süden weht, werden sie nach dem Pol oder dem Äquator hineingetrieben. Ihre Laufbahn entscheidet nur der Zufall. Hätte sich Doktor Sarrasin nicht selbst einigen Täuschungen über den Charakter seines Sohnes hingegeben, so würde er wahrscheinlich gezögert haben, ihm jenen Brief zu schreiben; ein wenig väterliche Verblendung ist jedoch auch den besten Köpfen nachgelassen.
Zum Glück verfiel Octave gleich im Anfang seiner höheren Ausbildung der Herrschaft einer energischen Natur, deren etwas tyrannischer, aber wohltätiger Einfluss sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte. Auf dem Lyceum Charlemagne, wohin ihn sein Vater zur Beendigung der Studien geschickt hatte, schloss Octave einen innigen Freundschaftsbund mit einem seiner Kameraden, einem Elsässer, Marcel Bruckmann, der zwar ein Jahr jünger war als er, physisch geistig und moralisch aber das entschiedenste Übergewicht über ihn behauptete. Der schon in seinem zwölften Jahre verwaiste Marcel Bruckmann besaß als Erbteil eine kleine Rente, welche gerade hinreichte, seine Kollegien zu bezahlen. Ohne Octave, der ihn während der Ferien zu seinen Eltern mitzunehmen pflegte, hätte er wohl niemals den Fuß außer den Mauern des Lyceum gesetzt.
Erklärlicherweise wurde Doktor Sarrasin's Familie bald auch die des jungen Elsässers. Trotz scheinbarer Kälte doch von tiefempfindsamer Natur, sagte ihm eine innere Stimme, dass er jenen braven Leuten, die ihm Vater- und Mutterstelle vertraten, sein ganzes Leben zu widmen habe. Es ging also ganz natürlich zu, dass er Doktor Sarrasin, dessen Gattin und deren hübsches und schon recht verständiges Töchterchen aufrichtig verehren lernte, doch gab er allen seine Erkenntlichkeit nicht durch Worte, sondern mehr durch die Tat kund. Er stellte sich nämlich die angenehme Aufgabe, aus Jeanne, welche viel Wissbegierde zeigte, ein junges Mädchen mit klarem Verstand, mit festem, urteilsfähigem Geist heranzubilden, und Octave gleichzeitig zu einem, seines Vaters würdigen Sohn zu erziehen. Die Erreichung dieser Ziele machte ihm der junge Mann allerdings weniger leicht als das junge Mädchen, die für ihr Alter dem Bruder offenbar überlegen war, Marcel hatte sich aber einmal in den Kopf gesetzt, seine Aufgabe nach beiden Seiten hin zu erfüllen.
Marcel Bruckmann gehörte zu den mannhaften und klugen Kämpen, welche Elsass-Lothringen alljährlich zu ihrer Erprobung in den Strudel des Pariser Lebens zu entsenden pflegte. Schon als Kind zeichnete er sich ebenso durch die Kraft und Geschmeidigkeit seiner Muskeln, wie durch seine hervorragenden geistigen Anlagen aus. Er war innerlich ebenso ganz willens- und tatkräftig, wie äußerlich ein Hüne von Gestalt. Von der Schule her beherrschte ihn stets das Bedürfnis, sich in allem auszuzeichnen, in der Arbeit wie beim Spiel, im Turnsaal wie im chemischen Laboratorium. Entging ihm ein Preis seiner jährlichen Ernte, so hielt er das Jahr für verloren. Mit zwanzig Jahren war er ein Riese an Körper, voller Leben und Tätigkeit, eine hochangespannte organische Maschine von größter Leistungsfähigkeit. Sein intelligenter Kopf erregte die Aufmerksamkeit feinerer Beobachter. Als Zweiter in die Zentralschule eingetreten, hatte er beschlossen, sie nur als Erster zu verlassen.
Nur seiner unbeugsamen und für zwei Menschen völlig ausreichenden Energie verdankte Octave überhaupt seine Zulassung. Im Laufe eines Jahres hatte ihn Marcel »gedrillt«, an strenge Arbeit, auch an das schöne Bewusstsein des Erfolges gewöhnt. Ihn beseelte für diese schwächliche, schwankende Natur ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids, ähnlich demjenigen, das ein Löwe etwa für einen jungen Hund haben kann. Es machte ihm Vergnügen, diese anämische Pflanze durch den Überschuss seines Lebenssaftes zu kräftigen und sie auch neben sich Früchte zeitigen zu lassen.
Der Krieg von 1870 überraschte die beiden Freunde, als sie eben mit Absolvierung ihres Examen beschäftigt waren. Sofort, nachdem der Unterricht unterbrochen worden, trat Marcel voll patriotischen Schmerzes über die Gefahren, welche Straßburg und Elsass bedrohten, in das einunddreißigste Bataillon der Jäger zu Fuß ein. Octave folgte seinem Beispiel. Schulter an Schulter standen beide Vorposten während der schrecklichen Belagerung von Paris. Bei Champigny erhielt Marcel eine Kugel in den rechten Arm, bei Buzeval eine Epaulette auf die linke Schulter. Octave besaß weder eine Auszeichnung noch eine Wunde. Gewiss lag dieser Mangel nicht an ihm, denn er wich auch im Feuer nie von seines Freundes Seite; kaum sechs Meter blieb er hinter jenem zurück; sechs Meter taten eben alles.
Nach dem Friedensschluss und der Wiederaufnahme der gewohnten Arbeiten bewohnten die Studierenden zwei benachbarte Zimmer in einem einfachen Haus in der Nähe des Kollegs. Das Unglück Frankreichs, der Verlust Elsass' und Lothringens hatten Marcel's Charakter die ganze Reife des Mannes aufgeprägt.
»Es ist die Aufgabe der französischen Jugend«, sagte er, »die Fehler ihrer Väter wieder gut zu machen, ein Ziel, das sie nur durch ernstliche Arbeit zu erreichen vermag.«
Um fünf Uhr stand er gewöhnlich auf und nötigte Octave ebenfalls dazu. Er geleitete ihn zum Unterricht und beim Spazierengehen und wich nie einen Fuß breit von seiner Seite. Nach Hause zurückgekehrt, ging es an die Arbeit, die wohl zuweilen durch eine Pfeife Tabak und eine Tasse Kaffee gewürzt wurde. Um zehn Uhr ging man zu Bett mit befriedigtem, wenn auch nicht zufriedenem Herzen und von geistiger Nahrung gesättigt. Von Zeit zu Zeit eine Partie Billard, ein gutes Schauspiel, in längeren Zwischenräumen ein Konzert des Konservatoriums, ein Ritt bis in den Wald von Verrières, ein Spaziergang unter den Bäumen, zweimal wöchentlich ein Wettkampf im Boxen und Fechten – das waren so die Zerstreuungen der beiden Freunde. Octave versuchte zwar manchmal, sich gegen diese Ordnung aufzulehnen und ließ seine Neigung zu weniger empfehlenswerten Vergnügungen durchschimmern. Er sprach davon, Aristide Leroux zu sehen, der in der Brauerei von St. Michel seinen Mann stellte. Marcel spottete aber so bitter über derartige Abweichungen, dass jener seine Lust meist unterdrückte.
Am 29. Oktober 1871 saßen die beiden Stubenburschen gegen sieben Uhr abends wie gewöhnlich an demselben Tisch unter dem Schirm einer gemeinschaftlichen Lampe. Marcel war mit Leib und Seele in ein Problem der deskriptiven Geometrie vertieft. Octave beschäftigte sich höchst aufmerksam mit der für ihn leider weit wichtigeren Herstellung einer Kanne Kaffee. Hierin zeichnete er sich mit Vorliebe aus, weil er damit täglich Gelegenheit fand, für einige Minuten der schrecklichen Notwendigkeit, verwirrte Gleichungen aufzulösen, eine der Aufgaben, die Marcel seiner Meinung nach gar zu häufig wiederholte, überhoben zu sein. Tropfen für Tropfen ließ er also das siedende Wasser durch eine dicke Schicht gemahlenen Mokkas sickern, ein stilles Vergnügen, das ihm volle Befriedigung gewährte. Wenn Marcels Fleiß ihm Gewissensbisse machte, so fühlte er stets das unwiderstehliche Bedürfnis, ihn wenigstens durch sein Geplauder einmal zu stören.
»Wir werden uns wohl einen ordentlichen Durchseiher anschaffen müssen«, sagte er plötzlich. »Dieser antike Filter steht wahrlich nicht auf der Höhe der Zivilisation.«
»So kauf' einen Durchseiher! Das wird mindestens dazu dienen, Dich nicht jeden Abend eine Stunde bei dieser Kocherei verspielen zu lassen!«, antwortete Marcel.
Wiederum wandte er sich seinem Problem zu.
»Ein Gewölbe hat als Intrados ein Ellipsoid mit drei ungleichen Winkeln, A, B, D, E sei die Grund-Ellipse, welche die größte Achse o A = a enthält, die mittlere Achse aber o B = b, während die kleinste Achse (o, o', o1) vertical und gleich c ist, wonach das Gewölbe ein gedrücktes darstellt . . .«
In diesem Augenblick klopfte es an die Türe.
»Ein Brief, Herr Octave Sarrasin!«, rief der Hausbursche herein.
Man kann sich denken, wie lieb dem jungen Studenten diese Abwechslung war.
»Der ist von meinem Vater, bemerkte Octave. Ich erkenne die Handschrift . . . Das nennt man doch wenigstens ein Sendschreiben!«, fügte er, das Papierpaket in der Hand wiegend, hinzu. Marcel wusste so wie er, dass der Doktor in England verweilte. Als er vor acht Tagen durch Paris kam, wurde seine Anwesenheit durch ein den beiden Kameraden gegebenes Mittagsmahl im Restaurant des Hotel-Royal gefeiert, das früher berühmt, jetzt aus der Mode gekommen ist, von Doktor Sarrasin aber noch immer als das Nonplusultra des Pariser Raffinements betrachtet wurde.
»Teile mir mit, was der Vater von dem hygienischen Kongress schreibt«, sagte Marcel. »Es war von ihm ein guter Gedanke, dahinzugehen. Die französischen Gelehrten verfallen zu leicht in den Fehler, sich zu isolieren.«
Marcel machte sich wieder an das Studium seines Problems.
». . . Die Extrados bestehen aus einem dem ersten ähnlichen Ellipsoid, das sein Centrum unter o1 der Verticale o haben möge. Nach Bezeichnung der Brennpunkte der drei Hauptellipsen F1, F2, F ziehen wir die Hilfsellipse und Hyperbel, deren gemeinschaftliche Achse . . .«
Da veranlasste ihn ein Schrei Octave's den Kopf zu erheben.
»Was gibt es denn?«, fragte er, etwas beunruhigt über das erbleichte Gesicht seines Freundes.
»Lies selbst!«, erwiderte dieser, der über die eben empfangene Nachricht ganz von Sinnen zu sein schien.
Marcel nahm den Brief, las ihn zu Ende, durchlas ihn noch einmal, warf einen Blick auf die ihn begleitenden Dokumente und sagte:
»Das ist merkwürdig!« -
Dann stopfte er seine Pfeife und setzte sie in aller Muße in Brand. Octave hing an seinen Lippen.
»Glaubst Du, dass das alles wahr ist«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Wahr? . . . Natürlich. Dein Vater hat einen viel zu klaren Verstand und wissenschaftlichen Geist, als dass er sich durch eine derartige Täuschung fangen ließe. Übrigens liegen ja die Beweise bei und die Sache ist im Grunde sehr einfach.«
Nachdem die Pfeife richtig in Ordnung gebracht war, ging Marcel aufs Neue an seine Arbeit. Octave stand mit schlotternden Armen dabei, unfähig, nur noch den Kaffee zustande zu bringen, viel weniger vermögend, einen logischen Gedanken zu erfassen. Er fühlte sich aber gedrängt zu sprechen, nur um sich zu überzeugen, dass er nicht träume.
»Aber . . . wenn das wahr ist, so stellt das alles auf den Kopf! . . . Weißt Du wohl, dass eine halbe Milliarde ein wahrhaft enormes Vermögen darstellt?«
Marcel erhob wie zur Bestätigung den Kopf.
»Enorm ist das richtige Wort. Es gibt vielleicht kein ähnliches in ganz Frankreich; man kennt nur wenig solche Vermögen in den Vereinigten Staaten und fünf oder sechs in England, fünfzehn oder zwanzig in der ganzen Welt.«
»Und ein Titel noch obendrein!«, rief Octave, »ein Baronets-Titel! Ich habe gewiss niemals darnach gestrebt, einen solchen zu besitzen, da sich dieser aber von selbst bietet, so muss man doch wohl zugestehen, dass er einen eleganteren Klang hat als der bloße Name Sarrasin.«
Marcel blies eine dicke Rauchwolke vor sich her, sagte aber kein Wort, Diese Wolken sagten ja deutlich genug: »Bah! . . . Bah!«
»Ich hätte es«, fuhr Octave fort, »gewiss nie so gemacht wie viele Menschen, welche ihrem ehrlichen Namen ein Partikelchen anhängen oder sich ein papierenes Marquisat erkaufen! Doch einen echten authentischen Titel zu besitzen, der völlig regelrecht in die ›Peerage‹ Großbritanniens und Irlands eingetragen ist, ohne dass darüber ein Zweifel oder Einspruch aufkommen kann, wie das sonst so häufig geschieht . . .«
Die Pfeife Marcel's wiederholte immer ihr »Bah . . . Bah!«
»Du magst nun dagegen sagen, was Du willst, mein Lieber«, fuhr Octave mit Wärme fort, »aber ›das Blut ist doch etwas Besonderes‹, wie die Engländer sagen.«
Er hielt vor dem spöttischen Blick Marcel's ein wenig ein und kam wieder auf seine Millionen zurück.
»Erinnerst Du Dich«, plauderte er weiter, »dass Binôme, unser Mathematik-Professor, in seiner ersten Stunde jedes Unterrichtsjahres regelmäßig wiederkäute, dass eine halbe Milliarde eine größere Zahl ist, als dass der menschliche Geist sich von ihr eine einigermaßen richtige Vorstellung zu machen imstande wäre, wenn man nicht die graphische Darstellung zu Hilfe nähme? . . . Du weißt wohl noch, dass ein Mann, selbst wenn er jede Minute einen Franc verausgabte, mehr als tausend Jahre brauchte, um mit jener Summe fertig zu werden. O, wahrhaftig . . . es ist doch ein eigentümliches Gefühl, sich zu sagen, dass man der Erbe einer halben Milliarde Francs ist!«
»Eine halbe Milliarde Francs«, wiederholte Marcel mehr erregt durch das Wort als die Sache selbst. »Weißt Du auch, was Ihr am besten damit anfangen könntet? Ihr solltet sie Frankreich schenken zur Bezahlung seiner Kriegsschulden! Das Vaterland brauchte nur zehnmal so viel! . . .«