Die Abendmutter - Alwin Meisberger - E-Book

Die Abendmutter E-Book

Alwin Meisberger

0,0

Beschreibung

Auf einer Fotoexkursion im sumpfigen Kitscher Bruch begegnet ihm an einem herbstlichen Nachmittag in der Dämmerung die gefürchtete Abendmutter Er hatte schon einiges über diese Spukgestalt gehört. Kinder, die sich noch abends in der Dämmerung im Dorf herumtreiben, nähme sie mit in ihr unheimliches Reich unten am Bach. Auch er muss sich ihrem magischen Zwang fügen , der ihn immer tiefer in das Sumpfgebiet bis hin zu einer morschen Bank führt. Dort erlebt er, wie sich die Spukgestalt in ein reizvolles junges Mädchen verwandelt , das ihn mit der Erzählung ihres leidvollen Schicksals stark berührt. Seid Jahrhunderten ist sie einem Fluch unterworfen, der sie einst als junge Frau traf und sie heute noch als fürchterliche Untote ihr Unwesen treiben lässt. Ihr ist es ein Rätsel, warum sie das alles erleiden muss…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 409

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Abendmutter - De Oavesmöön

Titel SeiteTitel

    Alwin und Bettina

Meisberger

Die Abendmutter

De Oavesmöön

Roman

„Mamm, darf ech buute spiele joan?  Wier welle en`t Böschke een Hüske bue“.

„Joa Kend, jank maar, evel jeav Bedrach,  deste heem bös, ier et düster wüed.  Du wetst joa, angesch schnoppt dech de Oavesmöön“!

„Mama darf ich nach draußen zum Spielen gehen?  Wir wollen im Wäldchen eine Hütte bauen“.

„Ja Kind, geh’ ruhig, aber pass’ auf,  dass du zu Hause bist, bevor es dunkel wird.  Du weißt ja, sonst holt dich die Abendmutter“!

Auf einer Fotoexkursion im sumpfigen Kitscher Bruch begegnet ihm an einem herbstlichen Nachmittag in der Dämmerung die gefürchtete  Abendmutter. Er hatte schon einiges über diese Spukgestalt gehört. Kinder, die sich noch abends in der Dämmerung im Dorf herumtreiben, nähme sie mit  in ihr unheimliches  Reich unten am Bach. Auch er muss sich ihrem magischen Zwang fügen , der ihn immer tiefer  in das Sumpfgebiet bis hin zu einer morschen Bank führt. Dort erlebt  er, wie sich die Spukgestalt in ein reizvolles  junges Mädchen verwandelt , das ihn mit ihrer Erzählung ihres leidvollen Schicksals stark berührt. Seid Jahrhunderten ist sie einem Fluch unterworfen, der sie einst als junge Frau traf und sie heute noch als fürchterliche Untote ihr Unwesen treiben lässt. Ihr ist es ein Rätsel, warum sie das alles erleiden muss…

Eine Übersetzung der Mundart, die Erläuterung der kursiv gestellten Begriffe sowie historische Fakten finden Sie in den Nachworten.Handlung und Personen der Erzählung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre wirklich rein zufällig.

Ausgewählt

Noch immer durchlebe ich ein Wechselbad aus Schauer, Bestürzung und Ekel, doch ebenso Faszination, wenn ich mich an die unglaubliche Begebenheit jenes frühen Abends erinnere, die sich, fast traumatisch, tief in mir verankert hat:

An einem wunderschönen sonnigen Oktobernachmittag war ich im Kitscher Bruch zum Fotografieren unterwegs. Dieses Sumpfgebiet mit naturbelassenen Biotopen und gepflegten Fischweihern wie dem „Peter-Müller-Park“ erstreckt sich entlang der holländischen Grenze zwischen Haaren und Karken.

Besonders im Herbst streife ich immer wieder gerne dort umher, wenn frühmorgens Tausende von Spinnweben, behaftet mit winzigen Tautröpfchen, wertvollen Perlenketten gleich, im aufgehenden Gegenlicht ein schillerndes Mosaik bilden. Oder – wenn wie jetzt – am Nachmittag diese Landschaft den herb würzigen Hauch des Vergänglichen ausatmet, wenn Blätter in allen warm leuchtenden Farben in schwerelosem Reigen zu Boden schweben, wenn Krähen ihre geheimnisvollen Botschaften mit heiserem Hals verkünden, die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne den Bildern einen bronzenen Glanz verleihen.

Jedes Mal, wenn ich den Auslöser der Kamera betätige, ist mir, als mache ich dieser Landschaft damit ein bewunderndes Kompliment. Mir ist bewusst, dass ich als hierhin Zugezogener die Gegend mit anderen Augen betrachte als die Menschen, die von hier stammen. Jene wundern sich, wenn sie hören, dass es mir hier im Flachland genauso gut gefällt wie in der hügeligen Landschaft meiner Heimat an der Mosel. Die Weite des hiesigen Landes verführt dazu, den Blick an den Horizont zu heften, um dann die Schönheit vor den eigenen Füßen zu übersehen. Der wahre Charakter dieser Gegend, und das macht ihren Reiz aus, wird einem erst beim zweiten Blick bewusst, wie bei einem liebenswürdigen, stillen Menschen, dessen gute Seele sich einem erst nach und nach erschließt.

Wenn man sich die Mühe macht und den bekannten Weg verlässt, wird man nicht selten mit einmaligen Eindrücken belohnt.

An diesem Tag hatte ich an einigen wilden Tümpeln Motive gefunden, von denen eine faszinierend marode Ausstrahlung ausging. Besonders gut waren mir Nahaufnahmen von winzigen jungen Pilzen auf glitzernden Moosen gelungen, die auf morschen umgeknickten Bäumen wuchsen, deren Äste wie Krakenarme aus den mit Entengrütze bedeckten Pfuhlen herausragten und sich an Land abstützten.

Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten, die Sonne versank langsam hinter kahlem Gehölz. Nur noch einzelne, blinzelnde Strahlen durchdrangen den Forst. Da das Licht für weitere Aufnahmen nicht mehr ausreichte, machte ich mich auf den Heimweg.

Die feuchte, herbstliche Kälte, die nun zunehmend den Platz der wärmenden Sonne einnahm und sich über den morastigen Boden legte, drang mir immer mehr durch die zu dünn gewählte Kleidung.

Deshalb wollte ich mich auf halber Strecke im gemütlichen „Café zur Klus“ etwas stärken. Eine Tasse Cappuccino würde mich wärmen, und auf ein Stück des weithin gerühmten hausgebackenen Kuchens freute ich mich ohnehin.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Ich war noch nicht weit gegangen, als mich ein unangenehmes Gefühl befiel.

Ich fühlte mich beobachtet.

Die gleiche Beklemmung hatte mich bereits an den vergangenen Tagen überkommen, wenn ich auf meinen Fotoexkursionen durch diesen Wald streifte. Aber jedes Mal hatte sie sich als unbegründet erwiesen.

Doch nun gewann ich zunehmend den Eindruck, dass heute etwas anders war als an den Tagen zuvor. Ich bemerkte mit einem Mal – und dies lies mich erschauern – eine Stille, als ob Mutter Natur den Atem angehalten hätte. Kein Vogel zwitscherte mehr, kein Windhauch bewegte die Zweige und kein einziges der dürren Blätter am Boden gab auch nur das leiseste Rascheln von sich, wenn ich einen vorsichtigen Schritt daraufsetzte. Als ob mir jemand die Ohren fest zuhielte, befand ich mich in einer lautlosen Umgebung. So beklemmend stellte ich mir die Ruhe in einem Grab vor.

Bald bemerkte ich einen dunklen Schatten im Gebüsch unweit vor mir. Da ich wusste, dass es hier Rehe und Wildschweine gab, aktivierte ich rasch doch noch einmal meine Kamera.

„Begibt sich das Wild wirklich so früh auf seinen Weg zur Äsung?“ fragte ich mich plötzlich heftig erschrocken, als in diese Stille hinein, irgendwo in meiner Nähe, laut krachend ein Ast abbrach. „Das muss ein kapitales Tier verursacht haben. Verhalten sich die Bewohner des Waldes normalerweise nicht weitaus leiser?“

Voller Spannung und Konzentration hielt ich die Kamera bereit – und die Luft an – um das Bild nicht zu verwackeln. Ich freute mich darauf, zum ersten Mal ein Foto von Wild in freier Natur zu schießen.

Aus dem Schatten des Gestrüpps löste sich dann wider Erwarten allmählich, eine hagere und, wie es mir schien, alte weibliche Gestalt mit wallendem, dunklem Umhang. In angespannter Erwartung, eines spektakulären Fotos, war ich zunächst enttäuscht; doch dies schlug bald in Faszination um, als ich fühlte, dass sie auf mich eine außergewöhnliche, aufregende, magische Kraft ausstrahlte.

Schnell zeigte sich, dass sie durch ihr vorheriges geräuschvolles Verhalten, das im Gegensatz zur völligen Stille der Umgebung gestanden hatte, absichtlich auf sich aufmerksam gemacht haben musste, denn sie bewegte sich jetzt anders als zuvor, wie schwebend in meine Richtung. Lange schmutzige fahlgraue Haare wehten strähnig um eine Kapuze, die sie sich tief in ihr Gesicht gezogen hatte. Unter dieser war zunächst nur ein kantiges, knochiges Kinn zu erkennen.

Mir schauerte. Hatte ich zuerst den Eindruck gewonnen, ihre Aufmerksamkeit gelte mir, schien sie sich jetzt wieder zu besinnen und eine andere Richtung einzuschlagen. Als sich daraufhin meine Anspannung löste, konzentrierte ich mich darauf, eine Aufnahme von ihr zu machen.

War das alles noch Realität? Dass man vom Genuss einiger Pilzarten Halluzinationen bekommen konnte, war mir durchaus bewusst.

Ich hatte einige Stockschwämmchen angefasst und daran gerochen. Hoffentlich hatte ich die Pilze nicht mit den Gifthäublingen verwechselt. Eine Verwechslungsgefahr bestand, aber konnten allein deren Ausdünstungen bei mir eine solche Wirkung entfalten?

Diese Gedanken gingen mir noch durch den Kopf, als die Alte sich plötzlich umwandte und flink auf mich zukam.

Eine solch behände Schnelligkeit hätte ich der betagten Gestalt nicht zugetraut.

Als sie mich in ihrer Reichweite wähnte, versuchte sie energisch, ihren vor Schmutz starrenden, nach kaltem Moder übel riechenden Mantel über mir auszubreiten.

Von starken Ekelgefühlen geschüttelt, schoss mir Adrenalin ins Blut, was besondere Kräfte in mir aktivierte, sodass ich mich ihrer erwehren konnte.

Dadurch hatte ich offenbar eine Art Prüfung bestanden, denn sie ließ sofort von mir ab und gab erleichtert zu, froh zu sein, über mich keine Macht zu haben. Ihre grelle Stimme ging mir dabei durch Mark und Bein. Vor einigen Tagen habe sie eines meiner Gespräche mit Wanderern belauscht, sagte sie. Dabei sei ihr mein fremdartiger Dialekt und eine gewisse Sensibilität aufgefallen. Weil ich kein Einheimischer sei, habe sie mich ausgewählt, denn sie habe Einiges richtig zu stellen, das ihr Wesen betreffe.

Hier Beheimatete wüssten von klein auf, dass sie die Abendmutter sei und die von frühester Jugend an tief empfundene Furcht vor ihr führe dazu, dass sie auch als Erwachsene ihrer Kraft erlagen.

Sehr zornig stieß sie hervor, dass sie noch niemals Kinder entführt habe, wie man es sich allerorts von ihr erzählte. Ihr ganzes Bestreben habe vielmehr dem Versuch gegolten, zu verhindern, dass andere Eltern das gleiche Schicksal erlitten, welches ihr selbst widerfahren sei. Es ärgere sie unendlich, dass man ihr so viel Böses angedichtet habe. Wegen des ihr entgegen gebrachten Respekts oder aus Angst vor ihr habe sie bis jetzt nie mit jemandem Kontakt aufnehmen können, um sich ihm anzuvertrauen.

Ich gab vor, nicht zu wissen, was es mit der Abendmutter auf sich habe. Sie erklärte mir, dass sie als Geist die Macht habe, alle Einheimischen mit einem Zauber zu belegen. Kleine Kinder jedoch bewahre sie davor, dass ihnen Böses geschehe. Allein durch ihre Erscheinung bekämen sie eine solche Angst, dass sie abends sofort nach Hause liefen. Das sei aber auch ganz in ihrem Sinne.

Daraufhin nahm sie mich an ihre kalte knochige Hand und führte mich immer tiefer in den unwegsamen Sumpf. War ich es – bis auf kurze Abstecher – gewohnt, auf befestigten Wegen dieses Gelände zu durchstreifen, verlor ich bald die Orientierung.

Es schien mir, als überwältige mich nun doch ihre magische Kraft. Ich fürchtete, sie werde mir etwas zuleide tun, denn ihr Verhalten machte es mir schwer zu glauben, dass sie so harmlos war, wie sie vorgab. Zeit meines Lebens hatte ich mich vor Geisterwesen gefürchtet, und ausgerechnet ich war nun dem Zauber dieser Kreatur ausgesetzt.

Sie führte mich schließlich zu einer alten, morschen Bank und bedeutete mir, neben sich Platz zu nehmen. Ich sah mich um. Dort, wo sie saß, war der einzige Fleck, der einigermaßen sauber war. Überall sah ich glitzernde Spinnweben. Taubendreck und ausgewürgtes Gewölle von Raubvögeln bedeckten den Platz, den ich einnehmen sollte. Hasenbohnen bildeten einen Teppich auf dem ansonsten festgetretenen Boden um die Bank herum. Außerdem hatte auf dieser Freifläche wohl ein Fuchs einen größeren Vogel erlegt. Unzählige Federn zeugten noch von diesem verzweifelten, ungleichen Kampf.

Ein Ringeltaubenpärchen saß, sich werbend angurrend, im Geäst eines der benachbarten Bäume. Ab und zu flatterten sie – die Flügel geräuschvoll aneinander klatschend – in gegenseitiger Verfolgung von Ast zu Ast.

Diesen Platz schien die Abendmutter als ihren Besitz zu beanspruchen.

Mit einigem Nachdruck, oder besser gesagt, durch einen gewissen magischen Zwang, forderte sie mich auf, ihre Geschichte anzuhören, um diese dann später niederzuschreiben.

Dies solle nicht zu meinem Schaden sein, beschwor sie mich huldvoll, sich trotzdem voll ihrer Macht bewusst. Es sei ihr sehr wichtig, klarzustellen, aus welchem Antrieb heraus sie gewirkt habe. Dann könne sie nach ihrem Ableben endlich Ruhe finden, und die Gewissheit haben, dass die Menschen, die sie seit Jahrhunderten beschützt habe, ein richtiges Bild von ihr hätten.

Verstand ich das richtig: Nach ihrem Tod? War sie denn als Geist, als der sie bekannt war, nicht längst tot? Obwohl sie sich hier in einigermaßen menschlicher Weise mit mir unterhielt, war sie doch, wie ich annahm, ein Wesen aus einer anderen, längst vergangenen Zeit.

Nachdem sie sich mehrmals geräuspert hatte, begann sie zu erzählen. Sie brabbelte einiges wirres Zeug, das sich mir zunächst nicht erschloss.

Ich machte mir bewusst, dass sie seit Langem keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Lebenden in Kontakt zu treten.

Obwohl sie zugegebener Maßen eine raue, krächzende Stimme hatte und mich mit ihrem widerlichen Gebaren eher abstieß, folgte ich wie hypnotisiert ihren Worten, die, wie aus einer anderen höheren Dimension in mich einströmten. Nur langsam konnte ich ihre Sprache mit meinem Denken in Einklang bringen. Ich hatte etwas Zeit gebraucht sie zu verstehen, denn sie erzählte in dem alten Dialekt, den man hier vor Urzeiten sprach und teilweise heute noch spricht. Es war schwer für mich, mich zu konzentrieren, denn gleichzeitig versank ich in Erinnerungen an die Geister meiner Jugend, ohne die wir die Gefahren ungesicherter Gebiete, steiler Abhänge und tiefer Moselfluten nicht unbeschadet überstanden hätten.

Erinnerungen

Es ist mir, als blicke ich zurück in ein früheres Leben. Aufgewachsen in Ensch – einem kleinen beschaulichen Ort im Tal der träge dahin fließenden Mosel, eingebettet von an steilen Schieferhängen angelegten Weinbergen, fruchtbaren Äckern und tiefen Wäldern auf den Hochebenen – waren meine Geschwister und ich von frühester Kindheit an in die Arbeit in den Weinbergen und auf den Feldern des elterlichen Betriebs eingebunden.

Christliche Traditionen und alte Sagen existierten nebeneinander ohne sich etwas anzuhaben und halfen dabei, den Alltag zu ordnen.

So orientierte sich die Arbeitsfolge über das Jahr gesehen an Namenstagen und kirchlichen Feiertagen während das Tagwerk sich nach dem Glockenschlag richtete. Früh, mittags und abends wurde zum Angelusgebet gerufen. Zu Mittag wurde eine halbe Stunde vor zwölf Uhr geläutet, sodass man vom Weinberg oder Feld noch pünktlich an den Mittagstisch kommen konnte. Und das Abendläuten forderte schließlich dazu auf, Arbeit und Spiel einzustellen.

Für den Tagesverlauf vertrauten die Eltern uns Kinder dem Schutzengel an, der auf uns achten sollte. Sein Schutz wurde morgens erbeten, und abends wurde ihm für seine Hilfe gedankt.

Daneben halfen Geister und Elfen dabei, uns vor Dummheiten zu bewahren, denn sie herrschten überall dort, wo es gefährlich werden konnte. Da wir uns unter diesen Wesen nichts Konkretes vorstellen konnten, trauten wir uns nicht in deren Einflussbereiche.

Dieses „Wissen“ hatten wir von unserer Großmutter, die bei uns wohnte.

Des abends kam eine Freundin meiner Großmutter zu Besuch. Dann saßen beide in der dunklen Küche. Sie machten kein Licht um Strom zu sparen. Durch die gusseisernen Ringe des Herdes flackerte das Holzfeuer und warf magische Kreise an die gegenüberliegende Wand und an die Decke. Wenn ich den Erzählungen der beiden alten Damen lauschte, wurde ich in eine andere längst vergangene und geheimnisvolle Zeit versetzt…

Neben Anekdoten aus dem Dorf und Jugendstreichen machten auch Geistergeschichten die Runde. Diese fesselten mich besonders. So erfuhr ich beispielsweise, dass der Bruder meines Großvaters noch im hohen Alter größten „Respekt“ vor einem einheimischen Geist hatte. Sonntagabends, nach dem wöchentlichen Besuch bei meinem Großvater mit zu viel Viez, traute sich dieser Onkel aus dem Nachbarort Bekond nicht alleine nach Hause. Denn sein Weg zurück führte durch das enge, dunkle Kalbachtal, wo auf dem oberhalb liegenden Berg das trickreiche Rudemsmännchen unruhig sein hinterlistiges Unwesen trieb. Dieses, so nahm er an, war – besonders gegenüber Zechern – zu allem fähig. Und deshalb musste mein Großvater den Ängstlichen immer bis ans Ende des Tals begleiten.

Wenn doch selbst die Erwachsenen die Geister fürchteten, mussten wir Kinder uns dann nicht besonders vor ihnen in acht nehmen?

Wir hatten als Kinder bestimmt mehr Freiheiten als die Jugend heute, durften wir doch überall, im Dorf oder im Wald, spielen. Wir mussten immer nach Hause kommen, wenn abends die Betglocke läutete. Folgte man dieser Aufforderung nicht, so wurde uns erzählt, könnte es passieren, dass man nicht mehr nach Hause fand. Wir wussten nur zu gut, dass der „Stänmaier“, der Steinmeier, am Abend die gepflasterten Straßen aufreißt und die Wege erst am nächsten Morgen wieder ebnet, sodass man draußen in der gespenstischen Dunkelheit hätte übernachten müssen.

Weiterhin sollte in der damals sehr schmutzigen Brühe der Mosel der „Kroppemaan“, der Hakenmann, leben, der aus der Tiefe seine Angel gern nach unvorsichtigen Kindern auswarf. Käme ein Kind dem Fluss zu nahe – wir wussten nicht, wie weit die Schnur seiner Angel reichte – würde es unweigerlich von seinem Haken erfasst und in die Mosel gezogen. Dort müsste es dann jämmerlich ertrinken. So lang ich denken kann, ist kein Kind aus unserer Gegend in der Mosel ertrunken.

Ich war fest davon überzeugt, dass die Schutzgeister unserer Kindheit ihre Existenzberechtigung gehabt hatten, hatten sie uns umtriebige Kinder doch gewiss vor mancher potenziellen Gefahr bewahrt.

Als ich mit meiner Familie nach Haaren an die holländische Grenze gezogen war, erfuhr ich sehr bald, dass man sich auch hier solche Geschichten erzählte, beispielsweise von frechen Minschkes, wachsamen Wer- und Kornwölfen und der gruseligen Abendmutter.

Die Zwerge, der Mundart entsprechend „Minschkes“ genannt, so erfuhr ich, waren kleine hilfsbereite, auch scheue Wesen, die nicht selten in Not geratenen Menschen halfen. Wenn man sich danach mit Speisegaben für ihre Unterstützung bedankte, kamen sie immer wieder gerne zurück.

Daneben gab es noch Werwölfe; hierbei handelte es sich oft um Menschen, die man aufgrund ihrer außergewöhnlichen Erscheinung oder ihres seltsamen, außer der Norm liegenden Verhaltens nicht richtig einordnen konnte und daraufhin dämonisierte. Am Tage Mensch, während der Nacht als Wolf mit unheimlichen Kräften, verhielten sie sich der Sage nach meist menschenfeindlich. Zu den entsprechenden Jahreszeiten konnten Werwölfe auch als Kornwölfe auftreten, die je nach Gesinnung entweder den Bauern Schaden zufügten, indem sie ihnen das Getreide platt walzten, oder sie vor Schaden bewahrten, indem sie das Korn vor Vandalismus schützten. Gleichzeitig hielt das Wissen um die Kornwölfe die Kinder davon ab, sich im Korn zu verstecken und sich im hohen Halm- und Ährendschungel zu verirren.

Die Abendmutter wiederum kümmerte sich um Kinder, die sich nach Einbruch der Nacht noch draußen herumtrieben. Diesen erschien sie als Furcht einflößendes Wesen, um sie nach Hause zu schicken. Besonders renitenten Halbwüchsigen erzählte man, dass sie sogar Kinder mitnehme, und diese dann auf ewig verschwunden blieben.

Gebannt

Mit diesem Wissen war ich wieder ein Gefangener einer Erzählung, wie damals, als meine Großmutter mir Geschichten erzählte oder Märchen vorlas. Nur dies hier war in diesem Moment weder Traum noch Märchen, sondern selbst erlebte, groteske Realität.

Plötzlich fühlte ich, wie mich eine dunkle Energie durchfloss. Ich wähnte, dass sich mir jetzt die letzte Möglichkeit bot die Abendmutter zu unterbrechen, denn noch befand sie sich erst am Anfang ihrer Ausführungen. Doch bald wäre es zu spät. Dann würde ich mich nicht mehr aus dem Sog ihrer Geschichte befreien können; dann wäre ich ihr bis zu deren Ende ausgeliefert.

War es das, was die Altvorderen meinten, wenn sie vor dem Zauber der Geister warnten?

Während ich noch über eine Fluchtmöglichkeit sann, wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich bereits von ihrem Schicksal berührt war. Obwohl ich wegen ihres Geruchs, einer Mischung aus schimmligem Moder und penetrant-süßlicher Verwesung immer wieder mein Gesicht von ihr abwenden musste, fühlte ich mich dennoch auf diesem Platz wie festgenagelt.

Ihre Gedanken drangen in meine. Sie überschwemmte mich mit Bildern und Visionen. Episoden ihrer Existenz nahmen Raum in meinem Geist. Rückblickend im Zeitraffer, zuerst die Hunderte Jahre als Untote, in denen sie aus ihrer eigenen Sicht als guter Geist, nicht tot aber auch nicht lebendig, unruhig getrieben weiterleben musste.

Danach vollzog sie – zuerst kaum merklich – eine Verwandlung: Es schien mir als ob echtes Leben in dieses Schreckgespenst zurückkehrte: „Achte die Sphären der Geister! Nur den Verächtlichen werden sie zu Schande richten“, drohte mir die Abendmutter plötzlich mit schriller Stimme, bevor sie in einen Redefluss versank und in einer Art Trance nahm sie mich mit. Ihre Worte kamen mal hohl aus ihrem formlosen Mund, und dann wieder mit vollem Klang, manchmal jedoch auch sehr kreischend und schrill. Ihrem Mund entfuhren Geräusche, die in mir den gleichen Schauer verursachten, wie wenn jemand mit einer Gabel über einen Porzellanteller kratzt. Oder sie krächzte heiser wie eine Krähe. Dabei wiederum bekam ich eine Gänsehaut, und mir stellten sich die Nackenhaare auf.

Dann sprach sie abgehackt, als ob sie sich selbst in ihrem Redefluss bremsen müsse. Dass sich Kinder vor ihr fürchteten, konnte ich mir lebhaft vorstellen, denn ich muss gestehen, selbst ich fragte mich langsam, wie das hier alles enden sollte.

Immer weiter zog sie mich in Visionen mit sich in ihre längst vergangene Zeit. Die reale Welt um mich herum hatte seit geraumer Zeit an Existenz verloren.

Während sie sprach, bemerkte ich wie sich plötzlich ihre Stimme veränderte. Dem Krächzen folgte ein sanft samtener mir unbekannter melodiöser Klang. Sie schien diese Veränderung nun selbst bemerkt zu haben, denn sie machte plötzlich eine Pause. Ihr Gesicht begann, Konturen anzunehmen.

Wo ich eben noch in leere, dunkle, knochige Höhlen geblickt hatte, versuchten plötzlich Augen mit mir Kontakt aufzunehmen. Der matte, tote Blick wich einem vorsichtigen Blinzeln, als ob sie sich erst an die dämmrige Umgebung gewöhnen müssten. Krusten, die sich erst kurz zuvor um die Augenränder herum gebildet hatten, rieb sie sich nun einfach weg.

Zögernd und immer wieder sich den Hals von eingetrocknetem Schleim befreiend, den sie geräuschvoll vor sich hinspuckte, erzählte sie mir von ihrem erlösenden Ableben.

Doch was sah ich, als sie schließlich die Hände fallen ließ? Es waren keine fröhlichen Augen, in die ich schaute. Ihr Blick war verhärmt, abgeklärt und starr. Es war mir, als blicke sie durch mich hindurch. Ihre Stimme wurde nun monoton, gekennzeichnet von einer tiefen Depression. Auch dieser Zustand hielt nicht lange an, erneut veränderte sich ihre Stimmung. Nun strömten ihre Worte wie Sturzbäche nur so aus ihr heraus. Ihre Erzählweise zeigte mir deutlich, dass sie sich nicht gerne an diese Zeit alleine im Wald erinnerte.

Dann wieder klang sie ganz traurig. Ihre Stimme harmonierte nun mit dem Ausdruck in ihrem Blick: Sie hatte das Liebste in ihrem Leben verloren, was man verlieren konnte. Wie groß musste ihre Traurigkeit sein, dass ihr solch großer Schmerz aus den Augen troff: Tränen rannen über ihr faltiges Gesicht. Doch es war, als ob Regentropfen auf rissiges, eingetrocknetes Land gefallen wären, denn ihre Gesichtszüge glätteten sich. Der eben noch hängende Mund wich einem optimistischen Gesichtsausdruck. Ich glaube mich erinnern zu können, in diesem Moment eine gewisse positive Energie und Enthusiasmus in ihrer Stimme entdeckt zu haben.

Fühlte ich mich eben noch unwohl und angewidert von ihrer warzig ledernen Haut, war ich nun fasziniert von den feinen Gesichtszügen einer schönen Frau.

Das stumpfe, strähnige Weiß ihrer zotteligen Haare war zunächst einem fahlen Silbergrau gewichen, um mich dann für kurze Zeit schneeweiß zu blenden, streng zu einem Knoten gebunden. Wie von Geisterhand öffnete sich dieser jedoch bald und sie saß unerwartet mit einer langen, wallenden, strahlenden, tiefschwarzen Haarpracht vor mir. Der mittlerweile aufgegangene Vollmond legte einen seidigen, bläulichen Schimmer hinein. Mit dieser eher exotischen Haarfarbe hatte ich in dieser Gegend nun weiß Gott nicht gerechnet. Fortan trug sie bei jeder Episode ihres Lebens eine andere Haartracht. Waren die Haare im einen Moment noch mähnenartig lang, trug sie sie im nächsten Augenblick kurz geschoren. Dann wieder lang. Plötzlich hatte sie den Pagenkopf eines jungen Burschen, als sie mir fast fröhlich von ihrer ersten tief empfundenen Liebe vorschwärmte. Geflochtene schwere Zöpfe öffneten sich plötzlich. Letztendlich blieb sie mit ihrer vollen Haarpracht vor mir sitzen.

Immer tiefer tauchte ich in die Geheimnisse dieser Frau.

Ich sinnierte noch darüber, als ich merkte, dass sich erneut ihre Stimme verändert hatte. Sie war frisch, ihr Klang rein und weich wie der eines Engels. Und doch so sinnlich…

Ich hatte das Gefühl, neben einem jungen Mädchen zu sitzen, das im Frühling ihres Lebens eben erst erblüht war.

Nicht nur ihr Körper hatte sich verändert, sondern ebenso ihre Kleidung.

Ihr stinkender Mantel war, zu Staub zerbröselt, von ihr abgefallen.

So saß sie, an diesem feucht-kühlen Herbstabend, in einem dünnen, leinenen Sommerkleidchen neben mir, nur von ihrem wallenden Haar einigermaßen gewärmt. Statt der klapprigen Gestalt hatte sie nun eine ebenmäßige, aufrechte Figur angenommen. Ihre festen Brüste zeichneten sich durch den fadenscheinigen Stoff ab.

Es war, als ob sie die nieselnde Kälte, die uns umgab, nicht bemerke. Fasziniert von ihrem frischen Anblick konnte ich mich nicht mehr von ihr abwenden.

Ich blickte in betörende dunkle Augen mit langen, dichten Wimpern. Mein Blick glitt über die makellose Haut mit einem olivfarbenen Teint. Der volle Mund war eingerahmt von neckischen Lachgrübchen. Welch ein Kontrast innerhalb dieser, wie mir schien, im Nu verflogenen Zeit.

Sie hatte offensichtlich bemerkt, welche Attraktivität von ihr ausging, denn sie versuchte beschämt ihren Mantel wieder umzulegen, um sich meinen Blicken zu entziehen. Der Griff ging jedoch ins Leere. Ihr Redefluss schien dabei nicht verebben zu wollen. Ich genoss ihre Gesellschaft nun so sehr, dass ich hoffte, dieser Moment möge niemals enden.

Mal erkannte ich in ihren reizenden Gesichtszügen den schmachtenden Augenaufschlag einer Liebenden, mal den resignierten Blick einer Verzagten.

Ich wollte sie in die Arme nehmen, sie trösten, denn sie sah sehr schutzbedürftig aus.

Ihre Brust hob und senkte sich nun immer schneller. Ich bemerkte, dass sie immer aufgeregter und dann schließlich verlegen wurde. Gleichzeitig fing sie an zu zittern. Ich wollte aufstehen und ihr meine Jacke anbieten, allein meine Beine gehorchten mir nicht und wieder zog sie mich fest in ihren Bann. Ihre Metamorphose ging unaufhaltsam weiter.

„Ja, lebe das Leben in Liebe, spar‘ dir den Hass für den Tod“, empfahl mir die Abendmutter. Sie war am Ende ihrer langen Schilderung angekommen und sah trotz ihrer jugendlichen Erscheinung sehr erschöpft aus. Sie lehnte sich zurück, um sich auszuruhen. Ich hatte den Eindruck, als versuchte sie, aus diesem jungen Körper Kraft zu schöpfen, denn sie deutete an, dass bald etwas Bedeutendes mit ihr passieren müsste, dem es abzuwarten galt. Gemeinsam könnten wir warten um so ihr letztes Geheimnis zu erfahren. Obwohl mich ihr Anblick freute, erschauerte ich erneut, bei der Frage, was wohl noch alles auf mich zukommen würde. Mittlerweile erwachten die ersten Vögel aus ihrem wohlverdienten Schlaf und es hatte den Anschein, als wollten sie unsere trübe Stimmung mit ihrem vielstimmigen Konzert aufheitern.

Niederschrift

Längst wieder zu Hause und zurück im täglichen Alltagstrott, ließ mich der Eindruck meiner Begegnung mit der Abendmutter dennoch nicht mehr los und ich fühlte mich ihrer Bitte immer mehr verpflichtet, ihr Leben und Wirken so aufzuschreiben, wie ich mir ihre mir übermittelten Visionen eingeprägt hatte. Besondere Mühe wollte ich darauf verwenden ihren innigsten Wunsch zu entsprechen, nämlich den Ruf ihrer Sagengestalt ins rechte Licht zu rücken.

Um der wohlgesonnenen Leserin und dem geneigten Leser den Zugang zu ihrer Geschichte zu erleichtern, habe ich mich entschlossen – im Gegensatz zur Erzählweise der Abendmutter, die mit dem Ende begonnen und mit dem Anfang geschlossen hatte – die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge niederzuschreiben.

Kapitel 1 Wonnenjahre

Als reizendes Mädchen, als das Sie vor mir saß, versetzt sie uns mit einer grazilen Handbewegung ihr üppiges schwarzes Haar nach hinten über die Schulter werfend, in eine Zeit vor vielen Hundert Jahren.

Wurzeln

Die Ansiedlung, in der die junge Monia wohnte, lag unweit von Juliacum, wie man damals Jülich nannte, direkt neben der einstigen römischen Handelsstraße Via Belgica. Sie verband Colonia Agrippina, das heutige Köln, mit der Atlantikküste.

An diesem sonnigen Spätsommertag lag Monia im Gras auf einem flachen Hügel hinter ihrem väterlichen Gehöft und wartete auf ihre Mutter. Jetzt, nach dem Nachtmahl, da ihr Vater sich nochmals in einen der Lagerschuppen zurückgezogen hatte, um Waren zu kontrollieren, mit denen er handelte, wollten Monia und ihre Mutter, sich wieder einmal heimlich in die Felder und Wälder der Umgebung aufmachen, um Heil- und Würzkräuter zu sammeln. Ihr Vater sah das höchst ungern, denn er befürchtete, es könne den beiden draußen etwas zustoßen. Unentwegt zog allerlei herrenloses Gesindel durch die Gegend und lauerte dann ehrbarem Volk auf. Zudem war es ihm zuwider, dass sie Heilkräuter sammelten. Alles aus dem Umfeld von Quacksalberei kam ihm zu anrüchig vor.

Monia konnte von ihrer Mutter viel lernen und war froh, die Kräuter und Blumen nicht nur bei dem Namen zu kennen, wie die Nachbarskinder sie nannten, denn ihre Mutter lehrte sie gleichzeitig die lateinischen Bezeichnungen. Weil sie ihr dabei die Bedeutung dieser Namen erklärte, blieben sie ihr schneller im Gedächtnis haften.

Sie war sehr stolz auf ihre Mutter, die aus der weit entfernten Lombardei in Italien stammte. Monias Mutter war in begüterten Verhältnissen aufgewachsen, was ihre gepflegte Erscheinung und selbstbewusste Haltung sowie ihren für damalige Verhältnisse ziemlich hohen Bildungsstand, erklärte. Den größten Anteil ihres Wissens hatten ihr Nonnen beigebracht, deren Kloster sich unweit des väterlichen Gehöfts befand. Für ihr dichtes, schwarzes Haar wurde sie von vielen beneidet, hatten doch die meisten Menschen hier in der Gegend entweder rotblondes oder fahl braunes Haar. Spätestens jedoch, wenn man ihren Namen Alessia erfuhr, wusste man, dass sie aus den Landen tief unten gen Mittag zu stammte.

Als sie nach ihrer Vermählung mit Monias Vater an die Rur gezogen war, hatte sie zusätzlich zu ihrer Muttersprache und ihren sehr guten Kenntnissen des Lateinischen schnell das dortige Kauderwelsch, wie Alessia es nannte, angenommen, wenn sie auch immer noch mit starkem Akzent sprach. Monias Mutter hatte ihrer Tochter die ihr geläufigen Sprachen ebenfalls beigebracht. Und so unterhielten sie sich auf Italienisch, wenn sie etwas Geheimes miteinander zu tuscheln hatten und im Dialekt, wenn sie mit andern sprachen. Ihrem Vater hatte die Mutter leidliche Lateinkenntnisse beibringen können, die für ihn im Umgang mit Händlern nützlich waren. Das schnelle, gestenreiche Italienisch blieb ihm zu verwirrend.

Mit einigen der fremden Gewohnheiten und Gebräuche hatte Alessia selbst noch nach all den Jahren ihre Schwierigkeiten. Vor allem an das schwere, fette und für ihre Verhältnisse kaum gewürzte Essen gewöhnte sie sich nie. Ab und an konnte sie ihren Mann dazu überreden, etwas von dem teuren Salz – einem seiner wertvollsten Handelsgüter – für den eigenen Haushalt abzuzwacken. Um sich jedoch so selten wie möglich diesen Luxus gönnen zu müssen, sammelte sie wohlriechende und fein schmeckende Kräuter, um damit das Mahl zu würzen. Es war Alessia nur lästig, dass sie dann selbst kochen musste, da Burga, ihre Magd und Köchin, es nicht vermochte mit Gewürzen umzugehen. Sie kam einfach nicht mit der Dosierung zurecht. Mal stimmte die Zusammenstellung der Kräuter nicht, mal dominierte ein Gewürz die anderen Geschmäcker und Aromen.

Eine Lerche, die sich irgendwo unsichtbar über ihr befand, und mit aufgeregtem Gesang ihr Revier beanspruchte, lenkte Monia ab. Sie konnte noch so angestrengt den strahlend blauen Himmel absuchen, sie konnte den Vogel nicht ausmachen. Die Wiesenblumen um sie herum dufteten um die Wette, sodass Hummeln und Bienen angelockt wurden, die mit tiefem Gebrumm Kapriolen um die Blüten schlugen. Zwei Eichelhäher schienen sich laut schnarrend im nahen Gehölz um etwas zu streiten.

Da wurde sie von ihrer Mutter gerufen. Ihre Mutter nannte sie Monia, das gefiel ihr. Für ihren Vater war sie immer nur Moni gewesen. Er meinte es ja gut, aber mit ihren fünfundzwanzig Sonnwenden fühlte sie sich langsam zu erwachsen dafür. Diesen Trick, in Sonnwenden zu zählen, hatte sie von ihrer Mutter übernommen, denn so fühlte sie sich erwachsener und hatte zweimal im Jahr Geburtstag. Es lag ihr immer mehr daran, alles Kindhafte von sich abzustreifen, und dazu gehörte auch der Kosename, den Vater für sie hatte. Es ärgerte sie, dass ihr Vater sich über die Bedeutung ihres Namens nie Gedanken gemacht hatte, genauso wenig im Übrigen wie über seinen eigenen – Gerwin.

Er dachte, Moni sei eine Kurzform von Monika. Doch dabei irrte er sich. Ihre Mutter hatte sie nach dem lateinischen Namen des Königskrautes genannt. Das freute sie besonders, denn ihre Mutter hatte ihr erklärt, sie wolle damit ausdrücken, dass sie ihre Königin sei und für immer bliebe. Allerdings sagte sie das immer mit Schwermut in ihrer Stimme, denn Monia hatte erfahren, dass ihre Mutter nach ihrer schweren Geburt keine weiteren Kinder haben konnte.

Nun nahmen Mutter und Tochter ihre Körbe und die kleinen Sicheln zur Hand und machten sich auf den Weg. Bei solchen Gelegenheiten unterhielten sie sich natürlich nicht immer nur über Kräuter.

Jetzt, da Monia immer mehr Gefallen an jungen Burschen fand, hätte sie nur zu gerne erfahren, wie ihre Mutter den Vater kennengelernt hatte. Schon oft hatte Monia dieses Thema angerissen, ihre Mutter war ihr jedoch immer ausgewichen und hatte sie auf ein nächstes Mal vertröstet. Nun drängte sie ihre Mutter erneut, und sie merkte, wie sich in deren Gesicht ein kesses, mädchenhaftes Lächeln formte, als sie anfing zu erzählen.

Früher, so berichtete ihre Mutter, war Gerwin noch häufiger auf den Handelsstraßen des Kaiserreiches unterwegs gewesen als heute. Kreuz und quer war er mit und im Auftrag von jüdischen Händlern durch das Reich gezogen, um die wohlhabenden hohen Herren aus Aachen und Köln zufriedenzustellen.

Entgegen der Praxis der jüdischen Händler, mit Münzen zu handeln, war ihm nur der Tauschhandel erlaubt. Trotzdem hatte er bereits ein beachtliches Vermögen auf die hohe Kante gelegt. Anstelle jedoch jener sprichwörtlichen Gepflogenheit nach, die wertvollsten Gold-, Silber- und Bernsteinschmuckstücke auf der hohen Kante über der zu deponieren, hatte er sich dafür ein hohles Gefach im Gesims seiner Kate ausgesucht, denn in den üblichen Verstecken suchten Räuber und Plünderer zuerst.

Von ihren Handelszügen nach Venedig brachten die Händler Seide aus China, Zimt aus Indien, Gewürze aus Arabien, Waffen aus Damaskus, Teppiche aus Kleinasien und Glas aus der Lagunenstadt mit, die sie im Tausch für ihre Tücher und Linnen, trockene leichte Weine, Roggen, Weizen, Flachs, Hanf, Öl, Holz, Mehl sowie Keramik- und Korbwaren erhalten hatten. Auf einer dieser Reisen war Gerwin unterwegs in der Lombardei mit Alessias Vater in Kontakt gekommen. Dieser handelte damals mit Zitronen, aromatischen Kräutern und allerlei kunstvollen Glaswaren. Ihrem Vater, so sagte Alessia, verdanke sie ihre Liebe zu den Heilpflanzen.

Das alles wusste Monia bereits. Sie dachte, die Mutter würde sich heute wieder zieren, doch dann fuhr diese mit ihrer Erzählung fort.

Seit vielen Jahren war Gerwin als Geschäftspartner jährlich Gast am Hof ihres Vaters gewesen und hatte ihr kaum Beachtung geschenkt oder sie als Dienstmädchen behandelt. So kam es, dass sie, diesen – in ihren Augen herrischen und stets hektischen Kerl – nicht mochte, der sie, je älter sie wurde, desto öfter herumzukommandieren versuchte.

Er behandelte sie dabei sehr arrogant von oben herab. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wie ein kleines Nichts, obwohl sie damals bereits, gemessen an den anderen Mädchen ihres Alters, einen großen Schatz an Wissen gesammelt hatte. Dies war durchaus nicht selbstverständlich, denn nach landläufiger Meinung brauchten Mädchen keine Bildung zu haben.

Da Gerwin sich kaum in ihrer Sprache mit ihr unterhalten konnte, sah sie keine Notwendigkeit, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.

Je länger er am Hof ihres Vaters verweilte, desto mehr entwickelte er sich zu einem Ekel, der sie piesackte, wo er nur konnte. Und wenn sie nicht gleich spurte, wenn er in der Sommerhitze nach einem kühlen Trank verlangte, konnte es passieren, dass sie zusätzlich noch den Zorn ihres Vaters auf sich zog.

Alessia war immer froh, wenn die Fuhrwerke Gerwins endlich den Hof verließen. Gern hatte sie deshalb zuvor emsig bei den Reisevorbereitungen geholfen. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es, wertvolle Gläser schichtweise in hölzerne Tonnen zu setzen. Mit flüssigem Talg, der beim Abkühlen härtete, sicherten sie die wertvolle Glasware gegen Bruch, sodass sie auf dem rauen Transport nicht zu Schaden kam. Alessias jüngere Geschwister, sieben an der Zahl, hatten auch mitgeholfen. Dabei hatte Gerwin Alessia immer wieder geneckt, sie beim nächsten Mal in eines dieser Fässer zu stecken und sie mit zu sich zu nehmen. Sie hatte ihm entgegnet, dass sie sich vorher lieber in siedendes Öl stürzen würde, als mit ihm in die lausigen Gegenden hin zu Mitternacht zu kommen.

Gerwin hatte sehr zu ihrem Leidwesen bei der Verabschiedung, angekündigt, dass er im Folgejahr wiederkommen werde. Dann wolle er sogar noch früher im Jahr kommen, gleich nach der Schneeschmelze in den Bergen, um länger bleiben und vom Hof ihres Vaters aus Kontakte zu anderen Händlern weiter Richtung Mittag hin aufnehmen zu können.

Der Winter war lang gewesen und Alessia hatte Gerwin und sein anmaßendes Verhalten fast wieder vergessen, als eines Tages im Frühsommer die Meute der Hofhunde anschlug und seinen Transportzug ankündigte.

Alessia hatte sich daraufhin schnell zu einer Freundin davongeschlichen. Sie wollte nicht dabei sein, wenn ihre Eltern ihn wieder wie üblich, übertrieben freundlich begrüßten.

Zwei Tage lang konnte sie der Situation entgehen, ihm über den Weg zu laufen. Als sie ihm dann begegnete, behandelte er sie zwar nicht mehr wie eine kleine Rotznase; sie konnte trotzdem keine Sympathie für ihn entwickeln. Warum auch? Er war der Handelspartner ihres Vaters, und was sollte sie sich um ihn scheren? Wo sie konnte, machte sie sich rar.

Doch dann wurde sie zufällig Zeugin eines erregt geführten Gesprächs zwischen Gerwin und ihrem Vater.

Sie waren beide im Keller und hatten offensichtlich dem neu eingetroffenen Wein erheblich zugesprochen. Sie bekam immer nur Wortfetzen mit, denn teils nuschelten sie berauscht, teils verfielen sie in ein geheimnisvolles Flüstern. Es wurde ihr bald klar, dass sich das Gespräch um sie drehte. Dabei faselte Gerwin etwas von Brautschau. Sie hörte ihren Vater sagen, dass er sich keinen besseren Schwiegersohn für seine Tochter vorstellen könne. Alessia traute ihren Ohren nicht, dass die beiden mit besoffenem Kopf über sie verhandelten. In den nächsten Tagen wollten sie sich gegenseitig den Handschlag geben, um so ihre Handelsbeziehung noch weiter zu festigen.

Alessia fiel aus allen Wolken. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht damit, dass ihr Vater sie diesem Mann, der um vieles älter war und der aus einem Land kam, das er selbst nur vom Hörensagen kannte, zur Frau geben wollte. Das würde sie zu verhindern wissen, selbst wenn sie dafür schwere Nachteile in Kauf nehmen müsste. Es war ihr bewusst, dass man sie selbst hinsichtlich ihrer Partnerwahl nicht nach ihrem Willen und erst recht nicht nach ihren Gefühlen fragen würde. Als gehorsame Tochter musste sie sich dem Willen ihres Vaters fügen. Es war daher zwecklos, mit ihrer Mutter über dieses Thema zu sprechen, denn selbst diese hatte sich gehorsam um den Haushalt und die Knechte und Mägde zu kümmern. Das, was ihr Vater anordnete, war für alle Gesetz. Nicht, dass er ein Despot gewesen wäre; wenn er sich jedoch etwas in den Kopf gesetzt hatte, war das unumstößlich. Darauf war Verlass.

Die einzige Hoffnung, die sie hatte, war, dass sich das ganze Gespräch in einer Weinlaune entwickelt hatte und dass sich beide später nicht mehr daran erinnern würden.

In den folgenden Tagen merkte sie jedoch, dass Gerwin ihr heimlich hinterher schlich. Sie konnte es aber stets so einrichten, dass er das Nachsehen hatte.

In ihren romantischen Jungmädchenträumen hatte sie sich immer einen schwarz gelockten, sehnigen, etwa gleichaltrigen Jungen vorgestellt, der sie eines Tages zu sich auf sein Gehöft irgendwo über den Klippen des sagenhaften Meeres holen würde.

Gerwin entsprach genau dem Gegenteil dieser Traumvorstellung. Er war fast zwei Köpfe größer als sie, hatte schulterlange, dünne, blonde Haare, die er zu einem Pagenkopf geschnitten trug und an heißen Tagen zu einem Zopf zusammenband. In seinem bleichen Gesicht hatte er einige rötliche Pickel, die sie sehr unästhetisch fand. Bereits letztes Jahr waren ihr diese Schandflecken aufgefallen. Als er jedoch längere Zeit bei ihnen verweilt hatte, war durch die ständige Sonneneinwirkung die Blässe bald einem angenehmen Braun gewichen. Mit dem Verfärben der Haut ins Rötliche verschwanden dann, mit und mit, die hässlichen Pickel.

Man sah ihm an, dass er dem guten Essen nicht abgeneigt war, denn er hatte einen Bauch, der an eine Schwangere im siebten Monat erinnerte.

Als Alessia das erzählte, kicherte sie wie ein junges Gör. Ja, meinte sie zu Monia, damals habe ihr Vater bereits den Ansatz des Bauches gehabt, den er heute stolz vor sich herschob. Mit einer leicht arroganten Geste, ihn nachäffend, erzählte sie dann weiter, dass ihr aber die reife weltmännische Art schon sehr imponiert habe.

Sein Auftreten sei zwar immer etwas dominant gewesen, jedoch auf eine subtile Weise, nicht so direkt und forsch wie bei ihren Landsleuten. Nur mit seinen einunddreißig Lenzen war er damals fast doppelt so alt wie sie.

Alessia sagte, sie sei damals über jeden Tag erleichtert gewesen, an dem sie ihn nicht zu Gesicht bekommen hatte.

An einem späten Nachmittag, so fuhr sie fort, habe sie erschöpft zum Ausruhen im Schatten einer rebbewachsenen Pergola gesessen, nachdem sie das Haus für den Sonntag gereinigt hatte. Kleine Kätzchen tummelten sich neben ihr auf der Bank und versuchten kratzend zu ihr auf den Schoß zu gelangen. Plötzlich gewahrte sie einen Schatten neben sich. Bevor sie sich versah, hatte Gerwin den Platz neben ihr eingenommen. Ohne lange Umschweife, doch umständlich in seiner Nervosität, machte er ihr deutlich, dass er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten habe, und gedenke sie zu heiraten. Um seinen Worten eine gewisse Bedeutung und Nachdruck zu verleihen, überreichte er ihr eine wertvolle goldene Fibel, die er ihr sofort am Gewand befestigte. Zuerst war Alessia empört, denn sie fühlte sich überwältigt und wollte ihn zurückweisen. Wie konnte er es wagen, sie einfach so zu überrumpeln. Jetzt hier, da sie ganz allein war. Wenn jemand sie beobachtete, konnte es passieren, dass man sich schnell über sie das Maul zerriss. Andererseits imponierte es ihr gewissermaßen, dass dieser reife Mann sich ausgerechnet für sie interessierte. Denn dass er es wirklich ernst meinte, hatte sie aus jedem seiner Worte und Gesten gespürt. Und jetzt dieses wertvolle Geschenk. Es würde das Wertvollste sein, das sie ihr Eigen nennen dürfte. Sie hatte zwar fast ihre Aussteuer komplett, wie es sich für eine junge Frau in ihrem Alter geziemte, jedoch an Schmuck besaß sie, bis auf ein schmales silbernes Ringlein mit einem Bergkristall, den sie einst von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, nur Tand.

In der Vergangenheit hatte sie versucht zu ergründen, wie sie auf die jungen Burschen ihres Alters wirkte. Sie war keiner Begegnung aus dem Weg gegangen, denn schüchtern war sie nicht. Sie wusste sich einzuschmeicheln, wenn ihr ein Bursche gefiel. Ständig hatte sie jedoch den Eindruck, dass sich keiner wirklich für sie interessierte. Lag es an ihrer Nase, die nach ihrer Idealvorstellung zu groß war oder lag es an ihrem Busen, der für ihre Begriffe wiederum zu klein war.

Jetzt saß plötzlich jemand neben ihr, der sich sehr für sie interessierte, wie es schien, und sie fühlte ... nichts.

Als Monia ihre Mutter so sprechen hörte, schaute sie etwas verlegen zur Seite, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass die Mutter ihren Vater nicht liebte.

Viele Wochen zogen dann ins Land, erzählte Alessia weiter, und Gerwin hatte sich nur noch von der freundlichen Seite gezeigt.

Sie konnte sich nicht mehr an jede seiner Gesten erinnern, denn er hatte Alessia mit vielen kleinen Aufmerksamkeiten überhäuft. Kam er wieder einmal von einer seiner Handelsreisen zurück, brachte er ihr entweder leckere Spezereien oder feine Seidentüchlein mit. Einmal brachte er ihr sogar einen kleinen Vogel in einem wunderschönen kostbaren Bauer orientalischen Stils. Der Vogel tirilierte zwar, dass es eine helle Freude war ihm zuzuhören, doch nach einigen Tagen musste sie ihm die Freiheit wiedergeben, denn sie konnte sich nicht vorstellen, selbst eingesperrt zu sein. Somit wollte sie es einem kleinen, unschuldigen die freie Natur liebenden Tier auch nicht zumuten.

Plötzlich geriet Alessia ins Schwärmen als sie sagte, dass sie sich an den Tag, an dem dann für sie alles erst wirklich begonnen hatte, noch genau erinnern könne. Sie machte eine lange Pause, in der sie sich offenbar zu besinnen schien.

Monia befürchtete währenddessen, ihre Mutter würde nun die Erzählung beenden, weil es ihr vielleicht peinlich sei, über ihre innersten Empfindungen zu berichten. Doch sie fuhr ohne Zögern fort.

Am Morgen des bestimmten Tages hörte Alessia, wie Gerwin wieder einmal zeitig aufbrach. Wie von einem gewissen Zwang getrieben lief sie noch in ihrem Nachtgewand ans Fenster und öffnete es. Sie verfolgte jede seiner Tätigkeiten mit ihren Blicken, denn es war oft sehr lustig seine geschäftigen Aktivitäten zu beobachten. Lief bei ihrem Vater alles in einer gediegenen Ruhe ab, konnte Gerwin schnell in hektische Betriebsamkeit verfallen, was dann der Szene durch seine Umständlichkeit etwas Skurriles gab, das sie oft zum Kichern anregte. Gerade diese tollpatschige Seite liebte sie an ihm. Als er sich endlich auf den Weg machte, schloss sie die Augen und hauchte ihm einen Kuss nach. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie, wie er just in diesem Moment zu ihr hinauf blickte. Sofort merkte sie, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg und warf das Fenster zu.

Welche Spinnereien hatten sie dazu getrieben, das zu tun?

Sie schalt sich selbst ein törichtes kleines Kind. Wie sollte sie ihm nur je wieder unter die Augen treten? War das wirklich sie gewesen, die dort eben am Fenster gestanden hatte? Selbstkritisch gestand sie sich ein, dass sie es fast nicht erwarten konnte, bis er wieder von seiner Reise zurückkäme, selbst wenn sie nur diesen einen Tag lang dauerte.

Als er dann abends zurück kam, traute sie sich nicht ins Haus. Als die Mutter ihr dann jedoch befahl, ihr beim Herrichten des Essens zu helfen, hatte sie keine andere Wahl.

Obwohl ihre Mutter wieder einige köstliche Kräutersoßen zu Mehlspeisen aufgetischt hatte, die sie auch so liebte, hatte sie an diesem Abend auf nichts Appetit.

Nachdem sie mit ihrer Mutter in der Küche fertig war, musste sie noch nach draußen an die frische Luft, denn im Haus und erst recht in der Küche war es nach einem heißen Tag sehr stickig. Eigentlich durfte sie jetzt, nach Einbruch der Nacht, nicht mehr nach draußen, denn die Nacht gehörte dem Bösen. Darum traute sie sich nie weiter als bis zur Bank vor dem Hof.

Von irgendwoher erscholl ihr Name, mehr geflüstert als gerufen.

Als sie um die Ecke des Hauses bog, lief sie ihm fast in die Arme. Er zog sie mit sich und sie verschwanden zu ihrer Pergola. Das einzige Wort, das sich den Weg in ihren Verstand bahnen konnte, war: „Amore.“ Sollte er wirklich so viel Liebe für sie empfinden?

Wortlos saßen sie dann Händchen haltend zusammen auf der Bank, nur von ihrer jungen Liebe beseelt.

An diesem Abend, so gestand Alessia errötend, wurde sie das erste Mal in ihrem Leben richtig geküsst.

Später, als sie sich mit Gerwin etwas besser verständigen konnte, habe er ihr gebeichtet, dass er sie von dem Moment an geliebt habe, als er sie das erste Mal als junge Frau wahrgenommen habe, auch damals schon, als er sie immer geneckt hatte. Ihre Augen, ihre Haare, ihr Mund, ihr Duft, ihr Name Alessia, alles an ihr sei für ihn so exotisch gewesen.

Alessia kicherte daraufhin wie ein junges Mädchen, wohl wegen der Erinnerungen, die sie mit der Erzählung verband und Monia stimmte mit ein, da sie nicht glauben konnte, dass ihr Vater einmal zu solchen Tändeleien fähig gewesen war.

Die Wangen ihrer Mutter waren ganz gerötet. Lag das an der Erzählung oder hatte die Wanderung gegen die etwas tief stehende Sonne ihr so zu schaffen gemacht?

Sie waren über einen sanften Hügel an einer Wiese am Waldrand angekommen, an der sie aus Erfahrung die besten Kräuter vermuteten. Hier wollten sie ihre Kiepen und Körbe abstellen und füllen. Später, so versprach Alessia, würde sie ihre Geschichte weiter erzählen.

Monia wusste von früheren Erzählungen ihrer Mutter, dass diese, nachdem sie zu ihrem Vater gezogen war, zusätzlich die hier heimischen Kräuter studiert hatte. Auf ihr Drängen hatte ihr Vater Kontakte zu einer Nonnenklause ganz in der Nähe geknüpft. Da ein kleiner Kräutergarten der ganze Stolz der frommen Frauen war, waren sie nur zu gerne bereit gewesen, ihr sämtliche Arten zu erklären. Als Gegenleistung freuten sie sich über die Mitbringsel aus Alessias Heimat. Sie hatte sofort mit einigen Nonnen Freundschaft geschlossen, denn mit ihnen konnte sie lateinisch sprechen und über die Kräuter fachsimpeln. Dadurch fühlte sie sich bei ihnen wie zu Hause. Wenn sie von Heimweh geplagt wurde, besonders an tristen Herbsttagen und in der grauen Winterzeit, ging sie oft zum Beten und Plaudern dorthin. Die Kerzen in der Klause leuchteten dann bis in die Tiefe ihres Herzens.

Weil Gerwin merkte, dass sie jedes Mal wie verwandelt von den frommen

Frauen zurückkam, war es ihm nur allzu Recht, wenn sie dort verkehrte, obwohl er mit deren Glauben nichts anfangen konnte.

Monia hatte in der letzten Zeit Schmerzen, wenn sie ihren monatlichen Fluss bekam. Auch hielt er lange an, sodass sie oft sehr kraftlos wurde. Deshalb hatte ihre Mutter ihr versprochen, bei der nächsten Kräutersuche besonders nach dem Hirtentäschel Ausschau zu halten. Weil es als lästiges Unkraut verschrien, in der Nähe der Höfe fast überall verschwunden war, hoffte sie es nun weiter entfernt von Behausungen zu finden.

Außerdem wollte Alessia gezielt nach Salbei suchen. Sie kannte von zu Hause her die frische Wirkung des Salbeiessigs, gerade im Sommer.

Natürlich nahmen sie auch alles andere nützliche mit, was sie an ihrem Weg fanden. So kam immer ein Bund Brennnessel in den Korb. Mit einem daraus hergestellten Sud behandelte sie die allgegenwärtigen Ekzeme der Knechte und Mägde. Diesen Strauß musste Alessia immer selbst tragen, nachdem sich Monia einmal den ganzen Arm verbrannt hatte, weil der Korb umgefallen war.

Bald waren ihre Körbe übervoll. Als sie noch an einem Walnussbaum vorbei kamen, pflückte Alessia einige Blätter ab. Da Monia bis jetzt noch nichts über deren Nutzen wusste, fragte sie ihre Mutter danach. Süffisant erklärte diese, dass sie bemerkt habe, dass ihrem Gerwin die Haare grau würden. Da er ja sehr eitel sei, wollte sie ihm einmal mit einem färbenden Sud eine Freude machen.

Auf dem Rückweg hoffte Monia dann, mehr von der Liebesgeschichte ihrer Eltern zu erfahren. Doch zunächst wurde sie enttäuscht, denn ihre Mutter hatte noch etliche Erklärungen über Kräuter und Blätter parat. Und wenn sie damit erst einmal angefangen hatte, gab es für sie kein Halten mehr. Das war dann Monias Lernstunde.

Kurz bevor sie zu Hause ankamen, verriet ihre Mutter, dass sie bald so verliebt in ihren Gerwin gewesen sei, dass sie schwanger geworden war.

Es wurde dann ganz geschwind geheiratet, um rasch in Gerwins Heimat zu ziehen, bevor die Reise für Alessia zu beschwerlich geworden wäre. Die ganze Verwandtschaft von nah und fern war zusammengekommen. Für Alessia wurde es ein frohes Fest, selbst wenn sie mit leichter Schwermut daran dachte, dass sie sich bald von all den lieben Menschen verabschieden musste. Vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

Der Abschied war dann kurz und tränenreich verlaufen. Es hatte sich ergeben, dass ihre Abreise auf einen Markttag fiel. Dazu war es nötig, sehr früh am Morgen einzuspannen. Weil die Tiere wegen des ganzen ungewohnten Tumults sehr unruhig waren, dauerte es nicht lange, bis Gerwin und Alessia samt Fuhrknechten mit ihren Gespannen nach Mitternacht hin und das Gespann von Alessias Vater nebst Gesinde auf steilen Pfaden abwärts Richtung Mittag zogen. Alessia hatte für sich selbst einen Wagen gepackt, auf dem sie ihr ganzes Hab und Gut und liebe Erinnerungen mitführte. Selbst an Pflanzenstecklinge und an Sämereien hatte sie gedacht und hoffte, vieles davon in Gerwins kalten Heimat anpflanzen zu können. Besonders auf ihre Weißwurzel, wie Gerwin sie nannte, wollte sie nicht verzichten.

Alessia hatte bei dieser Erinnerung feuchte Augen bekommen und war schnell mit der Erzählung fortgefahren.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es Länder gab, in denen es sogar im Hochsommer nur regnete und stürmte. So fühlte sie sich, als sie über die Alpen zogen, wie in einer anderen, düstereren Welt. Wäre sie nicht wirklich verliebt gewesen, wäre sie bestimmt sofort wieder umgekehrt, egal was die Leute zu Hause über sie getuschelt hätten.

Am Bodensee waren die Temperaturen zuerst noch recht mild. Als sie jedoch immer weiter den Rhein abwärts fuhren, wurden die Tage grauer und das Klima rauer.

Gerwin hatte in weiser Voraussicht Vorsorge getroffen und Alessia in schwere Pelze gehüllt, die er beizeiten bereits in den Bergen eingetauscht hatte. Darin eingekuschelt träumte sie mit gemischten Gefühlen einer ungewissen Zukunft entgegen.

Monia hatte ihre Mutter selten so emotional aufgewühlt erlebt. Jetzt, da sie das Geheimnis ihrer Liebe kannte, fühlte sie sich gleich noch vertrauter mit ihr. War das schön, wenn man über alles so sprechen konnte. Wenn sie einmal verliebt wäre, würde sie sich sofort ihrer Mutter anvertrauen.

Monia war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte die selben Zweifel an ihrem Aussehen wie diese damals. Monia fand, dass die Augen der Mutter noch schöner waren als ihre eigenen, denn diese hatte geschwungene große Mandelaugen. Das konnte jedoch auch von der Farbe kommen, die sie sich um die Augen malte. Der Vater hatte Monia das Schminken jedoch noch nicht erlaubt.

Wie sollte sie folglich je die Aufmerksamkeit der Männer auf sich ziehen können und das hier mitten auf dem Land, wo ihr Vater sie versteckte, wenn Fremde vorbeizogen? Ihre Mutter, da war sich Monia sicher, würde ihr bestimmt helfen den richtigen Partner zu finden.

Wahrsagerin

Eines Morgens wurde Monia in der Früh von polterndem Lärm geweckt, den der Wind vom Pley herauf wehte, der unweit des Gehöfts ihres Vaters lag. Diese Geräusche waren ihr ganz fremd. Schnell lief sie zur Luke ihrer Kammer, um hinauszuspähen. Sie wollte wissen, wer oder was sich dort umtrieb.

Eine Gruppe von Fahrensleuten bestehend aus Gauklern, Quacksalbern, entstellten Krüppeln, Huren, erkennbar an ihren bunten Bändern und Bändiger von seltsamen Tieren war in den Weiler gekommen, der aus zerstreut liegenden Höfen bestand. Vierschrötige Kerle beschäftigten sich gerade damit, Zelte aufzustellen. Ein Schreier lief mit einer Trommel umher und machte einen Mordslärm. Er lief von Gehöft zu Gehöft und bettelte um Essen für die Menschen und Futter für die Tiere. Davon war sie wohl geweckt worden.

Sie wollte sofort hinaus. Doch dann fiel ihr das Verbot ihres Vaters ein, denn seit einiger Zeit musste sie immer zuerst ihn um Erlaubnis fragen, wenn sie aus dem Haus wollte. Bis vor Kurzem war es leicht für sie gewesen, ihn um ihren Finger zu wickeln. Sie hatte ihm nur lieb in die Augen sehen und ihn – mit ihrem mit kecken Lachgrübchen umrahmten Lächeln – anschauen müssen, dann war sein Vaterherz bereits geschmolzen. In letzter Zeit, das bereitete ihr Sorgen, blieb er zunehmend unnachgiebig. Er verbot ihr, ohne Begleitung hinauszugehen. So auch an diesem Tag: Erst wenn die notwendige Arbeit im Haus erledigt sei, dürfe sie, von einer Magd begleitet, hinaus.

Sie verstand die Beweggründe ihres Vaters nicht, über die er sie darüber hinaus im Unwissen ließ. Scheinbar hatte nur er mit den Augen eines Mannes die Veränderungen bemerkt, die Monia früh hatten reifen lassen.

Die Stunden dehnten sich, aber Burga hatte keine Zeit und ihre Mutter war nirgendwo aufzutreiben.

Im Innenhof fand sie ihren Vater, wie er gerade frisch eingetroffene Rauhware inspizierte. Der muffige Geruch ließ sie erahnen, dass einige Felle während des Transportes feucht geworden waren. Damit der dadurch entstandene Schaden, nicht noch größer würde, ließ er nun jedes Bündel öffnen und auf Gestellen ausbreiten. Nach dem Trocknen würde Wermutkraut zu Sträußen gebunden zwischen die Bündel eingefügt. Sie sollten mit ihrem bitteren Duft den dumpfen Mief vertreiben.

Vater sah sehr verärgert aus. Jetzt würde es überhaupt keinen Sinn machen, noch einmal zu versuchen, ihn umzustimmen. So beschloss sie, trotz des Verbotes heimlich aus der Hinterpforte zu entwischen, denn sie hielt die Spannung inzwischen nicht mehr aus.

Das Gehöft ihres Vaters lag mit Gesindegehöften und Lagerkaten etwas abseits und wegen Überschwemmungsgefahr erhöht, am Ufer der Rur. Zentraler lag das Gehöft ihres