Die Alchemie der Magie - Tabatha Portejoie - E-Book

Die Alchemie der Magie E-Book

Tabatha Portejoie

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Beschreibung

Der junge Dieb Merlin gerät an Bord des Luftschiffes des Prinzen Arthur Pendragon von Camelot und wird in Machenschaften nie geahnter Größe verwickelt. Um Druide zu werden, muss er nicht nur seine Vergangenheit ablegen, sondern sich auch mit dem arroganten Prinzen versöhnen, dessen Schicksal der Legende nach doch so eng mit dem seinen verwoben ist. Hier treffen Gegensätze und Genres zusammen - Klassisches Mantel und Degen-Abenteuer auf ein Steampunk-Luftschiff mit philosophischem Tiefgang, ein bisschen Fantasy, Science-Fiction, feministische und queere Elemente bilden die Grundbausteine dieser spritzigen, neuen Rezeptur der Artussage.

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Seitenzahl: 589

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Das Schwerste im Leben ist, Herz und Kopf dazu zu bringen,

zusammenzuarbeiten. In meinem Fall verkehren sie noch

nicht mal auf freundschaftlicher Basis.

– Platon

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DER ZAUBERER

DER BOTE

JÄGER UND SAMMLER

DAS TRUNKENE SCHIFF

KAFFEE AUS KONSTANTINOPEL

DIE BIBLIOTHEK

GEDANKENSCHÄRFE UND DEGENHIEBE

DER ERFINDER

ÄNDERUNG DES AGGREGATZUSTANDS

WETTSTREIT DER TEMPERAMENTE

DER STURM

LANCELOT DU LAC

HERMES UND ZEUS

PRIMA MATERIA

PHONETIK

DANKE

LIEBE:R LESER:IN

PROLOG

Im Jahr 180 erfindet der Römer Gaius Livius Naso die Dampfmaschine. Nie dagewesener technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt sind die Folge. Ein industrielles Zeitalter beginnt.

Bereits ein halbes Jahrhundert später ermöglicht die Erfindung der Eisenbahn einen regen Austausch von Waren, Gütern, von Menschen und Gedanken in nie geahnter Geschwindigkeit – von Britannien über Rom, Konstantinopel bis Alexandrien und darüber hinaus. Die Erfindung des Luftschiffs durch die griechische Gelehrte Hypatia von Alexandrien 384 stellt die Krönung dieser Entwicklungen dar und lässt Gelehrte die Gottgleichheit des Menschen proklamieren.

Die industrielle Revolution und der Austausch mit fremden Kulturen verändern das Leben der Menschen auch außerhalb der fragilen Grenzen des Römischen Reiches. Der Fortschritt findet auf medizinischer, wissenschaftlicher, technischer, gesellschaftlicher und auch philosophischer Ebene statt.

Gleichwohl bleiben die politischen Grenzen umstritten und umkämpft. Die Erfindung des Sprengstoffs bringt die Kriegsführung durch den Einsatz von Kanonen auf eine neue Stufe der Grausamkeit. Die britannischen Kleinkönigreiche kämpfen seit dreihundert Jahren gegen die Anstrengungen Roms, die Insel zu unterwerfen. Schließlich gelingt es einem britannischen Bündnis, die Römer und deren Söldner zurückzuschlagen und in einem Friedensvertrag den Abzug römischer Truppen zu erwirken. Doch die Söldner und ihre Familien bleiben und besetzen große Teile der Ostseite Britanniens.

Während das römische Reich seit 380 christlich ist und in Ériu das Christentum durch römische Missionare langsam Fuß fasst, bleiben die britannischen Reiche polytheistisch und bilden dadurch einen neuen ideologischen Gegenpol. In der Religion der Kelten sind Männer und Frauen gleichberechtigt, alle weiteren Geschlechter anerkannt und alle Arten der Liebe erlaubt.

Nachdem Uther Pendragon im Jahr 493 in Camelot unter mysteriösen Umständen stirbt, reißt sein Bruder Konstans die Macht an sich und errichtet eine Schreckensherrschaft. Der rechtmäßige Thronfolger Prinz Arthur und sein Gefolge fliehen...

DER ZAUBERER

»Komm schon, mach den Trick.«

»Ihr kennt ihn doch schon.«

»Komm schon, Merlin.«

»Ihr wisst doch, was passiert. Was ist spannend daran?«

»Wir kennen den Trick, aber wir wissen immer noch nicht, wie du es machst!«

»Na schön.«

Merlin hielt eine Bronzemünze zwischen Zeigefinger und Daumen, deren Rückseite eine Triskele schmückte.

»Könnt ihr sie alle sehen?«

Er schnippte einmal, und die Münze war verschwunden. Um zu zeigen, dass er sie nicht hinter den Fingern eingeklemmt hatte, spreizte er seine langen Finger und ließ sie von seinem Publikum inspizieren. Dann schnippte er noch einmal, und aus dem Nichts erschien die Münze wieder in seiner Handfläche. Seine Freunde klatschten begeistert. Um Merlins Lippen spielte ein leises Lächeln.

Natürlich war alles nur Trug. Die Münze tauchte nicht aus dem Nichts auf. Merlin hatte zuvor unbemerkt eine zweite Münze gleicher Art zwischen seinen schwarzen Locken versteckt, die durch ein kurzes Nicken direkt hinunter in seine offene Handfläche gefallen war. Und natürlich waren die jungen Leute, mit denen er am Tisch saß, nicht seine Freunde.

Beinahe jeden Abend hockte er mit Aleen, Stean und Drystan in einem anderen Pub und führte scheinbar improvisiert seine kleine Vorstellung auf. Er ließ Münzen verschwinden und hinter Ohren, unter Bierkrügen, in Hosentaschen oder Tabakbeuteln wieder auftauchen. Bei anderer Gelegenheit erriet er Karten aus den Gedanken der Zuschauer, ließ sie den Besitzer wechseln oder plötzlich verschwinden und an unmöglichen Orten wieder erscheinen.

Die meisten Tricks erforderten einiges an Fingerfertigkeit – die eigentliche Schwierigkeit lag jedoch woanders. Man musste die Aufmerksamkeit der Zuschauer absolut vereinnahmen und sie in jedem Moment so beherrschen, dass sie nicht bemerkten, was sich direkt unter ihren Augen abspielte. Merlin fand die Straßenzauberei bescheidener, anders als die Jahrmarktzauberei mit ihren groß-angelegten Effekten und visuellen Spektakeln. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, die Gaukler jedes Jahr auf dem großen Marktplatz von Tyneaach zu beobachten. Frauen, die Flammen spien wie die Drachen aus den Legenden, farbenprächtig gewandete Männer, die Schwerter schluckten, die länger waren als sein Arm, und Elektrisierer, die mit ihren Maschinen tanzende Blitze erzeugten als wären sie Taranis selbst. Mehr noch als die verschiedenen Kunststücke aber faszinierten ihn die verzauberten Blicke des Publikums. Es war denkbar einfach, jemanden zu überraschen, der nichts erwartete, doch die Zuschauer von Zauberkünstlern waren immer voreingenommen. Die wirkliche Herausforderung bestand also darin, ihre Erwartungen durch unerwartete Wendungen zu durchkreuzen und zu übertreffen. Man musste ihre Aufmerksamkeit lenken, ihre Wahrnehmung täuschen und sie dazu bringen, sich selbst zu hinterfragen. Genau das war die Magie. Wie viel besser war es also, diesen Effekt mit einem bloßen Fingerschnippen erzeugen zu können?

Aleen klopfte Merlin anerkennend auf den Rücken. »Ohne dich wär diese Bande hoffnungslos«, sagte sie mit einem Kopfnicken zu den anderen beiden Jungen und prostete ihm zu. »Wenn du schon so in Form bist, würde ich eigentlich sagen, lass uns gleich loslegen. Aber so bald will ich eigentlich keinen Fuß vor diese Tür setzen.«

Die Fenster des vollgestopften Pubs zeigten auf eine Straße, die nicht weniger grau und trostlos war als jede andere in Tyneaach, woran die rund um die Uhr brennenden Gaslaternen wenig ändern konnten. Seit Tagen rieselte der Regen aus dunklen Wolken und verwandelte die Straßen in schlammige Sturzbäche und Socken und Füße in matschige Klumpen – was die Arbeiter jedoch nicht daran hinderte, nach Feierabend in Strömen die Kneipen und Bars aufzusuchen, um sich dort die starren Glieder und Gedanken warmzutrinken.

»Seit drei Tagen läuft die Suppe nun schon«, sagte Drystan, der mit seiner Latzhose und Schiebermütze wie einer der Fabrikarbeiter aussah. Mit seinem feisten Gesicht und seiner untersetzten Statur wirkte sein Auftreten unschuldig, aber Merlin hatte gehört, dass er schon einmal jemanden umgelegt hatte. Mit dumpfen Augen blies er stetig Rauch aus seiner Pfeife aus. »Is schon ärgerlich. Die Zeit nach Beltane ist eigentlich die trockenste. Aber gut für die Bauern, schätze ich.«

»Und für uns«, sagte Stean. »Mehr Gedränge in den Schankstuben!« Er prostete ihnen zu.

Wenn Merlin gerade keine Nummer hinlegen konnte, rückte Stean den Leuten auf der Straße auf die Pelle. Er war klein, aber kräftig und ständig in Straßenkämpfe mit anderen Banden verwickelt. Merlin würde es nie wagen, sich mit ihm anzulegen. Glücklicherweise war er selbst dank einiger haarscharfer Fluchten nie in eine Schlägerei geraten, und hatte auch vor, dass es so blieb.

Merlin stieß mit Stean an, trank aber nicht. Er stellte seinen Krug ab und ließ die Finger über die kühle Oberfläche der goldenen Taschenuhr in seiner Hosentasche gleiten – der Ausbeute ihres heutigen Streifzugs. Er holte sie hervor, stellte sie auf ihre winzige Aufzugwelle und schnippte sie leicht an, sodass sie sich so schnell um ihre eigene Achse drehte, dass sie nur noch als golden flimmernder Wirbel zu erkennen war. Sie war leichte Beute gewesen. Er hatte den Mann mit schwarzem Zylinder und Monokel am Nachmittag auf der Straße gesehen, die Kette der Taschenuhr nachlässig an der Weste befestigt, den Kopf nichtsahnend in Richtung der herannahenden Straßenbahn gedreht. Ein einfacher Rempler hatte genügt, damit er die Befestigung der Uhr hatte lösen und die Kette aus dem Knopfloch ziehen können. Kein besonders raffiniertes Manöver, aber auch keine Gelegenheit, die man sich entgehen lassen durfte.

»Ist bestimmt ʼn Vermögen wert«, sagte Aleen. »Eochu wird ganz aus dem Häuschen sein!«

»Pass auf, sonst machst du sie noch kaputt! Gold ist empfindlich.« Stean versuchte nach der Uhr zu greifen, aber Merlin legte die Hand darüber.

»Schon gut, ihr passiert nichts. Es ist kein reines Gold. Es ist mit anderen Metallen vermischt, zur Härtung.«

»Ach ja? Gib sie mir nochmal.«

»Warum?«

»Ich will sie ansehen.«

»Na schön.« Merlin wusste, dass Stean nicht locker lassen würde, wollte aber keinen Streit anfangen. Widerwillig reichte er ihm die Uhr.

»Das wird den alten Wicht mit Sicherheit umhauen«, sagte Stean und betrachtete sie eingehend, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt. »Was istʼn das für ein Bild auf der Rückseite?«

»Das ist Konstantin«, sagte Merlin.

»Wer?«, fragte Drystan.

»Konstantin der Dritte, Vater von Großkönig Uther Pendragon von Logres. Hat vor achtzig Jahren die Römer verjagt.«

»Guter Mann.« Drystan nickte anerkennend und stieß eine Wolke Pfeifenrauch aus. »Stellt euch vor, diese Sandalenträger wären bis nach Ériu gekommen.«

»Dann würdest du jetzt einem gepuderten Konsul in irgendeinem Palast den Wein einschenken, Drystan«, sagte Stean.

»Ich persönlich frag mich, ob das so schlimm wär«, sinnierte Aleen. »Immerhin besser als die Mine, oder?«

»Spinnst du?«, rief Drystan. »Ein Leben lang Sklave sein? Für nichts würd ich meine Freiheit geben.«

»Ach ja? Für den richtigen Preis gibt jeder seine Freiheit auf«, sagte Stean. »Und Aleen – bist du wirklich so naiv zu glauben, du als Frau hättest irgendwas zu sagen bei den Römern? Als Mann darfst du dir nicht einmal aussuchen, wen du zu dir ins Bett mitnimmst. Und als Frau darfste sowieso gar nix wollen.«

Drystan schüttelte ungläubig den Kopf. »Und die sollen das Luftschiff erfunden haben? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Du kannst dir viel nicht vorstellen, Drystan. Aber natürlich haben die Römer das Luftschiff nicht erfunden. Sonst hätten die uns mit ʼner riesigen Flotte doch schon längst plattgemacht!«

»Ich glaube, das Luftschiff kann nur von einer Frau erfunden sein«, sagte Aleen herausfordernd.

»Ist es auch! Und weißt du auch, was dann mit ihr passiert ist? Nein? Dann lass es mich dir erzählen. Sie wurde von einem Mob wütender Christen ermordet und zerstückelt.«

Aleen schauderte.

»Da wärʼn wir wieder. Christen in Verbindung mit Römern? Keine gute Mischung, wenn ihr mich fragt«, sagte Drystan. »Ich würde keinem Christen überʼn Weg trauen.«

Merlin verfolgte das Gespräch nur am Rande. Er hatte es schon oft so oder so ähnlich gehört oder selbst geführt. Die Römer waren immer ein beliebtes Thema in den Schankstuben und wurden gerne für alles verantwortlich gemacht, was in Ériu schlecht lief – von Seuchen bis hin zum miesen Wetter. Was man den Römern jedoch zugute halten musste war, dass die technische Entwicklung auf den Inseln ohne die Römer nie so rasch stattgefunden hätte. Die Technologie der Thermen hatte die Grundlage für die Erfindung der Dampfmaschine gebildet, die das Leben der Menschen von Grund auf verändert hatte, doch erst die Erfindung des Luftschiffs hatte diese Entwicklung in exponentielle Höhen befördert, da plötzlich nie dagewesene Mengen an Waren, Gütern, Menschen und Wissen nunmehr frei über die unbewachten Luftgrenzen hatten verkehren können – von den britannischen Inseln über Konstantinopel, bis ins dreitausend Leugen entfernte Alexandrien. Merlin hatte gehört, dass die Griechen das erste funktionierende Luftschiff Argo genannt hatten. Er hatte die vier Bücher über die Sagen um Iason und die Argonauten innerhalb weniger schlafloser Nächte verschlungen – wären die Helden damals freilich schon auf einem Luftschiff unterwegs gewesen, wäre die Heldenreise wohl eine deutlich kürzere gewesen.

Was den Wohlstand anging, der mit dem Fortschritt einhergehen sollte, so sahen die Bewohner Tyneaachs wenig davon. Die Stadt erstreckte sich weitläufig um den Strom Voss in Cruachain, dem westlichen der vier Königreiche der grünen Insel Ériu. Im Gegensatz zu anderen großen Städten beherbergte sie keinen königlichen Sitz. Ihre Größe war einzig und allein ihrer starken Handelskraft geschuldet, die sie der Erschließung eines gewaltigen Blei- und Zinkvorkommens im letzten Jahrhundert zu verdanken hatte. Ein Großteil der hier ansässigen Bevölkerung war in dieses Geschäft mit eingebunden – hauptsächlich als Arbeiter in den Bergwerken und Fabriken, die zu der Weiterverarbeitung der Rohstoffe dienten. Zinn wurde für die Herstellung von Schmuck, Geschirr und Legierungen, Blei unter anderem für Rohrleitungen verwendet, und deshalb nach Britannien, der großen Insel, oder darüber hinaus exportiert. Die Fabriken waren Segen und Unheil zugleich für ihre Bewohner, denn die giftigen Dämpfe füllten die Straßen mit einem ewig gelblichen Nebel und die Heilanstalten auf dem Land mit Lungenkranken. Der Rauch legte sich als Ruß auf die Dächer, klebte an den Fassaden und kroch in jede Faser der Kleidung, was all die prächtigen importierten Farben innerhalb kürzester Zeit ergrauen ließ, um mit dem Rest der Masse im tristen Einheitsbrei der Stadt zu verschwinden.

Seit in den letzten Jahren immer mehr Maschinen für die Arbeit in der Mine eingesetzt wurden, verloren viele Menschen in Tyneaach ihre Arbeit. Die Straßen füllten sich seitdem zunehmend mit wandernden Händlern, die sich keine Ladenfläche leisten konnten, und die Beschäftigung von billigen Tagelöhnern war gang und gäbe. Merlin konnte sich glücklich schätzen, eine feste Anstellung zu haben. Seit fünf Jahren nun schon arbeitete er bei Eochu, dem ein kleiner Artefaktladen in einem der ärmeren Viertel der Stadt gehörte. Er war ein entfernter Cousin seiner Mutter und alles, was Merlin an Familie besaß. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und seinen Vater hatte er nie gekannt. Eochu hatte ihn damals aus dem Kloster geholt, in dem er aufgewachsen war, und bei sich aufgenommen. Seitdem hatte er jeden Tag im Laden verbracht, hatte Vasen entstaubt, Lampen geölt, alte Kompasse repariert, Buch geführt, gelernt, mit Kunden zu feilschen, zu lügen und zu stehlen.

Eochu hatte Merlin mit einer Gruppe von Leuten seines Alters bekannt gemacht, die für eine seiner schmierigen Freundinnen mit dem Namen Mugain arbeiteten, und ihn gelegentlich auf ihre Streifzüge mitnahmen. Aleen, Stean und Drystan waren oft zu dritt unterwegs, aber zu viert lief es immer besser. Es ging nicht darum, eine locker sitzende Handtasche von einer ahnungslosen Schulter herunterzureißen und dann so schnell wie möglich zu rennen. Es war wichtig, dass die bestohlene Person gar nicht bemerkte, dass sie bestohlen wurde, und das hieß vor allem eines – Ablenkung. In einer Gruppe zu arbeiten war deshalb am einfachsten. Merlin und Stean spielten abwechselnd den Blocker, der das Ablenkungsmanöver inszenierte, Aleen den Zieher, der die Tat durchführte, und Drystan den Schatten, der das Erbeutete unbemerkt verschwinden ließ. Dabei handelte es sich um jahrhundertealte Taschenspielertricks, die aber gut funktionierten – Merlin veranstaltete eine kleine Zaubervorstellung, während die anderen zwischen den Zuschauern umhergingen und sie um ihre Wertgegenstände erleichterten. Das war Merlins Lieblingsmanöver, und er hatte so sehr Gefallen daran gefunden, dass er sich immer neue Zaubertricks einfielen ließ, um seine Kameraden und sein Publikum zu unterhalten. Der Nachteil an dem Manöver aber war, dass man sich so schnell wie möglich wieder verziehen musste, bevor irgendjemand aus der Menge den Diebstahl bemerkte. Sie wechselten daher regelmäßig die Kneipen, von denen es in Tyneaach Dutzende gab, oder verlegten die Vorführung jetzt, wo Sommer war, auf Straßenecken oder den Hafen, an dem allgemeine Geschäftigkeit herrschte, wo Händler und Geschäftsleute von weither mit ihren Luftschiffen anlegten und ihre Gesichter schnell vergaßen, wenn nicht gerade tagelang anhaltende, sintflutartige Regenfälle übers Land zogen.

Was den christlichen Glauben anging, so war dieser ebenso verrufen wie die Römer und fand lediglich Anhänger bei den Mächtigen. Die Könige der benachbarten Reiche Mumhans und Laigins hatten den Glauben im letzten Jahrhundert angenommen, während das Volk den wie Pilze aus dem Boden schießenden Klöstern misstrauisch gegenüber stand. Bei den Mönchen hatte Merlin nicht nur das Lesen und Schreiben gelernt, sondern auch Latein und das, was die Römer die septem artes liberales nannten – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – bis er mit sechzehn Jahren von Eochu vom Kloster geholt wurde. Die Mönche hatten erst vor hundert Jahren in Ériu Fuß gefasst und stellten mit ihrem christlichen Glauben im Volk noch eine Minderheit dar, das weiterhin den hiesigen Göttern huldigte – wenn auch nicht in Tyneaach, das nach Merlins Meinung der von sämtlichen Göttern verlassenste Ort der Welt war. Freilich glaubte er selbst an gar keine Götter, weder an die hiesigen noch an die römischen oder griechischen, wenn ihm auch die Vorstellung eines einzigen Gottes mehr widerstrebte als die mehrerer – eine Haltung, die ihn im Kloster nicht nur ein Mal in unangenehme Situationen gebracht hatte, bevor er gelernt hatte, sie für sich zu behalten. Und doch war es ihm dort besser ergangen als jetzt. Er hatte regelmäßige Mahlzeiten gehabt, war nicht in kriminelle Machenschaften verstrickt und hatte darüberhinaus Zugang zu Büchern gehabt – ein Luxus, den er sich jetzt hart erarbeiten musste.

»Wie auch immer«, sagte Aleen ungeduldig. »Die Gravur macht die Uhr wahrscheinlich noch wertvoller. Der Kerl, dem du sie abgeluchst hast, ist bestimmt schon ganz verzweifelt auf der Suche nach ihr.«

»Deswegen wird Eochu auch hoffentlich nicht so blöd sein, sie sofort auszustellen«, sagte Stean und reichte Merlin die Uhr zurück. »Bis Ende des Jahres sollte er mindestens warten. Nach sechs Monden wird das Suchverfahren frühestens eingestellt. Komm, zieh an«, fügte er mit erhobener Augenbraue an Merlin gewandt hinzu. »Ist das etwa immer noch dein erstes Bier?«

Merlin zuckte mit den Schultern. »Ich behalt gern einen klaren Kopf. Immerhin mach ich die anspruchsvolle Arbeit, Stean.«

»Halt die Bälle flach, Zauberer«, murmelte Stean, während Drystan lachte.

Merlin lag nichts an einem offenen Streit mit Stean, in Gesellschaft war jedoch gegen ein paar als Scherz getarnte Seitenhiebe nichts einzuwenden, vor allem, weil Stean derjenige war, der, wenn er den Blocker machte, mit Vorliebe schutzlose Frauen einschüchterte, begrapschte und einen Gefallen am Stehlen fand, der Merlin fremd war und über bloße Notwendigkeit weit hinausging. Es war zwar feige, aber die einzige Weise, wie er Stean für seine widerliche Art zur Rechenschaft ziehen konnte.

Merlin stahl selbst nicht gerne, aber er wusste, dass er in dieser Hinsicht keine Wahl hatte. Und er konnte nicht umhin, seine Zaubernummern zu genießen, die zwar ein wichtiger Teil des Diebstahls waren, aber nicht das Stehlen selbst. Was Stehlen und Zaubern gemeinsam hatten, war das Element der Täuschung. Er liebte es, Karten und Münzen verschwinden und wieder auftauchen zu lassen, als könnte er sie tatsächlich in Luft auflösen und aus dem Nichts heraufbeschwören. Die Überraschung in den Gesichtern der Leute, der Moment der Fassungslosigkeit, da etwas passierte, das sie sich nicht erklären konnten, faszinierten ihn, und der Gedanke, dass nur er selbst im Besitz des Wissens war und ihre Reaktionen kontrollieren konnte, erzeugte in ihm ein euphorisches Gefühl.

Das Zaubern war ihm zwar lieber als das Stehlen, aber beides erforderte ein gewisses Maß an Enthemmung. Merlin hatte früh gelernt, dass, wenn ein Diebstahl oder ein Trickbetrug gelingen sollte, man gewisse Grenzen abbauen musste, – das wirkliche Verbrechen war nicht, dass die Taschenuhr eines reichen Geschäftsmannes im Wert von hundert gelben Potins verschwand. Das eigentliche Verbrechen war, dass man die Grundpfeiler, die für ein geregeltes Zusammenleben sorgten, völlig über den Haufen werfen musste. Wenn man eine gehetzte Geschäftsfrau nach dem Weg fragte oder eine Person auf dem Markt nach Wechselgeld fragte, musste man Sitte und Anstand nicht nur vergessen, sondern diese Tugenden bei anderen Menschen auch noch schamlos ausnutzen. Sich im Recht zu fühlen, jemandes Eigentum zu entwenden, war ein geringeres Problem für Merlin. Es war letztlich immer eine Frage der Verhältnisse. Ein Geschäftsmann konnte gut auf zehn Potts verzichten, da es für ihn wenig Geld war, für ihn selbst jedoch ein kleines Vermögen. Und er riskierte eine Menge, wenn er stahl – eine Gefängnisstrafe oder sogar gleich den Galgen, was mehr war, als der Geschäftsmann verlor, wenn der Diebstahl gelang.

Sie stahlen Taschenuhren, Tabaketuis, Ringe, Armbänder und anderen Kram, den Eochu in seinem Laden zu horrenden Preisen weiterverscherbelte. Nicht zuletzt deshalb war es am sichersten, Leute zu bestehlen, die nicht aus Tyneaach kamen. Neben recht eindeutigen Indizien wie den charakteristischen Minenhelmen und der von Kohle und Rauch verschmutzte Kleidung der Einheimischen, gab auch der Akzent Aufschluss. Das Bürgertum sprach in Städten mit vertretenem Adelsstand vornehm und klar, während Tyneaach-Bürger einen rauen, unprätentiösen Umgangston pflegten. Auch Merlin hatte sich in seiner Zeit hier einen Akzent angeeignet und die reine Artikulation aus dem Kloster nahezu gänzlich abgelegt.

»Ihr wollt heute wirklich noch ein Manöver machen, oder?«, fragte Aleen. Aus ihrer Stimme war deutlich herauszuhören, dass sie sich auf einen freien Abend gefreut hatte.

»Auf jeden Fall«, antwortete Merlin ohne aufzusehen.

»Wie wärʼs mit einer kleinen Darbietung?«, fragte Stean.

»Ich bin dafür«, sagte Merlin und nahm einen Schluck aus seinem Krug. Die Taschenuhr war bereits eine große Ausbeute, aber ein guter Tag durfte nicht ungenutzt verstreichen.

Aleen würde jetzt aufstehen und sich unauffällig entfernen, Stean würde die Stimme erheben und Merlin auffordern, ihm seinen Trick noch einmal zu zeigen, was hoffentlich die Aufmerksamkeit ein paar Umstehender erregen würde. Merlin würde ein paar Tricks vorführen, während Aleen die Abgelenkten bestahl. Doch als Aleen aufstehen wollte, packte Stean sie am Arm. Er beugte sich zu Merlin vor und grinste ihn schief an. »Zeig uns, wie es geht.«

Aleen und Drystan blickten Stean verwirrt an.

»Ja, gerne. Dann geht in Position?«, sagte Merlin verständnislos.

»Nein, du verstehst mich falsch«, sagte Stean mit einem gekünstelten Lachen und ließ Merlin nicht aus den Augen. »Ich sagte: Zeig du uns, wie es geht.«

»Was meinst du?«

»Du bist wohl doch nicht so gescheit, wie du denkst. Ich meine – allein. Ohne unsere Hilfe.«

»Komm schon, Stean«, sagte Drystan und blickte nervös zu Stean, der Merlin immer noch herausfordernd anstarrte.

»Haltʼs Maul, Drystan«, murmelte Stean, und Drystan erbleichte. »Man muss doch in Übung bleiben. Oder nicht? Aleen, du hast doch gesagt, ohne ihn ist unsere Bande nichts. Dann soll er es beweisen.«

Merlin verstand nicht, warum Stean es heute Abend auf ihn abgesehen zu haben schien, beschloss aber, dass es wichtig war, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Es hatte schon früher Spannungen zwischen ihnen gegeben, obwohl er es selbst nie darauf angelegt hatte. Irgendetwas an ihm schien Stean zu provozieren. Vielleicht ärgerte ihn, dass die Ausbeute mit Merlin als Blocker immer einträglicher war als mit ihm. Merlin befühlte die Uhr in seiner Hosentasche und fühlte sich sofort zuversichtlicher.

»Na schön. Du wählst, Stean«, sagte er bemüht lässig.

Zwar schrumpfte die Wahrscheinlichkeit auf reichen Ertrag, wenn sie nicht als Gruppe arbeiteten, aber Merlin hatte ja bereits die Taschenuhr erbeutet. Und vielleicht schadete es nicht, nach langer Zeit wieder alleine auf die Pirsch zu gehen. Wenn es nach hinten losginge, könnte er in der Menge schnell verschwinden.

Mit geschultem Blick sah sich die Gruppe nach einem attraktiven Ziel um. Das konnte eine Geschäftsfrau sein, die von ihrer Zeitung völlig eingenommen war, ein in ein Gespräch vertiefter Herr, oder eine Person, die gerade ihren Geldbeutel gezückt hatte. Je nachdem, welcher Art das Ziel und die Situation war, war das Vorgehen anders, aber das Prinzip war immer gleich – es ging darum, eine Diversion auszunutzen oder künstlich herbeizuführen. Dafür gab es verschiedene Manöver, die gut einstudiert in neun von zehn Fällen funktionierten. Man musste nah an die Menschen herankommen, näher als es soziale Konventionen normalerweise geboten. Große Menschenmengen waren dafür natürlich prädestiniert. Niemand wurde misstrauisch, wenn sich jemand auf dem Marktplatz oder in einem überfüllten Eisenbahnabteil aus Platzmangel dicht herandrängte. Pubs eigneten sich daher hervorragend, vor allem, weil die Leute darin auch noch angetrunken waren und damit ihre Achtsamkeit heruntergesetzt war. Allerdings gab es viel Kriminalität auf Tyneaachs Straßen und die Leute waren vorsichtig geworden, hängten nicht mehr achtlos ihre Jacken über die Stuhllehne und trugen ihre Wertgegenstände nah am Körper. Jede Gelegenheit musste deshalb genutzt werden.

»Da drüben.« Stean deutete auf eine Sitzecke an der Bar.

Eine hochgewachsene Frau saß dort. Ihre braunen Haare waren schulterlang und ihre Montur ungewöhnlich. Sie trug einen schweren braunen Mantel mit schimmernden Knöpfen an den Ärmelaufschlägen, ebenfalls schwarze, kniehohe Stiefel mit auffälligen Absätzen. Eine Delle in ihrem Mantel wies unmissverständlich auf die Anwesenheit eines Degens hin, was Merlins Mut sinken ließ.

»Die Frau?«

»Nee«, sagte Stean. »Der Kerl neben ihr.«

Merlins Augen wanderten erleichtert zu dem jungen Mann neben ihr, der in seinem Alter war. Er trug einen speckigen grauen Mantel und rauchte Pfeife. Möglicherweise war er Vorarbeiter in den Minen, vielleicht aber auch Straßenbahnführer.

»Gut«, sagte Merlin, jetzt wieder mit leichterem Herzen. »Darf ich mir die vielleicht ausleihen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte er sich vor und zog Drystan die Pfeife aus dem Mund.

Während er auf die Bar zuschritt, den noch rauchenden Tabak aus der Pfeife pflückte und auf den feuchten Holzdielen zertrat, versuchte er, sein Vorgehen zu planen. Jeder Diebstahl war anders, wie auch jedes Publikum anders war. Ein gut einstudierter Trick, der bei dem einen Publikum gut funktionierte, konnte beim anderen in die Hose gehen. Er musste langsam und mit viel Fingerspitzengefühl vorgehen. Tyneaach war ein Ort, an dem man leicht in Konflikt mit den falschen Leuten geraten konnte. Misstrauen war überlebenswichtig, und der einzige Zeitpunkt, zu dem Merlin sich wirklich sicher fühlte, war, wenn er überhaupt nichts mit Menschen zu tun hatte. Selbstvertrauen war nichts, was er von Natur aus besaß oder überzeugend genug spielen konnte. Stean schaffte es meist instinktiv, durch sein Auftreten die Aufmerksamkeit der Menschen einzufangen. Merlin dagegen brauchte seine Karten oder Münzen, die von ihm selbst ablenkten. Er hatte nur einen Trumpf im Ärmel, den er spielen konnte.

Seine Nerven kribbelten aufgeregt, als er neben dem Jungen an den Tresen trat. Mit einem Handzeichen bestellte er ein Bier. Er blickte zurück zu Stean, Aleen und Drystan, die in sicherer Entfernung an ihrem Tisch saßen und versuchten, ihn durch die rappelvolle Bar im Blick zu behalten. Eine junge Kellnerin stellte ihm sein Bier hin, und als er ihr zwei graue Potts reichte, musterte sie ihn ungeniert und schüttelte den Kopf.

»Geht aufs Haus für dich, Täubchen. Später kannst du dich gerne bei mir bedanken.«

»Nein, wirklich«, sagte Merlin peinlich berührt und streckte ihr die Münzen weiterhin entgegen, bis sie sie ihm schließlich achselzuckend abnahm. Ihm war bewusst, dass sein Äußeres oft der Grund dafür gewesen war, dass die Leute, die er auf der Straße ansprach, nicht sofort kehrtmachten und ihn die Blicke von jungen Männern und Frauen in den Kneipen verfolgten – was, wie er glaubte, größtenteils daran lag, dass er nicht in Tyneaach aufgewachsen war und ihm die Stadt daher ihr trostloses Antlitz nicht schon seit frühesten Kindestagen aufgedrückt hatte – doch sie waren ihm äußerst unangenehm und trugen nur noch mehr dazu bei, dass er sich an diesem Ort fremd fühlte. Er war hochgewachsen, hatte rabenschwarzes, lockiges Haar, graue Augen und schmale, tiefrote Lippen, die einen starken Kontrast zu seiner fahlen Gesichtsfarbe, die im Vergleich zu den restlichen Bewohnern Tyneaachs jedoch gesund und frisch wirken mochte. Seine drahtigen Glieder und langen Finger waren zu zart für jegliches Handwerk, aber außerordentlich geschickt und flink, wenn es darum ging, Karten und Münzen tanzen zu lassen.

Er nahm einen Schluck und sah, dass sein Ziel ihn bereits musterte.

»Nicht dein Typ?«, fragte er und nickte zur Kellnerin, deren Enttäuschung nicht langwierig war und die sich wieder anderen Gästen zugewandt hatte.

»Ich bin ungern jemandem was schuldig.«

»Ja, das wird es sein«, schnaubte der Junge.

»Und sie ist nicht mein Typ.« Merlin zwinkerte vertraulich, steckte sich Drystans Pfeife in den Mund und tastete die Taschen seiner Jacke ab. Er schüttelte demonstrativ den Kopf. »Wo hab ich heute nur meinen Kopf? Jetzt habe ich doch glatt meine Streichhölzer vergessen. Du hast nicht vielleicht –?«

Der Junge nickte gleichmütig, griff in seine innere Jackentasche. Merlin sah keine Ausbuchtung, die auf die Anwesenheit eines Geldbeutels hingedeutet hätte. Er musste ihn also woanders tragen, vermutlich in den Manteltaschen. Das würde seine Aufgabe um einiges erleichtern.

»Danke dir!«, sagte Merlin, nahm eine kleine Schachtel entgegen, entnahm ihr ein Streichholz, rieb es über den Tresen und entzündete damit die knisternden Tabakreste im Pfeifenkopf, während er die Glut durch kräftiges Saugen anfachte. Weil er ohnehin schon genug hustete, rauchte er selten, aber er hatte oft genug gesehen, wie Drystan seine Pfeife stopfte und ab und zu mitgeraucht. Er gab dem Jungen die Schachtel zurück und paffte bis die ganze Oberfläche des Tabaks rot glühte. Dann saugte er ein paar Mal und spürte, wie der heiße, süße Rauch seine Lunge füllte. Er versuchte, das Kratzen in seiner Kehle und die kalte Feuchte in seinen Handinnenflächen zu ignorieren.

»Meine Freunde finden meine Kartentricks nicht gut«, sagte er nebensächlich an den Jungen gewandt, als hätte er sich schon die ganze Zeit mit ihm unterhalten.

»Ach, wirklich?«, sagte dieser ohne Merlin anzusehen.

»Oh ja! Sie sagen, ich muss noch üben, bevor ich sie irgendjemandem zeigen kann, sonst mache ich mich lächerlich.«

Der Junge lachte hölzern, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug. »Dann ist es wahrscheinlich auch so.«

»Hm«, sagte Merlin, als würde er überlegen. »Könnte ich ihn dir vielleicht zeigen? Sagen wir... wenn du ihn gut findest, schuldest du mir ein Bier. Wenn du ihn scheiße findest, geb ich dir eins aus. Klingt das fair?«

Der Junge hob die Brauen, was Merlin sagte, dass er ihn für einen Trottel hielt.

»Na schön, dann zeig mal her«, sagte der Junge und beugte sich vor.

Merlin lachte erleichtert auf und holte sein Kartenset aus einem speziell dafür vorgesehenen Lederetui, das an seinem Gürtel befestigt war. Es war ein schönes Set, kein gedruckter Holzschnitt oder Kupferstich, sondern ein handgemaltes, das sicherlich mal irgendeiner Edelfrau gehört hatte und das er vor Eochu vor ein paar Jahren in Sicherheit gebracht hatte. Es war ein eirisches Blatt mit Kelch, Klee, Münze und Lanze, die die vier Stände repräsentierten – Druiden, Bauern, Bürger und Adel. Er hatte schon viele verschiedene Kartendecks bei Eochu verkauft und wusste, dass sich die eirischen, britannischen, römischen und persischen nur hinsichtlich der Symbole, nicht aber der Symbolik unterschieden.

Merlin mischte die Karten und verteilte sie mit dem Blatt nach unten auf dem Tresen. Dann schob er sie zu einem scheinbar wirren Haufen zusammen und sagte: »Ich bitte dich nun, nacheinander drei Karten auszuwählen, und ich werde jede einzelne dieser Karten erraten, bevor du sie ziehst. Am Schluss wähle ich eine dazu.«

»Schön, leg los.«

»Gut. Als erstes wirst du das Klee-Ass wählen.«

»Werde ich das?« Der Junge deutete auf eine Karte und Merlin nahm sie an sich, bevor dieser sie ansehen konnte.

»Dachte ichʼs mir doch«, sagte er mit einem Blick auf die Karte.

»Ach ja? Zeig her.«

»Zuerst musst du die anderen beiden wählen. Zum Beispiel jetzt den Münz-Buben.«

Der Junge zeigte auf eine weitere Karte, und Merlin nahm sie an sich.

»Und den Kelch-König.«

Nachdem der Junge auf eine letzte Karte gedeutet hatte, nahm Merlin das Kelch-Ass aus dem Stapel, von dem er genau wusste, wo es sich befand. Der Trick war einfach, denn er erforderte keine besondere Fingerfertigkeit, was bedeutete, dass Merlin genug Gelegenheit hatte, die Jackentaschen des Jungen auszukundschaften. Man musste nur Art und Ort der Karte kennen, die man als erstes nannte. Der Rest war ein Kinderspiel. Man las einfach Zahl und Farbe der Karten vor, die das Gegenüber willkürlich auswählte, und nahm am Schluss die bekannte Karte aus dem Haufen.

Merlin deckte das Blatt auf und zeigte genau die Karten, die er vorausgesagt hatte – das Klee-Ass, den Kelch-König, das Kelch-Ass und den Münz-Buben, der in diesem Kartendeck nach bretonischer Art mit einem »V« gekennzeichnet war. Der Junge gab sich gleichgültig, doch Merlin war inzwischen zu geübt, als dass ihm das überraschte Aufblitzen seiner Augen entgangen wäre.

»Nett«, sagte er und grinste. »Aber haut mich nicht vom Hocker. Wo ist mein Bier?«

Merlin seufzte, klopfte dem Jungen auf die Schulter und auf die Bar, bestellte noch ein Bier und bezahlte die Wirtin. Mit einem säuerlichen Kopfnicken verabschiedete er sich von dem Jungen, der ihm feixend zuprostete, und bahnte sich einen Weg zurück zum Tisch. Er setzte sich und reichte Drystan seine Pfeife zurück.

»Und?«

Er, Stean und Aleen sahen ihn fragend an. Merlin genoss diesen Augenblick. Er war der beste am Zaubern. Der Moment, bevor er einen verschwundenen Gegenstand wieder auftauchen ließ. Der Moment größter Spannung, kurz bevor die Anspannung nachlassen und grenzenloser Erleichterung und Entspannung weichen würde, das Unwissen von Verständnis abgelöst wurde und nur er im Besitz der Antwort auf die Frage war, die zum Zerreißen gespannt im Raum stand. Der Moment vor dem Applaus. Mit einem verspielten Lächeln griff er in seine Jackentasche und produzierte einen schmutzigen schwarzen Geldbeutel, der mit einem verheißungsvollen Scheppern auf dem Tisch landete.

Drystan und Aleen klopften anerkennend mit der Faust auf den Tisch.

»Seitentasche oder Innentasche?«, fragte Stean.

»Seitentasche.«

»Kinderspiel also. Wie hast du geblockt? «

»Kartentrick. Hat mir genug Zeit mit seinen Taschen gegeben.«

»Guter Mann«, sagte Drystan.

Stean hob feierlich seinen Krug, und sie stießen an. Merlin wusste, dass er bald das Weite suchen musste, weil der Junge an der Bar spätestens dann auf seinen Verlust aufmerksam werden würde, wenn er ein weiteres Bier bestellte. Er warf einen Blick zurück zur Bar, um zu prüfen, ob der Junge ihn von hier aus sehen konnte, der aber war bereits verschwunden.

»Was ist los?«, fragte Drystan.

»Er ist nicht mehr da«, sagte Merlin.

»Umso besser«, sagte Stean und klopfte auf den Tisch. »Setz dich, Zauberer! Du hast es dir verdient.«

»Aber er hatte doch noch ein volles Bier.«

»Vielleicht hatʼs ihm nicht mehr geschmeckt«, sagte Stean und winkte der Bedienung, die gerade an ihrem Tisch vorbeilief. »Passiert manchmal.«

»Dir passiert das nie, Stean«, sagte Merlin und reckte weiter den Hals.

»Entspann dich und setz dich hin. Die nächste Runde geht auf mich.«

Merlin zuckte die Achseln und setzte sich wieder hin. Sie tranken die zweite Runde auf Steans Nacken und stießen auf Merlins heutige Ausbeute an. Er würde Aleen, Stean und Drystan den Geldbeutel überlassen, und Eochu würde über die Uhr hocherfreut sein. Dennoch musste Merlin um sieben wieder im Laden stehen, während die anderen ausschlafen konnten, ehe sie am Nachmittag zu dritt auf Streifzug gehen würden.

Zwei Bier später verließen sie den Pub, und Merlin fühlte sich vom Bier und dem Gewicht in den Taschen angenehm benebelt und beschwert. Um sie herum ragten mehrstöckige Gebäude aus schlichtem rotem Ziegelstein in die Höhe, in denen die Minenarbeiter auf kleinstem Raum hausten. Der immerwährende Nebel, eine Mischung aus Rauch und Dampf aus den Fabrikschloten, ließ auch nachts nicht nach, sondern hatte sich sogar noch verdichtet. Die bedrückenden Schwaden wurden nur hier und da von dem grünlichen Licht aus den Gaslaternen am Straßenrand durchdrungen und versperrten die Sicht auf den Nachthimmel. Der Regen hatte nachgelassen, und es nieselte nur noch schwach auf die schlammigen Straßen, in denen die Abdrücke von Kutschenrädern und Pferdehufen den Schlamm zu einem tristen Relief modellierten. Man musste jeden Schritt sorgfältig setzen, damit man nicht bis zu den Ärmeln hoch mit grauer Suppe bespritzte wurde. Sie bogen in die schmale Seitengasse direkt neben der Kneipe ein, die zu einer Straßenbahn führte. Auf diese konnten sie unbemerkt aufspringen, um in ihr Viertel Aer Maith zu gelangen.

Sie hatten die dunkle Gasse noch nicht zur Hälfte durchquert, als sie hinter sich schnelle Schritte hörten. Merlin hatte nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, als sich jemand eine Faust voll Haare packte. Er japste, und seine Kameraden blickten erschrocken auf einen Punkt hinter ihm.

»Ganz ruhig«, sagte eine junge Männerstimme an Merlins Ohr, die von den roten Steinwänden widerhallte. »Wir wollen doch hier keine Schlägerei anfangen, oder? Ihr seid wohl die Bande, die meine Leute letzte Woche abgezogen hat. Ich hab ihn gleich wiedererkannt.« Eine Hand wühlte in Merlins Jackentaschen. »Ich nehme das wieder an mich, wenn du nichts dagegen hast.«

»Nein, gar nichts,« krächzte Merlin. Die Hand ließ Merlin los und gab ihm noch einen Ruck nach vorne. Seine Beine strauchelten, und er wäre beinahe gefallen. Als er sich umdrehte, erkannte er den Jungen von der Bar. Hinter ihm standen ein paar Leute in seinem Alter, die zu ihm zu gehören schienen und ihn angriffslustig musterten.

»Du bist ein witziger Kerl, hm? «, sagte der Junge. »Hast mich gut verarscht. Aber oh, was haben wir denn da?« In seiner Hand hielt er die goldene Taschenuhr.

Ohne nachzudenken stürzte sich Merlin auf ihn, aber zwei Paar Hände packten seine Arme und hielten ihn zurück, und plötzlich spürte er eine Faust in seinem Bauch. Keuchend knickte er vorn-über, sodass er mit den Knien in den feuchten Matsch sank. Er hörte ein Handgemenge und sich rasch entfernende Schritte mehrerer Leute.

»Lasst sie ziehen!«, rief der Junge. »Ich brauch nur den hier.« Er beugte sich über Merlin.

»Es tut mir Leid«, sagte er, denn es war das einzige, was er sagen konnte. Der Junge trat auf ihn zu, packte ihn am Kragen und versetzte ihm einen harten Schlag gegen die Schläfe. Die Hände, die ihn immer noch festhielten, verhinderten, dass er von der Wucht des Hiebes zu Boden fiel. Zu dem Nebel in seinem Kopf gesellten sich Sterne. Der Junge holte zu einem weiteren Schlag aus.

»Das ist genug!«

Der Junge hielt inne, und Merlin hob den Kopf. Eine große Gestalt stand am Eingang der Gasse. Eine Straßenlaterne beleuchtete die imposante Silhouette nur von hinten, während ihr Gesicht im Schatten lag.

»Halt dich da raus!«, rief der Junge unbeeindruckt.

Die Gestalt trat einen Schritt näher. Die Hände ließen Merlin los.

»Ihr seid zu sechst gegen einen? Ziemlich feige, findet ihr nicht?«

»Is mir ziemlich egal, was du denkst, Weib! Jetzt zieh Leine!«, rief der Junge, aber seine Stimme klang nicht mehr ganz so sicher.

Die Gestalt kam näher.

»Lasst ihn gehen«, sagte sie ruhig, aber mit einem drohenden Ton in der Stimme.

Merlin beobachtete entsetzt, wie der Junge ein Messer zückte und vor sich ausstreckte. Dann war das Klirren von Metall auf Metall zu hören und ein dumpf klatschendes Geräusch, als es in eine schlammige Pfütze fiel.

»Ich wiederhole mich eigentlich nur ungern«, sagte die Frau und hob ihren Degen.

Der Junge stolperte zurück und wagte es nicht einmal, sein Messer wieder aufzuheben. Im Laufschritt entfernte er sich mit seinen Leuten in entgegengesetzter Richtung aus der Gasse.

»Alles in Ordnung bei dir, Bruder?« Die Fremde trat auf Merlin zu und streckte die Hand aus. Merlin nahm sie und rappelte sich auf. Sein Schädel pochte unangenehm, und er fühlte sich ganz wackelig auf den Beinen.

»I-ich denke schon«, ächzte er und rieb sich den Kopf. Er blickte auf und erkannte plötzlich seine Retterin. Es war die Frau von der Bar, kein Zweifel. Sie trug jetzt einen Hut mit breiter Krempe. Ihre Haare darunter waren schulterlang und ebenso braun wie ihre Augen, die in eben diesem Moment prüfend über Merlins Gesicht flogen. Sie war gut zehn Jahre älter als er und vermutlich auch doppelt so breit. Obwohl er selbst nicht klein war, überragte sie ihn um gut einen Kopf. Hätte sie gewollt, hätte sie den Jungen vorhin auseinandernehmen können, so viel war sicher.

»Wo sind deine Freunde?«, fragte die Frau. Sie sprach mit klarer Stimme in einem Akzent, den Merlin als den der großen Insel erkannte.

»Haben sich wohl verpisst«, sagte er und rieb sich die pochende Schläfe.

»Das sind keine guten Freunde.«

Ihre Bemerkung versetzte Merlin einen Stich. Natürlich waren sie geflohen, er hätte dasselbe getan.

»Die anderen hatten Messer«, sagte er trotzig, aber seine Stimme klang nicht annähernd so fest, wie er es gern gehabt hätte.

»Trotzdem. Einen Kameraden lässt man nicht zurück. Es hat keine Ehre.«

Ihre Worte ließen Merlin stutzen. Er betrachtete die Fremde genauer. An Haltung und Gang konnte man deutlich eine vornehme Herkunft erkennen, und auch ihre Kleidung schien aristokratisch, wenn auch stark beansprucht. Ihr Mantel war an vielen Stellen verfärbt, und hie und da schälte sich das Leder in Folge eines Risses. Sie musste weitgereist sein, vielleicht sogar über mehrere Kontinente. Ihr Gesicht hatte weichere Konturen als der Rest ihrer Erscheinung, und ihr Blick war bestimmt, aber freundlich. Mit Sicherheit eine Edelfrau, vielleicht ein Mitglied der königlichen Garde oder eine Ritterin. Allerdings trug sie kein Wappen, das ihre Herkunft oder Zugehörigkeit verraten hätte.

»Wenn Ihr auf der Suche nach Ehre seid, seid Ihr am falschen Ort«, sagte Merlin zerknirscht und bückte sich, um wenigstens ein bisschen Schlamm von seiner Hose zu wischen. Es half nichts, sie war bis zu den Knien durchgeweicht, und seine Socken fühlten sich klitschnass an. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

»Er hat die Uhr!«

»Deine Uhr?«

»Ja, er hat meine Uhr! Verflucht! Die Fomori sollen ihn holen, den verdammten –«

»– Mäßige dich, Bruder! Du wirst noch Geister heraufbeschwören. Was für eine Uhr?«

»Eine Taschenuhr! Sie war golden und –«

»War das deine Uhr?«

»Meine –? Nein, natürlich nicht. Aber sie war viel wert!« Merlin kickte mit dem Fuß gegen das Gebäude, dass ihm die Zehen schmerzten und schlug die Hände über den Kopf. Er konnte es nicht fassen. Die Uhr war leicht zweihundert gelbe Potins wert gewesen, mehr als seine gesamten Ersparnisse.

»Da haben sie dir wohl ein Geschäft vermiest, das ist natürlich ärgerlich«, sagte die Fremde.

»Nein, du verstehst nicht«, sagte Merlin ärgerlich. »Sie war quasi mein Ticket raus aus diesem Drecksloch!«

»Oh. Wie das?«

»Egal«, sagte Merlin und rieb sich die schmerzenden Schläfen.

»Nun, du warst auch ein bisschen leichtsinnig. Warum hast du dich nicht sofort aus dem Staub gemacht, nachdem du ihn abgezogen hattest?«

Merlin sperrte überrascht den Mund auf.

Die Frau lachte. »Aber das mit dem Kartentrick immerhin war nett. Nichts Besonderes, aber dabei zu stehlen ist natürlich noch eine andere Sache. Du bist wohl recht flink mit den Fingern.«

Merlin antwortete nicht. Er wusste nicht, ob die Fremde sich einfach unterhalten wollte oder ob sie ihn gleich auf die nächste Wache schleppen würde.

»Entschuldige meine Manieren«, sagte sie plötzlich, zog ihren Hut und machte eine ausladende Verbeugung. »Ich bin Sir Percival von Gales.«

»Merlin«, sagte Merlin verdutzt. Die Frau war also tatsächlich ein Ritter. Das erklärte zumindest ihr Gerede von Ehre, aber gewiss nicht, was sie in diesem schmutzigen Pub tat. »Ich schulde Euch auch noch ein Danke. Ich wollte schon immer von einem Ritter gerettet werden, wenn ichʼs mir recht überleg.«

»Es war mir eine Freude«, strahlte sie.

»Was wollt Ihr hier überhaupt? Sir?«

»Ich suche einen Freund. Einen bestimmten, meine ich, nicht irgendeinen. Dachte, wenn, dann finde ich ihn bestimmt in irgendeiner Kneipe. Aber davon gibtʼs hier sehr viele. Übrigens musst du diese Höflichkeitsfloskeln nicht anwenden. Uns unterscheidet weniger, als du denkst.«

»Ach ja?«

»Ja«, sagte Percival und lächelte.

Merlin runzelte die Stirn. Die Ritterin war eindeutig etwas eigenartig.

»Nun«, sagte er und räusperte sich. »Wie kann ich mich revanchieren? Kann ich dir ein Bier ausgeben? Das heißt– Jetzt habe ich natürlich kein Geld mehr –«

Percival winkte ab. »Lass gut sein. Eine Ehrentat verpflichtet zu nichts. Aber du kannst mir etwas verraten.«

»Ja, klar– Was denn?«

»Warum hast du ihn getestet, bevor du ihn bestohlen hast?«

Merlin blinzelte. Wie hatte die Ritterin so aufmerksam sein können?

»Hättest du ihn auch bestohlen, wenn er dir was ausgegeben hätte?«, fügte die Ritterin hinzu.

»Was meinst du, getestet?«, fragte Merlin ausweichend.

»Das weißt du genau. Du wolltest wissen, ob er Ehre hat, bevor du ihn bestiehlst. Was er selbstverständlich nicht hat, keine Frage. Aber warum hat dich das überhaupt interessiert? Hätte es einen Unterschied gemacht?«

Merlin spürte Hitze auf seinen Wangen. Er fühlte sich ertappt.

»Also?«

»Ich habe ihm die Wahl gelassen, ob ich ihn bestehle oder nicht.«

»Das heißt, wäre er ehrenhaft gewesen, hättest du ihn nicht bestohlen?«

»Bin nie in die Verlegenheit gekommen, mir diese Frage zu stellen. Die Entscheidung wurde mir bisher immer abgenommen.«

»Aber du gibst die Hoffnung nicht auf, dass du eines Tages auf eine ehrbare Haut stößt und dir die Frage stellen musst?«

»Mag sein.« Merlin schnaubte und schüttelte über sich den Kopf. »Du denkst bestimmt, das ist jämmerlich.«

»Gar nicht«, sagte Percival ernst. »Du hättest es einfach bei mir versuchen sollen.«

Merlin lachte. »Du hättest mir also einen ausgegeben, obwohl der Trick nicht gut war?«

»Ja klar«, sagte Percival und strahlte. »Allein für den Versuch.«

Merlin lächelte. »Zu spät«, murmelte er bitter.

»Ist es nicht«, sagte Percival und wurde plötzlich wieder ernst. »Aber dafür musst du eines begreifen – sowas wie moralisches Stehlen gibtʼs nicht. Egal was du dir vormachst. Du vergisst, dass die Menschen nicht selbst daran Schuld sind, dass sie schlecht sind. Erst andere schlechte Menschen machen einen Menschen schlecht. Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir alle unschuldig. Das ist wichtig, Bruder. Das Wichtigste.«

Merlin runzelte die Stirn. Was sie sagte, klang sehr bedeutungsvoll, aber seine Schläfe pochte unangenehm, und er wollte gerade nichts weiter, als aus seinen nassen Klamotten raus und in sein warmes Bett.

»Wie auch immer. Danke für die Rettung. Aber ich muss jetzt los«, sagte er und wollte sich umdrehen, als Percival plötzlich einen Schritt auf ihn zutrat und ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Hör zu, Bruder«, sagte sie eindringlich. »Morgen Früh legt hier am Hafen ein Schiff in die Luft ab, und wir könnten noch ein flinkes Paar Hände wie deine ganz gut gebrauchen, nachdem die Crew letzte Woche um zwei Leute geschrumpft ist. Du müsstest das Stehlen aufgeben, aber dafür machst du ehrliche Arbeit für anständigen Lohn und eine gute Sache.« Merlin brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, was sie sagte. Er blinzelte den Regen und die Müdigkeit aus den Augen.

»Ihr meint, ich soll –?«

Die Ritterin sah ihm direkt in die Augen, und Merlin erschrak vor der Dringlichkeit ihres Blickes.. »Das ist dein Fahrschein nach draußen, Merlin. Du willst doch weg von hier, oder nicht?«

»Danke für das Angebot«, sagte er so freundlich wie möglich. »Aber ich kann leider nicht.«

»Oho, wieso, was hast du vor?«, sagte Percival in einem Ton, als könne sie sich nichts vorstellen, das besser wäre, als zu ihrer Schiffscrew zu gehören.

Merlin schluckte. Natürlich hatte er schon oft mit dem Gedanken gespielt, einfach seine Sachen zu packen und abzuhauen. Aber das konnte er nicht. Er war an Eochu gebunden. Nicht nur war er mit ihm verwandt, er hatte ihm auch etwas versprochen. Eochu hatte einen gelehrten Kunden aus dem berühmten Druidenorden Cathbad im benachbarten Königreich Ráth Cruachan, der, wann immer er in der Stadt war, vorbeikam, um neue gestohlene Artefakte zu begutachten. Er wollte Merlin zu seinem Lehrling machen, aber erst, wenn Merlin seinen Sold für die Zeit abgeleistet hatte, die er bei Eochu ausfallen würde. Es lag deshalb an ihm, keine Zeit zu verschwenden und genug einzubringen. Die heutige Pleite war besonders schmerzhaft. Der Verlust der Uhr würde ihn Monate zurückwerfen. Aber wenn er wegging, hatte er keine Chance auf eine vergleichbare Stellung. Eochu musste ihm seine Zeit im Kloster beglaubigen und ihm ein gutes Arbeitszeugnis ausstellen, sonst würde er nie eine anständige Stelle finden, schon gar nicht bei einem Maighstir, dem obersten Rang eines Druiden.

»Warum ist die Crew letzte Woche um zwei Leute geschrumpft?«, fragte Merlin, um von der Frage der Ritterin abzulenken. »Haben sie gekündigt?«

»Naja, nicht so richtig«, sagte Percival in einem Tonfall, der Verlegenheit suggerierte. »Wir kamen in einen Sturm und zwei gingen über Bord.«

Merlin sah sie entgeistert an. Er wusste, dass die Luftfahrt gefährlich war, aber die Möglichkeit, mehrere Tausend Fuß in die Tiefe zu fallen, ließ ihn allein bei dem Gedanken schwindeln.

»Nun sag schon«, sagte die Ritterin. »Was kann so wichtig sein, dass du auch nur einen Tag noch in diesem Drecksloch verbringen musst?«

»Ich... muss meinem Onkel in seinem Laden helfen. Eigentlich ist er ja gar nicht mein Onkel, sondern nur ein entfernter Cousin meiner Mutter, die... Naja, wie auch immer. Er ist auf mich angewiesen. Ich hab eine Abmachung mit ihm.«

»Verstehe«, sagte Percival belustigt.

»Aber ich werde schon sehr bald hier rauskommen, verlass dich drauf«, sagte Merlin trotzig.

»Bald? Klingt irgendwie nach einem unbestimmten Zeitpunkt.«

»Ja, und dieser Zeitpunkt ist jetzt sogar noch weiter in die Ferne gerückt, weil die Taschenuhr –«

»Ach ja, die Taschenuhr.« Percival zwinkerte. Merlin schwieg. Er hatte das Gefühl, dass alles, was er sagen konnte nach faulen Ausreden klingen würde.

»Wie gesagt, mein Angebot steht noch«, sagte die Ritterin. »Komm morgen um acht Uhr abends an den Hafen, dort findest du mich in der Kneipe. Ansonsten wünsche ich dir viel Glück, Merlin. Leb wohl.« Sie lüftete wieder ihren Hut, drehte sich um und ließ Merlin allein in der ausgestorbenen Gasse stehen.

DER BOTE

Die Lage der Stadt war ideal. Sie schirmte die kornische und die kimmrische Halbinsel vor Angreifern aus dem Süden und Osten ab und hatte damit eine entscheidende strategische Rolle beim Sieg gegen die Römer gespielt.

Die runde Stadtmauer umschloss die Stadt konzentrisch in mehreren Windungen, von denen jede ein Stadttor hatte. Zwei umkreisten die Stadt, drei weitere teilten das leicht ansteigende Plateau in mehrere Stufen. Das Hasentor und das Adlertor bildeten die Durchgänge der äußeren Ringe, in denen sich die zahlreichen Häuser der Stadt bis auf die Ebene hinaus erstreckten. Das Tor des Stiers mit den drei Kranichen lag im Außenwall der Festung, die neben der Zitadelle die Häuser der Adeligen, Getreidespeicher, Ställe und Werkstätten beherbergte und den innersten Stadtkreis bildete.

Schützend ragten die roten Mauern der Zitadelle über die noch schlafend liegende Stadt. Ihr massives Vorwerk umschloss neun Rundtürme und drei begrünte Binnenhöfe. In einem dieser Höfe wandelte im Schatten der Säulengänge ein alter Mann. Die Rundung seiner Schultern war jahrzehntelanger Arbeit im Skriptorium geschuldet, wie auch der Schlaflosigkeit, die ihn seit Monaten plagte. Es kam des Öfteren vor, dass er des Nachts über das Schlossgelände streifte, um die dunklen Gedanken zu vertreiben, die ihn wachhielten. Seine purpurrote Robe schleifte hinter ihm über das feuchte Gras, als er den Weg quer über den Innenhof einschlug. Die Schritte seiner Leibgarde, die ihm in gemessenem Abstand folgte, waren lautlos. Der schmale Pfad führte eine kleine Anhöhe hinauf zu einem runden Plateau, auf dem ein Eichenkreis errichtet war, in dessen Mitte, älter als die Eichen oder gar die Zitadelle selbst, ein Opferstein stand. Er wies die Wachen an, am Rande der Einsäumung zu warten und trat durch eine Lücke zwischen zwei Bäumen, deren Blätter leicht in der kühlen Nachtluft raschelten.

Er durchschritt das feuchte Gras, bis er sich direkt vor dem Stein befand. Dort richtete er den Blick gen Himmel und atmete befreit die frische, klare Luft, fern der dicken Schlossmauern. Die Nacht war frisch und sternenklar. Der Mond schien hell, und die Eichen warfen dunkle, lange Schatten auf den Boden bis hin zum Opferstein, der ein bläuliches Licht zu emittieren schien. Konstans wusste, dass diese Idylle eine trügerische war. Als Kind hatte er hier an den Jahreskreisfesten teilgenommen. Es war getanzt und gesungen worden, und er konnte sich an das Feuerwerk erinnern, das die Druiden zu Ehren des Jahresabschnitts entzündet hatten. Er strich mit den Fingern über die verwitterte Oberfläche des Felsens. Hier waren unzählige Stiere, Ziegen und Schafe ausgeblutet, zu Ehren der Götter. Absurd, dachte er mit gerunzelter Stirn, dass all diese Tode keine Spur hinterlassen hatten. Der Regen hatte das Blut von der rauen Oberfläche gespült, sodass nichts außer seiner Erinnerung Zeuge von diesen Gräueltaten war. Selbstverständlich war es jedoch sein Bruder gewesen, der die Tieropfer schließlich unterbunden hatte, als während des Krieges die Nahrung knapp wurde. Sein Bruder war schon immer sehr pragmatisch gewesen. Ihm waren die Leben der Tiere gleichgültig. Und doch würde ihm die Ehre für die Beendigung dieser Gräueltaten in den Quellen gebühren.

Gleichwohl der Eichenkreis weder religiöse noch sentimentale Bedeutung für ihn hatte, kam er in letzter Zeit oft hierher. Es war der einzige Ort, an dem er Ruhe finden konnte. Seit es vermehrt Aufstände gab, und er den Hof in die Zitadelle hatte verlagern müssen, konnte er nicht mehr über die Ländereien streifen, wie er es als Junge immer gerne getan hatte. Er hätte gerne den konischen Hügel gesehen, der sich da in der Ferne auftat, kaum zwanzig Meilen von hier entfernt, wo statt Eichen Monolithen auf einem dreistufigen Plateau standen – den Hügel, den, wie auch diesen, seine Vorfahren über Jahrtausende in Handarbeit errichtet hatten und den man an sonnigen Tagen von der Festung aus gut sehen konnte. Die Druiden hatten ihre Schüler dort in der haarsträubenden Naturkunde unterrichtetet, die sie Wissenschaft nannten, und immer noch hielten sie dort ihre Zeremonien ab, die er leider nicht verbieten konnte, wenn er das Volk nicht noch mehr gegen sich aufstacheln wollte.

Das Geräusch von Schritten, die knirschend die Anhöhe hinaufkamen, riss den König aus seinen Gedanken. Als er sich aufrichtete, sah er eine Gestalt durch die Schatten der Bäume auf sich zukommen. Er wusste sofort, wer es war. Nur einer besaß das Recht, ihn bei seinen nächtlichen Meditationen zu stören.

Er tat einen Schritt auf den Ankömmling zu, der seine Kapuze lüftete, und küsste den Mann auf beide Wangen wie einen Bruder.

»Ihr seid zurück. Bringt Ihr frohe Kunde?«, fragte er und musterte das Gesicht des Boten. Der vollständig rasierte Kopf wies einige Schrammen auf, doch sein Gesicht war unversehrt, bis auf die alte längliche Narbe, die sich von der oberen Augenbraue bis quer über seine Nase und seine linke Wange zog. Es war fahl, wie immer, und seine Augen, die tief in den Höhlen lagen, gaben keinen Hinweis auf die Natur seiner Nachricht.

»Sehr frohe«, sagte der Bote mit seiner eigentümlich hohen Stimme und ohne besondere Färbung durch einen Akzent. »Hengist und Horsa haben Euren Vorschlag angenommen. Sie haben die letzten Reste der römischen Überbleibsel in Londinium restlos zerschlagen. Ihre Leute werden in Ypwinesfleot eintreffen und sich dort ansiedeln. Natürlich auch Soldaten.«

»Gut«, sagte Konstans. »Und der Bischof?«

»In unserem Gewahrsam. Ich habe meine Leute angeleitet, ihn unverzüglich zu Euch zu bringen, sobald sie anlegen. Ich bin mit dem schnellsten Schiff gekommen, um Euch zu berichten.«

»Ausgezeichnet. Wo habt Ihr ihn aufgespürt?«

»Oh, das war nicht schwer. In Ériu breitet sich euer Glaube aus wie eine Krankheit. In einem der vielen Kloster residierte er wie ein König, könnte man sagen.«

Konstans nickte, wandte sich ab und schritt zu dem Schloss abgewandten Rand der Einkreisung, wo sich ein weiter Blick auf die noch schlafende Stadt auftat. Der Bote folgte ihm, stets einen halben Schritt hinter ihm, wie es sich für einen Diener gehörte. Er war mit der hiesigen Etikette besser vertraut als Konstans, der sich nach seiner Rückkehr nach Camelot erst wieder an die höfischen Gepflogenheiten hatte gewöhnen müssen – wie beispielsweise die unentwegte Anwesenheit seiner Leibgarde. Es war merkwürdig, bei jedem täglichen und nächtlichen Geschäft von anderen Menschen umgeben zu sein, auch wenn man die Wachen freilich schwerlich noch als vollwertige Menschen betrachten konnte. Ihre bleiche Haut war so grau war wie die eines Toten und ihre unheimlich blauen Augen schienen im Dunkeln zu leuchten.

»Wie ich höre ist auch Bryneich nun unter unserer Herrschaft«, sagte Konstans. »Wie habt Ihr dieses Kunststück nur vollbracht?«

»Auch das nur mit Hilfe unserer sächsischen Freunde. Es war Rhydderch Haels letzte Schlacht. Er hat sich tapfer geschlagen. Aber er war alt. Die Jahre, da er mit Eurem Bruder kämpfte, sind lange vorüber. Er hat sich nicht einmal gewehrt, als ich ihm den Kopf abschnitt. Wollt ihr ihn übrigens sehen?«

»Das ist nicht nötig«, sagte Konstans und verzog angewidert den Mund. »Ich persönlich kann mit der Barbarei, die der Krieg mit sich bringt, nichts anfangen. Mein Bruder war immer der Kämpfer, ganz der Sohn seines Vaters.«

Uther war ihrem Vater sehr viel ähnlicher gewesen als Konstans, der mit ihm nur seinen Namen teilte. Vielleicht war das auch der Grund, warum Konstantin seinen Bruder zum Thronfolger ernannt hatte und nicht ihn, der doch der Erstgeborene war. Stattdessen hatte er sein Jugend- und Erwachsenenalter in einem Kloster fristen müssen, während sein Bruder mit seinem Luftschiff die Welt bereist, Frauen hinterhergestellt und Kriege geführt hatte. Ja, er war zum König geboren gewesen, das hatte ihr Vater immer gespürt.

Konstantin der Dritte, der Löwe von Dumnonien, der zwei Jünglinge tötete, die friedlich vor einer Kirche gebetet hatten, hatte seinen eigenen erstgeborenen Sohn ins Kloster geschickt und war ein Jahrzehnt später von einem Christen an seinem eigenen Hof erdolcht worden. Und jetzt lag der geliebte Sohn, der sich Kopf des Drachen genannt hatte, der verhasste Bruder, unter der Erde, während der ungeliebte Sohn auf dem Thron saß. Die Wege des Herren waren wahrhaft unergründlich, dachte Konstans mit einem stillen Lächeln.

»Ich stimme Euch vollkommen zu, mein Herr«, sagte der Bote beflissen. »An seinem Schwert wäre ich ohnehin viel mehr interessiert gewesen. Dennoch. Wisst Ihr, wie interessant es ist, einen menschlichen Kopf zu sezieren?«

»Gott bewahre«, sagte Konstans und wandte sich angeekelt ab.

Ein Lächeln umspielte die Lippen des Boten. »Ich stimme Euch zu, es ist durchaus nicht besonders interessant. Es ist sogar ernüchternd. Man sucht vergeblich so etwas wie den Sitz der Person, dort, wo alles zusammenläuft. Doch nichts. Nur Nervenverbindungen, Blutgefäße und Gewebe. Eine graue Masse mit Windungen und Spalten, nicht größer als zwei Fäuste. Nein, von innen sehen wir alle erschreckend gleich aus. Ein gemeiner Bauer unterscheidet sich fleischlich nicht wesentlich von den Gelehrten oder einer Königin.«

»Das ist Ketzerei«, murmelte Konstans, den das Gerede des Boten verunsicherte.

»In Eurer Kirche, ja. Unsere Traditionen sind in vielerlei Hinsicht viel offener, wie Ihr wisst.«

»Ja, allerdings«, sagte Konstans scharf. »Die Menschen hier ziehen das Viele dem Einen vor, wo es doch nur den einen Gott, die eine Wahrheit gibt. Ehen mit mehreren Frauen, fleischliche Liebe außerhalb der Ehe, die Ehe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts, die Vermischung von Einheimischen mit Fremden aus aller Welt – ich kann nicht entscheiden, was mich am meisten anwidert.«

»Dennoch werdet Ihr Euch vorerst den hiesigen Bräuchen beugen müssen«, sagte der Bote mit einem dünnlippigen Lächeln. »Sonst wird Euch das Volk niemals als Herrscher akzeptieren. Was die Sitten angeht, so müsst Ihr Euch in Geduld üben und nur sehr langsam Anpassungen vornehmen. Was die Herrschenden von dem gemeinen Volk unterscheidet, ist keine körperliche Disposition, sondern eine soziale, egal was Euer Glaube dazu sagt.«

»Genau wegen solcher Aussagen ist es besser, man würde solche Forschungen wie die Eure verbieten. Die Leute könnten auf komische Gedanken kommen.«

»Ich denke, es ist besser, dass Ihr mit den wahren Tatsachen vertraut seid«, sagte der Bote und schlug die Augen ergeben nieder. »Nur so könnt Ihr kontrollieren, was das Volk glaubt. Und ich spreche keineswegs von Religion. Ihr habt nur deshalb Kontrolle über Eure Untertanen, weil sich diese in dem Glauben befinden, dass Ihr über sie erhaben seid. Es ist wesentlich, dass Ihr diesen Glauben auch erhaltet. Euer Vater und Euer Bruder ignorierten diese entscheidenden Tatsachen geflissentlich und starben, weil sie nicht glauben konnten, dass der Dolchstoß eines Bauern oder das Gift von den Händen einer Magd sie umbringen würde. Sie dachten, sie seien dazu bestimmt, ruhmreich in einer Schlacht zu sterben, wie Rhydderch Hael. Wobei man sich jetzt selbstverständlich fragt, wo sein ganzer Ruhm geblieben ist – in seinem Rumpf oder seinem Kopf?«

»Nun, das Volk ist aber nicht der Meinung«, sagte Konstans ungeduldig. »Sie warten immer noch auf die Rückkehr meines Neffen, ihres wahren Königs. Seine besten Ritter sind ihm gefolgt, und die zwei Hofwissenschaftler. Was setzt das für ein Zeichen? Das habt Ihr in Eurem genialen Plan nicht berücksichtigt.«

»Wenn mein Herr mit meinen Diensten unzufrieden ist, muss er mich entlassen«, sagte der Bote und neigte den Kopf.

»Unsinn«, sagte Konstans schnell und mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Er müsste ein Narr sein, um nicht zu wissen, dass er ohne seinen Freund immer noch im kühlen Skriptorium die pikanteren Stellen von Platon umschreiben würde, statt in feinsten Gewändern über seine eigenen Schlossgründe zu wandeln. »Ich schätze Eure Verdienste über alle Maßen. Ohne Eure Leibgarde müsste ich jede Nacht um mein Leben fürchten. Ich weiß nicht, was Ihr mit ihnen gemacht habt, aber es hat funktioniert. Sie sind zu hundert Prozent gehorsam. Sie würden sich die Hand abtrennen, wenn ich es verlangen würde.«

»Ich weiß das, sogar aus erster Hand, wenn Ihr den Scherz erlaubt. Die Entfernung des Willens ist eine interessante Prozedur, seid versichert. Und sehr viel einfacher, schneller und weniger schmerzhaft bei Leuten mit ohnehin sehr dürftig ausgeprägten Geisteskräften. Bei Menschen mit starker Willenskraft ist es eine aufwendigere Angelegenheit, dafür aber natürlich umso reizvoller. Aber Ihr habt recht, ich habe die Loyalität des Hofes unterschätzt. Doch was den Jungen angeht, seid unbesorgt, mein Herr – er kann mit einer Handvoll Rittern nichts gegen uns ausrichten, und die Königreiche des Nordens werden sich nie auf seine Seite stellen. Unsere anglischen und sächsischen Freunde halten sie beschäftigt. Außerdem werde ich ihn ohnehin bald aufgespürt haben. Meine besten Leute sind hinter ihm her und suchen ihn Tag und Nacht, an Luft und Land. Bald werde ich Euch auch den Kopf des Jungen bringen, das versichere ich Euch. Ich persönlich bin schon gespannt, wie er von innen aussieht.«

»Macht mit ihm, was Ihr wollt. Aber was ist mit dem Volk? Sie werden sich auf seine Seite stellen, und wenn das passiert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch meine eigenen Soldaten gegen mich wenden.«