Die Angst der Bösen - Kristina Dunker - E-Book

Die Angst der Bösen E-Book

Kristina Dunker

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Beschreibung

Auch DU stehst auf der Liste! Falscher Spruch, falsches Gesicht, falsches Handy – schon bist du tot. Natürlich hat es keiner gewollt: ein Missverständnis, ein schrecklicher Unfall. Sie sind doch keine Mörder. Aber einer sieht das anders. Und er will Rache. Er weiß, wer dabei war. Oder er glaubt es zu wissen. Er macht eine Liste. Und diese Liste arbeitet er ab: fünf, vier, drei ... Auch Lilly steht auf der Liste. Weil sie zu der Clique gehört. Aber Lilly hat keine Ahnung, was an dem Abend passiert ist. Sie sieht nur, wie einer ihrer Freunde nach dem anderen plötzlich ums Leben kommt. Und sie spürt, dass jemand hinter ihr her ist.

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Seitenzahl: 298

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Kristina Dunker

Die Angst Der Bösen

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41432-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-24931-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

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Sonntag, 12. Juni

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[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

Samstag, 21. Mai

1

Du weißt nie, wann Feierabend ist.

Das weißt du nicht. Das kann schon morgen sein. Oder heute.

Man geht spazieren und hört die Vögel singen: Amsel, Drossel, Fink und wie sie alle heißen; wie ging das Lied noch mal weiter? Egal, Kindheit war eh scheiße.

Also, du freust dich, dass der Winter endlich vorbei ist, Winter ist nämlich superscheiße, saugefährlich, wenn du Platte machst, und trotzdem: alles besser als zu Hause.

Jetzt weiß ich schon wieder nicht mehr, was ich sagen wollte. Da, die Frau mit dem Kind, die vor mir den Friedhof verlässt, die hat auch gemerkt, dass ich durcheinander bin. »Guck dir den gut an«, sagt sie zum Kind, »so kaputt wie der ist.«

Die Leute denken, ich merk nicht, dass sie mich verachten. Ich merk’s aber.

Wo war ich stehen geblieben?

Bei Marie. Wegen ihr war ich ja auch auf dem Friedhof.

Auf Marie bin ich sofort abgefahren, schon das erste Mal, als ich sie gesehen hab. Jetzt zusammen sein mit Marie, das wär ein Traum, das wär das höchste denkbare Glück. Selbst wenn das Bettzeug schmutzig wär und das Zimmer nicht geheizt. Selbst wenn sie wieder ihren schlimmen Husten hätte. Ich bin auch immer so am Pfeifen, das kommt so, wenn man auf der Straße lebt, genau wie das Jucken. Alles ist am Jucken, und wenn du kratzt, fängt’s an zu bluten, und dann geh du mal und schnorr bei einem Kleingeld, das mach mir mal vor, weil: Die gucken direkt auf deine Ekzeme und die riechen dich ja auch. Deshalb geben die dir das Kleingeld auch nie in die Hand. Pappbecher ist okay oder vor die Füße werfen.

Bin ich selbst schuld dran, sollt mich waschen.

Hab echt andere Probleme, als mich zu waschen. Marie ist tot, mausetot, dabei hat die so ’nen Schutzengel gehabt, aber die Schutzengel, die sind wie die Leute, die vor Aids Angst haben, die meiden dich auch irgendwann oder kommen mit Mundschutz und Gummihandschuhen. Scheiß auf die Schutzengel, verdammtes Pack. Brauch keinen, bin noch nicht alle. Ich weiß noch, was ich tu. Ich bin extra hierhergefahren zu ihrem Grab, hab sogar eine Rose besorgt, von so ’m anderen Grab, sind eh alle tot. Marie auch.

Kann mich noch erinnern an den Tag, als mein Vater gebrüllt hat, dass er uns umbringen würde. Dem war das zuzutrauen. Der ist auch auf mich oft losgegangen. Mit den Fäusten. Einmal auch mit ’m Messer. Deshalb bin ich weg von zu Hause. Hab keinen Bock mehr auf seine Wutausbrüche und blaue Flecken gehabt. Gerd ist ein brutales Arschloch und bei der Erinnerung daran, wie er Marie und mich überrascht hat, als wir uns ein paar Euro aus Mamas Portemonnaie genommen haben, packt mich das kalte Grausen. Um Haaresbreite sind wir dem entkommen. Wie Gerd hinter uns her ist, wie ein Irrer. Von außen harmlos: Baseballkappe, Turnschuhe, T-Shirt – wie einer, der nur die Einfahrt von seinem Haus von Grashalmen befreien will, aber ich sag dir, mit einem Killerinstinkt bis in die Haarspitzen.

Wenn ich an den letzten Tag zu Hause denk, reg ich mich jedes Mal auf. Dann krieg ich sofort Herzrasen, so ’ne Angst, dabei brauch ich die jetzt gar nicht mehr haben. Jetzt, wo Marie tot ist, kann er ihr auch nichts mehr tun. Aber mein Herz, das rattert sowieso manchmal, das ist nicht mehr feierlich, wie das klabastert, dabei bin ich erst einundzwanzig. Mein Alter mit seinen dreiundvierzig sieht fast jünger aus als ich. Grotesk, was? Meine Gesichtshaut ist so wie die vom Hintern einer achtzigjährigen Oma.

Ich brauch was zu trinken.

Keiner da, den man anhauen kann? Mutter und Kind stehen jetzt vorm Tor an der Bushaltestelle, warten, glotzen rüber. Glotzen tun die Leute alle gern, aber geben werden die nichts, nicht am späteren Abend auf verlassener Straße vorm Friedhof, und auch sonst nicht, da wett ich, so eine wie die, die spendet maximal dem Igelschutzverein.

Fragt das Kind: »Mutti, mit wem spricht der komische Mann? Und warum schreit er und schlägt in die Luft? Ist doch gar keiner da.«

Und sie: »Guck dir den gut an, so kaputt wie der ist. Steig schnell ein, da kommt der Bus.«

Verlogenes Familienpack! Weggeguckt hat meine Alte und verlassen hat sie Gerd erst, als ich schon mehr als zwei Jahre auf der Straße gelebt hab. Da saß er allein in seinem sauberen Reihenmittelhaus und ich hab von den beiden erst wieder was gehört, als Marie gestorben ist. Erfroren ist sie. Am 2. Februar. Ist natürlich nicht ins Sleep-in gegangen, weil die da nämlich klauen wie die Raben.

Jedenfalls hab ich seitdem wieder den Alten auf den Fersen. Redet davon, dass wir zusammengehören, von wegen Familie, will mich retten und von der Straße holen.

Scheiße, was ich hab ich jetzt für ’nen Tattermann! Bin voll am Schlottern. Beim Gedanken an Gerd brauch ich unbedingt was zu trinken.

Eigentlich will ich ja aufhören. Runter von den Drogen. Kann jeder sehen, was die aus einem machen.

Ich will zu Marie.

Manchmal kann ich Marie sehen, direkt vor meinen Augen.

Ich seh Marie in knackigen Jeans, geht vor mir her und ihr Pferdezopf schlägt im Takt auf die abgewetzte Lederjacke mit den Aufnähern. Schiebt das Bändchen an ihrem superengen Slip runter und hat meine Initialen auf ’m Hüftknochen tätowiert. So mager ist die da schon, dass der Knochen richtig rausragt. Fährt mir mit der Zunge in den Mund. Ihr Piercing schlägt mit einem leisen Klacken an meine Schneidezähne.

Nie mehr spür ich das. Nie mehr hör ich ihre Stimme, spreche nur noch mit mir selbst.

Da sagt ausgerechnet mein Vater, ich soll kämpfen. Er will alles wiedergutmachen, sich mit Mama versöhnen, mit mir. Will selber nie mehr trinken. Der Alkohol wär an allem schuld, sagt er.

Ich trink auch und nicht grad wenig. Trotzdem bin ich ein friedfertiger Mensch. Das Böse liegt nicht im Alkohol, sondern im Charakter.

Gerd sagt, ich soll zum Grab gehen, Abschied von Marie nehmen und danach einen Entzug machen. Hat schon einen Platz für mich, sagt er. Hat einen Plan: Therapie und Reha und dann Job in ’ner Behindertenwerkstatt.

Was ich nicht auf die Reihe kriege: Er, der für alles verantwortlich ist, will mir jetzt aus der Patsche helfen?

Das will mir nicht in den Schädel, sooft ich mir auch mit der Faust an die Stirn schlage: Das geht nicht rein.

Gerd will doch nur vor sich selbst gut dastehen.

Er sagt, es täte ihm leid. Sagt, er habe sich verändert. Sei ein anderer Mensch geworden. Menschen könnten sich ändern, bereuen und Fehler wiedergutmachen, sagt er.

Ich weiß nicht.

Aber er hat mir sogar ’n Handy geschenkt: teures Teil, neuste Technik.

Rausgeschmissenes Geld.

Ruf ich Gerd an?

Ich hab schon als Kind nicht Papa zu dem sagen wollen.

Mach ich’s trotzdem?

Sag ich ihm, dass ich am Grab war und er mich abholen soll, weil ich fertig bin? Ganz fertig.

Bevor ich anrufe, wenigstens noch ein Bier.

Da drüben, die Jugendlichen, die den Friedhof ansteuern, die haben was zu trinken dabei. Ist der eine nicht schon stramm? Die werden ja wohl nicht so sein? Sehen doch genau so aus wie ich vor fünf Jahren, war auch immer draußen bei den Kumpels, Partystimmung.

Oder doch lieber sein lassen, die anzuhauen?

Lieber ziehen lassen, das könnt sonst böse ausgehen?

Wieso hab ich jetzt so ’n schlechtes Gefühl?

Nur weil der eine gegen eine Mülltonne tritt? Weil die so ’ne heiße Braut dabeihaben, die ihnen den Kopf verdreht? Weil sonst kein Mensch mehr auf der Straße ist?

Ja und, soll mir etwa die Igelschutztante zur Seite stehen?

Besser vorsichtig sein, wegbleiben, abhauen?

Ey, wer bin ich denn?! Hab ich je Schiss gehabt, auf die Leute zuzugehen? Hab ich je den Schwanz eingezogen? Zigtausendmal hab ich Leute angequatscht, die nicht angequatscht werden wollten. Also ich geh da jetzt hin, Handy in der Hand, schlurf ich da hin, grins die Braut an und sag: »Habt ihr mal ’n bisschen Kleingeld für mich?«

2

Lilly war wie so oft zu spät dran.

Als sie endlich aus der Klokabine kam und alle Wuttränen weggeblinzelt hatte, waren die anderen schon gegangen und der Kellerflur leer.

Sie ahnte, dass sie jetzt für ihre Bockigkeit büßen musste, und spürte, wie eine neue Wut in ihr hochkochte – kaum war der Ärger über die Freundin verraucht, kam der Ärger über sich selbst. Warum hatte sie so lange geschmollt? Sie wusste doch, dass sie Tatjana keine Geheimnisse verraten durfte. Tatjana war nie vertrauenswürdig gewesen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie anscheinend gar nicht verstand, dass es Dinge gab, die man besser für sich behielt.

Vielleicht konnte sie die anderen noch einholen. Aber wenn sie die Jugendherberge schon verlassen hatten und irgendwo waren, wo’s was zu trinken gab, wo was los war und man nicht umkam vor Langeweile, dann würde sie ihre Freunde nicht mehr finden und der Abend wäre gelaufen. Das Schlimmste daran wäre nicht das Alleinsein, sondern dass Paul keine ruhige Minute hätte, wenn er ohne sie dabei wäre. Ohne seine beste Freundin müsste Paul nämlich zusehen, dass er die Zeit mit der Bande heil überstand. Der Gedanke trieb sie zur Eile an.

Mit langen Schritten hastete sie durch den Flur. Vorbei am kaputten Getränkeautomaten, den Sven und Levent auf dem Gewissen hatten, und die Treppe mit dem Gummigeländer, unter dem Kaugummis wie Seepocken auf Strandmuscheln klebten, hinauf. Am Nachmittag hatte sie bei der Wattwanderung Muscheln gesammelt, was Paul, der neben ihr hergeschlendert war, zu einer Bemerkung gereizt hatte: »Oh, wie niedlich, Lilly! Pflückst du demnächst auch Blümchen und ziehst Röcke an?«

»Nö«, hatte sie trocken gekontert. »Ich dachte einfach nur, es wäre schön, was Hübsches neben der Badewanne liegen zu haben, falls ich mir demnächst mal die Pulsadern aufschneide.«

Sie hatte gegrinst, aber gleich gemerkt, dass ihr Witz überhaupt nicht nach seinem Geschmack war. Auch das hätte sie sich vorher denken können. Sie kannte Paul lange genug, genau wie Tatjana.

Er war erschrocken und beleidigt zugleich. »Wenn du so was sagst, mache ich mir gleich Sorgen um dich, und da habe ich eigentlich gar keine Lust drauf.«

»Dann lass es doch.« Ihre Stimme war sofort barsch geworden.

»Kann ich nicht.« Er hatte die Fäuste in die Taschen der hochgekrempelten Jeans gerammt und seine nackten Zehen mit Schmackes in den Schlick gedrückt – und wäre beim nächsten Schritt fast in eine Glasscherbe getreten, wenn sie ihn nicht zur Seite gedrängt hätte.

»Pass auf deine Füße auf, du Idiot. Wenn sich hier jemand Sorgen machen muss, dann ich.«

Das stimmte auch jetzt, am Abend, wieder. Paul war zwar nicht direkt in Gefahr, aber in einer Situation, die von einem auf den anderen Moment brenzlig werden konnte. Ein einziger blöder Satz, eine einzige falsche Bewegung reichte aus. So wie der Dompteur in der Raubtierarena auch nur ein Mal stolpern muss, um von den großen Katzen zerfleischt zu werden.

Schwungvoll riss Lilly die Eingangstür auf. Ein Frühlingsabend voller Vogelgesang, aber nirgendwo Paul, der lebensferne Träumer, der Vögel so mochte. Als er ihr vor ein paar Wochen gestanden hatte, dass er sich eine CD zum Kennenlernen der unterschiedlichen Vogelstimmen gekauft hatte, hatte sie sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt. »Das solltest du aber keinem erzählen« war das Einzige, was ihr in diesem Moment dazu eingefallen war. Dabei war Paul viel klüger als sie. Er konnte seine Geheimnisse gut verbergen.

Was jetzt? Die Clique war fort und Paul mit ihr. Wahrscheinlich hatte er sich nicht getraut zu sagen: »Wenn Lilly nicht dabei ist, bleib ich auch hier.« Die anderen waren eh misstrauisch, rätselten dauernd, warum Paul und Lilly so eng befreundet waren.

Heute Morgen beim Frühstück hatte Sven, dieser Hornochse, vor versammelter Mannschaft gefragt: »Was hängt ihr immer zusammen, wenn ihr nicht miteinander bumst?«

»Wir unterhalten uns vielleicht«, hatte sie sarkastisch geantwortet, »aber Reden ist dir ja fremd, du Flachdenker.«

»Was hast du zu mir gesagt: Flachleger?« Er hatte gelacht und quer über den Tisch zu ihr rübergegriffen. »Ist das eine Aufforderung? Soll ich dich mal wieder ...«

Lilly war ausgewichen, hatte dabei zwei Kaffeetassen umgekippt, das dröhnende Gelächter gehört und gedacht: Ich hasse euch alle.

Alle außer Paul natürlich. Paul war bei Svens Spruch zusammengezuckt, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen.

Ein Windstoß mischte den Qualm der Raucher, die auf dem Hof vor der Jugendherberge standen, mit der Frühlingsluft. Zu Hause schimpften sich die Lehrer die Hälse heiser, wenn einer auf dem Schulhof oder in den Toiletten rauchte. Auch die Zehner, unter denen ja einige schon achtzehn waren, durften’s nicht, mussten ein gutes Vorbild für die Kleinen sein. Hier dagegen war alles erlaubt. Obwohl viele Frust wegen der Ausbildungsplatzsuche hatten, war das Klima in der Schule lockerer geworden, wohl deshalb, weil die gemeinsame Zeit bald zu Ende war und man sich nur noch ein paar Wochen gegenseitig ertragen musste.

Klassenlehrerin Silke Hoffmann stand mitten zwischen den Schülern. Mit einer Weinflasche in der Hand strahlte sie in eine blitzende Handykamera, lachte und freute sich, dass sie mit den Schülern so gut zurechtkam. So gut, dass Levent ihr den Arm um die Schulter legte. Seine Fingerspitzen glitten runter bis zu dem Stück veilchenblauem BH, der unter ihrer zu engen Bluse hervorguckte. Dabei grinste er Lilly verschwörerisch an.

Merkt die Hoffmann das nicht? fragte sich Lilly verärgert. Wie kann eine erwachsene Frau so was nicht merken? Und wieso hatte sie keine Angst, dass Lilly, die auch im Team für die Dokumentation der Abschlussfahrt war, so ein Foto in Großformat auf Pappe klebte und in der Pausenhalle aufhängte? Jeder, auch Paul, würde sagen, dass das Lilly locker zuzutrauen wäre.

»Komm mit aufs Foto!« Levent winkte Lilly mit dem freien Arm.

»Keine Lust.«

»Aber ich will meine beiden Lieblingsfrauen bei mir haben. Ich will ein Foto von uns, ich mit dir und Silke im Arm.«

Weinselig, wie die Hoffmann war, merkte sie nicht, dass sie verarscht wurde. »Na los, Lilly«, rief sie, »ist doch ein schönes Andenken an unsere Abschlussfahrt.«

Lilly würdigte die Lehrerin keines Blickes. Deren joviale Art ging ihr auf die Nerven.

»Warum bist du nicht mit den andern mitgegangen?«, fragte sie Levent.

»Bin verletzt.« Er zeigte grinsend auf seinen bandagierten Fuß, mit dem er gestern Abend wie ein Irrer zusammen mit Sven gegen den Getränkeautomaten getreten hatte, weil darin eine Zwanzigcentmünze stecken geblieben war. Zur Hoffmann gewandt ergänzte er: »Umgeknickt, wegen der scheiß Straße hier, lauter Löcher drin, sollten die mal reparieren.«

Silke Hoffmann nickte: »Wenn es nicht besser wird, Levent, fahren wir morgen früh zum Arzt. Jetzt kommt: lächeln!«

Widerwillig stellte Lilly sich dazu. Viel zu oft ließ sie sich breitschlagen von dummen Frauen und frechen Jungs wie Sven und Levent, die nichts hatten außer ihrer großen Klappe, ihrem Stolz und ihrer Männlichkeit – und, nicht zu vergessen, ihren Händen, die ganz schnell genau da hinlangten, wo man sie nicht erwartete.

Jedenfalls Silke Hoffmann nicht. Sie kreischte los, mitten beim albernen »Spaghetti«-Ausruf, und zog Levents Hand aus ihrer Bluse wie einen nassen Fisch. Wenigstens konnte Lilly während des losbrechenden Gelächters und Hand-Abklatschens verschwinden.

Diese Idioten! Es wurde wirklich Zeit, dass die zehnte Klasse zu Ende ging und sich die meisten Wege trennten.

Zuerst lief Lilly zur Straße, in der absurden Hoffnung, dort doch noch die Clique zu sehen. Danach ging sie deutlich langsamer hinter die Jugendherberge, schaltete ihren iPod an, schickte eine SMS an Paul – Wo seid ihr? Kann ich nachkommen? – und legte sich auf eine der steinernen Tischtennisplatten.

Obwohl sie sich an der Küste befand, waren kaum Sterne zu sehen. Das einzig Urlaubshafte war der Salzgeschmack auf den Lippen, wenn sie sich mit der Zunge darüberfuhr. Außerdem spürte sie das Piksen einer sperrigen Muschelscherbe in ihrer engen Hosentasche. Etwas Wahres war schon dran gewesen, als sie Paul geschockt hatte mit der Bemerkung über die Dekoration der Badewanne, in der sie sich umbringen wollte.

Es gab so viel, was ihr an ihr selbst nicht gefiel. Zum Beispiel dass sie so oft Nein sagte und dann doch nachgab. Oder dass sie sich ständig mit anderen Menschen streiten musste, ob sie wollte oder nicht. Auch dass sie immer noch nicht wusste, was sie nach der Schule machen sollte, und natürlich, dass sie wieder mal falsch und hoffnungslos verliebt war, weil das Thema Jungs sich bei ihr nur verkorkst gestaltete.

Mit denen aus ihrer Klasse wollte sie jedenfalls nichts mehr zu tun haben. Ihr momentaner Schwarm hieß Jan-Oliver, kam aus einem anderen Stadtteil und damit fast aus einer anderen Welt. Er machte nie anzügliche Bemerkungen, behandelte sie freundlich, hörte ihr zu, zeigte Gefühle und konnte sich über mehr unterhalten als Fußball, Fernsehen und technische Geräte. Jan-Oliver ähnelte vom Charakter her Paul, nur dass er eben nicht ihr Freund seit Kindertagen war. In Paul könnte sie sich – unabhängig davon, ob es ihm recht wäre oder nicht – nie verlieben, weil er für sie wie zur Familie gehörte. Paul war ihr Seelenzwilling, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Jan-Oliver also war der Name, den sie am liebsten tief in die Tischtennisplatte geritzt hätte. Jan-Olivers Augen hatten genau die Farbe, die der Himmel über ihr hatte: blasses Blaugrau. In diesem Augenblick war Jan-Oliver über dreihundert Kilometer von ihr entfernt. Er dachte nicht an sie, es sei denn zufällig.

Ihr Handy vibrierte, zeigte eine SMS an. Paul schrieb, dass sie an der Tankstelle eingekauft hätten und jetzt auf einen Friedhof gingen. Die Stimmung sei schlecht. Er wollte zurückkommen.

Warte auf mich, ok?

»Okay«, seufzte Lilly laut und wunderte sich, dass sie sich gar nicht freute. Sie hasste es zu warten, aber dass sie jetzt die Stirn krauszog und leicht nervös in die Richtung blickte, aus der ihr bester Freund kommen musste, hatte einen anderen Grund. Seine Mitteilung, die Stimmung in der Clique sei schlecht, beunruhigte sie.

3

Tatjana schob sich das letzte Stück Schokoriegel in den Mund, doch der bittere Geschmack verschwand nicht. Zu den Gewissensbissen, die sie Lilly gegenüber hatte, kam der Frust über ihr Gewicht. Den zweiten Schokoriegel hätte sie sich echt verkneifen können. Aber dieser Abend war so bescheuert, dass sie es einfach nicht schaffte, ihre ätzende, aber bitter nötige Diät durchzuhalten. Als sie jetzt sah, dass Paul schon wieder eine SMS schrieb, gab sie sich auch keine Mühe mehr, ihre schlechte Laune für sich zu behalten.

»An wen schreibst du?«, fragte sie, machte ihren Hals so lang wie möglich und schielte auf sein Handy. »Lass mich raten, an Lilly. Wie lange habt ihr euch jetzt nicht gesehen? Zwanzig Minuten?«

»Nerv mich nicht, Tatjana.«

»Au, was schubst du mich?« Ihr war nach Stänkern und da passte es ihr gut, dass Leon ihre Beschwerde hörte, sich hilfsbereit umdrehte und, ohne nach links und rechts zu gucken, auf sie zuwankte. Zum Glück war um diese Zeit kaum noch Autoverkehr.

»Paul, pass auf«, sagte Leon mit schwerer Zunge.

»Was denn? Ich wehre mich nur. Deine Freundin ist furchtbar neugierig.«

»Sind Frauen immer.« Leon hatte eine Bierfahne. Schwungvoll legte er Paul den Arm um die Schultern, machte ein paar schnelle, ruckartige Schritte vorwärts auf den Bürgersteig und ließ sich mit ihm gegen einen der Backsteinpfeiler kippen, die das Tor zu einem Friedhof einrahmten. »Und, was ist mit meiner Stiefschwester, Paule?« Der Themenwechsel war genauso unvermittelt wie seine Bewegungen. »Ist Lilly wieder am Zicken?«

Tatjana nickte, obwohl sie wusste, dass Lilly allen Grund hatte, wütend zu sein: nämlich auf sie und ihr blödes Plappermaul.

Sven und Ilkay, die am Eingang gewartet hatten, gaben ein paar glucksende Lacher von sich. Ilkay hatte die Tüte mit Getränken abgestellt, war auf die Querverstrebungen des schmiedeeisernen Tors gestiegen und rüttelte daran, um etwas hin- und herzuschwingen. »Lilly hat doch immer Stress mit sich selbst«, behauptete er.

»Quatsch. Ich hab’s euch heute Morgen schon gesagt«, rief Sven, »Lilly braucht wieder ’nen ganzen Kerl, nicht so ’ne Gurke wie Paul, der besorgt’s ihr nicht richtig.«

Tatjana sah, wie Paul eine Faust ballte – nur eine und die hatte er noch hinter dem Rücken versteckt. Er würde es nicht bringen, sich mit Sven anzulegen, denn Sven war gefährlich, auch wenn er nicht so viel getrunken hatte wie jetzt. Nicht nur, dass er kräftig und durchtrainiert war, er war auch skrupellos. Sie hatte mal gesehen, wie er sich nach einem Fußballspiel mit einem gegnerischen Fan geprügelt hatte. Der andere war sicher nicht schwächer gewesen, hatte aber den Fehler gemacht, auf Fair Play zu setzen, was Sven nicht tat: Plötzlich war da das Messer in seiner Hand gewesen und der andere hatte schnell klein beigegeben.

Wenn Tatjana ehrlich war, hatte sie selbst manchmal Angst vor Sven und konnte überhaupt nicht nachvollziehen, wie sich Lilly vor einer Weile mit ihm hatte einlassen können. Sven sah nicht mal gut aus, seine aschblonden Stoppelhaare waren so farblos, dass sie sich kaum von der Gesichtshaut unterschieden, und obwohl er bestimmt viel Krafttraining machte, konnte man bei ihm schon den Ansatz des gleichen imposanten Bierbauchs sehen, den sein älterer Bruder vor sich hertrug. Ilkay zum Beispiel mit seinen wuscheligen dunklen Haaren und dem großen, schlanken Körper war viel attraktiver, selbst der dürre Paul und der segelohrige Levent machten mehr her, weil sie auf angesagte Klamotten achteten. Das Geld dafür stammte bei Levent allerdings aus unklaren Quellen. Während Paul einfach die liebe Mami anpumpte, musste er sich etwas einfallen lassen. Zwar schob Levent auch Einkaufswagen beim Großmarkt, aber daneben kam er auch illegal an Geld. Irgendeiner schuldete ihm immer was, angeblich nur für kleine Gefälligkeiten wie aus dem Internet runtergeladene Kinofilme. Tatjana traute außer Leon keinem der Jungs. Doch berühmt-berüchtigt fürs Abziehen schwächerer Schüler war nur Sven, und der war obendrein noch geschmacksverkalkt und hässlich.

Trotzdem war ihre Freundin ausgerechnet mit Sven gegangen.

»Sex Wochen lang«, wie der gerne herumtönte. Zu Tatjana hatte Lilly nur gesagt, Sven sei für sie wie ein kleiner Pitbull und auf diese Rasse sei sie nun mal geprägt worden. Verliebt hatte das nicht geklungen, sondern einfach nur merkwürdig. Aber wer verstand schon Lilly?

Am ehesten wohl Paul. Und das störte Tatjana gewaltig. Es war sozusagen die Quelle allen Übels. Wenn Lilly Paul nicht die ganze Zeit mehr vertraut hätte als ihr, wäre es zu einem Streit wie heute Abend gar nicht gekommen. Dann wäre Tatjana auf Lillys Schockergeschichte vorbereitet gewesen, dann hätte sie damit umgehen können.

Plötzlich hatte sie Lust, Paul für die Fremdheit zwischen ihr und ihrer Freundin eins reinzuwürgen.

»Paul ist eben ein Frauenversteher, Sven«, sagte sie deshalb, »Paul ist Lillys beste Freundin.«

»Stopp mal, Tatjana«, rief Leon. Ausgerechnet ihr Freund musste ihr widersprechen und den Spaß verderben. »Lilly war sauer auf dich. Weil du nämlich eine Labertasche bist. Ich würd dir auch nichts anvertrauen, wenn du alles weitersagst. Mann, ihr glaubt ja nicht, was ich von Tatjana erfahren habe. Das geht mir die ganze Zeit im Kopf rum, da komm ich gar nicht drüber weg. Bevor mein Alter vor zwei Jahren Lillys Mutter kennengelernt hat und wir zu denen gezogen sind, ist Lilly ...«

»Leon«, herrschte Paul ihn an, jetzt mit angewinkelten Armen und zwei geballten Fäusten, »halt den Rand!«

Leon stoppte, schlug sich scheinbar erschrocken die Hand vor den Mund und fing wild an zu lachen. Tatjana wusste, er war ziemlich dicht und würde jeden Moment verraten, was sie verraten hatte. Weil sie das unbedingt verhindern wollte – Lilly war ihre Freundin, und dass sie gequatscht hatte, tat ihr wirklich leid –, sprang sie auf Leon zu und verschloss seine Lippen mit ihren.

»Nicht jetzt, Bär. Lass uns gucken, dass wir ’ne gemütliche Bank für uns zwei finden.«

»Bär«, ulkte Ilkay, »hast du das gehört?«

Tatjana ärgerte sich. Ständig musste man aufpassen, was man sagte.

»Weißt du, woran ich dabei denk, Alter?« Sven trank einen Schluck aus seiner Bierflasche, ließ den Mund offen und die Zunge darin kreisen.

Ilkay lachte und machte entsprechende Bewegungen.

Dann legte Sven den Kopf in den Nacken und fragte: »Warum hab ich eigentlich keine Freundin?«

Da fragst du noch?, dachte Tatjana.

»Tröste dich, ich hab auch keine«, sagte Ilkay leichthin und schaukelte weiter an dem Tor herum, das leise quietschte.

»Weil Lilly dich verlassen hat, Sven. Und das war gut so.« Diese Antwort kam von Paul. Er musste ähnliche Gedanken gehabt haben wie Tatjana.

Tatjana hielt den Atem an. Das war nicht klug von Paul. Dieser Satz könnte Sven schon reichen. Der konnte Paul sowieso nicht ab, hielt ihn für einen verwöhnten Streber und duldete ihn nur, weil er irgendwie zu Lilly gehörte. Doch Sven schien Paul gar nicht gehört zu haben. Ungerührt sah er weiter in den Himmel, als habe er romantische Anwandlungen und träume wirklich von Lilly. Was aber nicht hieß, dass Paul sich sicher fühlen konnte.

Wachsam beobachtete Tatjana die Jungen. Einen Augenblick sagte niemand etwas. Auch das Torquietschen hatte aufgehört. Ilkay schaukelte nicht mehr, sondern beobachtete Sven aus zusammengekniffenen Augen. Paul schien über seine eigene Courage überrascht zu sein, er blickte unsicher von einem zum anderen und zuckte nervös mit Armen und Beinen.

Nur Leon war ganz in Tatjanas Umarmung versunken und wohl der Einzige, der nichts mitgekriegt hatte, denn er suchte nur immer wieder ihren Mund, um ihn zu küssen.

Sie schmeckte Schokolade, Bier und Chilichips und wollte lieber nicht wissen, wann Leon sich das letzte Mal die Zähne geputzt hatte.

Trotzdem: Er war ihre große Liebe und sein Körper warm und beschützend.

»Ich geh jetzt«, sagte Paul nicht sehr laut, und obwohl sie wusste, dass er natürlich zu Lilly wollte, dass Lilly ihm sicher noch mehr erzählen würde als ihr, fachte das ihre Eifersucht nicht weiter an. Lilly brauchte Hilfe, egal von wem. In Leons Umarmung spürte Tatjana ein Glück, von dem sie wusste, dass Lilly es noch nie gehabt hatte.

Leon war Tatjanas erster Freund und Tatjana, die im Gegensatz zu Lilly noch Jungfrau und stolz darauf war, würde ihr erstes Mal mit ihm haben – und zwar dann, wenn sie es beide hundertprozentig wollten, so hatten sie es ausgemacht. Es würde schön werden und schön bleiben. Tatjana würde nie so verletzt und krampfig durchs Leben irren wie Lilly. Tatjana hatte ihre Liebe gefunden.

Sie fuhr erschrocken zusammen, als sie ein lautes Scheppern hörte. Sven hatte gegen einen Mülleimer getreten. Dessen Inhalt ergoss sich über den Bürgersteig; Sven stieg darüber hinweg. Ganz ruhig und so, als wolle er sich auf keinen Fall die Turnschuhe dreckig machen, ging er auf Paul zu.

Tatjana wusste, dass es jetzt losging.

4

Paul spürte, wie seine Handflächen nass von Schweiß wurden und sein Herz schneller schlug. Pinkeln musste er plötzlich auch. Verdammt, das musste ja irgendwann so kommen, dass Sven ihn mit diesem Blick ansah und sein Butterflymesser auf- und zuschnacken ließ.

Vielleicht sollte er rennen. Aber wohin?

Zur Jugendherberge, sich wie ein Grundschüler hinter Frau Hoffmann verstecken und sagen: »Da, der, Frau Lehrerin, der will mir was«? Nein, das kam nicht infrage. Wenn es denn unausweichlich war, würde er diese Schläge jetzt einstecken und nicht später vor allen anderen im Schlafraum oder auf der Herrentoilette.

Was ihm heute blühte, war längst überfällig.

Schon am allerersten Tag, als die Sitzenbleiber Sven und Levent in ihre Klasse gekommen waren, hatte Paul gewusst, dass die Angst jetzt sein ständiger Begleiter sein würde. Die beiden hatten sich direkt hinter ihm in die letzte Reihe gesetzt. Ihm war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen, zwischen seinen Schulterblättern hatte es unentwegt geprickelt und er hatte den Drang verspürt, mit seinem Stuhl möglichst weit nach vorn zu rutschen.

Levent war relativ harmlos, eben der übliche Macho: immer breitbeinig und mit zurückgelehntem Oberkörper dasitzen, völliges Desinteresse am Unterricht ausstrahlen, jede Wortmeldung der anderen ins Lächerliche ziehen, seine fragwürdige Meinung über Frauen ausposaunen und sich trotzdem fast einstimmig zum Klassensprecher wählen lassen. Eins von Levents Lieblingsspielchen mit Paul war es, mit offenem Mund einen Kaugummi nach dem anderen zu zerschmatzen und die fertig gekauten in hohem Bogen in seinen Nacken zu spucken. Etliche ekelige, nasse Kügelchen waren in Pauls Kragen gefallen. Das war erniedrigend gewesen, sicher. Noch schlimmer aber waren Svens Bemerkungen, wenn Paul versuchte, den Kaugummi aus Hemd oder Hosenbund herauszulösen.

»Frau Hoffmann, tun Sie was, der Paul fummelt sich hier wieder am Hintern rum!«

Dann hatte die Klasse gejohlt, obwohl alle natürlich wussten, was los war. In vielen Gesichtern lag nicht nur Erleichterung darüber, dass es sie nicht selbst getroffen hatte, sondern auch Schadenfreude, dass ausgerechnet er dran glauben musste.

Gequält wurden in der Klasse mindestens vier Jungs, damit hätte Paul also leben können. Doch keinen der anderen hatte Sven auf diese Weise auf dem Kieker wie Paul, keinem anderen glotzte er demonstrativ auf den Hosenstall und fragte: »Sag mal, kann’s sein, dass du eigentlich ein Mädchen bist?«

Dass ich mir einen Schutzpanzer zugelegt habe, hinter dem ich mein wahres Ich verberge, hatte er vorgestern in einem Chat geschrieben, liegt vor allem an Sven Lange.

Die Antwort war schnell gekommen: Wie sehr uns einzelne Arschlöcher fertigmachen ... Vielleicht ist es irgendwann mal Zeit, sich zu wehren.

Paul hatte eine Weile überlegt, bevor er zurückschrieb, und dann war es nur ein einziges Wort gewesen: Vielleicht.

Er war noch immer nicht der Meinung, dass er ausgerechnet jetzt etwas gegen Sven tun sollte. Nicht nachdem er so lange durchgehalten hatte und sich schon auf der Zielgeraden befand. Seine Strategie, sich unauffällig durch den Schulalltag zu ducken, war bisher einigermaßen aufgegangen. Nun waren es nur noch viereinhalb Wochen bis zum Verlassen der Schule, bis zum Beginn der Freiheit.

Eine Zeitspanne, die ihm allerdings von Tag zu Tag länger zu dauern schien. Sein erster Fehler war gewesen, dass er sich nicht vor der Abschlussfahrt gedrückt hatte. Hätte er doch wenigstens vermieden, den Abend mit Lillys furchtbaren Freunden zu verbringen. Das war extrem dumm gewesen.

Doch nachdem Lilly durch die abgeschlossene Klotür »Haut alle ab, ich will keinen von euch mehr sehen!« gebrüllt hatte, war ihm ja gar nichts anderes übrig geblieben, als sich anzuschließen. Peinlich genug, dass er ihr in den Mädchenwaschraum gefolgt war, denn das war schließlich eine No-go-Area für einen Mann. Als er die Blicke von Sven, Levent, Leon und Ilkay gesehen hatte, hatte er so hart wie eben möglich gesagt: »Soll sie doch da drin verrotten. Gehen wir!«

Zu seiner Erleichterung hatten sie genickt und ihn kommentarlos mitgenommen. Levent, der wegen seiner Fußverletzung humpelte, war in der Jugendherberge geblieben.

Die harmonische Ruhe hatte allerdings nicht lange gehalten. Schon kurz nach dem Aufbruch hatte Sven Stress gemacht, weil sein Handy nicht mehr in seiner Jackentasche steckte. Er behauptete, jemand müsse es ihm geklaut haben; niemals würde er es in der Jugendherberge lassen; niemals könne es passieren, dass er es irgendwo vergäße.

Als sie den Friedhof nahe der Jugendherberge ansteuerten, hatte Paul unbemerkt verschwinden wollen. Doch dann war ihm völlig unerwartet die Bemerkung über Lilly rausgerutscht. Kurz darauf hatte Sven mit voller Wucht gegen einen Mülleimer getreten und Paul war siedend heiß klar geworden, dass er ein Problem hatte.

Jetzt stolperte er rückwärts über den Kiesweg des Friedhofs, bis seine Füße in lockere Erde einsackten und ihn der erste hohe Grabstein bremste.

»Paule«, sagte Sven – jede Silbe mit dem Klappern des auf- und zuschnappenden Butterflymessers unterlegt –, »was hast du eigentlich mit der Lilly, hä? Was ist das für ’ne Beziehung?«

»Freundschaft«, antwortete er und fühlte, wie sich ein Teil der Angst in Trotz verwandelte. Für Lilly würde er sich gern zusammenschlagen lassen.

»Aha.« Sven nickte vor sich hin und zeigte beiläufig, wie gut er sein Messer im Griff hatte. »Glaubst du, so was ist mit mir nicht möglich?«

Darauf fiel Paul nichts ein. Normalerweise war Sven nicht so schwafelig-tiefgründig. Sven war ein Mann der Tat. Er würde ihm gleich die Faust in dem Magen rammen oder das Messer durchs Gesicht ziehen. Er atmete sich schon wie ein Stier in Rage, stieß aggressive Schnaufer aus, die selbst dem verliebten Leon nicht verborgen blieben. Er kam heran und berührte Sven am Arm.

»Alter, lass gut sein! Steck das Messer weg. Paul gehört doch zu uns.«

»Der?«, fragte Ilkay, plötzlich von der Seite kommend. »Davon weiß ich nichts. Der hält sich für was Besseres. Macht bald Abi, unser kleiner Professor. Hab vorhin noch gehört, wie er zur Hoffmann gesagt hat, dass er in unserer Klasse nix gelernt hat. Scheiß Streberarsch. Soll mal beweisen, dass er zu uns gehört.«

»Wie soll er das machen?«, gab Sven zurück. »Soll er die Hose runterlassen und zeigen, dass er kein Mädchen ist?«

Ilkay lachte und klatschte die Hand mit Sven ab. »Wär ’ne Möglichkeit. Obwohl ich nicht weiß, ob ich mir antun will, das anzugucken, Alter.«

Beide zogen alberne, angewiderte Grimassen. Leon stieß Paul an. Los, sag was, wehr dich, schien er ihm damit sagen zu wollen, aber Paul konnte nicht. Seine Kehle war wie zugestopft mit Angst, Frust und gewaltiger Wut. Wie lange musste er sich das noch bieten lassen? Würde diese Quälerei nie aufhören? Warum waren es immer die saudummen Typen, die die Welt bestimmten?

»Irgendwie hab ich Bock, jemanden zu Brei zu schlagen, wie kommt das wohl?«, hörte er seinen Erzfeind sagen und wappnete sich innerlich gegen den Angriff, als Tatjana unerwartet aufschrie.

Zu Pauls Glück drehten sich augenblicklich alle zu ihr um. Sie war ein paar Meter zurückgeblieben, kam jetzt aber zu ihnen gelaufen.

»Boah, ich steh da so, quatscht mich so ’n Kerl von hinten an und packt mich an, ey!« Bereits von den wenigen Metern war sie außer Atem. Ihr Gesicht war rot, aufgeregt zeigte sie auf jemanden, der erst stehen geblieben war, ihr aber nun mit schlurfenden Schritten folgte.

Ein harmloser Penner, das sah Paul auf den ersten Blick.

»Sorry, Lady«, lallte er und entblößte seine schmutzigen Zähne. Er war noch ganz jung, ein Straßenkind, kaum älter als sie selbst, aber eben nur noch ein Penner. Sein eingefallenes, gelbliches Gesicht wirkte wie aus Pergamentpapier, seine Haare waren verfilzt, seine Kleidung stank und seine Hände zitterten enorm.

»Wollt nur mal wegen ’n bisschen Kleingeld fragen. Flasche Bier wär auch nicht schlecht.« Der große, ausgezehrte Junge blieb vor der Gruppe stehen, suchte die Gesichter nach einem Lächeln ab, fand aber keins, was ihn wohl irritierte. Dafür versuchte er jetzt, selbst umso deutlicher zu grinsen. »Hey, Kollegen«, sagte er in das aufgeladene Schweigen hinein, »wie geht’s, was geht ab?«

»Meister, du gehst hier gleich ab«, rief Leon und gab ihm mit beiden Armen einen kräftigen Stoß vor die Brust. »Hast du meine Freundin angepackt? Willst du einen in die Fresse, oder was?«

Ausgemergelt und kraftlos, wie er war, konnte sich der Penner kaum auf den Beinen halten, sondern kippte gleich nach hinten um und setzte sich in den Kies.

Das gefiel Sven natürlich. Er wandte sich von Paul ab und baute sich neben Leon vor dem Sitzenden auf. Eine Sekunde überlegte Paul abzuhauen; Tatjana hatte ihm quasi den Weg frei gemacht. Aber er war immer noch wie erstarrt.

»Jetzt geht dir der Arsch auf Grundeis, was?«, rief Sven. »Du tatscht hier kein Mädchen mehr an, ist das klar?!«

Von dort, wo er stand, konnte Paul nicht genau sehen, welche Geste der selten dämliche Penner machte. Er hörte ihn nur »Klar, Chef« sagen, mit dünner Krächzstimme zwar, aber trotzdem so provozierend, dass Leon brüllte: »Verarsch uns nicht, du Wichser!«