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Ein wichtiger Roman der erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Kristina Dunker für den sie den "silbernen Lufti", eine Auszeichnung für Jugendbücher in Deutschland, erhielt. Pia ist 16 Jahre alt und scheint einfach ein nettes junges Mädchen zu sein. Doch was keiner weiß, sie ritzt sich heimlich. In einem alten Kuscheltier hat sie für solche Situationen Verbandszeug versteckt. Erst als Pia Sebastian kennenlernt, kommt ihr Geheimnis ans Licht...-
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Seitenzahl: 257
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Kristina Dunker
Saga
Schmerzverliebt
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2003, 2021 Kristina Dunker und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726968118
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
„Findest du den Pudding auch so lecker? Ich hab schon drei Mal nachgenommen, ich könnt Berge davon essen.“
Dass dieser Junge zu viel isst, kann man nicht übersehen. Ich will mich bücken, um den kleinen Löffel aufzuheben, der mir heruntergefallen ist, da reicht er mir bereits einen neuen.
„Danke.“
„Keine Ursache.“ Er mustert mich. „Was hast du an deinen Armen gemacht?“, will er wissen.
Auf die Frage bin ich nicht vorbereitet. Bisher hat glücklicherweise niemand bemerkt, dass ich unter meinen Pulloverärmeln, die ich mir bis über die Handgelenke gezogen habe und zusätzlich mit den Fingerspitzen festhalte, etwas zu verbergen suche. Weder meine Freundin Conny, auf deren Geburtstagsfeier wir gerade sind, noch meine Mitschüler oder meine Familie.
„Wieso?“, entgegne ich unfreundlich. Das ist keine Antwort, aber ich muß Zeit gewinnen.
„Na, weil du deinen Pulli so komisch festhältst.“
Entweder drehe ich mich jetzt weg und rede kein Wort mehr mit dem neugierigen Typen oder ich lasse mir blitzschnell eine Geschichte einfallen. Die Wahrheit kann ich auf gar keinen Fall sagen.
„Ach, das meinst du“, beginne ich, „ich hab die Arme voller Wespenstiche. Die jucken schrecklich.“
„Wespenstiche?“
„Ja genau. Gut, dass die Viecher mich nur an den Armen erwischt haben und nicht im Gesicht. Da hab ich echt Glück gehabt. Wir haben nämlich ein Nest im Garten, das hab ich erst heute entdeckt, oder besser gesagt, mein kleiner Cousin hat’s entdeckt: er hat seinen Fußball mitten reingeschossen.“
„Oh!“
Glaubt er mir? Ich bin mir nicht sicher.
„Der Kleine ist erst vier und einfach seinem Ball hinterhergelaufen...“
„Nein!“
„Natürlich kamen die Wespen sofort in Schwärmen aus ihrem Nest raus und ... na, du kannst dir ja vorstellen, was da los war!“
So erschrocken wie er jetzt guckt, muß er mir einfach glauben. Jetzt nickt er zustimmend. Er nimmt mir die Story also ab. Perfekt! Gut, dass ich nicht einfach einen auf Zicke gemacht und mich ohne Ausrede weggedreht habe. So ist es viel besser. Ich bin ein unschuldiges Wespenopfer. Das klingt so gut, dass ich es selbst gern glauben möchte.
„Und da bist du mitten rein in den Wespenschwarm und hast ihm das Leben gerettet?“
„Na ja, das Leben gerettet nun nicht gerade.“ Ich mache eine abwehrende Handbewegung. Schließlich darf man beim Lügen nicht zu dick auftragen.
„Sicher hast du das! Er hätte sterben können! Was meinst du, wie viele Menschen auf Wespenstiche allergisch reagieren? Ich zum Beispiel! Und Kinder sind ja noch viel empfindlicher! Was ist mit dem Kleinen passiert? Hat er viel abbekommen?“
„Geht so. Ich hab ihn ja rechtzeitig weggezogen. So dramatisch war’s nun auch wieder nicht.“
Der Junge schüttelt den Kopf. „Du brauchst das nicht bescheiden herunterzuspielen, ich weiß, wie aggressiv Wespen sein können. Mir ist mal eine ins Hosenbein geflogen, ich sag dir, da bin ich aber gehüpft!“
Er macht eine umständliche Bewegung, hält seinen massigen Bauch mit beiden Händen fest und versucht ein paar schwerfällige Sprünge.
Es sieht komisch aus. Ich muß grinsen.
„Ich bin gehüpft wie eine Gazelle!“
Er lacht locker über sich selbst, und ich lache mit. Glück gehabt, vom Thema Wespen sind wir erstmal runter. Der naive Dickwanst hat außerdem Humor.
„Also, ich glaub’s nicht, das ist schon ein verrückter Abend.“ Er wischt sich eine Lachträne von der Wange. „Ich hatte zuerst gar keine Lust, zu dieser Party zu kommen. Ich kenne Conny kaum, und hab nicht gedacht, dass ich mich hier wohlfühle und nette Leute treffe. Und schon gar nicht hab ich erwartet, hier ne echte Heldin kennenzulernen!“ Er betrachtet mich voller Stolz. „Wie heißt du? Ich heiß Sebastian, hab ich das schon gesagt?“
„Mm...nein.“
„Gut, also: ich bin Sebastian! Hier, laß uns mit einem Glas Sekt anstoßen! Deine Rettungsaktion muß gefeiert werden!“
Ich spüre, dass ich rot werde. Die Hitze steigt in meinen Kopf, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Heldin! Rettungsaktion! Von wegen!
„Nein, danke, ich... ich möchte keinen Sekt.“
„Warum denn nicht? Der schmeckt gut!“
Sebastian greift nach zwei Gläsern, gießt sie voll.
„Ich hab den gerade schon probiert, da hat Conny wirklich nicht am Geld gespart. Und zum Pudding passt er auch.“ Er drückt mir ein Glas in die Hand, strahlt mich an. „Prost, Lebensretterin!“
„Prost, Sebastian!“, flüstere ich, stoße mit ihm an und setze das Glas an die Lippen. Ob er meine Geschichte längst durchschaut hat und nur so tut, als ob er mir glauben würde? Vielleicht will er mich mit seinem überschwänglichen Lob aufziehen oder aus der Reserve locken? Ich habe Angst, aber ich weiß nicht, was ich anderes tun soll, als an meiner Lüge festzuhalten und weiterzuspielen.
Es gelingt mir zu trinken, obwohl ich lieber weglaufen möchte. Immer verhalte ich mich so, wie die anderen Menschen es von mir erwarten: höflich, freundlich, unauffällig.
Ich verziehe keine Miene, als sich jemand an mir vorbei drängt und dabei meine Arme berührt. Ich lächele, als die tiefen Schnittwunden, die ich mir vor wenigen Stunden selbst mit einer Raiserklinge zugefügt habe, wieder anfangen höllisch zu brennen und die Scham über diese Tat auch den inneren Schmerz auflodern lässt; ich lächle, während ich spüre, wie ich unter meinem Pulli blute, und ich lächle und stoße noch einmal mit Sebastian an und als er zum dritten Mal fragt, verrate ich ihm endlich meinen Namen.
„Pia“, wiederholt er, „schön.“
„Na, ich weiß nicht. Die meisten Leute nennen mich Püppi.“
„Och nee.“ Sebastian verdreht die Augen. „Das passt nicht zu dir. Aber mach dir nichts draus, es gibt Schlimmeres. Mich nennen sie Fleischwurst.“
Das ist nicht fair. Sebastian hat strahlend blaue, wache Augen, ein knuffiges Grinsen und strohblonde Haare, die ihm keck ins Gesicht fallen. Er sieht nett aus. Schade, dass er so dick ist.
„Warum nimmst du nicht ab? Ist doch nicht so schwierig.“
„Nöö“, er streicht sich über den Bauch, „weiß nicht. Vielleicht irgendwann mal. Jedenfalls nehme ich nicht ab, nur weil andere das von mir verlangen.“
„Verstehe.“ Ich nippe an meinem Sektglas, doch es ist leer.
„Möchtest du noch?“
„Mmmh.“ Vielleicht geht die Unsicherheit weg.
Er gießt mir Sekt ein, berührt mit den Fingerspitzen meine Halskette.
„Die gefällt mir“, sagt er bewundernd. „Was sind das für Muscheln? Hast du sie selbst gesammelt? Ich bekomme richtig Sehnsucht.“
„Nein“, ich lächele, „leider nicht. Das sind Exoten aus der Südsee. Eine Tante hat sie mir mitgebracht. Ich bin bisher gerade mal an der Nordsee gewesen.“
„Sag nichts gegen die Nordsee! Da findet man immerhin Herzmuscheln. Sie sehen aus wie in Form gebrannter Sand, schimmern in allen Ocker- und Brauntönen und liegen schön in der Hand. Kennst du die?“
Ich nicke, und einen Moment lang blicken wir uns in wohlwollendem, stummen Einverständnis an, wie zwei Menschen, die schon lange miteinander vertraut sind und über Dinge reden, für die sie eigentlich keine Worte mehr brauchen.
Dann streicht er langsam und nachdenklich mit der Zeigefingerspitze über den Rand seines Glases. „Mein Vater hat ein Segelboot, damit kreuzen wir in den Sommerferien mit Freunden übers Mittelmeer, von Insel zu Insel, das ist echt toll. In zehn Tagen ist es wieder soweit: sechs Wochen Ausspannen, Baden und Tauchen, na ja... das heißt, Tauchen tut hauptsächlich mein Vater, ich nicht, kannst dir ja denken, Fett schwimmt oben, aber dafür bin ich letztes Jahr Gewinner im Muschelwettessen geworden.“
„Dein Alter muss ja echt Kohle haben.“
Das rutscht mir so raus, ich sage es ohne Neid, aber Sebastian wird dennoch verlegen, und, wie um es zu überspielen, gießt er mir erneut Sekt ein und sagt: „Wenn du willst, kannst du ja mal auf so einen Segeltörn mitkommen.“
„Ja, vielleicht.“ Ich nicke. Keiner von uns beiden meint es ernst. Nun werden wir noch verlegener, Sebastian starrt auf meine Kette oder sonstwohin, ich kippe den Sekt wie Wasser, blicke in mein schon wieder leeres Glas und spüre wie der Alkohol anfängt zu wirken.
Manchmal ist Sebastian über seine eigene Frechheit überrascht: Er hat das hübsche Mädchen am Buffet tatsächlich angesprochen. Er hat mit ihr geflirtet und sich sogar vorgestellt, er würde sie küssen. Dabei ist sie unerreichbar für ihn, so schlank wie sie ist.
Sebastian lässt seinen Blick von ihren haselnussbraunen Augen über den mit Muscheln behängten Hals, den unter dem Sweat-Shirt hervorguckenden BH-Träger bis zu ihren Fingern gleiten, die das Sektglas hin und her drehen. Auch ihre Finger, die halb von den Pulloverärmeln versteckt werden, sind schlank und schön. Silberne Ringe glitzern an ihnen und um einen windet sich eine tätowierte Schlange.
„Was schaust du?“
„Ich... hab das Tatoo bewundert.“
Schüchternes Lächeln, das begleitet wird von Summen.
„Kennst du das Lied?“
Er nickt vage. Pia beginnt sich hin und her zu wiegen, sachte, als deute sie einen Tanz an, eine Pantomime, einen Traum. Die Muscheln klackern leise, und der Duft ihres Haarshampoos dringt ihm in die Nase. Plötzlich hat er das Gefühl, auf einem schwankenden Boot zu stehen.
„Romeo and Juliette. Mein Lieblingslied.“, sagt Pia.
„Meins auch.“ Das stimmt und stimmt nicht.
„Wollen wir tanzen?“, fragt sie.
Das hat ihn noch niemand gefragt. „Wir beide?“
„Warum nicht? Du kannst mir ruhig auf die Füße treten. Die halten das aus.“ Sie grinst und das schwankende Boot, auf dem er zu stehen glaubt, sinkt über Bug.
In diesem Moment wird die Musik abgedreht. Gleichzeitig schaltet jemand das Neonlicht ein, und der Raum, der bis gerade noch ein romatisches Hafencafé an einem fernen Meer hätte sein können, verwandelt sich zurück in den Partykeller von Connys Eltern mit seiner Zapfanlage, dem Eichenholztresen und den Fußballwimpeln an den Wänden. „Leute, alle mal herhören“, ruft mein großer Bruder Benedikt. Er spielt den Disc-Jockey und holt gerade die CD, die ich Conny geschenkt habe, aus der Stereoanlage. „Jetzt kommt Stimmung in die Bude“, ruft er. „Conny hat sich eine Überraschung gewünscht!“ Er klopft meiner Freundin aufmunternd auf die Schulter. Die lächelt unsicher und piepst: „Sie haben eine Modenschau für mich vorbereitet!“
„Einen Schönheitswettbewerb!“, ergänzt Benedikt.
„Ja“, ruft Conny, und es ist nicht zu übersehen, wie sehr sie meinem Bruder anhimmelt, „ja, genau! Einen Mode- und Schönheitswettbewerb! Das ist doch wohl supertoll?“
Sebastian verzieht das Gesicht. „Supertoll“, wiederholt er ironisch. Doch er sagt es so leise, dass Conny es nicht hört. Auch die anderen Gäste behalten ihre Kritik eher für sich, die meisten finden den Vorschlag wahrscheinlich sowieso gut, fast alle ihre Freundinnen träumen von einer Karriere als Model oder zumindest von einem Auftritt in einer Talk-Show.
„Ich hätt nicht herkommen sollen.“
„Du mußt ja nicht mitmachen“, tröste ich ihn und füge solidarisch hinzu: „Mir ist heute auch nicht danach. Obwohl ich sowas normalerweise schon mag. Ich bereite mich nämlich auch auf ein Casting vor.“
Sebastian schnaubt verächtlich.
„Dann passt der Name Püppi ja doch zu dir.“
„Bitte?“
„Ach, vergiss es! Ich hau ab.“
„Hey!“, rufe ich.
Er dreht sich nicht um, verabschiedet sich nur rasch von Conny, die allerdings versucht, ihn aufzuhalten. Ich sehe, wie die beiden an der Kellertür miteinander diskutieren, während Connys Schwester sich gleichzeitig mit einer Kiste voller witziger Assecoires: Perlenketten, Ohrclipsen, Federboas, Sonnenbrillen, Handtäschchen und Hüten an ihnen vorbei in den Partyraum drängt. Sebastian greift nach einer Baseballkappe mit einem aufgenähten Plüschelch und pappt sie sich auf den Kopf.
„Krieg ich damit die Goldene Zitrone?“, höre ich ihn Conny fragen.
„Du kannst Moderator sein“, sagt sie sanft, „du mußt nicht mitmachen.“
„Alle müssen mitmachen“, mischt sich Benedikt ein. „Conny hat sich das zum Geburtstag gewünscht! Was meinst du, was das für ein Aufwand war, das ganze Zeug zu besorgen?!“ Er zieht Sebastian die Mütze vom Kopf. „Spielverderben gilt nicht. Komm, stell dich nicht an, Kramer, oder glaubst du, du kriegst ne Extrawurst?“
Sebastian wird sich schon zu helfen wissen. Ich wende mich ab, sehe an mir herunter und checke meine Lage. Der Pullover, den ich anhabe, ist ein verwaschenes, weißes Sweat-Shirt meines Vaters. Es ist mir mindestens drei Nummern zu groß und seit 1985 nicht mehr modern. Davon lenkt auch die Muschelkette nicht ab. Darunter trage ich zwar ein ganz passables Top, das meine schlanke Figur gut zur Geltung bringt, aber wenn ich heute Abend den Pulli ausziehe, wird ausnahmsweise keiner auf meinen Busen gucken.
Was soll ich machen? Mit diesem Aufzug bin ich doch reif für den Negativ-Oscar. Ich fühle, wie ich nervös werde. Schon ist Alina dabei, Stimmzettel zu verteilen, und Sandra dreht sich elegant auf ihrem imaginären Laufsteg. Sandra ist eine Schönheit mit glänzenden, schwarzen Haaren, perfektem Make-up und Körpermaßen wie ein Model. Sie wird nicht nur diese Modenschau gewinnen, sondern auch beim Casting nächste Woche. Sie wird als Sängerin für die Pop-Band ausgewählt werden, für die der Lokalsender Nachwuchstalente sucht. Seit sie sich vor ein paar Tagen entschieden hat, ebenfalls an der Ausscheidung teilzunehmen, mache ich mir keine Hoffnungen mehr auf einen Sieg. Sandra ist das personifizierte Selbstbewußtsein mit großer Schnauze. Ich dagegen bin ein Sensibelchen, das ständig eine Rasierklinge in ihrem Portemonnaie mit sich trägt, um sich jederzeit ein paar blutige Kerben in die Haut ritzen zu können. Ein echter Problemfall.
Trotzdem will ich jetzt Spaß haben und mich noch ein bißchen mit Sebastian unterhalten, und damit ich das kann, muss ich mich bemühen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Ich stelle Sektglas und Puddingteller ab. Dabei fällt mir die Schale mit den Peperoni ins Auge.
„Sebastian, was hältst du von einem Gegenwettbewerb: Peperoni-Wettessen zum Beispiel? Na, wäre das keine Herausforderung? Wer schafft es, die meisten scharfen Peperoni zu essen?!“
Alle sehen mich erstaunt an. Sebastian, der schon halb zur Tür hinaus ist, dreht sich um. Benedikt stöhnt auf.
„Püppi“, sagt mein Bruder nachsichtig belehrend, „du hast das mal wieder falsch verstanden. Auch wenn du einen gepiercten Bauchnabel und fünf Ohrlöcher auf jeder Seite hast und das anscheinend schön findest, so möchten wir einfach nur eine Modenschau machen, keine Fakir-Vorführung.“
Allgemeines Gelächter. Benne wirft mir ein gewinnendes Lächeln zu. „Hopp-hopp, geh dich umziehen!“, ruft er und gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf den Po. „Oder willst du etwa so antreten?!“
Ich spüre, dass ich rot anlaufe. Trotzdem will ich nicht nachgeben, sonst kann ich Sebastian vergessen.
„Machst du mit?“, frage ich Sebastian, greife mir drei besonders große Peperoni-Schoten aus der Schale und halte sie in die Luft. „Was ist? Hast du mehr Mut?“
Sebastian gibt keine Antwort.
„Hey, jetzt halt mal den Ball flach, Püppi, ja?“ Benedikt tritt auf mich zu, greift nach meinem Arm. „Lass den Quatsch! Die sind so scharf, mit denen kann man ein Bahnhofsklo desinfizieren!“
„Kein Wunder, dass der Türke sie mir gratis gegeben hat!“ Conny lacht. Es klingt aufgesetzt. „Komm, Püppi, hör auf mit dem Mist! Gib Benne die Peperoni, er hat Recht, laß uns lieber ’ne Modenschau machen, das ist harmlos und lustig.“
Die anderen nicken zustimmend. Sebastian steht immer noch da und schaut mich an. Seine Finger spielen mit dem Reißverschluss seines Anoraks. Wird er bleiben oder gehen?
„Traut euch!“, rufe ich. „Da, guckt, ich mach’s!“ Ich werfe den Kopf in den Nacken und die Schoten in die Luft. Ich rufe: „Aloa!“, das fällt mir gerade so ein, weil ich an blaue Augen denke und blaues Meer und Segelboote, und ich öffne den Mund und eine nach der anderen Peperoni fällt hinein.
„Nicht!“, kreischt Conny.
„Püppi!“, schimpft Benedikt.
Ich spüre alle Blicke auf mir.
Dann bricht das Feuer aus. Hilfe! Ist das schlimm! Aber ich schreie nicht, ich bleibe stumm und kaue und kneife die Augen zusammen. Mein Gaumen lodert, meine Zunge wird erst wund, dann blutig, jedenfalls fühlt sie sich so an, wie ein gehäutetes Tier.
„Voll cool, die Frau“, höre ich einen Jungen neben mir sagen, es ist als Kompliment gemeint, aber es trifft nicht, es ist dumm und nicht durchdacht, denn ich bin kein bißchen kühl, ich bin ein Drachen, ein Feuerschlucker, ein Vulkan, ich glühe immer, auch, wenn mein Kopf gerade nicht in Flammen steht.
„Spuck aus, Püppi, spuck das Zeug aus!“ Benne hält mir eine leere Porzellanschale unters Kinn und drückt meinen Kopf nach unten.
„Nein!“, würge ich mit vollem Mund und schlucke die Peperoni im nächsten Moment herunter.
„Gewonnen!“
Mein Bruder und ich starren uns an. Wahrscheinlich stehen mir die Haare wie elektrisiert zu Berge und meine Augen sprühen Funken.
Benedikt ist bleich. „Schön, du hast gewonnen“, flüstert er, schüttelt verständnislos den Kopf, dreht sich um und klatscht in die Hände. „Püppi dürft ihr von heute an auch „Miss Peperoni“ nennen. Sie hat den ersten Preis im schärfsten Wettessen der Welt gewonnen. Möchte jemand ihren zweifelhaften Rekord brechen, oder können wir jetzt wieder Spass haben?“
„Halt mal endlich die Klappe, Benedikt“, sagt Sebastian in diesem Moment und drängt sich zu mir vor.
„Bist du okay? Möchtest du vielleicht ein Stück Brot oder Banane?“
„Nein, geht schon, danke.“
„Beiß trotzdem mal ein Stück ab“, sagt er und hält mir eine Banane an die Lippen, „das hilft!“
„Kramer, willst du dich jetzt an meine Schwester ranmachen?“ Benedikt schubst Sebastian, nicht stark, aber doch immerhin so, dass dieser sich den Rest der Banane auf die Hose schmiert.
„Oh Shit, die gute, teure Designer-Jeans. Da wird Papa aber mit dem dicken Trampel schimpfen!“
„Benne, zisch ab, du nervst!“, sage ich.
Sebastian schweigt, wischt am Flecken herum.
„Wenn du mich fragst, ich würd den Fleck drin lassen, der kommt gut an der Stelle.“
„Wenn das nicht mehr rausgeht, Benedikt, kannst du mir die Hose ersetzen.“ Sebastians Stimme ist leise. Noch immer sieht er nicht auf.
„Pahh“, macht Benne und will etwas erwidern, aber er kommt nicht dazu. Conny unterbricht ihn, hakt sich bei ihm ein, ruft: „Jetzt fangt bloß nicht an auf meiner Party zu streiten! Ich hab Geburtstag, ich will Spaß, keinen Ärger! Katja, mach mal die Musik wieder an! Los, laßt uns tanzen!“ Sie schiebt die Jungs auseinander, wendet sich mir zu: „Wieder okay, Miss Peperoni? Ich hoffe, du hast dich abgeregt und bist jetzt wieder normal. Mensch, manchmal hast du echt ne Meise, Püppi, das mein ich ganz ernst.“
„Merkst du’s auch schon?“, höhnt Benne.
„Können wir jetzt endlich mit der Modenschau beginnen?“, quengelt Sandra.
„Macht ihr mal“, sage ich, „mir reicht heute Abend ein Titel.“
„Ich geh nach Hause“, beschließt Sebastian. „Und du?“
Sandra, Conny und Benne sehen mich erwartungsvoll an.
Sandra denkt sicher, dass es nur von Vorteil für sie sein kann, wenn ich mich mit einem Dickwanst belaste, denn jemand mit seinen Ausmaßen kann bei einer Popkarriere ja nur hinderlich sein. Sie denkt bestimmt, dass der nicht mit aufs Bravo-Foto passt, weil Dicke ja höchstens in der Rubrik „Vorher-Nachher“ eine Chance haben, berühmt zu werden.
Conny wird natürlich beleidigt sein, wenn ich so früh gehe, und das Highlight ihrer Party verpasse. Allerdings glaube ich, dass sie meine Abwesenheit sehr gut verschmerzen kann, wenn sie nur Benne in ihrer Nähe hat. In letzter Zeit habe ich nämlich das Gefühl, dass ihr die Freundschaft zu mir zunehmend zweitrangig wird. Seit Benne den Führerschein hat und uns vor ein paar Wochen ein paarmal mit dem Auto in die Disco genommen hat, hält sie sich bei Besuchen in unserem Haus mehr in seinem Zimmer auf als in meinem.
Benedikt interessiert sich normalerweise nicht für das, was ich mache, aber heute sieht er mich an, als passe ihm mein Abgang ganz und gar nicht. Das ist mir aber egal.
Daher umarme ich Conny nur flüchtig und laufe dann Sebastian nach, der schon hinaus gegangen ist.
„Du bist echt ganz schön durchgeknallt“, sagt er, als wir nebeneinander vor Connys Haustür stehen, beide die Hände in die Hosentaschen gesteckt und den direkten Blickkontakt vermeidend.
„Ich hatte heute Abend eben auch keine Lust auf eine Modenschau“, erkläre ich. „Außerdem warst du doch derjenige, der plötzlich weg wollte“, füge ich gekränkt hinzu. „Du hast mich einfach so stehengelassen!“
„Die wollten mich vorführen, hast du das nicht gemerkt?“
„Wer? Conny und Benne? Quatsch! Conny steht auf sowas, und Benne wollte ihr eine Freude machen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Wieso?“
Sebastian schüttelt den Kopf. „Wieso? Wieso? Was weißt du denn schon? Ich hab keine Lust mehr, ständig auf meine Figur angesprochen zu werden, ich hab keinen Bock, mich dafür zu schämen, dass ich Übergewicht habe und unsportlich bin. Entschuldige Pia, aber ich weiß gar nicht, was du jetzt von mir erwartest, ich bin kein Sunnyboy, der dich in seine knackigen Muskelmannarme nimmt und...“
„Mann, was hast du denn? Wir gehen doch nur zusammen nach Hause! Ich glaub, du hast ’n paar Komplexe!“
Er wird rot. „Kann sein. Entschuldigung.“
Das rührt mich. Tränen steigen mir in die Augen, ich versuche sie herunterzuschlucken, verdammt, wie peinlich, kannst du dich nicht zusammennehmen, du dumme, nichtsnutzige Pute!
„Schon gut“, würge ich hervor. So schlimm war’s nun auch wieder nicht. Dafür muss er sich doch nicht bei mir entschuldigen. Ich kann’s nämlich nicht ertragen, wenn sich jemand bei mir entschuldigt, der andere macht sich dann so wehrlos, und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Gott sei Dank kommt das nicht allzu oft vor.
Sebastian berührt meinen Arm. „Tut mir echt Leid, ich wollt`s nicht vermasseln, ich wollt dich auch nicht beleidigen, ich...“
„Ich sag doch: es ist okay!“ Ich räuspere mich, krame nach meinen Zigaretten, zünde mir schnell eine an.
„Auch eine?“
„Ich rauch nicht.“
„Schön für dich. Hast du wenigstens keinen Stress mit deinen Alten.“
Sebastian zuckt die Schultern. „Hätte ich auch so nicht.“
„Sollen wir uns noch irgendwo hinsetzen? Oder willst du direkt nach Hause? Ich jedenfalls nicht. Es ist ja noch warm und hell. Ich kenne in der Nähe einen schönen Platz, wenn du Lust hast...?“
Ich lasse den Satz in der Luft hängen, ziehe an meiner Zigarette.
„Schon...“, sagt er. „Doch...“
„Lass uns einfach ein bißchen quatschen“, füge ich hinzu.
„Okay.“ Er nickt.
„Ich zeig dir meinen Lieblingsplatz.“
„Gut. Mein Fahrrad steht da vorne.“
Sebastian soll fertig gemacht werden. Davon muss er jetzt ausgehen. Am Fahrradlenker hängen lauter weiße Mäuse. An der Stange aufgeknöpft wie an einem langen Galgen. Das Band, der als Strick diente, schneidet tief in ihre Hälse. Eine Massenhinrichtung, auch wenn es nur Zuckermäuse sind, keine echten. Ihm läuft eine Gänsehaut über den Rücken.
„Was ist das denn?“, fragt Pia erschrocken.
„Ein dummer Scherz“, murmelt er.
„Was soll das? Wer macht sowas?“ Sie stemmt ärgerlich die Hände in die Hüften.
Sebastian antwortet nicht, deutet aber mit einer Kopfbewegung auf Connys Haus.
„Doch nicht meine Freundin!“
„Vielleicht dein Bruder Benne. Wir sollten lieber doch nicht zusammen nach Hause gehen.“
„Warum sollte er sich so blöde Streiche ausdenken? Das war nicht Benne! Aus dem Alter ist er ja wohl raus.“
Pia zieht ihr Portemonnaie aus der Tasche, dreht ihm den Rücken zu und beugt sich über den Lenker. Er sieht, wie eine Maus nach der anderen kurzerhand mit einem kleinen Gegenstand abgeschnitten wird und auf den Asphalt fällt. Mädchen, denkt er, müßte man sein, die haben immer alles dabei: Lippenstifte, um Nachrichten auf Badezimmerspiegel zu schreiben oder Nagelscheren, um erhängte Zuckermäuse abzuschneiden. Außerdem sind sie viel cooler, zupackender. Ihm jedenfalls zittern die Hände.
„So, und jetzt komm!“ Sie steckt das Portemonnaie in die Hosentasche zurück, nimmt das Rad und kickt die Mäuse auf das Blumenbeet. „Aus die Maus. Los, von solchen Armleuchtern lassen wir uns nicht den Abend verderben!“
Mein Lieblingsplatz ist ein Angelteich, der in einem winzigen Naturschutzgebiet nur wenige Gehminuten von Connys Haus entfernt liegt. Ich habe mich schon immer gefragt, warum man in einem Naturschutzgebiet angeln darf. Sind denn Fische nicht geschützt?
Sebastian weiß darauf auch keine Antwort.
„Vielleicht gibt es sonst zu viele Fische“, sagt er leichthin, aber ich merke, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders ist und über sowas nicht diskutieren will. Also schweigen wir.
Es ist Mitte Juni und einer der wärmsten Tage bisher. Im Wald tanzen Zuckmückenschwärme über den Wegen, der rote Fingerhut blüht und irgendwo singt eine Amsel.
„In der Natur fühle ich mich viel wohler als in Connys verrauchtem Partykeller“, bemerke ich. Sebastian nickt abwesend.
„Da vorn ist es!“ Ich zeige auf den kleinen See. Er ist fast quadratisch und nicht wirklich verwunschen, man hört natürlich die Autobahn und die Güterzüge, die direkt am gegenüberliegenden Ufer vorbeirumpeln, aber trotzdem ist er eine Oase, es gibt etwas Schilf und sogar Seerosen, zwischen denen Stockenten dümpeln. Das Beste aber ist ein Holzsteg, der etwa bis zur Mitte des Teichs ins Wasser ragt und an dessen Ende eine Bank steht.
„Hier sitze ich oft“, sage ich, als wir sie erreichen. „Gefällt’s dir?“
Sebastian lässt sich auf die Bank plumpsen.
„Ja. Das könnte auch mein Lieblingsplatz sein.“ Er lächelt erleichtert, lehnt den Kopf zurück, sieht mich an. „Ich bin ganz fertig.“
„Ach, lass dich von solchen Dummköpfen nicht aufziehen. Jemandem Zuckermäuse ans Fahrrad hängen, das ist Kindergartenniveau! Wie kannst du nur darauf kommen, dass ausgerechnet Benne da mitgemacht hat? Das ist völlig absurd, Dick-sein ist für Benne kein Grund jemanden zu ärgern.“
Sebastian schweigt.
„Hey“, sage ich tröstend, lege ihm den Arm um die Schultern, rücke zu ihm heran, nicht zu dicht, aber auch nicht zu weit weg.
„Ich bin schon wieder okay.“
„Wirklich?“ Ich kitzele ihn ein bißchen, und er schrickt zusammen, rückt ab von mir.
„Pia“, sagt er atemlos, „ich hab noch nie ein Mädchen angesprochen, ich weiß nicht, was ich machen soll..., ich...“
„So? Was machst du denn sonst den ganzen Tag?“
„Ich füttere meine fleischfressende Pflanze mit Fliegen, ich füttere mich selbst mit Schokolade, ich schaue mir Segelzeitschriften an, ich lese, ich treffe mich mit meinen Freunden...“
„Sind da etwa keine Mädchen dabei?“
„Doch, aber...“
„Aber?“
„Nicht solche wie du.“
Ich sehe ihn irritiert an und muss plötzlich lachen. „Das glaub ich dir gerne.“
„Wieso?“, fragt er neugierig, und als ich weiterhin lache, gibt er es auf, wohl, weil er einsieht, dass es sinnlos ist, auf eine Antwort zu warten, die er sowieso nicht bekommen wird, zumindest nicht heute Abend, und da vergisst er seine Scheu und seine Sorgen und lacht einfach mit.
„Was kannst du eigentlich noch außer Wespen verjagen und Peperoni vertilgen?“, fragt er vergnügt. „Kannst du Steinchen übers Wasser hüpfen lassen?“
„Natürlich.“
„Wie oft?“
„Fünf- bis siebenmal.“
„Ich schaffe neun, wetten?“
„Glaub ich nicht.“
„Was glaubst du denn? Dass sie bei mir wie nasse Säcke reinplumpsen, so: platsch!“ Sebastian lässt sich im Spaß halb von der Bank fallen. Für sein Gewicht ist er ganz schön gelenkig.
„Haargenau das hab ich gedacht.“
Er lacht. Ich mag es, wenn er lacht.
„Das denken alle. Ich kann aber auch ganz leicht sein.“ Er schiebt sich wieder auf die Bank, steht sogar ganz auf und steigt mit den Füßen auf die Sitzfläche.
„Ich kann Dinge fliegen und schweben lassen, wenn ich will. Modellflugzeuge, Winddrachen, Gedanken. Und Segelboote. Das ist das allerschönste Gefühl, das ich kenne: übers Wasser gleiten, den Wind spüren, das Salz schmecken, spüren, wie alles von einem abfällt, wie man ganz leicht wird, den Alltag hinter sich lässt und nur noch durch das weite Blau auf den Horizont zugleitet. Das ist so wahnsinnig. Kannst du das verstehen?“
Sebastian breitet die Arme aus, steht so einen Moment.
„Kann ich“, behaupte ich und denke an die Rasierklinge in meinem Portemonnaie. „Bin schon mal Karussell gefahren“, sage ich dann, stecke mir eine Zigarette an und grinse.
Sebastian grinst zurück. „Sorry, wenn ich dich vollsülze.“
„Nööö.“
Er springt von der Bank. „Komm, lassen wir Steinchen hüpfen!“
Wir schlendern zurück zum Ufer, sammeln Steine auf, lassen sie springen, versuchen uns gegenseitig zu überbieten oder die Steine in der Luft zusammentreffen zu lassen.
Anschließend haben wir Durst. Sebastian schlägt vor, zur Party zurückzugehen, aber irgendwie trauen wir uns nicht und entscheiden uns, stattdessen zur Autobahn zu laufen und an der Tankstelle einzukaufen. Wir gehen den Weg unterhalb der Böschung entlang. Autos und Laster donnern wenige Meter von uns entfernt vorbei.
„Willst du mal ins Radio?“ Sebastian deutet auf die Autobahn.
Ich erschrecke. Natürlich meint er das nicht ernst. Es soll ein Witz sein.
„Ha, ha.“, lache ich ironisch.
„Schlechter Scherz, ich weiß.“
„Allerdings.“
„Hey, was bist du denn so empfindlich?“
„Ich bin nicht empfindlich.“ Mein Rachen fühlt sich von den Peperoni immer noch taub an und meine aufgeschnittenen Arme habe ich so fest an meine Seiten gepresst, dass die bloße Berührung Schmerzen verursacht, dazu kommt die Reibung durch meine rascher werdenden Schritte, doch ich löse die Arme extra nicht, sondern lasse sie am Körper entlangschrappen.
Mein Herz schlägt heftig dabei. Niemand darf je erfahren, dass ich ab und an ein kleines Blutbad auf meiner Haut anrichte. Was ich unter meinen Pulloverärmeln verstecke, kann mich unter Umständen in die Klapsmühle bringen.
Wir erreichen die Tankstelle. Es herrscht viel Betrieb, der Geruch von Kaffee und Diesel liegt in der Luft, jemand hat laut Musik aufgedreht, Reisende kaufen Proviant und Getränke, und auf den Heckablagen der Autos türmen sich Strohhüte, Sandschaufeln und Schwimmtiere.
Ohne nachzudenken drehe ich mich zu Sebastian um und sage: „Guck mal, die fahren alle in den Urlaub. Sollen wir auch? Sollen wir uns an die Ausfahrt stellen und nach Süden trampen?“
„Du kommst auf Ideen!“
„Wer redet denn immer vom Segeln?“
„Ich fahre mit meinem Vater in die Ferien.“
„Mit den Eltern - das ist doch kein Urlaub!“ Ich drehe mich im Kreis. „Wir zwei fahren allein ans Meer, segeln und sammeln Muscheln. Wir brechen da vorn den Wohnwagen auf, den da mit den gelben Gardinen, siehst du? Die Leute sitzen vorn in ihrem Auto und lenken, und wir machen’s uns hinten gemütlich. Was hältst du davon? Ich will auch mal Leichtigkeit pur spüren, ich will auch mal durchs Blau sausen, ich will...“
„Du bist verrückt!“
„Na und! Mir geht’s gut, ich hab richtig Fernweh!“
„Wenn man Fernweh hat, geht’s einem nicht gut.“
„Schlauberger! Woher willst du denn wissen, wann es mir gut geht?!“
Wir stehen dicht voreinander, so dicht, dass eine spürbare Spannung zwischen unseren Körpern entsteht. Er riecht nach Angst und Erregung, nach Schweiß, Aftershave und Pfefferminz. Das macht mich an. Spontan lege ich meine Hände um seinen Hinterkopf und ziehe ihn zu mir heran. Er erschrickt, will zurückweichen, aber ich lasse ihn nicht. Ich will ihn jetzt küssen! Zum Kuckuck mit seinen Komplexen! Ich presse meine Lippen auf seine, knacke seinen Mund mit meiner Zunge, lockere seine verkrampften Kiefer.
Zuerst zappelt er wie ein Ertrinkender, dann wirkt er wie erstarrt. Meine Zunge wird zur Zauberin, sie umarmt, sie umgarnt. Und endlich, endlich wird er ruhig und findet sogar den Mut, von sich aus zärtlich zu sein.
Nachher ist er völlig erschöpft und ringt nach Atem.
„F...f...fühl mal, ob mein Herz noch schlägt!“, stammelt er.
Ich lege meine Hand auf sein T-Shirt. „Poch, poch, poch.“
„Pia, das war mein erster Kuss!“
„Hab ich gemerkt.“ Ich grinse, lecke mir kokett über die Lippen. „War er wenigstens gut?“
„Ja, oh, ja. Für dich war das nicht dein erster?“
„Nein.“
„Ich...oh, hoffentlich..., ich...“
Er schlägt die Hände vors Gesicht.
„Hey Sebastian! Guck mich an!“ Ich schüttele ihn. „Es hat mir gefallen!“
Er nimmt die Hände von den Augen. „Wirklich?“