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Die Arbeit am Ausdruck E-Book

Anna Park

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Beschreibung

Die Aneignung symbolischer Artikulationsformen ist eine Bedingung für das menschliche Zusammenleben und die Entwicklung von Kultur. Die damit verbundenen Bildungsprozesse können im Wesentlichen als Arbeit am Ausdruck individueller Erfahrung verstanden werden. Anna Park schlägt mit dem ästhetischen Konzept der »expressiven Differenz« ein artikulationstheoretisches Verständnis von Bildung vor, mit dem zwei gegenwärtige bildungsphilosophische Diskurse zurückgewiesen werden sollen: die logozentrische Auffassung von Bildung einerseits und die Beschwörung des Unverfügbaren in der Bildung andererseits. Die Grenzen des Aussagbaren fallen nicht mit den Grenzen des Artikulierbaren zusammen.

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Seitenzahl: 436

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In Erinnerung an Verena, Walo & Nitsch

Anna Park (Dr. phil.), geb. 1983, lehrt und forscht an der Universität Zürich am Institut für Erziehungswissenschaft im Bereich Allgemeine Pädagogik, Bildungstheorie und pädagogische Anthropologie. Weitere Schwerpunkte sind die kulturgeschichtliche Analyse des Prinzips »Mütterlichkeit« sowie ästhetische Praxis und Urteilsbildung.

Anna Park

Die Arbeit am Ausdruck

Zur ästhetischen Dimension von Bildung. Eine artikulationstheoretische Annäherung

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Dank: Prof. Dr. Roland Reichenbach für die unzähligen Gespräche und Dr. Mario Schärli für das kritische Lesen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Anna Park

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6034-0

PDF-ISBN 978-3-8394-6034-4

EPUB-ISBN 978-3-7328-6034-0

https://doi.org/10.14361/9783839460344

Buchreihen-ISSN: 2703-1047

Buchreihen-eISSN: 2703-1055

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Einleitung

1.Bildungsideen im zeitgenössischen Diskurs – drei Problematisierungen

1.1Bildung als Transformation? (Hans-Christoph Koller)

1.1.1Transformation: Ein angemessenes Verständnis des Bildungsprozesses?

1.1.2Kollers Selbstkritik

1.1.3Lücken und Fragen

1.1.4Die Bedeutung des Prinzips der Selbsttätigkeit

1.1.5Die Bedeutung und Schwierigkeit des Verstehens von Welt- und Selbstverhältnissen

1.2Den Bildungsbegriff klar definieren? (Krassimir Stojanov)

1.2.1Ein »essentially contested concept«

1.2.2Bildung versus Erziehung, Sozialisation und Lernen

1.2.3Bildung als Selbsttransformation

1.2.4Ein logozentrisches Verständnis von »bildenden Erfahrungen«

1.2.5Bemerkungen zum Konzept der Selbsttransformation

1.3Die Beschwörung des Unverfügbaren

1.3.1Das Paradigma der kategorialen Unverfügbarkeit

1.3.2Grenzen der Autonomie (Alfred Schäfer)

1.3.3Erkenntniskritik und Selbstkritik

1.3.4Kritik I: Autonomiepädagogik

1.3.5Kritik II: Bildung und Erfahrung

1.3.6Verabsolutierung der Grenzen der Erfahrung?

1.4Resümee und Zwischenbilanz

2.Ekphrasis – die bildliche Beschreibung

2.1Vorbemerkungen

2.2Zum Begriff und Verständnis der Ekphrasis

2.3Enargeia und die evidentielle Praxis des lebendig Präsentierenden

2.4Zur bildungstheoretischen Relevanz der Ekphrasis

2.5Das Prinzip der Energeia bei Wilhelm von Humboldt

3.Zur Anthropologie des Ausdrucks

3.1Exzentrische Positionalität (Helmuth Plessner)

3.1.1Philosophiegeschichtliche Bemerkungen

3.1.2Doppelcharakter, Grenze und Positionalität

3.1.3Die »Gesetze« der exzentrischen Positionalität

3.1.4»Ausdrücklichkeit«: Exzentrizität und Strukturformeln

3.2Exzentrische Positionalität in bildungstheoretischer Hinsicht

3.2.1Ausdrücklichkeit und Reflexivität

3.3Anthropologie der Artikulation (Matthias Jung)

3.3.1Die Denkfigur der Artikulation

3.3.2Artikulation und Reflexion: Sprachverständnis und Sprachkritik

3.4Exzentrizität und die Verbindlichkeit des Unergründlichen (Volker Schürmann)

3.4.1Hermeneutisches Sprechen

3.4.2Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen

4.Expressives Zeigen und Artikulation

4.1Der Mensch als Ausdruckswesen

4.2Typen von Zeigegesten

4.2.1Zeigen und Greifen

4.2.2Deiktische und ikonische Gesten – Zeigen und Darstellen

4.3Was sich im expressiven Zeigen zeigt

4.4Diskursive und präsentative Formen der Artikulation

4.5Resümee und Ausblick

5.Die bildungstheoretische Bedeutung des Beschreibens

5.1Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Philosophie der Erkenntnis

5.1.1Das »Doppelgesicht der Wahrheit«

5.1.2Versuch über das Beschreiben (O. F. Bollnow, 1989)

5.2Hermeneutische Logik (Georg Misch)

5.2.1Philosophiegeschichtliche Bemerkungen

5.2.2Die Logik auf dem Boden der Lebensphilosophie

5.2.3»Lebensphilosophie und Phänomenologie«: Erweiterung des Logos

5.2.4Leben in der Ausdruckswelt

5.2.5Die Lehre vom evozierenden Ausdruck

5.2.6Zur kritischen Verortung der Leistung Georg Mischs

5.3Bildung und Beschreibung – Bollnows Beitrag

6.»Subtilere Sprachen«

6.1Die Handlungsmacht des Bildungssubjekts

6.1.1Herrschaftsmacht und Handlungsmacht

6.1.2Reflexive Subjektivität und individuelle Handlungsmacht

6.2Die Erweiterung des Ausdrucksvermögens: »Subtilere Sprachen« (Charles Taylor)

6.3Die Beschreibung der Arbeit am Ausdruck der expressiven Differenz

6.3.1Artikulation und expressive Differenz

6.3.2Artikulation: Kriterien der Arbeit am Ausdruck der expressiven Differenz

Schlussbemerkung

Literatur

»When I was very young, my mother took me for walks in Humboldt Park, along the edge of the Prairie River. I have vague memories, like impressions on glass plates, of an old boathouse, a circular band shell, an arched stone bridge. The narrows of the river emptied into a wide lagoon and I saw upon its surface a singular miracle. A long curving neck rose from a dress of white plumage. Swan, my mother said, sensing my excitement. It pattered the bright water, flapping its great wings, and lifted into the sky.

The word alone hardly attested to its magnificence nor conveyed the emotion it produced. The sight of it generated an urge I had no words for, a desire to speak of the swan, to say something of its whiteness, the explosive nature of its movement, and the slow beating of its wings.

The swan became one with the sky. I struggled to find words to describe my own sense of it. Swan, I repeated, not entirely satisfied, and I felt a twinge, a curious yearning, imperceptible to passersby, my mother, the trees, or the clouds.« Patti Smith

Einleitung

Die thematischen Anfänge der vorliegenden Dissertationsschrift liegen Jahre zurück. Im Rahmen des Projekts »Shaping the Future – Das Bild als Generator von Innovation« übernahm das Forschungs- und Studienzentrum Pädagogik Basel den Auftrag der empirischen Erhebung von Bildkompetenz (Park & Reichenbach 2012).1 Aufgrund meiner Studienfachkombination Pädagogik und Kunstgeschichte war ich dezidiert an bildtheoretischen und bildungstheoretischen Fragen interessiert und nahm daher die Möglichkeit gerne wahr, am Teilprojekt »Bildkompetenz« unter der Leitung von Prof. Roland Reichenbach mitzuarbeiten. Die Recherche zeigte bald, dass Bildkompetenz kein eindeutiges Konzept darstellt und, wie die Begrifflichkeit vielleicht erwarten liesse, auch kaum theoretisch erprobte Modelle zur Erhebung derselben vorliegen. Vielmehr wurde deutlich, dass es sich um eine pragmatische Begriffsschöpfung vornehmlich aus dem Feld der Kunstpädagogik handelt, die damit der allgemeinen Forderung nach kompetenzorientierten Bildungsstandards strategisch zu begegnen versucht, wohl auch, da sie ihre Marginalisierung im Fächerkanon fürchtet. Man erhofft sich eine möglichst überzeugende Bestimmung dieser Kompetenz mit dem Ziel, empirisch behandelbare sowie pädagogisch umsetzbare Teilkompetenzen zu postulieren, um diese systematisch in curriculare Vorgaben einzubetten. Dass gerade »Bildkompetenz« (und nicht etwa »Kreativitätskompetenz«) interessiert, kann als Ausdruck der Konjunktur des gegenwärtigen Bilddiskurses verstanden werden. Das verstärkte und von vielen Fächern geteilte Interesse am Bild wird heute als Paradigmenwechsel verhandelt, der mit den Bezeichnungen Iconic Turn und Pictorial Turn bekannte, wenn vielleicht auch nicht immer verstandene Formeln gefunden hat. Horst Bredekamp sieht darin dem Umstand Rechnung getragen, dass dem Bild seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in der westlichen Kultur erstmals eine dominante kulturelle und philosophische Relevanz zugestanden worden ist (vgl. Bredekamp 2011, S. 74).

Die manchmal synonym verwendeten Schlagwörter Iconic Turn und Pictorial Turn stehen für die Aktualität und Dringlichkeit der Bildthematik. Ist auf diese Weise von einer Bildwende die Rede, dienen die beiden »Turns« als Redefiguren etwa dazu, die Zunahme von Bildern, meist als massenmediale »Bilderflut«, zu bezeichnen. Der Iconic Turn und der Pictorial Turn sind aber mehr als rhetorische Blüten. Sie stellen wesentliche, im Grunde unumgängliche Elemente der bildtheoretischen Reflexion innerhalb des Bildwissenschaftsdiskurses dar. Tatsächlich stehen diese Begriffe für Positionen, die beide auf eindeutige Weise einem Autor zugewiesen werden können. Mit ihnen haben Gottfried Boehm und W. J. Tom Mitchell erläutert, wie sie eine sich in Veränderung befindliche »Bildpräsenz« als »Wende« verstehen. Ihr jeweiliges Verständnis des Phänomens diskutieren sie bildtheoretisch. Damit sind sie Begründer und Vertreter eines Diskurses, der sich mit Berufung auf den Iconic Turn (Boehm) bzw. den Pictorial Turn (Mitchell) spätestens seit den 1990er Jahren wirkmächtig zum sogenannten Bildwissenschaftsdiskurs ausgebildet hat. Boehm wie auch Mitchell plädieren dafür, den Bildern eine ihrer Komplexität angemessene theoretische Beschreibung und reflexive Praxis zur Seite zu stellen. Durch das Studium der Kunstgeschichte in Basel bei Gottfried Boehm war ich mit diesem Diskurs vertraut und es schien mir sinnvoll, mich für Fragen des Umgangs mit Bildern an dieser disziplinären Perspektive zu orientieren. Dabei erkannte ich zunehmend die Nähe zwischen bildtheoretischen und bildungsphilosophischen bzw. -theoretischen Fragestellungen.

Die Trias Produktion, Reflexion und Rezeption im Umgang mit Bildern hat im Bildkompetenzdiskurs eine gewisse Popularität gewonnen (Niehoff 2005, S. 104f.). Bildungstheoretisch interessiert hierbei besonders die Frage der Reflexion und Rezeption, d.h. der (Entwicklung und Förderung der) Urteilskompetenz. Die Klärung des Zusammenhangs von Sehen und Verstehen erweist sich dabei als fundamentale Aufgabe, zumal es sich bei der Rezeption von Bildern um ein besonderes Sehen handeln könnte. Dieser Zusammenhang ist bisher nicht nur weitgehend ungeklärt, sondern auch mit grundlegenden anthropologischen und erkenntnistheoretischen Fragen verbunden. Insbesondere letztere betreffen das Verhältnis von Anschauung und Begriff. Menschliches Sehen ist ein besonderes Sehen, da es immer schon als Wahrnehmung, nie aber als neutrale Empfindung zu verstehen ist. Es ereignet sich an der begrifflich unbestimmten Stelle, an welcher die Arbeit an einem Logos der Sinne beginnt, d.h. dort, wo sinnliches Verstehen und Deuten ihren Anfang finden.

Die Fähigkeit des kritischen Urteilens und verstehenden Sehens sieht sich immer mit der Aufgabe konfrontiert, das bereits in der Wahrnehmung sinnhaft Strukturierte mitteilbar machen zu müssen. Das kulturell erprobteste Artikulationsmedium hierfür ist die Sprache. Die Herausforderung des kompetenten Umgangs mit dem Bild besteht darin, das an sich »stumme« Bild, also ein ikonisches Symbolsystem, mit dem diskursiven Symbolsystem Sprache zu fassen. Für ein angemessenes Verständnis der Erfassung von Bildkompetenz erweist sich diese Herausforderung als die zentrale Problemstellung. Ein wesentliches Kriterium für den kompetenten Umgang mit Bildern kann daher im spezifischen Umgang mit diesem »Übersetzungsproblem« gesehen werden. Boehm bringt diesen Sachverhalt so zum Ausdruck:

»Spätestens im Bewusstsein und im Munde ihrer Betrachter wird der Sinn der Bilder auch sprachlich erprobt. Gleichwohl hängt alles daran, die Macht des Zeigens und deren Souveränität zu erkennen und ihre gewaltige Rolle in der Kultur zur Geltung zu bringen. Sie lässt sich auf Sagen niemals reduzieren, und gerade deshalb ist sie der eigentliche, der sinnerzeugende Überschuss, der in Bildern wirksam wird. Er macht aus dem materiellen Sachverhalt etwas Sinnhaftes und bringt den Dialog mit dem Auge in Gang, in dem das Bild zu seinen Möglichkeiten kommt.« (Boehm 2010, S. 14f.)

Die sprachliche Artikulation des Gesehenen und des Sehens ist in bedeutsamer Weise auch eine soziale Praxis, d.h. Austausch und Diskursivität gehören zum Konstrukt der Bildkompetenz, wie auch immer sie genauer gefasst werden soll. Entsprechend schreibt Boehm:

»Bilder adressieren sich, dank ihrer Frontalität, immer an zwei Augen. Sie rechnen mit dem einsamen Betrachter, der auch dann einsam bleibt, wenn er sich zuhauf vor ihnen einfindet. […] Das Remedium dagegen ist der gedankliche Austausch, das Gespräch vor Bildern, die Kommunikation des Wissens. Nicht um das Ikonische zu entkräften, auf Begriffe zu bringen. Im Gegenteil: Die rechten Fragen stärken und erhellen den kulturellen Kreislauf, der zwischen Bild und Auge nie zu Ende kommt und immer wieder anders beginnt.« (Boehm 2010, S. 18)

Eine Kultur des Sehens ist immer auch eine sozial geteilte Kultur, wiewohl es nur der Einzelne sein kann, der sie im Moment praktiziert.

Eine der ältesten bekannten Bildpraxen ist die »Ekphrasis«. Während darunter allgemein meist die literarische Beschreibung eines Werks der bildenden Kunst verstanden wird, ist die Ekphrasis besonders in der Intermedialitätsforschung zu einer eigenständigen Reflexionsfigur geworden. Unter Ekphrasis wird dann ein medialer Transfer zwischen verschiedenen darstellenden Künsten verstanden; Ekphrasis als intermediales Zitat wird dabei als Repräsentation zweiter Ordnung definiert. Erst in jüngerer Zeit, hauptsächlich in der kunstgeschichtlichen Forschung, wird in diesem Zusammenhang der spezifische Bezug zur antiken Rhetorik vertieft reflektiert. Ekphrasis wird dort als eine besondere Form der Beschreibung verstanden, die sich durch ihre Anschaulichkeit auszeichnet, so als würde der Zuhörerin das Beschriebene vor Augen gestellt werden. Dabei konnte alles Mögliche Gegenstand einer Ekphrase sein, Werke der Kunst ebenso wie Personen, Ereignisse und Gegenstände.

Der Umstand, dass Ekphrasis als eine progymnasmatische Übung besonders in rhetorischen Schulbüchern behandelt wurde, veranlasste mich, Ekphrasis und die Frage des Beschreibens auf grundlegende Weise bildungstheoretisch zu reflektieren. Altphilologische Studien zur Ekphrasis eröffneten mir Einblicke in ein quasi vergessenes Wissen der Rhetorik, insbesondere dahingehend, dass jede intellektuelle Überzeugung letztlich nur dann bedeutsam wird, wenn sie mit einer subjektiven Gewissheit verbunden ist. »Subjektive Gewissheit« ist eine ästhetische Kategorie, d.h. sie entspringt einer sinnlichen Evidenzerfahrung. Ekphrasis als rhetorische Beschreibungspraxis weiss um die imaginative Kraft der bildlichen Beschreibung und um die Notwendigkeit der Evokation des Visuellen – insbesondere auch für überzeugende Argumentation. Mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis wurde die Rhetorik allerdings zunehmend »ästhetisiert«. Als »bloss« ästhetische Kategorie wird das rhetorische Wissen vorwiegend als überredungsstrategisch bedeutsam verstanden. Ernsthafte Erkenntniskraft kann ihm daher kaum mehr zugesprochen werden. Ekphrasis als rhetorische »Schulübung« hat in der Geschichte der modernen Pädagogik dementsprechend keinen Niederschlag gefunden. Das erstaunt wenig, weil die institutionelle Bildungspraxis meist das jeweils vorherrschende Wissenschaftsparadigma repräsentiert bzw. sich diesem verpflichtet fühlt.

Vor dem erörterten Hintergrund sind das kritische Verstehen und die Urteilskompetenz als zentrale Aspekte einer Konzeption von Bildkompetenz vorzuschlagen. Bilder verstehen und beurteilen muss geübt werden und das Wesentliche des (Ein )Übens von Urteilsbildung liegt in der Art und Weise der Beschreibung und Befragung des Gegenstandes selbst. Um die im Laufe der explorativen Studie (deren Aufbau hier nicht im Detail besprochen werden soll) erhobenen Beschreibungen unterscheiden und vergleichen zu können, wurde ein hypothetisches Analysemodell entwickelt (vgl. Reichenbach & Park 2012). Eine erste Dimension unterscheidet eine Subjektorientierung von einer Objektorientierung des in der Beschreibung Fokussierten. Die zweite Dimension unterscheidet in Anlehnung an Kants ästhetische Urteilskraft einen befragenden von einem bestimmenden Beschreibungsmodus. Setzt man diese beiden Dimensionen zueinander in Beziehung, dann lassen sich idealtypisch ein subjektorientiert-befragender, ein subjektorientiert-bestimmender sowie ein objektorientiert-befragender und ein objektorientiert-bestimmender Modus unterscheiden. Damit wurde eine qualitative Interpretation der Beschreibung, also die Charakterisierung von Beschreibungstypen möglich. Hierbei sind vielfältige Bewegungen innerhalb der Gesamtbeschreibung denkbar, also »Kombinationen« von Beschreibungstypen, die »beschreibungsintern« ineinander übergehen und sich durch eine innere Beweglichkeit auszeichnen. Solche Übergänge bezeichnen wir als »Oszillieren«. Wenn diese Beweglichkeit die Gesamtbeschreibung prägt und vielleicht sogar strukturiert, sprechen wir von einer »oszillierenden Beschreibung«. Bedeutsam für den Umgang mit Bildern ist aus dieser Perspektive die Oszillationsqualität der Beschreibung.

Wie sehr das Oszillieren-Können allerdings von der Sprachkompetenz abhängt, ist eine Frage, die es immer zu berücksichtigen gilt. Komplexe, d.h. zusammenhängende, oszillierende Beschreibungen, also z.B. solche, die zwischen subjektorientiert-befragend, objektorientiert-bestimmend, objektorientiert-befragend und subjektorientiert-bestimmend oszillieren, erfordern auch Fähigkeiten der sprachlichen Differenzierung. Zudem ist die differenzierte Reflexion über das in der Beschreibung Konstituierte wahrscheinlich notwendig, um die Kohärenz der oszillierenden Qualität und ihres Sinns aufrechtzuerhalten. Daher schlugen wir vor, im Elaborationsgrad des sprachlichen Ausdrucks ein quantitatives Kriterium zu sehen. Die Auswertung der Aussagen zeigte, dass sich mit dieser Heuristik unterschiedliche Umgangsweisen erkennen lassen und sich diese auf sinnvolle Weise vergleichen und differenzieren lassen. Bildkompetenz zeichnet sich, allgemein formuliert, durch eine Offenheit und Bereitschaft aus, sich dem Bild nicht einfach »hinzugeben«, sondern sich vielmehr oszillierend zwischen Empfindung und Wahrnehmung, Meinung und Begründung mit dem Gegenstand – wie man so leicht sagt – »auseinanderzusetzen«. Dies scheint ein vielschichtiger und zugleich auch nicht souveräner oder kontrollierbarer Prozess zu sein.

Über das vorläufige Ergebnis der Explorationsstudie hinaus drängte sich der Gedanke auf, ob der Umgang mit der ästhetischen Dimension, den wir mit den Polen subjektorientiert versus objektorientiert und befragend versus bestimmend auffassen und als Beschreibungspraxis differenzieren, nicht nur den Umgang mit Bildern (oder mit anderen Werken der bildenden Kunst) betrifft, sondern eine allgemeine Qualität menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse zum Ausdruck bringt. Mich beschäftigte daher nach meinem Masterabschluss, nun in der Funktion als Assistentin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft in Zürich (bei Prof. Dr. Roland Reichenbach), die Thematik des Beschreibens weiter. In dieser Zeit stiess ich auf den Beitrag »Versuch über das Beschreiben« (1987) von Otto F. Bollnow. Darin erprobt Bollnow den Gedanken, zwei grundlegend verschiedene Arten von Beschreibungen zu unterscheiden, nämlich einerseits (bekannte) Beschreibungen wie die wissenschaftlich-objektiven oder alltäglich-funktionalen und andererseits artikulierende oder evozierende Beschreibungen. Die letzteren machen das Beschriebene so sichtbar, dass es »getroffen« wird, eine spezifische Präsenz erhält, sodass sich eine Evidenzerfahrung einstellt, in welcher das Beschriebene auf eine neue, unerwartete Weise in Erscheinung tritt. Bollnow bezieht sich dabei auf seinen Lehrer und Doktorvater Georg Misch und dessen Theorie des evozierendenSprechens (Misch 1994), sodass Bollnows Alterswerk mit diesen Arbeiten nochmals eine neue Ausrichtung erhält. Die Bezeichnung »artikulierende« oder »evozierende« Beschreibung gibt dem in unserer Studie als befragend bezeichneten Modus in gewisser Weise rückwirkend einen theoretischen Halt. Zudem werden unter den Stichworten »Artikulation« und »Ausdruck« Verhältnisse von Leiblichkeit, Wahrnehmungserleben und Erfahrung in den Kulturwissenschaften und besonders in der philosophischen Anthropologie seit der Jahrtausendwende explizit artikulations- und ausdruckstheoretisch reflektiert. Die Denkfigur der Artikulation bietet sich dabei insbesondere für die Perspektivierung der personalen Sinnbildung, d.h. der subjektiven Selbsttätigkeit, an.2

Die Herausforderung dieses scheinbar generischen Prozesses, mit dem die Thematik meiner Dissertation ihre Kontur gewann, bestand darin, sehr unterschiedliche Diskurse und disziplinäre Felder zusammenzuführen und ihre Relevanz in bildungstheoretischer Hinsicht zum Ausdruck zu bringen. Die Entscheidung, die Problematisierung dreier zeitgenössischer Bildungsideen an den Anfang zu stellen, soll die Bedeutung und den Einsatz der artikulationstheoretischen Reflexion insgesamt deutlich machen. Sie betrifft zentrale bildungstheoretische Aspekte, die zwar allgemein bekannt sind und diskutiert werden, aber, so zeige ich im ersten Kapitel, häufig nicht hinreichend verstanden werden. Insbesondere die Struktur und Genese des »Selbst- und Weltverhältnisses« des Menschen sowie die Idee und Rolle der Selbsttätigkeit. Diese Auseinandersetzung mündet in die Frage, welche konkreten Praktiken den Entwicklungsgang von Bildungsprozessen im Vollzug plausibel vorstellbar machen.

Das zweite Kapitel ist der rhetorischen Figur der Ekphrasis gewidmet, an welcher der komplexe Zusammenhang von Imagination, Bild und Sprache für die Bedeutung der subjektiven Gewissheit im Erkenntnisprozess diskutiert wird.

Im dritten Kapitel wird das anthropologische Fundament dieser rhetoriktheoretischen Perspektive erarbeitet und die anthropologische Denkfigur der Artikulation ausgehend von der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners vorgestellt. Mit dem Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen wird ein sowohl in der Anthropologie (Plessner) als auch hermeneutischen Lebensphilosophie (Misch) diskutiertes, ethisch verstandenes Prinzip der expressiven (exzentrischen) hermeneutisch-produktiven Lebensform eingeführt.

Kapitel vier reflektiert die Phylogenese und Ontogenese der expressiven Zeigegeste. Dabei wird anhand des sogenannten expressiven Zeigens die Gleichursprünglichkeit ästhetischer bzw. präsentativer Formen des Symbolisierens und diskursiver, d.h. begriffssprachlicher Symbolisierungsformen in ihrer Entstehung begründet.

Im fünften Kapitel wird auf der Grundlage der hermeneutischen Philosophie der Erkenntnis Otto Friedrich Bollnows und der hermeneutischen Logik Georg Mischs die bildungstheoretische Bedeutung des Beschreibens untersucht und hervorgehoben. Dabei spielt die Lehre vom »evozierenden Ausdruck« eine entscheidende Rolle. Bildung als Arbeit am Ausdruck wird mit Bollnow metaphorisch als Versuch des Beschreibens verstanden.

Zentrale Kritikpunkte des zeitgenössischen Bildungsdiskurses, wie sie im ersten Kapitel erörtert werden, werden im sechsten und letzten Kapitel erneut aufgenommen, aber nun, um eine bildungstheoretische Position zu vertreten, welche Bildung als Artikulationsprozess versteht, in welchem der Mensch am Ausdruck dessen zu arbeiten hat, was als »expressive Differenz« verstanden werden kann. Vertreten wird die These, dass das Bemühen um Wahrnehmung und Artikulation wesentlich mit der Fähigkeit des Beschreibens, der Suche nach der geeigneten bzw. angemessenen Ausdrucksform für einen Erfahrungsgegenstand, zu tun hat. Dabei sind die Auslotung und Anerkennung der Grenzen der Möglichkeit angemessener Ausdrucksformen gerade Teil der artikulierten Beschreibung selbst. Was beschrieben werden kann, kann verstanden werden; Beschreibung und Verstehen sind intrinsisch verbunden. Verstehen ist aber auch auf Verständlichkeit und Verständnis angewiesen, d.h. zwei soziale Tugenden bzw. Bestrebungen. Das Ethos des Beschreibens besteht im Verbindlichnehmen des Unergründlichen und verweist auf die Prozessualität des Verstehens als die je eigene, unersetzliche Arbeit am Ausdruck der expressiven Differenz.

1Das Gesamtprojekt (01.10.2010 bis 30.09.2012) wurde geleitet von Prof. Dr. Nicolaj van der Meulen (FHNW). Die weiteren Mitglieder des Forschungsteams bzw. der Teilprojekte waren: Dr. Sc. Doris Agotai (FHNW), Joël Samuel Beljean (FHNW), Prof. Dr. Rolf Dornberger (FHNW), Prof. Mario Doulis (FHNW), Darjan Hil (FHNW), Benedikt Jäggi Schenker (FHNW), Anna Park (Universität Basel), Prof. Dr. Roland Reichenbach (Universität Basel) & Prof. Michael Renner (FHNW).Die strategische Initiative »shaping the future« fragte nach dem Stellenwert von Bildern bei der Entwicklung, Innovation und Kommunikation in den angewandten Wissenschaften: »Welche Bedeutung haben Bilder/Visualisierungen im Forschungs- und Entwicklungsprozess? Wie können Visualisierungen Aushandlungsprozesse unterstützen? Welche Kompetenzen setzt der Umgang mit Bildern (Visualisierungen) voraus?« (vgl.https://irf.fhnw.ch/handle/11654/32365).

2Exemplarisch: Niklas, S. & Roussel, M. (Hg.) (2013). Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff. München: Wilhelm Fink. Schlette, M. & Jung, M. (2005). Anthropologie der Artikulation: Begriffliche Grundlagen und Transdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann.

1.Bildungsideen im zeitgenössischen Diskurs – drei Problematisierungen

An drei zeitgenössisch bedeutsamen bildungstheoretischen Konzepten im deutschsprachigen Raum sei im Folgenden ein Problem vorgetragen, das als die »artikulationstheoretische Lücke« im Bildungsdiskurs bezeichnet werden kann. Es geht dabei weniger darum, die drei Positionen im Einzelnen einer Kritik zu unterwerfen, als vielmehr darum, mit dieser problematisierenden Diskussion zu begründen, warum es fruchtbar sein könnte, Bildungstheorie auch aus genetischer Perspektive zu betrachten (vgl. Kapitel 4) und die anthropologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen einer solchen Betrachtungsweise (vgl. Kapitel 3 bis 5) zu explizieren. »Genetisch« betrachten soll hier so viel heissen wie: den Prozess der Bildung zu verstehen versuchen.

Die drei bildungstheoretischen Positionen werden anhand der Autoren und Autorinnen Hans-Christoph Koller (Perspektive 1), Krassimir Stojanov (Perspektive 2) und Alfred Schäfer sowie Christiane Thompson und Gabriele Weiss (Perspektive 3) erläutert. Die erste Perspektive betrifft das derzeit viel diskutierte transformatorische Bildungsverständnis, die zweite kann als argumentationstheoretisch orientiertes Bildungsverständnis und die dritte als paradoxales oder widerspruchstheoretisches Bildungsverständnis bezeichnet werden. Ziel der Darstellung und Diskussion ist es, bedeutsame Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Perspektiven im Hinblick auf drei Gesichtspunkte hervorzuheben. Diese beziehen sich auf das jeweilige Modell des Bildungsprozesses (1), auf die anthropologischen Grundannahmen (2) und auf die Bedeutung der Sprache und des Ausdrucks von Erfahrung (3) (vgl. Kapitel 1.4).

(1)Zur bildungstheoretischen Arbeit gehört es m.E., ein (mehr oder weniger konkretes) Modell des Bildungsprozesses vorzustellen. Erstaunlicherweise scheint aber keines der drei Verständnisse, die im Folgenden diskutiert werden, tatsächlich zu explizieren, wie sich – aus der jeweiligen theoretischen Perspektive – der Prozess von Zustand A (einer konkreten Variante des Selbst- und Weltverhältnisses) nach Zustand B (einer veränderten konkreten Variante dieses Selbst- und Weltverhältnisses) vorstellen lässt.

(2)Zudem werden die anthropologischen Grundannahmen oder Fokussierungen des Bildungssubjekts in den drei bildungstheoretischen Perspektivierungen wenig expliziert oder problematisiert. Sie sind aber bedeutsam. In der transformatorischen Perspektive ist der Mensch primär Bewältiger biografisch bedeutsamer Probleme und Ereignisse. In der argumentationstheoretischen Perspektive ist das Bildungssubjekt primär ein der rationalen Argumentation fähiges Wesen, das sich im »Raum der Gründe« zu verorten sucht. In der widerspruchstheoretischen Perspektive ist der Mensch ein Grenzgänger, der seine Erfahrungen als letztlich nicht benennbare ertragen lernen muss. Jeder dieser Aspekte scheint mehr oder weniger überzeugend zu sein.

(3)Dabei stellt sich die Frage, ob trotz der unterschiedlichen Deutungsmuster ein gemeinsames »minimalanthropologisches« Moment erkennbar ist, vor dessen Hintergrund diese Aspekte verstanden und gedeutet werden können. Dieses besteht darin, dass der Mensch in allen drei bildungstheoretischen Perspektiven (mehr oder weniger implizit) als Ausdruckswesen aufgefasst wird. Seine Bildsamkeit scheint dabei wesentlich in den Möglichkeiten (und Grenzen) zu liegen, artikulieren zu können.

Bildungsprozesse bedürfen der Artikulation und fallen mit ihr sogar zusammen. Dass es fruchtbar ist, diese These – also die artikulationstheoretische Interpretation des Bildungsprozesses – zu vertiefen, soll zunächst anhand der Probleme und Lücken, aber auch der Stärken und Einsichten der drei Perspektiven deutlich gemacht werden.

1.1Bildung als Transformation? (Hans-Christoph Koller)

Hans-Christoph Koller will Bildung »anders denken« (2012) indem er das Konzept eines transformationstheoretischen Verständnisses von Bildungsprozessen expliziert. Inspiriert ist seine Theorie von Rainer Kokemohrs Arbeiten, in denen die Bedeutung der Erfahrung des Fremden im Zentrum steht. Die erschütternde Kraft von Fremdheitserfahrung verunsichert Kokemohr zufolge das bisher Selbstverständliche und kann Anlass zu einer Veränderung bestehender Selbst- und Weltdeutungen sein. Die Aufgabe und Bemühungen, mit solchen Erfahrungen umzugehen, erfordern Prozesse des Umlernens, die eine Transformation des bisherigen Selbst- und Weltverständnisses überhaupt wahrscheinlich und denkbar machen (vgl. Kokemohr 2007). Kokemohr schlägt vor, Bildung auf diesen Erfahrungsbegriff zu beziehen, d.h. die damit verbundenen Transformationsprozesse als Bildungsprozesse zu verstehen. Kollers transformatorische Bildungsprozesstheorie situiert sich vor dem Hintergrund dieses Erfahrungsbegriffs:

»Bildung (also das, was pädagogisches Handeln ermöglichen und befördern soll) kann als Prozess grundlegender Transformationen der Art und Weise verstanden werden, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selbst verhalten. Dabei ist davon auszugehen, dass Bildung im Sinne solcher Transformationen sich immer dann vollzieht (oder besser: vollziehen kann), wenn Menschen Erfahrungen machen, zu deren Bewältigung ihre bisherigen Mittel und Möglichkeiten nicht ausreichen. Anders formuliert: Bildungsprozesse bestehen in der Entstehung neuer Formen, neuer Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit Problemen, zu deren Bearbeitung die bisherigen Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht ausreichen.« (Koller 2007, S. 50)

Im Folgenden seien einige problematisierende Fragen an dieses zentrale Zitat gerichtet. Es besteht aus drei Sätzen, die Kollers Verständnis von Bildung als Transformation gut zusammenfassen.

»Bildung (also das, was pädagogisches Handeln ermöglichen und befördern soll) kann als Prozess grundlegender Transformationen der Art und Weise verstanden werden, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selbst verhalten.«

Abgesehen von der Frage, ob pädagogisches Handeln Bildungsprozesse als »grundlegende« Transformationen zu ermöglichen imstande sei, was durchaus skeptisch zu beurteilen ist, interessieren an diesem Satz zwei Formulierungen und damit verbundene Unklarheiten:

Erstens: was bedeutet das Wort »grundlegend« in diesem Zusammenhang? Ist diese Bestimmung, dieses Adjektiv, eine Spezifikation? Wird damit impliziert, dass es auch »nicht grundlegende« Transformationen gibt? Und wenn ja, sind dieselben dann nicht als Bildungsprozesse zu qualifizieren? Koller scheint genau davon auszugehen. Im Sinne Piagets könnte man also vermuten, nur Akkommodationsprozesse (Veränderungen der Struktur des Verstehens) würden das Attribut »Bildungsprozess« verdienen, während »blosse« Assimilationsprozesse nicht in diese Gunst kommen (vgl. Piaget 2003). Diese Hierarchisierung erscheint so problematisch wie unnötig. Es stellt sich wiederholt die Frage, was »grundlegend« heisst: Wie grundlegend ist »grundlegend«? Geht es um eine Art Metamorphose so, wie am Schmetterling letztlich kaum noch zu erkennen ist, dass er einmal Raupe war? Sind »grundlegende« Transformationen als massive Identitätsbrüche zu verstehen?

Zweitens fasst Koller Bildungsprozesse als Transformationen der Art und Weise auf, wie sich Menschen zur Welt und zu sich selbst verhalten. Immer wieder wird mit Humboldt auf Selbst- und Weltverhältnisse verwiesen. Diese Terminologie, so weit verbreitet sie mittlerweile ist, wird in der vorliegenden Arbeit kritisch betrachtet; sie scheint ungenau zu sein. Genauer wäre es, zu sagen, dass sich das Verständnis der Selbst- und Weltverhältnisse verändert. Die sozialen, räumlichen, ökonomischen und auch viele andere Verhältnisse mögen sogar so stabil sein, dass sie vorerst gar nicht zu verändern sind; aber unser Verständnis von diesen Verhältnissen, in denen wir leben, unsere Deutung und Distanz dazu mögen sich in einer Weise verändern, die man zu Recht als Bildungsprozess bezeichnet. In diesem Zusammenhang erscheint es allgemein problematisch, überhaupt von »Verhalten« zu sprechen und nicht eher von Verstehen, Deuten oder Interpretieren.

Nun sei der zweite Satz dieser Passage betrachtet:

»Dabei ist davon auszugehen, dass Bildung im Sinne solcher Transformationen sich immer dann vollzieht (oder besser: vollziehen kann), wenn Menschen Erfahrungen machen, zu deren Bewältigung ihre bisherigen Mittel und Möglichkeiten nicht ausreichen.«

Auch diese konsenserheischende Formulierung ist kritisch zu kommentieren. Die Formulierung, wonach »sich« Bildung »vollziehe«, ist der erste Punkt. Dies entspricht der gleichen Art von Rede, die Koch (2002) und Reichenbach (2014) kritisieren, wenn es um das »neue« Verständnis des Lernens aus der Perspektive der Hirnforschung geht. Bildung, die »sich vollzieht«, scheint hier plötzlich einem natürlichen Vorgang zu entsprechen. Dies mag aus sozialisationstheoretischer Perspektive eher wenig irritieren, ist aber aus bildungstheoretischer Sicht durchaus zu problematisieren. Wie bei der Rede von »kognitiven Prozessen«, die irgendwie »ablaufen«, wird hier, um es mit Lutz Koch zu sagen, »der Täter eliminiert«, das »Tun« in ein »Geschehen« verwandelt (Koch 2002, S. 85).1 Dass Bildung immer als Selbstbildung verstanden werden soll, bedeutet nun aber nicht, dass sie sich wie »von selbst« ereignet. In dieser Arbeit wird daher nicht von einem quasi-anonymen Geschehen ausgegangen, sondern es wird vielmehr versucht, den Spuren der Täterschaft zu folgen. Bildungsprozesse haben wahrscheinlich mehr mit Anstrengung, Bemühen und Verstehenwollen zu tun als mit blossen Geschehnissen. Daher der Titel der vorliegenden Untersuchung: Die Arbeit am Ausdruck.

Der zweite Punkt betrifft die »Bewältigung von Erfahrungen«, die Menschen »machen« würden. Doch was heisst das, eine »Erfahrung machen«? Und was bedeutet es, dieselbe zu »bewältigen«? Auch hier bleiben viele Fragen offen, die Koller zwar an anderen Orten (z.B. Koller 2012) angeht, etwa indem er auf den Erfahrungsbegriff von Bernhard Waldenfels (1990) rekurriert. Dennoch erfährt die Leserin nicht, was »Bewältigung von Erfahrung« bedeuten soll. Angemerkt sei an dieser Stelle nur, dass der Ausdruck »Bewältigung« zwar im Sinne eines psychologischen Copings durchaus Sinn macht, aber bildungstheoretisch dennoch zu befragen wäre.

Im dritten Satz kommt nun das »Neue« ins Spiel, ohne welches ein – überspitzt formuliert – Pathos der Transformation offensichtlich nicht zu überzeugen vermag:

»Anders formuliert: Bildungsprozesse bestehen in der Entstehung neuer Formen, neuer Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit Problemen, zu deren Bearbeitung die bisherigen Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht ausreichen.«

Interessant ist auch hier die scheinbar naturalistische Redewendung bzw. passive Formulierung: »Entstehung«. Doch woher kommt nun das »Neue« in den Menschen, die »neuen Formen« und »neuen Figuren« seines Welt- und Selbstverhältnisses? Wenn doch die bisherigen Mittel offenbar nicht ausgereicht haben? Auch hier erfährt die Leserin leider nicht viel über diesen Prozess.

Wie bereits erwähnt, möchte Koller Bildung als Transformation und nicht bloss als »Aneignung neuen Wissens oder neuer Informationen« verstanden wissen, sondern als »grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie solche Informationen bzw. solches Wissen verarbeitet werden« (Koller 2007, S. 50). Dieses Verständnis, Bildung und Lernen einander derart entgegenzusetzen, ist der Problematisierung würdig (vgl. dazu z.B. Meyer-Drawe 2008). Etwas salopp könnte an Richard Rorty erinnert werden, der das Hirn einmal mit der Hardware und die Kultur mit der Software verglichen hat (vgl. Rorty 2004). Koller scheint es vor allem um die Veränderungen der »Hardware« zu gehen. Landläufig würde man Bildung aber auch mit »Software« (Aneignung von Kultur) in Verbindung bringen wollen. Nun ist klar, dass Computer ohne Software wenig brauchbar sind, gewissermassen inhaltslos, weltlos. Diesen Eindruck macht auch die Rede von Bildung als Transformation: Es fehlen die Inhalte, das Material.

In menschlichen Transformations- und Anpassungsprozessen geht es aber immer um konkrete Inhalte, Widerfahrnisse, Gegenstände und Sachverhalte: Von einem Bild irritiert zu sein, von einem Aufenthalt in einem fremden Land fasziniert zu sein, von seinem Partner verlassen zu werden, in einer Körperfunktion beeinträchtigt zu sein, einen Gerichtsprozess zu verlieren, zum ersten Mal von der Systemtheorie zu hören. Das scheinen ganz unterschiedlich gelagerte Situationen zu sein. Man würde wohl kaum bestreiten wollen, dass sie alle Anlass zu Bildungsprozessen sein können (aber natürlich nicht müssen). Doch ist es überzeugend, die damit verbundenen und möglicherweise notwendigen Lernprozesse, die vielleicht noch keine grundlegende Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses bedeuten, nicht als Bestandteil des Bildungsprozesses aufzufassen? Die scheinbar nicht »grundlegenden« Lernprozesse sind meist so zentral für den Bildungsprozess, dass sie im Grunde nicht als »blosse« Aneignung, »blosses« Material oder »blosse« Voraussetzung zu denken sind – vielmehr scheinen sie zur Substanz jener Prozesse des menschlichen Lernens und Erfahrens zu gehören, denen wir die Qualität der Bildung zuschreiben. Zwar vermag die analytische Differenz von Prozess und Produkt, Bildung und Lernen, Aneignung und Transformation unter bestimmten theoretischen Prämissen zu überzeugen. Doch wenn es um das Verstehen von Bildungsprozessen geht, kann die Gesamtkonstellation, die Gemengelage des menschlichen Lebens, nicht ohne Weiteres in ihre einzelnen Momente aufgeteilt oder zergliedert werden. Koller betont aber geradezu, dass Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses eine »höherstufige« Art von Lernprozessen darstellen würden, da es – dies sei wiederholt – nicht wie bei Lernprozessen »um die Aneignung neuen Wissens oder neuer Informationen geht, sondern um eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie solche Informationen bzw. solches Wissen verarbeitet werden« (Koller 2007, S. 50).

1.1.1Transformation: Ein angemessenes Verständnis des Bildungsprozesses?

Koller versteht den so skizzierten Begriff von Bildung als rein deskriptiv, insofern er nur besage, »dass Bildungsprozesse transformatorischen bzw. innovatorischen Charakter haben, also dass in ihnen Welt- und Selbstverhältnisse sich grundlegend ändern und neue Figuren, neue Welt- und Selbstentwürfe hervorgebracht werden«, aber keine Kriterien darüber »enthalte«, »welcher Art diese Transformationen sein bzw. welche Richtung die Veränderung einschlagen sollen« (Koller 2007, S. 51). Ob diese fehlende oder reichlich »schwache« Normativität ausreicht, könnte diskutiert werden. Koller weist aber darauf hin, »dass angesichts des immer rascheren gesellschaftlichen Wandels und einer immer komplexer werdenden Welt Menschen immer häufiger mit Problemen konfrontiert werden, zu deren Bearbeitung ihre bisherigen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, und dass deshalb Bildungsprozesse im skizzierten Sinne notwendig sind« (ebd.). Damit wird zumindest implizit eine Normativität des Faktischen beansprucht und Bildungsprozesse sowie Bildungstheorie werden umstandslos an einen behaupteten allgemeingesellschaftlichen Wandel gekoppelt. Allerdings verzichtet Koller auch darauf, diese Gesellschaft des Wandels näher zu beschreiben und daraus beispielsweise pädagogisch oder bildungstheoretisch relevante Aspekte und Argumente hinsichtlich einer transformatorischen Bildungstheorie herzuleiten. Auch im 2012 erschienenen Buch Bildung anders denken – Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse wird dieser Punkt nicht angesprochen. Vielmehr geht es hier – nun normativ auf wissenschaftsstrategische Weise – darum, dass diese bildungstheoretischen Überlegungen »auch anschlussfähig an die (qualitativ )empirische Untersuchung von Bildungsprozessen sein sollten« (Koller 2012, S. 17). »Eine solche Konzeption müsste«, so schreibt Koller, »erstens eine Theorie der Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse enthalten, die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse darstellen« (ebd.). Zweitens sei »eine Theorie jener Problemlagen oder Krisenerfahrungen erforderlich, die dem skizzierten Grundgedanken zufolge den Anlass für transformatorische Bildungsprozesse darstellen« (ebd.). Und drittens sei die Frage zu untersuchen, »wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind« (S. 18). Es geht Koller also darum, theoretische Konzepte ausfindig zu machen, die es ermöglichen sollen, Bildung diesem (seinem) Verständnis nach zu beschreiben. Die Perspektive, dass transformatorische Bildungsprozesse als wahrnehmbar neue und grundlegend andere Figurationen von Selbst- und Weltverhältnissen verstanden sein sollen, bestimmt dabei das Vorgehen.

Diese starke These, fast könnte man sagen: dieser Imperativ des »Neuen« und »grundlegend Anderen« scheint das Hauptproblem dieser gegenwärtig breit rezipierten Bildungsidee zu sein. Dies zeigt sich u.a. im Umgang mit den jeweils diskutierten Theorien, welche das Buch entsprechend den oben genannten drei Leitfragen strukturieren. Ausgewählte Theorieansätze werden jeweils kurz skizziert und dann auf ihre Eignung hinsichtlich des Modells der transformatorischen Bildungstheorie verarbeitet: Das geht von Pierre Bourdieu über Jacques Lacan zu Judith Butler (mit denen die »Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen« beleuchtet wird), von Günther Buck und Bernhard Waldenfels zu Jean-François Lyotard (mit denen Anlässe transformatorischer Bildungsprozesse diskutiert werden) und schliesslich zu Karl R. Popper, Thomas Kuhn, Charles S. Peirce, Ulrich Oevermann, Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida (mit denen die »Entstehung des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen« aus wissenschaftstheoretischen, interaktionstheoretischen, hermeneutischen und/oder dekonstruktivistischen Perspektiven erhellt werden soll). Dabei stehen die jeweiligen Konzepte, beispielsweise zur Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen, eher wie allgemeine Vorschläge losgelöst nebeneinander. Eine übergeordnete kritische Diskussion oder Synthese einer theoretischen Fassung von Welt- und Selbstverhältnissen hinsichtlich einer dezidiert transformatorischen Bildungstheorie wird am Ende hingegen nicht geleistet.

Für diese vielfältigen Perspektiven bzw. diese eklektische Vorgehensweise könnte sprechen, dass die transformatorische Bildungstheorie eben einen hohen Allgemeinheitsgrad beanspruchen müsse, was sogar als attraktiv erscheinen könne. Dabei ist m.E. aber gerade dieser Aspekt besonders problematisch. Macht eine Bildungstheorie (auch eine transformatorische) nur derart allgemeine Angaben über das zu Transformierende sowie über den Prozess der Transformation selbst, so bleibt der charakteristische Zusammenhang von Transformation und Bildung – eben das Spezifische einer Transformation, die sich als Bildungsprozess auszeichnet – unklar; es könnte sich auch um Transformationen handeln, die man gerade so gut oder sogar noch überzeugender aus sozialisations- und/oder entwicklungstheoretischer bzw. entwicklungspsychologischer Perspektive beleuchten kann. Was hier »Bildung« meinen könnte, scheint sich in einem entsprechend unbestimmt konzipierten Transformationsbegriff geradezu aufzulösen. Eine so allgemeine Vorstellung, welche die Selbst- und Weltverhältnisse derart unspezifisch fasst und letztlich zum beliebigen Gegenstand von Transformation macht, lässt am Ende auch die Rede von »allgemeiner« Bildung überflüssig werden.

Koller selbst würde diesem Argument vielleicht entgegenhalten, dass Bildungstheorie und Bildungsforschung unterschiedliche Formen des pädagogischen Wissens darstellen. Im Unterschied zur Bildungstheorie, innerhalb derselben Koller in eine reflexive und eine handlungsorientierte Version unterscheidet und mit Lyotard als unterschiedliche wissenschaftliche Diskursarten versteht, werde in der empirischen Bildungsforschung »Bildung nicht mehr als hypothetischer Gegenstand bzw. als Möglichkeitskategorie behandelt […], sondern vielmehr als empirisch identifizierbarer und d.h. prinzipiell in der Wirklichkeit auffindbarer Sachverhalt« (Koller 2012, S. 146). Im Unterschied zur empirischen Forschung mit quantitativer Methodik, die durch ein identifizierendes Denken gekennzeichnet sei, erhebe die qualitative Bildungsforschung den Anspruch, das quantitativ Nicht-Identifizierbare, also »die interaktiven Prozesse und diskursiven Vorgänge zu rekonstruieren, d.h. interpretativ zu erschliessen« (S. 147). Dennoch zielt auch die Diskursart der qualitativen Bildungsforschung auf empirisch vorgefundene Wissensformen und erhebt den Anspruch, Bildungsprozesse oder ihre Resultate empirisch zu erfassen. Damit steht sie potenziell im Widerstreit zu den bildungstheoretischen Diskursarten des handlungsorientierenden und des reflexiven Wissens.

Kollers sorgfältige Differenzierung der Diskursarten des bildungstheoretischen Zugangs einerseits und der Bildungsforschung andererseits erhellen seinen eigenen Text m.E. dennoch nur teilweise. Sind transformatorische Bildungsprozesse als Gegenstand einer »anderen« oder »neuen« Bildungstheorie zu verstehen? Oder handelt es sich eher um ein Konzept transformatorischer Bildungsforschung in bildungstheoretischem Gewand? Möglicherweise ist dieser Punkt nicht so bedeutsam. Es sollte damit dem möglichen Vorwurf begegnet werden, hier würde ein Rechtsstreit praktiziert, wo tatsächlich ein Widerstreit vorliegen könnte (um gemäss Koller und seiner Lyotard-Lektüre zu argumentieren). Dennoch: Legitimiert das Motiv der empirischen Anschlussfähigkeit, hinter bildungstheoretische Reflexionen und Diskursbestände zurückzufallen, ohne zumindest ein Problembewusstsein für die (vielleicht übergangene) Komplexität anzuzeigen? Die Frage scheint berechtigt, da Koller mit der transformatorischen Bildungstheorie explizit beansprucht, an bildungstheoretische Traditionen anzuknüpfen und diese zugleich gegenwartstauglich, d.h. empirisch anschlussfähig zu machen. Das scheint attraktiv zu sein, jedenfalls ist die Rezeption der transformatorischen Bildungstheorie nach Koller innerhalb der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung zurzeit ganz beachtlich.

1.1.2Kollers Selbstkritik

Eine fundamentale Kritik an Kollers Bildungsidee ist an dieser Stelle weder vorgesehen noch wäre sie insgesamt angemessen. Das Konzept von Koller dient hier vielmehr als eine von drei theoretischen Ausgangslagen für die weitere bildungstheoretische Reflexion. Zudem bietet der Autor im Kapitel »Probleme und Perspektiven der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse« selbst ein kritisches Weiterdenken an. Er stellt fest, dass es bisher kaum gelungen sei, transformatorische Bildungsprozesse zu rekonstruieren:

»Abschließend soll eine besondere Schwierigkeit bei den bislang unternommenen Versuchen der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse erörtert werden, die darin besteht, dass es bisher eher selten gelungen ist, erfolgreich vollzogene Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt der bisherigen empirischen Studien zu Bildungsprozessen standen vielmehr eher Phänomene, die als Bildungsprobleme oder Bildungspotentiale gefasst werden können. Mit Bildungsproblemen sind solche Situationen gemeint, in denen etablierte Welt- und Selbstverhältnisse in Frage gestellt werden, während der Begriff Bildungspotentiale Ressourcen bezeichnet, auf die in Transformationsprozessen zurückgegriffen werden kann.« (Koller 2012, S. 168.)

Es scheint, dass Koller auf Kritik vorbereitet war, denn forschungspraktisch vertritt er die Haltung,

»dass eine empirische Bildungsforschung, die ihrem Gegenstand Bildung gerecht werden will, selbst als transformatorischer Bildungsprozess angelegt sein – d.h. in der Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand offen bleiben sollte für Irritationen und Fremdheitserfahrungen, die zur Transformation des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses bzw. zur Reformulierung der eigenen Kategorien und Vorannahmen theoretischer, methodischer oder sonstiger Art herausfordern.« (Koller 2012, S. 152)

Die Irritation oder Enttäuschung seinerseits besteht in der Feststellung, dass selbst dort, wo Transformation in einem starken Sinne aufgezeigt werden konnte, über das Transformationsgeschehen selbst, d.h. über den Bildungsprozess als solchen, nichts gesagt werden kann:

»Und selbst dort, wo es möglich war, grundlegende Veränderungen von Welt- und Selbstverhältnissen empirisch aufzuzeigen, beschränkte sich der Nachweis auf den Vergleich einer bestimmten Konfiguration des Welt- und Selbstverhältnisses vor und nach der Transformation, während das Transformationsgeschehen selbst (also die Frage, wie sich die Veränderung vollzog) im Dunkeln blieb.« (Koller 2012, S. 168f.)

Hier zeigt sich m.E. jene Leerstelle, die Kollers Theorie transformatorischer Bildungsprozesse insgesamt hinterlässt und die auch nicht leicht mittels konzeptueller oder methodologischer Modifikationen behoben werden kann. Angezeigt wird sie von Koller selbst, allerdings als Klammerbemerkung: Transformatorische Bildungsforschung kann Transformation erstens selten nachweisen, und wenn, dann kann sie diese zweitens nur feststellen (vgl. Koller 2012, S. 169). Für das Verständnis aber, wie Bildungsprozesse vollzogen werden, ist damit wenig bis nichts gewonnen. Angesichts dieses Befundes stellt Koller nun folgende Überlegungen an: Möglicherweise seien zu hohe theoretische Ansprüche an die Qualität von Bildungsprozessen formuliert worden, »die nur in Ausnahmefällen erfüllt werden können« (ebd.). Das Konzept müsse dann möglicherweise modifiziert werden, sodass Bildung nicht weiter wie ein insgesamt unwahrscheinlicher Vorgang erscheine. Oder es liege an den Mitteln der qualitativen biografischen Forschung, die noch unzureichend sein könnten, um transformatorische Bildungsprozesse verlässlich zu erfassen, d.h. andere methodische Verfahrensweisen wären gefragt (vgl. ebd.). Überraschenderweise (und auch sympathischerweise) relativiert Koller mit dieser Überlegung seine bisherigen Ausführungen in erstaunlichem Ausmass. »Vielleicht«, so schreibt er, »besteht Bildung ja weniger in dem abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis als vielmehr in einem unabschliessbaren Prozess der Infragestellung oder Verflüssigung bestehender Ordnungen und eines Anderswerdens mit offenem Ausgang« (ebd.). Damit zeigt Koller die Möglichkeit an, dass mit der Zurücknahme eines radikalen Transformationsbegriffs Bildung möglicherweise angemessener gefasst werden kann. Allerdings finden sich bei Koller selbst keine theoretischen Ansätze, um diese Überlegungen weiterzuführen.

Das Wie, obwohl als eine der drei zentralen Fragen angekündigt – »[…] wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind« (Koller 2012, S. 18) –, kann Koller am Ende nicht zeigen. Wohl hatte er sich von seinen Untersuchungen mehr versprochen, als sie leisten können. Erstaunlich ist dies m.E. nicht, ist doch die Anlage von Fragestellung und Methode darauf ausgerichtet, Transformation aufzuzeigen und nachzuweisen, und nicht darauf, den damit verbundenen Prozess zu verstehen und nachzuvollziehen. Vielmehr wurde von bereits »abgeschlossenen« (Bildungs )Prozessen ausgegangen, die anhand narrativer biografischer Interviews rekonstruiert und als je vollzogene identifiziert werden sollten. Als Auswertungskriterien dienten beispielsweise sprachliche Eigenheiten, die auf ein mögliches Transformationsmoment hinweisen würden und anhand derer eine Transformation vermutet oder sogar identifiziert werden könne. Solche empirischen »Ergebnisse« sind daher eher als performative Konstruktionen zu sehen, die als Transformationen gedeutet werden.

1.1.3Lücken und Fragen

Die hier festgestellten Lücken sind jedoch nicht allein der empirischen Ausrichtung dieser Bildungstheorie zuzuschreiben. So hat sich Krassimir Stojanov (vgl. 1.2) der Aufgabe verschrieben, den Begriff der Bildung – die Frage nach dem Eintritt des Neuen – argumentationstheoretisch zu klären. Auch hier ähnelt die Rede von Transformation am Ende einer vergleichsweise leeren Formel. Diese Befürchtung und damit die hier vertretene Einschätzung scheinen nicht so leicht zu entkräften zu sein, weder bei Koller noch bei anderen Vorschlägen, mit denen Bildung letztlich als eine Art Innovation verstanden und – so scheint es – gewissermassen popularisiert, jedenfalls aber anschlussfähig gemacht werden soll. Diese kritische Anmerkung zielt hier aber weniger auf konkrete bildungstheoretische Modelle; vielmehr soll damit an Fragen erinnert werden, die für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung m.E. zentral sind und auch bleiben sollen:

•Wie sind Bildungsprozesse zu verstehen? (Und nicht primär: zu »erfassen«…)

•Was tut der Mensch, der sich bildet? (Und nicht: Was »geschieht« mit ihm/in ihm…)

•Welche Mittel stehen ihm zur Verfügung, um diesen Prozess voranzubringen?

•Was motiviert ihn überhaupt dazu? (Erfahrungen müssen vielleicht weniger »bewältigt« als zunächst »ausgedrückt« werden…)

Bildungstheorie, auch (und gerade) jene in der Fassung »grundlegender Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen«, bedarf der Reflexion und Diskussion des Prozesses der Bildung und womöglich seiner individuellen, sozialen und situativen Ermöglichungsbedingungen. Bedeutsam ist allein schon eine grundlegende Klärung der Frage, was denn gemeint ist, wenn so selbstverständlich von »Welt- und Selbstverhältnissen« die Rede ist. Es geht m.E. darum, begrifflich konsistente und anschaulich überzeugende Vorstellungen zu entwickeln, die es überhaupt erlauben, auf eine differenzierte und auf Unterschiede abzielende Weise von Bildung als Prozess oder Transformation zu sprechen. Von Bildung auf eine bestimmte – bildungstheoretische – Art und Weise zu sprechen, verlangt, diesen Prozess oder diese Transformation nicht als ein allgemeines Geschehen, sondern als eine spezifische menschliche Praxis zu verstehen. Ohne diese vorgängige (bildungs )theoretische Selbstverständigung gerät dasjenige, was den Prozess charakterisieren könnte, von Anfang an zur Blackbox, deren Inneres auch dann nicht beleuchtet würde, wenn (empirisch) gezeigt werden könnte, dass sich ein Verhältnis A offenbar in ein Verhältnis B gewandelt hat. Das Wie des Vollzugs lässt sich am Ende in einer qualitativen Untersuchung und Beurteilung nicht ermitteln, es zeigt sich nicht einfach. Wenn aber die Genese und Veränderung von Verhältnissen in bildungstheoretischer Hinsicht interessiert, dann ist es entscheidend, mit kohärenten Begrifflichkeiten ein differenziertes und angemessenes Verständnis jener Praxen zu explizieren, die den Verlauf solcher Entwicklungsgänge, die als Bildungsprozesse gedeutet werden, strukturieren. Dass das »Transformationsgeschehen« selbst bzw. der Entwicklungsvollzug auf qualitativ-empirische Weise nicht gezeigt werden kann, impliziert möglicherweise, dass sich Bildungsprozesse sowie ihre Beschreibung den Kriterien empirischer Bildungsforschung gänzlich oder weitgehend entziehen. Damit wäre aber keineswegs auch impliziert, dass sich über den Prozess der Bildung nichts sagen liesse.

1.1.4Die Bedeutung des Prinzips der Selbsttätigkeit

Bildungstheoretisch enthält der Topos »Selbst- und Weltverhältnis« eine Auffassung des Menschen, die zunächst allgemein mit »Selbstbestimmung« bzw. »Selbsttätigkeit« bezeichnet werden kann. Idealiter bestimmt der Mensch die Regeln der Orientierung für sich selbst und schafft damit die Struktur seines Selbst- und Weltverhältnisses. Durch die Orientierung an bestimmten Regeln ergeben sich Standpunkte, die wiederum die Perspektiven auf Sachverhalte strukturieren. Bezeichnet man mit »Horizont« das Spektrum der Möglichkeiten des Selbst- und Weltbezugs, erweist sich der eingenommene Standpunkt sowohl als eröffnend als auch als begrenzend (sowie begrenzt). Um neue Möglichkeiten des Selbst- und Weltverhältnisses zu erschliessen, ist es aus dieser Sicht also notwendig, den eigenen Standpunkt zu verändern. Wäre es in diesem Fall überzeugend, von »grundlegender Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses« zu sprechen? Hier sind Zweifel angebracht.

Die Vorstellung, dass die grundlegenden Regeln der Orientierung in toto ersetzt werden (können/sollen), kommt dem dramatischen Bild einer Persönlichkeitsstörung relativ nahe. Ein sach- bzw. domänenspezifisches Verständnis hinsichtlich der Prozesse der Entstehung, Aufrechterhaltung und Transformation von Ordnungen des Selbst- und Weltverhältnisses scheint dagegen überzeugender zu sein. Menschen stehen, wenn es um Bildungsprozesse geht, vielleicht in Situationen grundlegender Transformationen in einem bestimmten Bereich ihres Lebens (z.B. Beziehung, Glaube, Beruf, Ausbildung, Politik etc.). Das würde bedeuten, dass wesentliche (»grundlegende«) Regeln der Orientierung – und damit ihre strukturierende Kraft – trotz veränderter Verhältnisbestimmung nicht notwendigerweise aufgelöst oder überwunden werden (müssen). So erörtert Thoms Rucker in seiner komplexitätsanalytischen Untersuchung von zeitgenössischen Bildungstheorien einleuchtend:

»Dies können Regeln sein, die von grundlegender Art sind, so dass sie von der Transformation einer Regel nicht erfasst werden. Oder es handelt sich um Regeln, die andere Sachverhalte betreffen. So muss sich beispielsweise eine veränderte religiöse Orientierung nicht zugleich verändernd auf das politische Selbst- und Weltverhältnis eines Menschen auswirken und umgekehrt. Jede Entstehung und Transformation von Ordnungen des Selbst- und Weltverhältnisses ist eingebettet in Strukturen, die selbst nicht transformiert werden.« (Rucker 2014, S. 70)

Es kommt hinzu, dass das Aufzeigen oder Nachweisen von grundlegenden Transformationsprozessen und der Entstehung neuer Figuren von Selbst- und Weltverhältnissen kein eindeutiges Indiz für Bildung darstellt. Es ist diesbezüglich in gewisser Weise sogar unerheblich, wie »grundlegend« Veränderungen sind, denn »der Umstand, dass in Bildungsprozessen Ordnungen des Selbst- und Weltverhältnisses entstehen, aufrechterhalten und verändert werden, ist letztlich kein hinreichendes Kriterium zur Unterscheidung von Bildung und anderen Sachverhalten« (ebd.). Mit Bezug auf Alfred Schäfer argumentiert Rucker, dass Ordnungen des Selbst- und Weltverhältnisses entstehen, erhalten und sich verändern können, auch ohne durch Stellungnahmen der Person vermittelt zu sein. In diesen Fällen handelt es sich nicht um selbsttätige Auseinandersetzungsprozesse (im bildungstheoretischen Sinne), sondern um nicht-reflektierte Sozialisationswirkungen oder der Person nicht transparente psychologische und biologische Entwicklungsprozesse.

Bildungstheoretisch ist demzufolge das Prinzip der Selbsttätigkeit grundlegend. Dasselbe ist konstitutiv für die Qualifizierung von Transformationen als Bildungsprozesse. »Selbsttätigkeit mit bildungstheoretischem Bedeutungsindex meint nicht nur, dass der einzelne Mensch im Prozess der Bildung nicht hintergehbar und insofern nicht ersetzbar ist, sondern auch, dass ein Mensch sich im Verhältnis zu sich selbst und zur Welt selbst bestimmt.« (Rucker 2014, S. 66) »Selbsttätig« ist der Mensch, wenn er von den ihm verfügbaren Möglichkeiten Gebrauch macht, um sich explizit und explizierend, d.h. reflexiv auf seine Lebensverhältnisse zu beziehen, und sich damit bemüht, die Verhältnishaftigkeit seines Selbst zu artikulieren. Im Zentrum steht weniger eine grundlegende Transformation, sondern das bewusste Selbstbemühen um eine reflektierte Relationalität: Selbsttätigkeit in Bezug auf die Gestaltung seiner Selbst- und Weltverhältnisse als individuelle Akte oder Bemühungen der Selbstbestimmung bei gleichzeitig vielfachem, relationalem Eingebundensein in das Leben. Bildungstheoretisches Denken, das sich für diese Vollzüge – für den Bildungsprozess – interessiert, kommt daher ohne eine explizite Verständigung über die Möglichkeiten des »Tätigseins« nicht aus. Es verbleibt sonst in der allgemeinen Rede von Geschehnissen, wie die transformatorische Bildungstheorie Kollers.

1.1.5Die Bedeutung und Schwierigkeit des Verstehens von Welt- und Selbstverhältnissen

Ohne ein theoretisch expliziertes Verständnis der Struktur und Genese des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses vermag die Transformationsthese letztlich nicht zu überzeugen, da sie nicht zum Verstehen von Bildungsprozessen beiträgt. Kurz: Es ist m.E. unzureichend, Bildungsprozesse mit Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen gleichzusetzen bzw. als ebensolche zu bestimmen. Der hohe Allgemeinheitsgrad von Kollers Bildungstheorie führt dazu, dass die aufgerufenen theoretischen Konzepte, welche das Modell weiter unterfüttern sollen, letztlich wenig diskutiert werden. Exemplarisch zeigt sich dieses Vorgehen in der Auffassung von und im Umgang mit Günther Bucks hermeneutischem Verstehens- und Erfahrungsbegriff.

Koller rezipiert Buck im Zusammenhang mit der Frage nach den Anlässen transformatorischer Bildungsprozesse. Bucks leitende Fragestellung, nämlich »inwiefern die Hermeneutik, d.h. die Theorie des kunstmäßig geübten Verstehens, als eine Theorie der Bildung gelten kann« (1981, S. 19), interpretiert Koller so, dass es Buck darum ginge, »herauszufinden, inwiefern das Verstehen selbst eine Vollzugsform von Bildung ist« (2012, S. 73). Buck seinerseits bezieht sich auf Wilhelm Dilthey, der den Prozess des »kunstmässigen« Auslegens und Verstehens von Lebensäusserungen als die geisteswissenschaftliche Form der Erkenntnisgewinnung beschreibt. Hermeneutik als Methode und elaborierte Form des Verstehens meint aber nicht (nur) ein wissenschaftliches Privileg. Sie basiert vielmehr auf grundlegenden Erfahrungen des Menschen im täglichen Lebenszusammenhang.

Die Radikalisierung dieser Position (u.a. durch Heidegger und Gadamer), die darin besteht, das Verstehen als die spezifische Weise menschlichen In-der-Welt-Seins überhaupt zu begreifen, legt es nahe, Verstehen intentional auf menschliche Lebensäusserungen insgesamt zu beziehen. Aus diesem Grund erschöpft sich Koller zufolge die Bedeutung der Hermeneutik für die Bildungstheorie auch nicht darin, Einsichten über wissenschaftliche Erkenntnisvorgänge per Analogieschluss auf Bildungsprozesse zu übertragen. Denn mit der Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs bezieht sich, so Koller, »die Hermeneutik sozusagen direkt auf den menschlichen Welt- und Selbstbezug selber, als dessen wesentlichen Modus sie das Verstehen bestimmt« (ebd.).

Koller fragt nun, was die hermeneutische Beschreibung von Verstehensprozessen zur Einsicht in die Struktur transformatorischer Bildungsprozesse und zu deren theoretischer Erfassung beitragen kann (ebd.). Allerdings steht für ihn die Möglichkeit der Transformation bestehender Selbst- und Weltverhältnisse bereits fest. Man könnte umformulieren: Ihn interessiert, ob und wie sich die Veränderung nachweisen lässt, denn vollzogene Transformation begreift er ja als Ausdruck des Bildungsprozesses. Wie bereits gesagt ist sein Verständnis vom Anspruch und der Intention geleitet, eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse für sozialwissenschaftliche Methoden anschlussfähig zu machen. Kollers allgemeine Einsichten und Bemerkungen zum hermeneutischen Verstehensbegriff zeigen zwar den Ansatz an, führen ihn jedoch nicht aus.

Folgte man hingegen der Überlegung, dass Verstehensprozesse konstitutiv für menschliche Selbst- und Weltbezüge sind und die Formation (Gestaltung, Bewusstheit, Reflexivität) dieser Bezüge (und nicht primär deren Transformation) für Bildungsprozesse zentral ist, wäre es folgerichtig, dem Prozess des Verstehens nachzugehen. Diesen besser zu verstehen, so kann vermutet werden, würde es erlauben, zumindest besser über die Möglichkeit von Bildungsprozessen informiert zu sein. An dieser Stelle wäre es dann angebracht, mit der Transformationsthese noch zurückhaltend zu sein. Denn vor der These der Transformation und Konversion der (Selbst- und Welt )Verhältnisse wäre dann die Frage nach der Möglichkeit eines verstehenden Umgangs (des Selbst- und Weltverhältnisses) zu erörtern.

Diese bildungstheoretisch bedeutsame Lücke, die hier stellvertretend auch für andere Autoren bei Koller identifiziert worden ist, soll im Verlauf der vorliegenden Arbeit mit Rekurs auf die einschlägigen Analysen und Vorschläge von Autoren wie Otto F. Bollnow, Georg Misch oder Matthias Jung wenigstens ein Stück weit geschlossen werden. Insofern geht es weniger um die Arbeit am Bildungsbegriff, auch nicht um die Beschreibung oder gar Erfassung von Bildungsprozessen, als vielmehr um das Verstehen der Möglichkeit von Bildsamkeit und Bildungsprozessen. Dazu reicht es nicht aus, erneut festzuhalten, dass Menschen offenbar bildungsbedürftig und bildungsfähig sind. Vielmehr soll gezeigt werden, dass es gewinnbringend ist, die Möglichkeit der Bildsamkeit im Zusammenhang mit der Notwendigkeit und Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen auszudrücken, um sie zu verstehen zu versuchen, zu betrachten.

Diese anthropologische Prämisse ist weniger selbstverständlich, als sie zunächst klingen mag. Bildung wird aus dieser Perspektive bescheidener zu verstehen sein, nämlich als Bemühung, unterschiedliche Zugänge zu den Selbst- und Welt-Verhältnissen zu finden und ihnen Ausdruck zu verleihen. Dazu müssen die Möglichkeit und potenzielle Fähigkeit unterstellt werden, sich überhaupt in ein Verhältnis zu seinen Verhältnissen setzen zu können. Die Arbeit am Ausdruck als Bemühung um die Deutung, Bedeutung und das Verstehen der Lebensverhältnisse erweist sich vielleicht als Voraussetzung und Ergebnis bildender Prozesse, die eben – und dies im Unterschied zu Kollers Vorstellung – ganz unterschiedlich starke oder eben schwache transformatorische Momente aufweisen können.

1.2Den Bildungsbegriff klar definieren? (Krassimir Stojanov)

Krassimir Stojanov legte im »Forum für Erwägungskultur«, der Zeitschrift Erwägen – Wissen – Ethik, eine analytische Rekonstruktion der Bedeutungsdimensionen des Bildungsbegriffs vor (Stojanov 2014).2 Die Rekonstruktion dieses aus der Perspektive der analytischen Philosophie verfassten Bildungsbegriffs sei hier dargestellt und kritisch kommentiert. Stojanovs Position steht exemplarisch für ein bestimmtes Verständnis von Wissen und Wissenschaft, mit welchem der Bildungsbegriff m.E. in enge logozentrische Schranken verwiesen wird. Mit der Kritik dieser Perspektive lassen sich hingegen die Komplexität eines angemessen erscheinenden Bildungsbegriffs aufzeigen und Aspekte beleuchten, die für die vorliegende Arbeit als bedeutungsvolle Prämissen diskutiert werden können.