3,99 €
"Ich bin nicht im falschen Film, nicht einmal im falschen Kino, ich bin hier im falschen Sonnensystem. Alles ist plötzlich anders. Alles, die Zusammenhänge, die Beziehungen, die Wertungen, die Sicherheitsbedenken, die Vermutungen und Theorien, mein gesamtes Leben und Wirken, meine Existenz zerfließt rückhaltlos in einen Hirnbrei unvorstellbaren Ausmaßes, meine sämtlichen Synapsen und Neuronen feuern unablässig Nervengezitter, das Denken wird deshalb sicherheitshalber eingestellt, das Nebenhirn aus der Darmgegend, das sogenannte Bauchgefühl, es übernimmt dieses Chromosomen-Fortpflanzungs-Betriebssystem vorübergehend. Die Selbsterkenntnis keimt, ja, Magdalena spricht anscheinend die Wahrheit, denn solch einen Horrorschwachsinn kann sich niemand ausdenken. Ich versuche verzweifelt, klare Gedanken zu fassen." Auf einer Urlaubsreise in Sizilien trifft ein ehemaliger raf-Genosse zufällig Cornelia, die Ärztin der Dritten Generation (raf-interner Sprachgebrauch: die Dritte Linie), die ihn aus seinem beschaulichen Buchverkäufer-Dasein herausreißt, von ihm die verschwundenen raf-Erddepots einfordert und seine raf-Vergangenheit beschwört. Sie treffen sich mit weiteren Leuten am Chiemsee in Bayern. Beim Öffnen eines der Erddepots bei Aschaffenburg überschlagen sich die Ereignisse und eskalieren schließlich zu einem mysteriösen Mord. Schließlich kippt die Situation gänzlich und eine gigantische Verschwörung wird ihm offenbart.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
für meine geliebte Gabi
Dies ist ein Roman, kein Geständnis.
Bitte fangen sie nicht das Graben an.
René Antoine Fayette
Die Ärztin der
www.tredition.de
© 2014 René Antoine Fayette Umschlaggestaltung: René Antoine Fayette
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
978-3-8495-8646-1 (Paperback)
978-3-8495-8647-8 (Hardcover)
978-3-8495-8648-5 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.tredition.de
Inhaltsverzeichnis
Im Stadtpark von Taormina
1993 - Depotlose Zeiten
Wiedersehen im Café Fortuna
1993 - Im Knast
Das Frisbeespiel
1991 - Die Abwicklung
Insel der alten Bäume
1989 - Ein altes Fahrrad tut es auch
Ölwechsel
1986 - Am Georgenstein
Ein Geständnis
1985 - Sinnloses Morden
Ein alter Friedhof am Würmsee
Im Stadtpark von Taormina
Schon wieder Pistazienhaine, eine endlose, grüne und braune Ebene, sanft ansteigend zum Ätna, mit blattlosen Bäumen, um diese Jahreszeit noch blattlos. Das sollen Pistazienbäume sein? Das sind doch abgestorbene, tote Bäume, denke ich. „Aussteigen!“, ruft unser Reiseführer Giuseppe ins Busmikrofon, es gibt Pistazieneis zu kaufen in Bronte, ein verschlafenes Nest westlich hinter dem Ätna. Sogar der sizilianische Busfahrer gönnt sich ein Eis. Unser Reiseleiter verschwindet wieder einmal sofort im WC-Raum des Restaurants. Seit drei Tagen geht das so, vermutlich Darmgrippe oder so was ähnliches, alter Fisch, verdorbene Muscheln, was weiß ich. Obwohl er Sizilianer ist, dieser Giuseppe, hat er wohl Probleme im April mit dem Wetter oder dem Essen oder was auch immer.
Früher wäre ich unruhig geworden. Telefoniert er im Klo? Gibt er den neuesten Lagebericht weiter? Muss er sich alle paar Stunden beim LKA melden? Oder BKA? Arbeitet neuerdings die Mafia im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft? Seit wann wissen sie Bescheid, seit wann haben sie mich im Visier? Ich bleibe aber ruhig, die Zeiten sind vorbei, der Reiseveranstalter Julius-Reisen ist absolut harmlos, die können nichts wissen, nichts ahnen, niemand interessiert sich eigentlich für mich seit Beginn der Flug- und Busreise. Eigentlich interessiert sich schon seit vielen Jahren niemand mehr für mich. Denn ich war ausgestiegen, abgetaucht, dem Tode entronnen. Wie diese Pistazienbäume, die sich tot stellen, aber dann doch irgendwie wieder Blätter austreiben und Früchte tragen, unverwüstlich wirken.
Wir sind in einem Superhotel untergebracht, gebaut für die Touristen, die in Buscontainern vom Flughafen in Catania bis kurz vor Taormina verfrachtet werden, wir sind das leicht zu handhabende Herdenvieh mit der Gier nach exklusivem Urlaubsgenuss vom Billigpreisanbieter, wir sind pflegeleicht, standardisiert, das ist der Norm-Urlaub für die untere Mittelschicht. Ich gehöre auch dazu, zumindest seit ein paar Tagen. Weg vom kalten, dunklen und über die Wintermonate immer muffiger werdenden Haus hin zur Sonne, zum Strand, betörende Meeresbrise, Orangenduft und Riesenzitronen. Schon die ersten Blumen neben dem Busbahnhof am Flughafen in Catania hatten mich verzaubert, die fremden Gerüche, Düfte und Klänge, das Gefühl von Freiheit und Exotik kam auf und war auch nicht verflogen, als sie im Hotel kleine Probleme mit der Warmwasserversorgung andeuteten.
Ich wollte eigentlich schon seit meiner Kindheit nach Sizilien, aber meine Eltern waren mit mir damals jedes Jahr immer nur bis Cattolica gekommen, dann ging ihnen wohl der Sprit aus oder das Geld oder der Mut. Genaueres konnte ich nie erfahren, denn sie sind frühzeitig aus meinem Leben verschwunden, einfach so, über Nacht, auf der Autobahn. Aquaplaning in der Nähe von Frankfurt. 1977 wurde ich Vollwaise und Alleinerbe von fast nichts, Vater war Bahnbeamter gewesen, Mutter gelernte Hausfrau, meine Schwester bereits mit fünf Jahren verstorben, unter mir nicht ganz nachvollziehbaren Umständen, angeblich im Kindergarten verunglückt. Ich hatte sie nie kennen gelernt, meine kleine Schwester. Sie starb schon vor meiner Geburt, aber es gab keinen Grabstein, kein mit Spielzeugnippes geschmücktes Grab, keine Rechnungen vom Bestattungsamt, keine Fotos, nichts, nur wage Andeutungen aus meiner Kindheit. Verwandte gab es zwar, aber die gingen nie auf meine Fragen ein. Irgendwann gibt man auf, es muss die Realität zurechtgebogen und zementiert werden.
Sizilien ist zumindest im April eine Reise wert. Wunderbare Natur, nette Menschen, ein wahnsinnig interessanter, schwerer, aber süffiger Rotwein und die tollen Kulturbauten vergangener Zeiten. Uralte Stätten, sie erzählen mir von Sikulern, Phöniziern, Griechen, Karthagern, Römern, Vandalen, Ostgoten, ja sogar die Normannen waren mal auf Sizilien und natürlich Araber und zuletzt 1943 auch Deutsche. War damals nicht die SS in Taormina stationiert gewesen oder so ähnlich? Von Kriegsschäden heutzutage keine Spur mehr, alles restauriert, modernisiert, aktualisiert. Die Sizilianer sind genauso gründlich wie wir Deutsche beim Wiederaufbau; die Vergangenheit vergessen, verdrängen, nach vorne blickend die eigenen Abgründe überwinden, wie der junge Pate im gleichnamigen Film. Ich bin tief beeindruckt, schon nach ein paar Tagen wandelt sich meine anfangs kritische Einstellung zu den Sizilianern, denn die hatten es nie leicht, umzingelt von gierigen Nachbarn, Eroberern, Plünderern, Ausbeutern.
Die Operation Husky begann am 10. Juli 1943 und war die größte amphibische Operation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, was angelandete Truppen und Frontaufbau betrifft. Sie übertrifft sogar die Landung der Alliierten in der Normandie, die erst ein Jahr später erfolgte. In der Öffentlichkeit wird aber immer nur diese Normandie-Landung heroisch ausgebreitet, aber über diese Operation Husky in Sizilien wird sogar noch heute dezent geschwiegen. Wegen diesem amerikanischen General Patton.
Der englische General Montgomery kämpfte sich damals mit seiner angelandeten britischen 8. Armee verbissen unter schwersten Verlusten millimeterweise von Süden kommend an der Ostküste entlang gegen den italienischen und deutschen militärischen Komplex, während der geniale Panzergeneral Patton in typisch amerikanischer Weise mit seiner 7. Armee einfach links von der 8. Armee an Land ging und überraschend leicht, beschwingt und flott um den ganzen westlichen Rest dieser Insel kurvte, mehr als die dreifache Strecke als dieser Montgomery zurücklegte, die sizilianische Hauptstadt Palermo nebenbei befreite und besichtigte und viel zu schnell vor Montgomery die Straße von Messina erreichte, so dass beinahe die noch jungfräuliche britisch-amerikanische Allianz auseinander brach, so heftig flogen die Fetzen in London und Washington wegen dieser Frechheit vom General Patton. Ein Mann von seltener Begabung, einer der eigenartigsten Generäle der Amerikaner im zweiten Weltkrieg, einer, der an die Wiedergeburt, an die altägyptischen Mysterien noch glaubte, die Sehnsucht der Wiederholung in seiner Seele verspürte, sich abseits der Fronten oft an alten Kultstätten in Nordafrika aufhielt und seine untergebenen Soldaten so rücksichtslos antrieb wie in den alten Zeiten, als seine unsterbliche Seele noch in den Diensten irgendeines Pharaos war. Solche Rücksichtslosigkeit hatte mich schon frühzeitig inspiriert und angeregt, ob General Patton oder Mao, ob Hitler oder Stalin, ob Lenin oder Trotzki, Castro oder Nixon. Alles überzeugte Rücksichtslose, die dann Geschichte schrieben, erfolglose oder erfolgreiche, meist jedoch erfolglose. Dafür starben dann begeistert Tausende, Hunderttausende, oft auch Millionen einen sinnlosen Tod, aus Rücksicht auf die Rücksichtslosen.
Auch Giuseppe war heute vormittags rücksichtslos mit unserer Reisegruppe, erst ein kleiner Spaziergang auf den steilen Wiesenhügeln mit frischen, bunten Blüten und regeneriertem Aprilgrün, wir waren atemlos, nicht nur von der Aussicht, sondern auch von dem steilen Anstieg, dann ging es durch extrem steile, asphaltierte Wege und endlose steinerne Treppchen wieder zurück in die engen Gassen von Taormina. Die Füße taten mir schon weh, der Durst nagte am ausgetrockneten Gaumen, wir waren vier Stunden da oben gewesen, die beißende Sonne war mir schon in den letzten Hirnzellen angekommen. Wie muss das hier erst im Sommer sein? Endlich Freiheit, drei Stunden zur freien Verfügung wird von Giuseppe verkündet, dann wird der Bus uns zurück zum Hotel, zum Abendessen, zum Büfett und zum leckeren Rotwein bringen. Wir verstreuen uns in alle Richtungen, auf der Suche nach Toiletten, Schatten, Getränken und schmucken Geschäften in allen Gassen.
Mich interessiert, wie lebt der Sizilianer wirklich, hinter den Fassaden, am Stadtrand. Der ganze Scheiß mit der Mafia ist sowieso nur ein Werbegag der Kino-Werbung. 5.000 Mafiosi gegen 5 Millionen Sizilianer, das Verhältnis kommt mir irgendwie bekannt vor. Uns ging es ja auch nicht anders, obwohl wir ja definitiv kein Werbegag waren, eher ein Versuch, ein Ansatz, die Wahrheit zu predigen, die Welt oder zumindest Deutschland zu verändern, ein inzwischen sinnloses Unterfangen, durch die Finanzkatastrophe 2008 zwar vielleicht ideologisch inzwischen begründet und bestätigt, aber was kümmert einem heutzutage schon der Kommunismus, wo es doch gerade der so toll getrieben hat mit soundsoviel Millionen Toten in Gulags und Verhungerten und Gefolterten, von denen die heutige Jugend auch nichts mehr weiß oder wissen will. Und ich inzwischen durch die aufgedeckten Stasi-Machenschaften seit der Wende auch den letzten Hoffnungsschimmer nach mehr Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit des Geistes aufgegeben habe, eher begraben habe, eher verdränge wie ein Stasi-Informant, aber nicht so tief, dass es unerreichbar wurde, ein kleines bisschen Rest Aufsässigkeit schlummert noch in meinem Gedächtnis, immerhin war mein Kampf, unser bewaffneter Kampf, unsere Stadtguerilla unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen die bewaffnete Phase des Klassenkampfes, der militärische Aspekt einer revolutionären Theorie, das gesellschaftliche Gewaltpotential, hinein getragen in die Metropolen, um das Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen, der privilegierten Ausbeuter zu brechen und das Proletariat hier und im Trikont zur bewaffneten Gewaltergreifung zu führen. So oder ähnlich hatten Gudrun und Ulrike auch immer gesprochen, geschrieben, veröffentlicht. Wir haben dies damals aufgegriffen, aber nach dem katastrophalen Vernichtungs-Desaster 1977 hat sich unser Ton geändert, nicht mehr der verschnörkelte, hochintellektuelle Revolutionärsbarock von der Ulrike, diese Rokoko-Sprache der deutschen Revolutionärin aus dem linken Studentenmilieu. Gittes Sprache war da kurz und bündig, eher eiskalt und knallhart, eher die Schule von Andreas eben.
Es war ein gigantischer Fehler der Geschichte, dass 1917 ausgerechnet in Russland die Revolution vorzeitig siegte, obwohl die hier in Bayern 1918 und 1919 genauso nah dran waren. Was wäre anders geworden, wenn die Kommunisten hier in Bayern gesiegt hätten gegen diese Freikorps aus Preußen, gegen diese bayerische Notregierung in Bamberg?
Die Bayern sind verkappte Anarchisten, total sozialistisch, menschlich, obwohl sie manchmal eher schwarz oder braun daherkommen, ein hinterfotziger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Es tut mir innerlich weh, wie damals Andreas gerade in Bayern zwar verehrt wurde, er kam ja aus München, war anerkannter Querulant, klaute vorwiegend elitäre Porsche- und BMW-Autos und war aber dann letztlich doch nur einer von vielen Eingesperrten, Vergessenen, Abgeurteilten, die der Bayer oder die Bayerin schnell vergessen und ächten, wenn der Andi so blöd war und sich hat erwischen lassen.
Diese Bayern sind in politischer Hinsicht sehr vergesslich und lieben mehr diejenigen, die sich nicht gleich oder nie haben erwischen lassen. Ob Montgelas, Kneißl, Strauß oder eben zeitweilig Andreas. Ein bisschen Trotz gegen die Obrigkeit und Bewunderung für die Herausforderer der Obrigkeit hatten und haben sie schon immer, solange die sich verstecken konnten und da halfen sie der RAF gerne mit beim Verstecken wie damals in der Angermühle in Egling, aber sobald derjenige festgenommen und unwiederbringlich tot war oder lebendig eingekerkert wurde, erlahmt schlagartig jegliches Interesse, eher schlägt die Stimmung um. Aus dem Baader-Meinhof-Wagen wurde wieder ein ganz normaler BMW, kaum einer weiß heute, was die Buchstaben wirklich bedeuten. Viele fahren ihn gerne, aber kaum einer weiß noch von der Vergangenheit, als die Bayerischen Motoren Werke noch Flugzeugmotoren im Krieg oder blecherne Kochtöpfe und putzige Isettas nach dem Kriegsende bauten.
Taormina ist im April wirklich grün und quirlig und der Rotwein rinnt schon wieder süffig und berauschend. Ich spüre schon ein bisschen den Wein. Wir müssen drei Stunden im Ort verbringen, der Giuseppe will das so und Julius-Reisen steht hinter ihm, wir haben kein Chance, das ist eben diese Freizeit bei Pauschalreisen. Nach einem Glas Rotwein und anschließendem Espresso auf der Terrasse eines Lokals an der Via Teatro Greco gehe ich ziellos durch die Gassen, verfolgt von auflärmenden Mopeds und schnurrenden Autos der Reichen auf dem Kopfsteinpflaster, bis ich an einem eingezäunten Tennisplatz halt machen muss, um mich neu zu orientieren. Als Internetbenutzer habe ich natürlich ein paar ausgedruckte Maps-Seiten dabei, damit ich mich zurecht finde in Italien, in Sizilien, in Taormina. Alles aufgeblasene Sicherheit, wenn mich jemand fragen würde, wo ist Norden, würde ich wahrscheinlich Richtung Süden zeigen. So ein modernes Handy mit Internetflatrate und Navigationssystem hätte es als Schnäppchenangebot vor kurzem in einem Discounter gegeben, aber ich war halt wieder einmal zu unschlüssig gewesen.
Irgendwie zieht es mich in den Garten des Hotels, es muss ein Hotelgarten sein, so mitten im Ort. Ich spiele einfach Hotelgast und schaue mich harmlos um. Ein zauberhafter Garten, exotisch, mystisch, fast irritierend. Nach fünfzig Metern merke ich, das ist gar kein Hotelgarten, das ist etwas anderes, tolle Blicke abwärts zur Küste, seltsame Bauten erscheinen, ist wohl für Kinder zum Spielen, die Bauten erinnern mich irgendwie an die Tempel in Bali. Vorbei an den blühenden Bäumen, Büschen und Blumen erreiche ich ein metallgewordenes Pärchen, sitzend auf einer Steinbank, mit Engelsflügeln, eine wunderschöne Metall-Skulptur mitten in Sizilien, die ich hier so nicht erwartet hätte, eher in dem verspielten, für moderne Kunst so aufgeschlossenen Österreich. Ein Stadtpark, schöner als der in anderen Städten. Ein Stadtpark, kein Hotelgarten! Ich wusste gar nicht, dass sizilianische Städtchen sich den Luxus eines Stadtparks leisten wollen oder können oder müssen? Ein Blitz durchfurcht meine Gehirnzellen, etwas ist hier überhaupt nicht in Ordnung. Ein psychisches Schockerlebnis wird eingeleitet, still, im Vorübergehen, im aneinander vorbei Gleiten, eher ein aneinander vorbei Huschen, nichts vibriert, nichts war angekündigt, nichts ist real, oder doch?
Diese Nase, dieses Gesicht, Augen wie funkelnde Edelsteine, extraterrestrisch, fremd, doch eigentlich bekannt, warum? Sie ist doch nur eine Touristin! Das T-Shirt, warum in rot? Die Augenblicke in Sekundenbruchteilen, unwiederbringlich, unvermeidbar, sie ist es. Erstarrt wie die metallenen Skulptur-Menschen blickt sie mich an, unschlüssig, dann überlegend, kalkulierend, es hat keine Sinn, sie ist es. Sie dreht sich um. Sie nimmt reiß aus, lässt mich zweifelnd zurück. Sie war es. Wo ist sie hin? Eigentlich müsste sie tot sein oder verschüttet oder ausgewandert oder irgendwie aufgelöst, verschwunden, entmaterialisiert, eingeäschert, leblos. So voll im Leben ist sie mir damals entschwunden, eher entglitten, fast absichtlich vergessen worden, reißt mir nun die alten Wunden auf, die ich längst verheilt glaubte. Wo ist dieses weibliche Wesen hin? Ich war zu lange am Verarbeiten der Eindrücke, konnte nicht so schnell umschalten wie sie, jetzt ist sie hinter dem Grün und Braun der Natur entschwunden. Ich schreite schnellen Schrittes tiefer in den Stadtpark, nach links, nach rechts, zurück zum Ausgang, mehr und mehr nervöser werdend wieder hinein in den Stadtpark bis zu den hungrigen Enten, zu den verwunschenen Bali-Bauten, zur Kanone am Kriegerdenkmal, nichts, weg, unsichtbar. Ich komme überall zu spät, sie hat sich wieder aufgelöst, war nur eine flüchtige Erscheinung, vielleicht eine Verwechslung oder der Beginn von Alzheimer oder so.
Langsam spüre ich die Hitze der Sonne auf dem Kopf. Weiteres Suchen hat keinen Sinn. Der Stadtpark ist zu groß, unübersichtlich, ich lehne mich ans Geländer und blicke steil hinab auf die Meeresbrandung tief unter mir. Das sind mindestens einhundertfünfzig Meter tief bis zum Bahnhof von Taormina, er liegt direkt am Meeresstrand. Verfärbungen im Meereswasser zeigen, wo anscheinend das Abwasser eingeleitet wird. Hinter mir diese alte Kanone und ein furchtbares Kriegerdenkmal für die armen gefallenen 4.325 italienischen Soldaten. Wo kann sie nur hin sein? Lebt sie hier auf Sizilien? Eigentlich ein guter Rastplatz für gealterte Legale. Vermutlich hat sie sich hier einen alten Bauernhof gekauft, macht auf Öko und Spiritualität, lebt abseits als verschrobene Ärztin, von den Einheimischen eher als verrückte Hexe gemieden. Aber sie sah andererseits eher wie eine Touristin aus, sie muss wohl auf der Durchreise sein. Oder die angebrochene zweite Flasche Rotwein gestern Nacht war doch etwas zu viel für meine ergrauten, verkümmerten Gehirnzellen, für die mir noch übrig gebliebenen Gehirnzellen, von denen ich täglich, besser nächtlich insgeheim welche verliere, altersbedingt, alkoholbedingt, bedingungslos vereinsamt bedingt.
„Sei still und höre mir nur zu, du Arschloch.“ Diese Stimme, diese sanfte Stimme, die schnell ins Kreischende verfallen konnte, wenn sie nicht genügend Beachtung erfuhr, diese unerträgliche, bis aufs Blut reizende Stimme, die Adern gefrieren mir, mein Haare an den Armen stehen senkrecht, der Verstand setzt erst aus und dann wieder ein. Fester und fester klammere ich mich ans Geländer, als ob etwas Bedrohliches mich gleich den dornigen Kakteenabhang hinab zum Meer stürzen will. Sie muss sich herangeschlichen haben, sie hatte mich nie aus den Augen verloren, sie ist tatsächlich hinter mir. Aus den Augenwinkeln sehe ich die schwarze Walther P99 mit Kaliber 9 mm in ihrer rechten Hand, sie will mich erschießen! Ich glaube, ich spinne!
„Hallo Cornelia!“, presse ich mühsam zwischen den Lippen heraus.
„Halt dein Maul, los rüber zur Sitzbank, setze dich und hör mir nur einfach zu!“
Gehorsam folge ich ihren Wunsch, sie setzt sich artig mit Sicherheitsabstand rechts neben mich und legt fein säuberlich ihre braune Handtasche zur Tarnung auf ihre Hand mit der Waffe, denn es nähert sich wortgewaltig eine sizilianische Großfamilie auf dem Kiesweg. Meine Rettung, sie muss mit dem Erschießen noch etwas warten.
„Vergiss, dass du mich hier getroffen hast oder ich lege dich bei nächster Gelegenheit um!“
Jetzt einfach Aufstehen, sich der Familie anschließen, ein paar belanglose Freundlichkeiten über die wunderschönen Pflanzen austauschen, dieser üppige Elefantenbaum, das schöne Wetter, die ach so lärmenden Kleinkinder. Leider kann ich kaum Italienisch und bleibe deshalb sitzen. Sie ziehen weiter und ich sitze weiterhin verkrampft auf der Bank, still, mutlos, hilflos, wie gelähmt.
„Was willst du?“, wollte ich eigentlich sagen, aber sie kam mir zuvor.
„Wegen dir ist Wolfi tot und Biggi war 18 Jahren im Knast, du Scheißkerl von Verräter.“ Sie ist zwar gealtert, faltiger geworden, aber immer noch wunderschön, besonders ihre Augen leuchten manchmal auf wie bei einem elfjährigen Mädchen, so kindhaft, so unschuldig, so ehrlich.
„Hör zu, Cornelia, das war ganz …“
„Warum hast du uns verraten?“ Früher hatte sie schwarze Haare, jetzt trägt sie eine Mischung aus schwarzen und weißen Haaren, allgemein bekannt als graue Haare, aber weiterhin dominiert der obligatorische Pferdeschwanz.
„Ich habe gar nichts verraten, ich hatte einfach verdammtes Glück gehabt.“
„Bad Kleinen hat uns ruiniert, und alles wegen deiner beschissenen Auffassung von Disziplin. Nichts ist passiert, du warst einfach weg, abgetaucht, verschwunden und die Bullenschweine hätten meine Praxis beinahe auch noch entdeckt. Ich sage dir nur eines, wenn die mich einbuchten, dann lege ich dich noch vorher um oder hinterher, wenn ich wieder aus dem Knast komme, egal wie alt wir dann sein werden. Und überhaupt, wie kommst du überhaupt auf die Idee, ich sei so blöd und haue vor dir ab. Ich wollte dich schon vorher beinahe erschießen, als du so dämlich zwischen den Büschen nach mir gesucht hast.“ Sie war wie immer, wie früher, voll in Fahrt, nicht zu stoppen bis zur nächsten argumentativen Haarnadelkurve. Ihre schalkhaften Blicke trafen sich mit meinen. Irgendwie war sie schon immer eine von uns gewesen, die nicht ganz dicht war, irgendwie nicht so ganz bei der Sache, immer etwas leicht daneben, so verspielt und forsch, eben anders halt.
„Cornelia, beruhige dich bitte, es ist schon alles uralt, viele Jahre sind verstrichen und ohne Wolfi und Biggi hatte ich keine Kontaktmöglichkeit mehr zum Kommando, zu den anderen GenossInnen, alles war kaputt, die Wohnungen ‚verbrannt‘, die Autos ‚verbrannt‘, alles war schlagartig zusammengebrochen.“
„Wieso hast du mich denn nicht angerufen, du verdammter Scheißkerl? Oder jemand anderen von uns? Wir waren in tiefster Sorge, du Arsch!“
Gerade sie hätte ich wohl am allerwenigsten in Betracht gezogen, eher die anderen, denn sie war ja hochgradig wichtig für uns. Das wurde schon zu Beginn der Einweihung jedem eingetrichtert, lass die Finger von der Cornelia, Kontaktaufnahme nur bei dringendsten medizinischen Problemen, wenn Medikamente nötig, oder Operationen. Aber sonst, lasst sie in Ruhe. „Ich hatte nichts mehr, alles war ‚verbrannt‘ und was noch vorhanden war, hatte ich sicherheitshalber tatsächlich verbrannt und die Asche im Klo runter gespült. Auch deine Telefonnummer. Alle Telefonnummern, alle Notizen, einfach alles! Verstehst du!“
„Du warst schon immer eine Verrätersau, Gitte und Biggi haben dich aus dem Knast heraus geächtet, weißt du das? Sie hätten dich zum Abschuss freigeben sollen, ohne dich wäre alles nicht zusammengebrochen. Du hast mit diesem V-Mann-Wichser zusammengearbeitet. Du bist ein dreckiger Überläufer. Verrat auf der ganzen Linie. Du hast einfach auf den Gefühlen der anderen GenossInnen herum getrampelt wie ein Dreckschwein.“ Sie hat wohl die Wechseljahre gut überstanden, jedenfalls wirkt sie immer noch betörend, trotz der grauen Haare, trotz der Falten im Gesicht. Auch ihre Hände, sie sind geschrumpft und abgemagert, fast nur Haut und Knochen. Sie muss jetzt 56 sein oder 57, ich weiß es nicht mehr. Aber ihre Finger sind weiterhin ringlos, also hat sie inzwischen nicht geheiratet. Vielleicht war sie auch schon immer bi oder lesbisch. Jedenfalls hatte nie jemand in meinem Umfeld was erzählt von irgendeinem festen Partner oder einer Partnerin. Sie lebte anscheinend wie eine Nonne. Einsam. Der Revolution, dem Kampf geweiht.
„Bitte höre mir zu, in diesem aufgeblasenen Theater von Bad Kleinen stimmt nichts, was du je gehört oder gelesen hast, denn nur Wolfi, Biggi und ich waren vor Ort und alles andere hast du nur aus der Zeitung oder von den Anwälten, ich aber habe alles selber erlebt, es war einfach furchtbar, ich bitte dich, glaube mir.“
„Es gab viele Möglichkeiten, wieder die GenossInnen zu kontaktieren, du hast es aber unterlassen, sogar über die Rote Hilfe haben wir nachgeforscht, nichts, du warst einfach weg und jetzt schlenderst du so als Tourist wie eine reiche Kapitalistensau, so beschwingt und mit Wohlstandbauch, voll gesaugt mit Geld und Macht und fettem Essen als Urlauber durch diesen Garten der englischen Magie. Du kannst mir nichts vormachen, Verrat klebt an deinem ganzen Körper, du siehst furchtbar aus, gealtert, sie haben dich mit Geld voll gepumpt, dir eine neue Identität beschafft und dich vorher noch ausgesaugt nach jedem kleinsten Detail deines Wissens über uns.“
„Liebe Cornelia, glaube mir, ich hatte nie irgend wen oder irgend etwas verraten, es war einfach lebensnotwendig für mich wegzutauchen, nachdem sie Biggi geschnappt hatten. Wieso eigentlich englisch? Was meinst du damit?“
„Ja, englisch ist der Park, habe ich wo gelesen, gestiftet von irgend so einem Engländer oder einer Engländerin, ist ja jetzt wohl auch scheißegal, oder? Rede doch keinen Stuss, du warst doch gar nicht auf dem Fahndungsradar, die Generalbundesanwaltschaft hat noch nie was von dir gehört. Außerdem hat Biggi nie irgendwelche Kooperationen mit denen gemacht, sie hat dicht gehalten, während sie eingebuchtet war. Verdammt noch mal, begreifst du nicht, wir haben dich gesucht, wir wollten Sicherheit, dass du noch frei bist. Aber nach ein paar Wochen war allen GenossInnen definitiv bewusst, dass sie dich auch geschnappt haben mussten, aber uns und der Presse nichts konkretes zukommen ließen, weil sie dich zum Kronzeugen umbauen wollten und uns in Sicherheit wiegen wollten! Jedenfalls warst du verschwunden und unsere Erddepots waren ebenfalls verschwunden, aufgelöst, einfach nicht existent, kapiert?“
„Cornelia, hör zu, niemand hat mich bis heute geschnappt, ich bin damals unerkannt entkommen. Die haben vielleicht nie nach mir gesucht. Die haben die ganze Situation nie voll gecheckt, glaub mir doch endlich!“
Ihr rotes T-Shirt hat wunderbare Ausformungen, anscheinend trägt sie keinen BH. Noch dazu in ihrem Alter, wo manche Frauen angeblich schon Hängebrüste bekommt. Sie aber anscheinend nicht. Richtig spitz und prall, aber nicht unförmig groß sind ihre Brüste. „Ist was mit meinem T-Shirt oder warum glotzt du so blöd an mir herum? Sag, warum musste Wolfi sterben?“
„Vergiss es doch einfach, lass den armen Wolfi im Grab ruhen, er wusste, was er tat und er wusste, dass unser Kampf gefährlich bis zum Tod sein kann. Wolfi wollte wohl einfach nur flüchten, nachdem sie Biggi und den V-Arsch bereits in der Bahnsteigunterführung überwältigt hatten. Wolfi war halt schneller, hat sofort überrissen, was abging und ist getürmt. Aber er war zu schnell, zu ahnungslos die Treppe zum Bahnsteig hoch gerannt und diese jungen Bullen ebenfalls zu schnell und ahnungslos und dumm hinter ihm her, die anderen Bullen draußen schossen mit ihren Scharfschützengewehren aus den Bahnhofsfenstern und abgestellten Reisewaggons auf alles, was die Treppe hoch kam und da war es leider schnell passiert, einer der GSG9-Bullen wurde in diesen Moment von seinen eigenen Scharfschützen mehrfach erschossen, anschließend haben sie den schwer verletzten Wolfi natürlich selber hingerichtet, eine alte Tradition, für jeden ihrer gefallenen Kameraden einen von uns. Du weißt doch noch, wie sie vorher bereits hemmungslos unsere besten Leute beim Betreten der aufgeflogenen illegalen Wohnungen einfach liquidiert hatten, angeblich in Notwehr, zum Teil mit Schüssen in den Rücken!“
„Wer soll dir diesen Scheiß einfach glauben, ja? Fakt ist, du warst vor Ort und hast schlichtweg nichts unternommen, bist einfach verhaftet worden und hast dann ausgepackt. Hast uns verraten, die Sache, die Zusammenhänge, der ganze Widerstand wurde gelähmt, du bist ein scheiß Idiot, sie haben dich umgedreht! Dir das Gehirn weich geklopft, dich zu einem faschistischen Instrument umgebaut, der labert und labert, bis es peinlich wird.“
„Du hast ja gar keine Ahnung von der ganzen Aktion! Die haben ihn einfach umgelegt, trotz irgendwelcher Zeugen vom Kiosk oder so! Die hatten Rückendeckung bis zum Bundeskanzler!“
„Quatsch nicht so einen Springerpressescheiße! Und dieser V-Mann, wo ist der abgeblieben?“
„Den haben sie zur Tarnung mit verhaftet, den Rest kennst du ja aus der Presse, dieser Sau haben sie eine neue Identität verschaffen müssen, aber nicht mir, glaube mir, Cornelia, bitte. Schau, hier ist mein Ausweis, ich habe immer noch den selben Namen!“
Fassungslos starrt sie meinen Personalausweis an und dreht ihn um: „Aha, du wohnst nicht mehr in Düsseldorf, sondern in Grassau. Wo ist denn das?“
„Nähe Chiemsee. In Bayern.“ Umständlich stecke ich den Ausweis wieder in meinen Geldbeutel.
Das Schweigen ist unerträglich, trotz der Bäume wird es mir langsam zu heiß, nicht nur der Kopf glüht, auch im Bauch rumort es gehörig. Irgendwie muss ich diesen magischen Stadtpark verlassen, ich sehe schon Gespenster, die mit einer Pistole im Anschlag unter der Handtasche mit mir einen sinnlosen Dialog führen.
Ein letzter Versuch zur Geisterbeschwörung: „Cornelia, es war anders als du denkst, nur ich hatte Glück, sonst …“
„Halts Maul, Verräter, im Namen von Biggi und Gitte werde ich dich hinrichten. Du hast uns allen nur Schaden gebracht, die Zusammenhänge sprechen für sich. Die Entwicklungen im Frontprozess haben sich umgekehrt, wir müssen nun schützen, was noch läuft. Du gehörst nicht mehr zu uns. Seit 1993 bist du ein Ausgestoßener, ein Vergessener, ein Verräter an der Sache, am Kampf, jede Genossin, jeder Genosse spuckt auf deinen Namen, denn du hast dich aus dem Kampf ausgeklinkt, dich aus der Verantwortung für die anderen GenossInnen gestohlen, sabotiert und verraten, den Kampf aufgegeben, uns verraten und verkauft an die Bullenschweine und an das Generalbundesschwein.“
„Du redest nur den selben revolutionären Scheiß, den Gudrun und Ulrike schon zu Papier gebracht hätten, wenn sie noch leben dürften. Ich bitte dich, höre dir doch wenigstens meine Geschichte an, mein Leben, meine Träume, die zu Schäumen wurden, wegen eines winzigen Fehlers.“
„Welcher winziger Fehler?“, sie hat angebissen, eine kleine, winzige Chance für mich.
„Ich musste damals dringend pinkeln und wollte von meiner Beobachtungsstelle am Parkplatz mal schnell auf die Toilette in das Billardcafé, wo Wolfi und Biggi sich bereits mit dem eingeschleusten V-Mann trafen, als ich die jungen Männer entdeckte, die am Bahnhofsvorplatz an der Treppe zur Bahnsteigunterführung herum lungerten, alles so Bundeswehrtypen, kurze Haare, kernige Kerle, aber irgendwie zu ruhig, zu konzentriert, keine Flasche Bier in der Nähe, so unwahrscheinlich diszipliniert, der Termin hätte für die üblichen Bahnfahrtzeiten von Wehrpflichtigen schon gepasst, aber die hier hatten nicht einmal Gepäck oder frisch gewaschene Wäsche von ihren Muttis dabei. Natürlich stand ich nun vor einem riesigen Problem, es gab ja noch keine modernen Handys, sonst hätte eine SMS oder whatsapp an Wolfi gereicht, also musste ich irgendwie an ihn oder Biggi ran, ohne dass es diese GSG9-Typen spürten und natürlich war in dem Moment auch dieser Typ nicht mehr ganz vertrauenswürdig, von dem wir ja noch nicht wussten, dass er ein V-Mann ist. Aber es war nicht zu schaffen.“
„Wieso nicht, du hättest doch ins Billardcafé einfach hineingehen können und ihnen einen Tipp geben können?“
„Ja glaubst du denn, wenn die hier schon aufmarschiert sind, gehe ich zu den GenossInnen und teile dadurch den anderen mit, ich gehöre dazu, bitte nehmt mich auch ins Fadenkreuz, ich bin der Warner, ich bin der Entdecker des Komplotts, der alles zum Platzen bringt, ich bin der, der die Gefechtsaufstellung durcheinander wirbelt, der den Kampf erst beginnen lässt? Nein danke, ich wollte nur meine eigene Haut retten, es war nichts mehr zu machen, die waren hier in Bad Kleinen mit fast hundert Leuten aufmarschiert, GSG9 und MEK, Scharfschützen in den Bahngebäuden und geparkten Waggons, Sturmtrupps an den Ausgangstreppen, Sanitäter in Bereitschaft, alles bestens vorbereitet, sogar meinen alten Opel Kadett inspizierten sie bereits, als ich zurückging. Sie haben neugierig durch die Autofenster in meinen Kadett geguckt, als wenn sie es geahnt hätten, dass wir immer eine Rückversicherungskarte im Gepäck haben.“
Langes Schweigen. Sie hat wundervolle Lippen. Und immer wieder ihre Augen. Das Wimperngeklimper, diese unverdorbene Zurschaustellung von Anmut und Jugendhaftigkeit, es wird einfach immer erotischer. Sie ist eine wundersame Frau, eine Göttin in Weiß, wie in den Kitschromanen von früher.
„Dein Opel Kadett?“
„Ja sicher, der Trick mit den Doublettenfahrzeugen mit gefälschten KFZ-Nummernschilder hatte ja kaum noch funktioniert, die waren schon eingeweiht seit Jahren. Alles umsonst, bei Fahrzeugkontrollen konnten uns nur noch echte Fahrzeugpapiere helfen, mit echten, eindeutigen Autos eben. Außerdem war ich kein Illegaler wie die anderen.“
„Ich glaube dir kein Wort, du warst doch schon längst auf ihre Seite gewechselt, Überleben um jeden Preis, integriert in die Personenfahndung, spirituelles Mitglied ihrer faschistischen Philosophie, der Verursacher, der nicht Spürbare, der abgetauchte Hirnverbrannte, das übergelaufene Arschloch, das uns gerade noch gefehlt hatte! Aber einmal musste es ja dazu kommen!“
„Es war so wie ich sage, es gab für die anderen kein Entkommen mehr. Ich ging also nicht aufs Klo im Billardcafé, kehrte um. Konnte sie einfach nicht mehr warnen. Glaube mir doch bitte, ich fand damals keine Lösung. Ich hatte einfach totalen Schiss, dass sie mich auch noch als Mitglied identifizierten. Also zurück zum Parkplatz, wo inzwischen auch schon welche herum standen, so auffällig unauffällig zwischen den Autos. Da konnte und wollte ich auch nicht pissen, also wieder weiter, immer weiter, möglichst weit weg, zu einem Gebüsch in der Gallentiner Chaussee. Als ich dann nach einer Weile wieder zurück kam zum Bahnhofsvorplatz, fielen dann plötzlich die Schüsse. Dann Schreie, Blaulicht aus allen Richtungen, Polizeiautos, Hubschrauber, alles war in Aufregung, alles rannte um mich herum. Ich hatte dann ein bisschen gewartet, den Schaulustigen gespielt und bin dann zu meinem Auto und einfach weggefahren. Es gab kein zurück mehr, kein Wenn und Aber, sie waren verloren, verbrannt, enttarnt durch diesen V-Mann, der wohl schon seit Monaten daran gewirkt hatte, sie betäubt hatte, sie eingestimmt hatte in den Tod, in dieses Verbrechen, Wolfi war zwar immer sehr vorsichtig, fast pingelig behutsam im Umgang mit den unterstützenden GenossInnen gewesen, aber hier hatte er sich voll linken lassen, und Biggi auch.“
„Warum dann dein Stillhalten, dein Untertauchen? Alle dachten damals, sie hätten dich auch umgelegt oder zumindest einkassiert!“
„Ich hatte die Schnauze voll, nie wieder wollte ich das erleben, diese Killfahndung, die Schüsse, die Schreie, ich dachte, die haben mich nun auch entdeckt, mein Autokennzeichen notiert, mein Leben analysiert, meine ganze Vergangenheit aufgerollt und seziert. Ich war zwar kein Illegaler, aber schon längst aktiv im Kampf der Dritten Linie, gleich hinter dem harten Kern der Kommandoebene, nur ein weiteres Arschloch so wie du, was diesen ganzen Wahnsinn mit entflammt hatte, vorantrieb, mit begünstigte. Irgendwann fliegst du auf, musst auch in den illegalen Untergrund und liegst zum Schluss auch nur noch als durchlöcherter Fleischklumpen im Gleis. Niemals wollte ich so eine scheiß Situation nochmals erleben, es hat mich alles nur noch angekotzt!“
„Warum Biggi?“
„Was meinst du?“
„Warum hat sie das Desaster überlebt? Warum hat sie nicht einfach ihre Waffe gezogen und bis zum Tod gekämpft, wie wir alle kämpfen würden!“
„Ich weiß es wirklich nicht, sie waren ja alle drei in der Bahnsteigunterführung unter den Gleisen angegriffen worden und ich habe nichts mitgekriegt, ich war ja nicht dabei, ich habe nur Wolfi hoch rennen sehen, aus dem Treppenaufgang zwischen den Gleisen 3 und 4, laute Schüsse knallten, er hinter das Treppengeländer, ständig hinunter feuernd, bis das Magazin wohl leer war und hinter ihm her hechelnd die ganze Truppe, über zehn Jungs, alle wahllos und ziellos feuernd, es fielen innerhalb weniger Minuten unheimlich viele Schüsse, mehr habe ich nicht mitbekommen, weder seine Hinrichtung noch Biggis Festnahme oder sonst was, ich habe mich einfach hinter geparkten Autos nur geduckt wie alle anderen Passanten, um nicht so einen Querschläger wie diese eine Lokführerin abzubekommen. In einem Bericht habe ich später gelesen, dass Wolfi zehn oder elf Schüsse abgab, sechs davon haben angeblich zwei Bullen getroffen, also eine Trefferquote von über fünfzig Prozent, während die Bullen 33 Schüsse abgaben und Wolfi nur fünf mal getroffen haben.“
„Ja, den schwachsinnigen Bericht kenne ich auch, da stimmt doch hinten und vorne nichts, alles nur hochstilisierende Propaganda, um uns öffentlich als Killertypen zu disqualifizieren! Ich glaube gar nichts mehr. Durchtrainierte GSG9-Bullen mit einer Trefferquote von nur fünfzehn Prozent, dass sind doch alles Fälschungen, Fakes vom Verfassungsschutz im Internet, um uns kirre zu machen. Die haben ihn vielleicht auch gar nicht hingerichtet!“, ihr Gesicht sandte mir Symbole, Signale, Emotionen, Gefühlsspiralen, die zu deuten nicht in wenigen Minuten gelingen konnte. Ich brauche Zeit. Irgendwas war hier zweifelhaft, ihre Zweifel waren zweifelhaft. Was wollte sie mir damit sagen?
„Glaubst du, Wolfi hat sich selber erschossen?“, jetzt war es heraus, sie war wohl selber eine Überläuferin, traut sich solche Gedanken in Worte zu fassen, obwohl sie doch nicht dabei gewesen war, sie wollte mich wohl testen.
„Also, ich habe weder das eine noch das andere gesehen, ich war einfach nur in Deckung gegangen.“
„Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren können, außer einer der Bullen packt mal aus.“
Entspannt sich nun endlich dieser Mordversuch an mich, dieser Überfall? „Cornelia, denke bitte nach, was habe ich in den vielen Jahren für oder gegen euch getan? Nichts, denn ich war einfach weg und euch ist nichts passiert. Dass du hier neben mir sitzt, ist doch der beste Beweis, sonst hätte ich dich als Überläufer und Kronzeuge doch längst hochgehen lassen können!“
Wieder Schweigen. Sie trägt eine absolut langweilige Jeans zum roten T-Shirt. Dazu passende blaue Söckchen, nur die Schuhe verwirren mich, hellblaue Lederschühchen, wie ein Teenager, in dem fortgeschrittenen Alter eher unwirklich und deplatziert wirkend.
„Was für ein Fehler?“
„Welcher Fehler?“
„Du hast doch gerade von deinem winzigen Fehler gesprochen! Rede nicht so einen Scheiß, glaubst denn du, ich bin bescheuert? Also, welchen winzigen Fehler hast du gemacht?“
Ja, jetzt muss der winzige Fehler heraus. Sie wird langsam unruhig.
„Ja los, rede doch endlich. Heraus mit deinem kleinen Fehler!“ Ihre Stimme beginnt ansatzweise wieder in diesen Kreissägenkreischton überzuwechseln, ein Zeichen ihrer Unschlüssigkeit.
„Ich … also weißt du … mir kamen Zweifel, dass noch andere V-Leute bei uns … Na ja, deshalb habe ich … ich konnte nicht anders! Eine reine Sicherheitsmaßnahe! Musste schnell gehen …“
„Ja rede doch endlich, du Arsch!“
„Ich hatte damals sofort die Depots umgeschichtet!“
„Du hast was?“
„Nur umgeschichtet, glaub mir, nur zur Sicherheit, wegen der Festnahme von Biggi. Es war ja denkbar, dass sie redet, auspackt, den Psychodruck im Knast nicht schafft. Ich hatte nicht viel Zeit und hatte auch jegliches Vertrauen zu den anderen GenossInnen verloren. Das war mein Fehler! Ich hätte das zumindest abstimmen sollen oder wenigsten irgend jemanden aus der Kommandoebene informieren müssen. Das war mein scheiß Fehler!“
„Du hast was? Umgeschichtet? Wie? Welche Depots? Wann?“
„Die ganzen Erddepots! Ab Montag!“
„Wie ab Montag?“
„Ja, gleich am nächsten Tag nach der Schießerei vom Sonntag.“
„Wer gab dir den Auftrag?“
„Ich sagte bereits, es war eine spontane Eingebung von mir, nur zur Sicherheit, nur als mögliche Vorsichtsmaßnahme für uns. Biggi wusste doch alles als Hexenkönigin. Sie hatte alle Koordinaten im Kopf, sie war Führung, lebende Ikone, Nachfolgerin von Gitte, unsere neue Heilige, unsere Lichtgestalt in der Dunkelheit des antiimperialistischen Kampfs.“
„Woher … Wieso weißt du … Das ist unmöglich! Nein, nein, nein! Du erzählst mir hier nur einen Schwachsinn, um dein erbärmliches Verräterleben zu retten!“ Sie schaut mir einige Sekunden sehr misstrauisch in die Augen, dann ein kurzer Blick auf ihre Waffe, ein langer Blick auf das endlose Meer. Sie sucht einen Halt am Horizont, nur eine kleine Insel, eine Möwe, ein Segelschiff, eine Fata Morgana. „Nur wir wussten die Koordinaten, nur wir, verstehst du? Nur wir … Du hast … Du bist … Wer hat dich eingeweiht … Wer hat dir die Koordinaten gegeben? Du warst nicht im inneren Kreis! Nur die Kommandoebene wusste alles. Wer hat dich eingeweiht? Verdammt, mach endlich dein Maul auf, das kann doch gar nicht wahr sein?“
„Dani!“
„Welche Dani?“
„Diese Dani eben! Du kannst dich bestimmt an sie erinnern!“
Das Geräusch kann ich nicht deuten, aber es kam aus ihrer Richtung. War das ein Seufzer, ein Stöhnen, ein unterdrückter Schmerzschrei? Ihre Wimpern flattern: „Doch nicht diese junge hübsche Dani? Das kann nicht sein? Die war doch damals erst ein paar Jahre im Kampf dabei, ganz frisch und unverbraucht und trotzdem gleich auf dem Fahndungsradar! Die hat doch gar nichts gewusst oder wissen können!“
„Dahinter steckte Frieda!“
„Nein! Jetzt mach Sachen … Aber sie durfte doch gar nicht … Die ist doch seit 1977 abgetaucht in …, also eher verschollen, oder so.“
Lange Gedenkpause oder Nachdenkpause. Konzentriert sie sich auf ein neues Geräusch, dass sie erzeugen möchte? Ein Schmerzschrei? Ein Tobsuchtsanfallschrei? Der Schrei einer Revoluzzerin im Orgasmus der Erkenntnis? „Frieda gab dir die Koordinaten, wirklich? Nach 1977? Hast du sie im … Wie jetzt? Die ist doch …“
„Nein, ich hatte sie von Dani, verdammt noch mal, nur Frieda war im inneren Zirkel und befugt, Wissen zu verteilen, das sie aber irgendwann an Dani weitergab, rechtzeitig!“
„Aber Dani war doch gar nicht … befugt … im Zirkel …“
„Die beiden waren wohl lesbisch oder bisexuell, bitte verstehe mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen, aber Dani hatte sie einfach von ihr erhalten, die Rechte und Pflichten zur Depotmitverwaltung. Und dann kam der Tag X, Biggi verbrannt, Wolfi tot! Dani nicht mehr auffindbar, wohl auch abgetaucht. Und Frieda unendlich weit weg, für mich zumindest fast unerreichbar in Bagdad schon seit verdammt vielen Jahren. Verstehst du, ich musste handeln. Wen hätte ich denn fragen sollen?“
„Dani hat dich angerufen?“
„Nein, Cornelia, bitte glaube mir, es war halt einfach spontan.“
„Dani hat dich spontan zur Depotumschichtung aufgefordert?“
„Nein, Dani und ich, wir haben uns damals ab und zu getroffen, weißt du, es war einfach nötig, wir haben uns gemocht, wir hatten ja sonst kaum jemanden, sie lebte illegal, ich aber nicht, wir hatten einfach Lust auf ein bisschen Sex, mehr nicht, und dann ist mehr daraus geworden, Vertrauen, Liebe, Hingebung, Opferbereitschaft, verstehst du das, sie hatte mich eines Tages, als ich mit ihr… Es kam einfach über sie, sie sagte mir, wer weiß, ob wir noch was erreichen, ist doch alles inzwischen hirnlos verkorkst und dann gab sie mir vertraulich die Koordinaten. Sie hat mich freiwillig eingeweiht, aus Liebe, vielleicht auch aus Angst, dass sie eines Tages geschnappt wird oder durchlöchert wird.“
„Wie lesbisch? Also jetzt, hat sie mit Frieda oder mit dir was gehabt?“
„Vermutlich mit uns beiden, das Ganze ging ja bis 1993.“
„Ja spinne ich jetzt? Diese Dani war in Bagdad? Hat dort Frieda besucht? Wann zuletzt?“
„Davon weiß ich nichts. Also von Bagdad oder so. Die beiden haben sich doch hier in Deutschland öfters getroffen. Hat mir zumindest Dani so erzählt.“
„Aha, und mit mir bist du auch 1993 ins Bett gestiegen! Weißt du noch! Nach der Knastsprengung! Du scheiß Kerl. Machst dich wohl über jede Genossin her, sobald sie wegen psychischer Erschöpfung die Beine spreizt.“ Nachdenklich blickt sie in die Ferne und holt tief Luft. „ Und sie gab dir die Koordinaten aller Depots? Unglaublich, Frieda war doch gar nicht befugt, ohne Abstimmung mit uns was weiterzuleiten. Geschweige denn an diese Dani! Außerdem, woher wusste sie Bescheid, ich meine Frieda? Die war doch seit 1977 weg! Nie mehr bei Besprechungen dabei! Die kann dir oder dieser Dani doch gar nichts verraten haben!“
„Was redest du da für einen Quatsch! Diese Frieda habe ich öfters getroffen, hier in Deutschland, zuletzt 1989 bei einer Kommandoaktion. Sie hat Dani doch alles verraten!“
„Und die Koordinaten waren echt? Sauber? Die Depots befüllt?“
„Alles einwandfreies Material, alle Koordinaten vollkommen in Ordnung, Dani hatte mich nicht gelinkt.“
„Ja und jetzt? Jetzt wurde alles umgeschichtet, neu vergraben? Still und heimlich, ohne Mitwisser? Ohne Abstimmung? Bist du denn wahnsinnig?“
„Ja, dass war eben der kleine, winzige Fehler.“
„Aha, verstehe, du konntest nicht widerstehen und hast die Depots im Prinzip geplündert, uns ausgeraubt, das ganze Geld einkassiert und die Waffen und Dokumente verhökert für Spottpreise im Untergrund, du Schwein, du elendiglicher faschistischer Kapitalist, du verdammtes Oberarschloch, ehrlich, du widerst mich an!“
„Nein, rede keinen Scheiß, ich bin nicht so ein Schwein, ehrlich!“
„Du hast die Depots also nicht ausgeraubt, sondern den Bullen verraten? War das dein kleiner Fehler?“
„Ich wusste nicht mehr, wen ich vertrauen sollte, deshalb habe ich geschwiegen und keiner hatte mich je kontaktiert wegen den neuen Koordinaten.“
„Du bist doch das größte …, alle Depots? Du hast das ganze Zeug neu versteckt und hast es bisher niemandem mitgeteilt, weder dem BKA noch uns? Unglaublich, weißt du, was das bedeutet? Sie haben unsere Depots nicht entdeckt! Wir dachten bis heute ständig, sie hätten alles herausgefunden, durch Zufall oder vielleicht doch durch Biggi oder wen auch immer, wir haben uns den Kopf zerbrochen, warum nichts mehr da war und jetzt kommst du daher und hast alles umgeschichtet und es niemanden mitgeteilt, Niemandem, verstehst du, niemandem! Seit 21 Jahren, du Blödmann! Wenn dir ein Dachziegel auf den Kopf gefallen wäre oder ein Autounfall dich hinweg gerafft hätte, dann wäre das gesamte Depotwissen unwiederbringlich verloren gewesen, auf ewige Zeiten, nur noch pure Zufallsfundstellen für künftige Archäologen. Ich glaube, ich kriege die Krise!“
„Ja, du hast natürlich recht, aber mein Gewissen …“
„Dein Gewissen? Seit wann haben Verräter ein Gewissen! Versteht du denn nicht, alle Depots waren leer, geplündert, sinnlos leer. Wir standen unter Druck, kaum noch Geld, kaum noch Unterstützer, alles hochgradig infiziert von Verrat und Zusammenbruch. Wir kollabierten am lebendigen Leib. Und jetzt kommst du daher und erzählst mir was von Umschichten und Gewissen. Ich glaube, ich spinne!“
“Bitte. Cornelia, es war eine verfahrene Situation, Biggi und Wolfi aufgeflogen, sie wussten doch alle Koordinaten der Depots, ich aber war unerkannt, legal und Mitwisser, schnell handelnd, schnell umgeschichtet, es wurde niemand bereichert, niemand deswegen hingerichtet.“
„Doch, du Arsch, jetzt wirst du hingerichtet, wegen Blödheit vorm Feind, Dummheit auf der Flucht und größtmögliche Hinterfotzigkeit im Verrat.“
Wieder Schweigen der Wälder. Die will mich doch nicht hier im Park hinrichten? Ohne Schalldämpfer? Da könnte sie sich ja gleich der sizilianischen Polizei stellen.
„Du kennst noch die alten Koordinaten?“
„Ja freilich, die alten und die neuen, es fehlt auch nichts, ich habe mich nicht bereichert!“
„Wie soll ich dir glauben? Wie viele waren es? Fünf oder acht oder dreizehn Depots?“
„Ich weiß nicht. Was willst du eigentlich? Ich bin hier auf Urlaub in Sizilien, gehe hier im Park spazieren und plötzlich springst du mich an, mit einer Waffe im Anschlag, spinnst was von Verrat daher, laberst mich voll mit deinem Misstrauen. Als sich dann 1998 der ganze Spuk als aufgelöst erklärt hatte, dachte ich, jetzt lasse ich es erst recht sein, hier noch irgendwie jemanden zu fragen, ob er das Zeug braucht oder nicht. Ach übrigens! Wer ist eigentlich auf diese blöde Idee gekommen, uns ausgerechnet am 20. April aufzulösen? Zu Hitlers Geburtstag! Total pervers, diese schwachsinnige Unterwürfigkeit! Verstehe doch, ich will mit der ganzen Scheiße nichts mehr zu tun haben. Ich habe eine vernünftigen Job, genug Geld zum Leben und in zwanzig Jahren gebe ich sowieso den Löffel ab, oder in fünfundzwanzig, was weiß denn ich!“
„Oder in fünf Minuten, du Scheißkerl! Also heraus damit, die Stückzahl will ich hören. Verstehst du? Die richtige Stückzahl, die nur wir kennen und diese verschollene Frieda und anscheinend diese abgetauchte scheiß Dani!“
„Hör mir doch bitte zu, der ganze Kampf ist doch zusammengebrochen. Mit nur ein paar handverlesenen Mutigen kannst du diesen Staat, dieses System nicht kippen. Uns sind einfach die Leute, die Anhänger, die GenossInnen ausgegangen, die für die Sache bereit waren zu töten oder selbst getötet zu werden. Wir hatten nie eine Chance! Nie und nimmer! Jetzt zurückblickend waren wir total einsam. Wir hatten doch nie eine reelle Chance gehabt, je irgendwie was zu bewegen. Weder die Erste Linie, die noch bei Schießereien oder in Stammheim verreckte, noch die Zweite, die beim Joggen vor ihren Depots keuchend und verwahrlost dem BKA in die Hände fielen. Und auch wir von der Dritten, die vor Angst schön spießbürgerlich das scheiß Kapitalistenversteckspiel leben mussten. Du doch auch! Was mussten wir für verklemmte Versteckspielchen durchziehen!“
„Rede doch keinen Scheiß! Wir waren über zweihundert Leute, die im Kampf eingebunden waren. Wir hätten viel erreichen können, wenn nicht immer solche Schwachköpfe wie du sich mitten im Befreiungskampf selbst befreit hätten. Wie viel Kohle kam den heraus für dich, beim Umtopfen der Depots? Rede schon, ich habe nicht mehr viel Geduld mit dir. Du Ausplünderer, du Kriegsgewinnler, du bist die selbe Kapitalistenscheiße, die wir jahrelang bekämpft und liquidiert haben.“
„Die Kohle ist noch in den Depots, glaube mir. Ich habe mich nicht bereichert! Es ist alles noch vorhanden. Es ging mir nie ums Geld.“
„Wie viel Geld ist noch in den Depots?“
„Na ja, so genau weiß ich das natürlich auch nicht, aber so um die vier Millionen müssten es schon noch sein, grob geschätzt.“
„Wahnsinn, vier Millionen Deutsche Mark, ich werde verrückt. Wo kommt denn das ganze Geld denn her?“
„Cornelia, nein, es sind fast vier Millionen Euro, keine Mark!“
„Ja wie jetzt? Damals gab es doch noch gar keine Euro. Das ganze Geld war, soweit ich weiß, aus Banküberfällen und sonst wo her, alles in Deutsche Mark oder so, bündelweise, alles sichere Scheine, unregistriert, sauber, jederzeit verwendbar, zumindest war und ist das mein Kenntnisstand. Die könnte man noch heute problemlos umtauschen bei der Landesbank.“
„Verstehe mich nicht falsch, aber nach der Einführung des Euro habe ich Zug um Zug die Scheinchen umgetauscht. Sicherheitshalber! Es sind fast vier Millionen Euro. Unregistriert, sauber, jederzeit einsetzbar.“
„Du hast was? Mir bleibt die Spucke weg! Tatsächlich alles umgetauscht? Ganz schön raffiniert, genial! Aber für wen oder was? Wir haben uns doch so schön passend zu Hitlers Geburtstag 1998 aufgelöst. Auf wen hast du denn gewartet? Dass da jemand kommt und dir seinen durchgeladenen Mitgliedsausweis an die Schläfe hält und sagt, jetzt brauche ich Geld zum Weiterkämpfen, mach die Depots auf, jetzt wird es teuer und so?“
„Ich hatte immer gehofft, dass eines Tages jemand sich bei mir meldet und die Depots einfordert.“
„Wieso hast du uns nicht gesucht? Es gibt in jeder größeren Stadt linke Gruppen, Autonome, Hausbesetzer, Spontis oder was weiß ich, du hättest dich durchfragen können.“
„Ja spinnst du? Wir waren doch Außenseiter, sogar von den gesamten linken Gruppierungen geächtet, verpönt, gemieden. Da gab es Tausende, die nur darauf gewartet hätten, sich das Leben mit ein paar hunderttausend Mark Belohnung zu vergolden, die uns hassten. Das Risiko war mir immer zu hoch, mich mit solchen Typen einzulassen. Außerdem wären die genauso misstrauisch wie ich gewesen.“
„Also, ich bin aus dem inneren Kreis, wie du ja selber gerade festgestellt hast. Ich fordere dich hiermit auf, die Depots mir zu übergeben. Im Namen der Roten Armee Fraktion! Ich fordere die Koordinaten und die Inhalte, bedingungslos. So, wie sie von Gitte über Frieda und diese Dani an dich weitergereicht wurden.“
„Wozu? Wir sind aufgelöst, tot, verstorben, entschwunden, ja?“
„Gleich löse ich dich auf, du Verräterhund!“ Ihr Blick sagte mehr als tausend andere Beschimpfungen.
„Aber die anderen Sachen rührst du nicht mehr an. Bitte lass die Waffen und die Munition in den Depots. Okay, die alten Blanko-Dokumente kannst du haben, aber das Zeugs ist eh wertlos aufgrund der fortgeschrittenen Technik. Den ganzen alten Papierkram mit Personalausweisen oder Fahrzeugscheinen können wir ruhig verrotten lassen, denn das Ganze ist überholt, da geht eh nichts mehr. Inzwischen ist alles auf fälschungssicheres Material umgestellt worden.“
„Jetzt sag ich dir mal in Klartext, du Arsch mit Ohren, ich will die Depots bedingungslos von dir. Die sich da aufgelöst haben 1998, das war nur die eine Hälfte, die anderen waren dagegen und haben sich aus der auflösenden Kommandoebene geräuschlos ausgeklinkt. Wir haben uns nicht aufgelöst. Wir sind noch da. Aber wir machten nichts, mangels Waffen und Munition, mangels Vertrauen in die Vorgehensweise. Wir diskutieren seit Jahren, ob es sich überhaupt rentiert, sich zu erkennen zu geben und wieder los zu schlagen. Wir diskutieren wahrscheinlich noch in zehn oder zwanzig Jahren, das kann leider wohl noch dauern.“
„Wie nicht aufgelöst? Das war doch wohl ein klarer Beschluss 1998. Das kann doch gar nicht sein, dass seit über zehn Jahren Teile der RAF so dahin dämmern und im Pseudokoma liegen und warten, bis sie wie das Dornröschen wieder wach geküsst werden!“
„Wir jedenfalls haben den Beschluss nicht mitgetragen, nicht akzeptiert und den anderen definitiv und eindeutig klar gemacht, dass wir den Beschluss für den blanken Verrat an der Klasse, am Kampf, an den gefallenen GenossInnen, an der ganzen kommunistischen Idee als pure Selbstverstümmelung halten. Nur wenige waren auf der unsrigen Seite, eigentlich sind wir nur noch fünf Leute. Wir haben uns aber nie geoutet, wir wollten auch unsere Ruhe haben, wir waren fertig. Verstehst du? Wir waren fertig mit diesen Staat. Fertig mit den anderen GenossInnen, auch mit den Inhaftierten, mit dem ganzen korrumpiertem Linksgewächs.“
„Und jetzt willst du die Kohle, deine Rentenversicherung, die fast vier Millionen, um dich gesund zu stoßen, den Lebensabend zu verschönern. Und was ist mit den anderen vier GenossInnen? Sollen die leer ausgehen?“
„Ich will bloß Zugriff auf die Depots, sonst nichts. Und dich Verräterarsch werde ich wohl kaum einweihen! Und die anderen bekommen schon ihren Anteil, verlasse dich darauf!“
„Dann kannst du ja endlich abdrücken, Cornelia. Nach deiner beschissenen Meinung ist meine Zeit nun um, in deinen Augen lebte ich mit eurem Geld wohl in Saus und Braus, umgeben von Reichen und Schöngemachten. Und du wirst aus mir nichts heraus kitzeln können. Drücke doch endlich ab, kill deine finanzielle Gier, deine überzüchteten Ansprüche. Mir ist es vollkommen egal. Du musst schon kooperieren, wenn du deine Pensionsansprüche geltend machen willst! Als Toter kann ich dir nicht mehr nützen!“ Ich rede mich in Rage, denn sie macht keinerlei Anstalten, von ihrem hohen Ross herunter zu steigen und sich der fortgeschrittenen Entwicklung anzupassen oder sie wenigstens einmal zu prüfen. Eigentlich hört sie mir kaum zu.
„Reize mich nicht! Also noch mal von vorne! Wie viele Depots hat dir diese verfluchte Dani verraten?“
Sie meint es anscheinend wirklich ernst. Was wird sie machen, wenn ich ihr eine größere Zahl nenne? Oder was wird sie mit mir machen, wenn es doch noch mehr Depots gab, diese Dani mir aber nur ein paar verraten hatte? Oder noch schlimmer, die Frieda hat diese Dani gar nicht komplett eingeweiht?
„Hör zu, ich weiß nicht, ob ich wirklich alle Depots kenne. Ich kannte nur die Depots, die mir genannt worden waren! Habt ihr denn wirklich kein einziges Depot mehr befüllt vorgefunden?“
„Hör endlich auf, hier herum zu albern. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl und die wusste jeder vom inneren Zirkel. Es gab keine Abstufungen nach Wichtigkeit oder Inhalt oder was immer auch sonst! Es gibt nur soundso viele und basta und entweder hat Frieda diese Dani richtig geimpft oder nicht und damit auch dich beschissen! Als Zeichen für mangelndes Vertrauen in euch beide! Rede jetzt endlich oder ich schieße dir ins Knie!“
„Sieben waren es.“
„Nicht acht?“ Sie überlegt verdächtig lange, als wenn sie auf mich warten würde, auf meine Korrektur warten würde, aber ich kenne nur sieben Depots. „Also doch! Verdammte Scheiße! Ich werde verrückt!“
„Was doch?“
„Zweite Kontrollfrage: Was war der gemeinsame Schutz der Depots gegen die NATO-Aufklärung?“
„Du meinst wohl die Ortung von Metallgegenständen im Wald durch Satelliten und Flugzeuge der NATO? Die Depots waren alle an Fundamenten von Bahnunterführungen mitten im Wald. Eine scheiß Idee von unseren GenossInnen, denn dort war immer irgend ein Verkehr, entweder Züge oder Autos oder noch schlimmer, diese nächtlichen Radfahrer mit Hund! Nur spät nachts konnten diese Depots geöffnet werden.“
„Die Anzahl stimmt und das mit den Bahnunterführungen stimmt auch. War zwar nicht meine Idee, hat aber gut funktioniert, musst du doch zugeben, oder? Jedenfalls … Du bist einer von uns. Prima! Willkommen im Club.“ Sie blickt erst misstrauisch um sich, hebt dann ihre Waffe und lässt sie schnell in der Handtasche verschwinden. „Tut mir sehr leid, dass ich so grob zu dir war, aber im ersten Moment habe ich wirklich geglaubt, du wärst so ein umgedrehter Kronzeuge, der sich nur wichtig machen will. Ich kann es einfach nicht glauben, diese Dani hat dir tatsächlich alles verraten. Komm, wir gehen irgend wo hin und trinken einen Kaffee zusammen. Du musst mir alles erzählen, ich freue mich so, dass du noch sauber bist.“
„Cornelia, ich muss aber bald zurück zum Bus, ich habe nur noch eine halbe Stunde Zeit.“
„Vergiss den Bus. Du bist jetzt einer von uns. Wir fahren noch heute zurück Richtung Deutschland. Ich will die Depots sehen.“
„Das geht nicht so einfach. Meine Sachen sind noch im Hotel, ich habe die Reise gebucht. Ich kann jetzt nicht einfach so abhauen. Außerdem würde das auffallen, man würde mich vermissen.“
„Mist. Da hast du schon recht. Wie lange geht denn dein Urlaub noch?“
„Nur noch zwei Tage, dann fliege ich wieder heim. Wir könnten uns doch dann treffen, das wäre besser. Außerdem gibt es doch keinen Grund zur Eile, denke ich. Wir treffen uns nächste Woche bei dir in Frankfurt, du wohnst doch noch in Frankfurt, oder?“
„Nein, ich bin in den letzten 15 Jahren dreimal umgezogen und wohne jetzt in München.“
„Praktizierst du noch als Ärztin?“
„Freilich, ich habe im Stadtteil Haidhausen eine kleine Praxis für Allgemeinmedizin, als Hausärztin, verstehst du?“
Wir tauschen die Adressen und Telefonnummern und vereinbaren ein Treffen. „Ich bin ganz sicher da, Cornelia, verlass dich auf mich, ich habe wirklich nicht vor, dich zu linken.“
„Ist schon in Ordnung, du weißt ja, ich lasse jetzt nicht mehr locker. Du hast uns die Depots versprochen. Alles andere wäre Verrat an uns und dann würden wir dich schon irgendwo aufspüren, verlasse dich darauf. Du bist jetzt einer von uns, also scheiß dir nicht in die Hose, wir wollen nur die Depots und dann sehen wir weiter, ob du weiterhin unser Genosse bleibst oder aussteigst. Ich muss das alles erst mit den anderen absprechen, aber ich glaube, sie werden dich hocherfreut wieder aufnehmen, wo du doch so viel Material und Geld mitbringst. Wir können jeden gebrauchen, der sich unserem Kampf anschließt, wirklich! Und mach dir keine Sorgen, wir werden alles mit dir bei Zeiten besprechen, dann kannst du immer noch sagen, okay, ich steige aus, oder okay, ich bin dabei, ja? Vertrauen gegen Vertrauen!“
„Also, mach es gut, Cornelia. Bis nächste Woche.“ Wir stehen auf und umarmen uns wie in alten Zeiten, ein letzter Blick durch die Augen in die Seele des anderen.
„Ach übrigens! Wie hast denn du deine neuen Depots gegen die NATO-Aufklärung abgesichert?“
Ich überlege fast zu lange, jetzt hopp oder topp. Wenn sie nicht mehr ‚sauber‘ ist, habe ich alles verloren. Aber ich vertraue ihr. „Liegen alle an Fundamenten von Wasserwerken im Wald!“
Sie kichert nur, sendet mir einen Handkuss winkend zu und verschwindet im Park.
Ich mache mich auch sofort auf den Weg Richtung des anderen Parkausgangs. Möglichst schnell weit weg von diesem Gespenst aus alten Zeiten, die ist ja nicht mehr ganz dicht. Das hätte ich mir nie träumen lassen, dass ausgerechnet sie noch so voll drauf ist, gerade sie, die nie in Kommandoaktionen und -ebenen direkt eingebunden war, gerade sie als Ärztin, die ja gemäß ihrem Eid eigentlich Leben retten und nicht töten sollte. Bis nächste Woche wird mir, muss mir was einfallen, dringend. Gemäß unserem Leitspruch: „Wenn du es willst, dann tust du es - oder du willst es nicht.“ Und ich will überleben! In Freiheit!
1993 - Depotlose Zeiten
Natürlich hatte ich damals nicht alle Informationen verbrannt und weggespült. Es gab ein unscheinbares Notizbuch mit kryptischen Einträgen, das ich von Zeit zu Zeit ergänzte, wie ein Tagebuch, nur eben eher mit monatlichen Einträgen. So etwas Brisantes konnte ich natürlich nicht in meiner Düsseldorfer Wohnung aufbewahren, weder ins Bücherregal stellen noch an der Unterseite einer Schublade kleben noch im Hohlraum unter der Badewanne hinter diesem unscheinbaren Fliesentürchen verstecken, auch nicht auf dem Speicher oder tief hinten im Kellerverschlag wäre es sicher gewesen. Deswegen musste ich öfters zum Joggen in den nahe gelegenen Wald zu meinem vergrabenen, wasserdichten Munitionskasten, den ich mir gebraucht in einem Military-Laden besorgt hatte. Hier bunkerte ich alle, was für meine zweite Identität notwendig, aber verräterisch war. Papiere, Notizbuch, Waffe und Munition, Fluchtgeld, zwei Handgranaten. Viel hatte ich nicht zu verbergen, die kleine Stahlkiste reichte dafür aber voll aus. Natürlich hatte ich noch allerlei Adressen, Telefonnummern, Namen, aber alles schön ordentlich verschlüsselt.
Mit Sicherheit würde das BKA zum Entschlüsseln heute nicht mehr fünf Jahre wie früher, sondern nur noch fünf Minuten benötigen, vielleicht sogar nur fünf Sekunden, denn es wurde leider bis heute kein absolut sicheres Verschlüsseln entwickelt, alles ist inzwischen mit den modernsten Hochleistungsrechnern entschlüsselbar, so ein kleines Privatdepot kann deshalb tödlich sein, nicht nur für mich, für die ganze Gruppe, falls es doch einmal in die falschen Hände geraten würde. Natürlich wäre es ungeschickt, echte Namen und Adressen zu verwenden, also musste alles irgendwie so umformuliert werden, dass es für mich eine Erinnerungsstütze und für Eingeweihte noch nachvollziehbar war, also zum Beispiel statt den Namen Chris den Namen Alfredo verschlüsseln, statt Frieda gab es die Rima, statt Gitte wurde von der Astrid geschrieben oder statt der Breslauer Straße 35 in Düsseldorf wurde von der Gleiwitzer Straße 53 geschrieben. Somit waren die entschlüsselten Daten für nicht Eingeweihte fast unbrauchbar. Dafür musste ich keine Telefonnummern auswendig lernen, hierfür hatte ich mir im Bücherregal entsprechende Bücher mit Einmerkern auf diversen Seiten präpariert. Im ersten Buch zum Beispiel Seite 89 für 089 als Vorwahl für München, dann im zweiten Buch die Seite 12, im dritten Buch die Seite 345 und im vierten die Seite 67, das ergab dann die Telefonnummer für 089-1234567. Wichtig war, beim Staub wischen die Bücher nicht durcheinander zu bringen. Natürlich wurde nicht von zu Hause telefoniert, aber die Nummer war schnell greifbar und ich konnte sie mir zumindest für eine viertel Stunde bis zur übernächsten Telefonzelle merken.
Inzwischen habe ich aber Staub gewischt, den Staub der Geschichte endgültig weggewischt, ich wollte ja keinen Kontakt mehr, die Einmerker sind weggeworfen, die Nummern sind vermutlich heute eh nicht mehr aktuell, da sich die technische Entwicklung fürs Telefonieren seit 1993 dramatisch verbessert hat. Viele haben die Telefongesellschaft gewechselt oder haben nur noch Handynummern. Viele sind inzwischen auch umgezogen, freiwillig oder zwangsweise und sind deshalb auch nicht mehr erreichbar, so oder so. Es wäre vermessen, sich irgendwo noch alte Telefonnummern alter GenossInnen aufzubewahren, die ich eh nicht kontaktieren möchte.
Wer einmal erlebt hat, wie das BKA eine konspirative Wohnung durchsucht hat, kann verstehen, dass jegliches Verstecken sinnlos sein muss. Erst kommt die Spurensicherung im weißen Astronautenschutzanzug, nimmt Fingerabdrücke, saugt DNS-Material aus den unappetitlichsten Stellen, kratzt Dreck aus den tiefsten Fugen, fängt Fliegen, Spinnen und Silberfischchen für den DNS-Abgleich.
Dann kommen die Analytiker, die alles fotografieren, in die Hand nehmen, bewerten, Bücher durchblättern nach den unscheinbarsten Notizen, Kleidung durchwühlen, Wäscheschrank ausräumen, vieles abtransportieren für weitere Untersuchungen, im Prinzip eine neue, behördliche Ordnung in die eigene, revolutionäre Unordnung hinein entwickeln.
Dann kommen die Handwerker. Die lassen im Prinzip nur noch den Rohbau stehen, da wird alles zerlegt. Jedes Möbelteil, ob Stuhl, Schrank oder Bett wird fein säuberlich zerlegt, Teppiche, Fliesen, Putz, Lampen, Vorhangstangen, Fensterbretter werden entfernt, sogar der Parkettboden wird akribisch auseinander genommen. Fußleisten werden herausgerissen, Heizkörper zersägt, Bäder komplett zurück gebaut, Steckdosen und Lichtschalter abmontiert. Alles wird systematisch nach möglichen Verstecken abgesucht. In der Regel schwören sich danach die Vermieter, nie wieder eine Wohnung an die RAF zu vermieten, denn sie bleiben in der Regel auf dem Schaden sitzen. Die komplette Sanierung und Reinigung kann das Mehrfache einer Jahresmiete betragen.