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Dieses Buch ist nicht für Chinafreunde, verklärte Schöngeister tibetischer Folklore, Tantra-Workshop-Hopper oder buddhistische Sektenforscher gedacht, sondern für begünstigte, reife Personen, die mit Toleranz und Mitgefühl, aber ohne Fanatismus und ohne Dogmatismus spielerisch die tibetisch-buddhistischen Tradition erfahren möchten und hierfür möglichst wenig Zeit aufwenden wollen. Die hier konstituierte Dorje Tshomo Chime Tradition ist eine nicht-klösterliche Linie der tibetisch-buddhistischen Nyingma Tradition, die aber auch Bestandteile der Bön Tradition enthält und das Vajrayana praktiziert, die geheime tantrische Lehre innerhalb des tibetischen Buddhismus. Der buddhistische Weg des Vajrayana ist zwar als schnell zielführend bekannt, aber auch als sehr gefährlich eingestuft. Ähnlich ist auch dieses Buch strukturiert, mit wenigen Kapiteln wird kurzweilig, aber umfassend das wesentliche Wissensumfeld schnell aufgebaut, um dann die gefährlichen Kapitel besser und intensiver zu verstehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Leserin oder ein Leser sich hingezogen fühlt und das Vajrayana erfolgreich praktiziert und dabei erleuchtet wird, beträgt vielleicht nur Eins zu einer Million. Dennoch schadet es nicht, wenn Laien oder Buddhismus praktizierende Menschen auch von diesem Weg Kenntnis erlangen, denn er wird ihnen meist verschwiegen, eben weil er sehr mystisch und gefährlich ist. Lassen Sie sich durch die Manifestation der Meisterin Tulku Dawa Lhamo inspirieren und tauchen Sie ein in das absolut fremdartige tantrische Bewusstsein und in das noch tiefere Geheimnis des Vajrayana, in das zauberhafte Karmamudrā. Das Wort Tibet wird für Sie künftig eine andere Bedeutung und Wertigkeit haben. Aber glauben Sie hier nichts, was Sie lesen, sondern prüfen Sie besser alles selber nach, denn nur so entsteht Selbsterfahrung, sagte uns bereits Buddha Shakyamuni.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2016
www.tredition.de
pour mon tulpa rosiel
René Antoine Fayette
Die Dorje Tshomo Chime Tradition
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© 2016 René Antoine Fayette
Umschlag, Illustration: René Antoine Fayette
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
Paperback
978-3-7345-1283-4
Hardcover
978-3-7345-1284-1
e-Book
978-3-7345-1285-8
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Inhaltsverzeichnis
Inthronisation in Bhutan
Bön-Tradition
Das historische Vorfeld
Meister Padmasambhava
Meister Lochen Vairochana
Meisterin Dorje Tshomo Chime
Der Vajra
Tulku Dawa Lhamo
Die Lehren der Dorje Tshomo Chime Tradition
Ngagmo und Ngagpa
Rituale in der tibetischen Tradition
Unterweisungen
Zugang zum tantrische Bewusstsein
Karmamudrā oder Sex
Nachwort
Inthronisation in Bhutan
Das Drachenbaby im Land des Donnerdrachens ist endlich da! Dem am Freitag, den 5. Februar 2016 im Lingkana-Palast in der Hauptstadt Thimphu geborenen kleinen Kronprinzen wird alles Glück der Welt gewünscht. An dieser Stelle darf ganz besonders Seiner Majestät König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck und Königin Jetsun Pema für die weltoffene und tolerante Gesinnung und Intention gedankt werden. Das junge bhutanische Königspaar hat es sich zum Ziel gesetzt, ihr kleines Königreich und ihre rund 800.000 Bewohner sorgsam und schonend in die Neuzeit zu führen.
Das Land ist am Fuße des Himalaya eingekeilt zwischen Indien und Tibet und etwa so groß wie die Schweiz. Fast 80 Prozent des Landes liegen in über 2000 Metern Höhe. Der höchste Berg in Bhutan, der Gangkhar Puensum mit 7570 Metern Höhe durfte noch nie von einem Menschen bestiegen werden.
In Bhutan ist das Bruttosozialglück wichtiger als das Bruttosozialprodukt, gemeint ist damit eine Balance zwischen Materialismus und Spiritualität. Bhutan ist ein nikotinfreies Land, wird ökologisch nachhaltig bewirtschaftet, fördert einen sanften, betreuten Tourismus, hat ein Viertel des Landes unter Naturschutz gestellt und unternimmt als konstitutionelle Monarchie erste Schritte in die Demokratie. Die Staatsreligion ist das buddhistische Vajrayana1, also die geheimen tantrischen Lehren.
Aber was sind das für geheime tantrische Lehren? Was ist dieses buddhistische Vajrayana? Diese Fragen stellte sich vor vielen Jahren eine junge Französin auch, als sie wissbegierig in die Welt hinaus zog, von Ahnungen erfüllt und beharrlich sich selbst suchend. Dann fand sie endlich in Bhutan ihre Bestimmung als Lama und sie entdeckte Unglaubliches und Unbekanntes. Als Lama Sangmo Yangchen tauchte sie schließlich in das tantrische Bewusstsein ein. Das kann man aber nicht in wenigen Worten beschreiben, denn es setzt einige Kenntnisse voraus, die hier nun kurzgefasst in mehreren Kapiteln dargelegt werden, damit die letzten Kapitel nicht zu sehr irritieren und besser verstanden werden können.
Das Jahr 2002 hatte für Lama Sangmo Yangchen mit einem sehr positiven Ereignis begonnen. Sie wurde in Bhutan zur Tulku2 inthronisiert. Dort wurde sie von der Linienhalterin der Dorje Tshomo Chime Tradition, Arya Chödrön Rinpoche, als Tulku dieser Linie wiedererkannt.
Sie erhielt bei ihrer Inthronisation, wie das in der buddhistischen Tradition üblich ist, von Arya Chödrön Rinpoche auch einen neuen Namen. Lama Sangmo Yangchen hatte die Welt somit verlassen und setzte ihre Aktivitäten nun als Tulku Dawa Lhamo, der vierten Reinkarnation von Dorje Tshomo Chime fort.
Einer Prophezeiung folgend hatte Arya Chödrön Rinpoche sie auch als ihre Nachfolgerin und somit als Linienhalterin der Dorje Tshomo Chime Tradition eingesetzt. In Zukunft hat sie die Aufgabe, diese Tradition mit all ihren Aspekten vor dem Niedergang zu schützen und sie weiter zu verbreiten.
Die feierliche Zeremonie der Inthronisation wurde in Bhutan auf Video festgehalten und konnte erstmals im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung anlässlich eines buddhistischen Vollmondfestes in Frankreich gezeigt werden. Tulku Dawa Lhamo hatte anschließend von ihrem Aufenthalt in Bhutan erzählt und einige Einblicke in diese vergessene Tradition gegeben.
Die Dorje Tshomo Chime Tradition ist eine Nyingma-Tradition3, die ihren Ursprung in Kham4 hat und von der anscheinend nur wenige Menschen in Bhutan wussten, dass es sie überhaupt gibt. Manche dachten auch, dass sie so gut wie verloren gegangen sei. Das ist aber nicht ganz korrekt, denn sie ist nur fast unsichtbar gewesen. Durch einige Zufälle und besondere Bedingungen war es einigen Frauen in Bhutan wohl möglich gewesen, das Alte so weiterleben zu lassen, dass diese Tradition sich bis in die heutige Zeit herüber retten konnte. Aber nur wenige konnten mangels ausreichender Anzahl von Meisterinnen und Meistern bislang diese spezielle Tradition erlernen und praktizieren.
Die nutzbaren Quellen sind einerseits allgemein zugängliches Wissen, andererseits aber auch mündliche Übertragungen, seltene Text-Fragmente aus alten Klöstern sowie handschriftliche Aufzeichnungen von Tulku Dawa Lhamo.
Nur weniges ist schriftlich so aufbereitet, dass es überhaupt lesbar und verstanden werden kann. Es fehlen teilweise die für wissenschaftliche Untersuchungen belegbaren Zeugnisse, Funde und Indizien, sei es inhaltlich, sei es geografisch oder chronologisch. Zuordnungen sind vielfach mangels Datum, Unterschrift oder Namen schwer möglich. Vieles aus den Klöstern in Bhutan ist für Außenstehende auch kaum einsehbar, da die Traditionen, Gebräuche und Sitten so manches verbieten.
Bei der Transkription von Namen der tibetischen Sprache kann man sich oft nur am praktischen Gebrauch orientieren und versucht dann korrekt zu transkribieren. Jedoch sind viele Orts- oder Personennamen nur mündlich weitergegeben worden oder in einem alten Tibetisch oder in Dzongkha aufgeschrieben worden. Manchmal entsteht deshalb der Eindruck, dass die Namen nicht ganz korrekt sind. Auch muss berücksichtigt werden, dass außer der bhutanischen Hauptsprache Dzongkha es keine weitere geschriebene Sprache in Bhutan gibt, obgleich insgesamt 13 Sprachen in diesem kleinen Königreich vorhanden sind. Das heißt, dass die Begriffe und Orte teilweise aus der aufgeschriebenen Umsetzung der bhutanischen Dialekte entstanden sind. Diese kleinen Abweichungen oder Ungenauigkeiten sind aber relativ bedeutungslos für ein erstes allgemeines Kennenlernen der Dorje Tshomo Chime Tradition.
Um das Verständnis für tibetische Lehrtraditionen zu erleichtern, wird einführend die Bön-Tradition sowie ein wichtiger Abschnitt der tibetischen Historie skizziert. Parallel dazu wird die Lebensgeschichte Padmasambhavas als Wurzel aller vier tibetisch-buddhistischen Traditionen kurz skizziert und ebenso die Lebensgeschichte Vairochanas, da es ohne diesen Meister vermutlich niemals eine Dorje Tshomo Chime Tradition gegeben hätte. Ein weiterer Aspekt liegt in einer kurzen Darstellung der jeweiligen Lebensgeschichte der Meisterin Dorje Tshomo Chime sowie ihrer vierten Reinkarnation Tulku Dawa Lhamo, soweit das im Augenblick aus den schriftlichen und mündlichen Quellen möglich ist. Zudem wird neben den historischen Elementen auch der gegenwärtige Zustand dieser Tradition dargelegt. Auch wird kurz der Praxisweg dieser Tradition in der heutigen Zeit dargestellt.
Die Mitmenschen, die tolerant, respektvoll und in friedlicher Absicht sich der Dorje Tshomo Chime Tradition annähern wollen, sind willkommen. Denn jeder Mensch hat das Recht, sich frei zu informieren und sich zu entscheiden, ob er an etwas glaubt und an was er glaubt. Im Buddhismus wird aber an nichts „geglaubt“, sondern nur „gewusst“ oder besser „erfahren“. Diese Form der Religion funktioniert nur durch Aktivität, also durch Selbsterfahrung. Buddha Shakyamuni hat nur seine Erfahrungen gelehrt und allen gesagt, prüft es selber nach, denn ihr könnt es. Dazu ist jeder Mensch eingeladen und viele sind ihm bisher auch gefolgt.
Diejenigen, die sich aus beruflichen Gründen annähern wollen, sei es aus Gründen der Forschung oder aus medizinisch-therapeutischen Gründen, möchten aber die besonderen Bedingungen im gesamten Himalaya-Gebiet berücksichtigen. Eine behutsame und respektvolle Kontaktaufnahme mit den Menschen dort, die noch diese uralte Tradition praktizieren, bringt für alle Beteiligten nur Vorteile und ist für die derzeitig schwierige Situation der Dorje Tshomo Chime Tradition sicherlich eher fördernd. Niemand möchte Sensationsmeldungen, Medienrummel und die damit verbundenen Belästigungen im Alltag. Das gilt insbesondere für das kleine Land Bhutan im Süden des Himalaya.
1 Dorje Thegpa (tib. rdo.rje.theg.pa), das Mantrafahrzeug, Tantrafahrzeug, Diamantfahrzeug
2 Buddhistischer Meisterin, als Wiedergeburt einer früheren Meisterin identifiziert
3 Eine von vier buddhistischen Traditionen in Tibet
4 Eine osttibetische Region
Bön-Tradition
Alle Religionen haben sich im Laufe der Zeit aufgesplittet, so auch in Tibet. Es gibt vier Traditionen des Tibetischen Buddhismus: die Nyingma-, die Kagyü-, die Sakya- und die Gelug-Tradition. Der Dalai Lama hatte 1977 die Bön-Tradition als die fünfte Tradition Tibets öffentlich anerkannt.
Nicht alle Buddhisten sind mit dieser Sichtweise einverstanden, denn unter den buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern Tibets und auch der restlichen Welt gibt es immer noch sehr seltsame Vorstellungen von Bön. Für viele ist die Bön-Tradition keine buddhistische Lehre, obwohl Bön viel aus dem Tibetischen Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte übernommen hat und vielleicht sogar die Vorform aus der ersten Buddhistianisierung des groß-tibetischen Raums gewesen sein könnte, denn Bön ist erheblich älter als der Tibetische Buddhismus.
Manche fürchten sich vor Bön-Praktiken und Bön-Ritualen, denn für sie ist Bön eine Zauberei-Religion, welche die menschlichen Sinne überlisten würde, den menschlichen Verstand überfordert würde und metaphysisch die bekannte Physik außer Kraft setzen könne. Das Studium der Bön-Tradition kann manche Intellektuelle psychisch verstören, manche Forscher landeten deshalb bereits im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert in Pflegeanstalten. Andere vermengten noch rechtzeitig ihr Wissen mit nahöstlichem Sektenwissen, mit altägyptischen Weisheiten und tibetischen Reiseerfahrungen Dritter und konnten so vor dem gierigen Publikum als Phantasten oder Psychos durch die literarische Welt des begonnenen 20. Jahrhunderts geistern, bestes Beispiel hierzu ist der Engländer Aleister Crowley. Auch Einheimische haben sehr großen Respekt vor Bön, das gilt interessanterweise sogar für die neu eingewanderten kommunistischen Chinesen, die Tibet überfallen und das Land zuerst sozialistisch, dann technologisch und schließlich turbokapitalistisch versucht haben, in die Neuzeit zu hieven.
Auch heute noch ist Tibet für die chinesischen Politkommissare genauso wie früher für die chinesischen Mandarine oder die mongolischen Khans ein Territorium, dass man lieber von außen beherrscht und in dem man sich dort besser nie persönlich blicken lässt. Die Unfallstatistik ist beeindruckend, wie schnell unliebsame Besucher Tibets steile Abhänge hinab stürzen, von Lawinen verschlungen werden oder durch Steinschlag verunglücken. Viele Dramen wollen aber nichts mit der Bön-Tradition zu tun haben, sondern sind einfach nur Zufälle, die in dieser unwirtlichen Gegend besonders häufig auftreten wollen, denn die dünne Luft auf den riesigen tibetischen Hochtälern in rund 5.000 Metern Höhe kann den Geist verwirren, Fehlentscheidungen und Fehltritte schnell herbei führen oder das Herz und die Lunge überfordern. Auch die Klosteranlagen in Tibet sind riesig, unübersichtlich, verwinkelt, uralt und sehr baufällig, hier können Menschen sich verirren, verunglücken und unauffindbar werden. Die chinesischen Parteifunktionäre meiden deshalb möglichst dieses Territorium, sie wissen, sie brauchen das Uran aus den tibetischen Bergwerken für ihre chinesische Atomstreitmacht und ihre Atomkraftwerke, aber sie wollen dort nur ungern leben und arbeiten, denn die kommunistische Besatzungsmacht konnte im Gegensatz zum Tibetischen Buddhismus gegen den Bön-Zauber noch keinen Gegenzauber erfinden.
Unter Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung Tibets ist festzuhalten, dass seit der Missionierung Tibets durch den indischen Meister Padmasambhava im achten Jahrhundert die Bön-Tradition massiv als die alte Konkurrenz-Religion bekämpft wurde. Diese alte Religion wurde zwar verdrängt und ist heute im Westen inzwischen so gut wie kaum bekannt, hat sich im Laufe der Jahrhunderte aber auch weiterentwickelt und sich dem Tibetischen Buddhismus sehr angenähert. Wie auch anderswo in der Welt werden von neuen Religionen über alte Religionen viele negative Aspekte in der Öffentlichkeit verbreitet, denn der Konkurrenzkampf und die Verdrängung ist immer begleitet von Verteuflungen, von Fehlinformationen und negativem Image. Bön ist in Tibet und den buddhistischen Nachbarländern deshalb auch heute noch mit einem negativen Image behaftet, wissenschaftlich kaum erforscht und noch weniger von westlichen Menschen studiert und praktiziert. Insofern kommt die Entscheidung des Dalai Lama einer religionswissenschaftlichen Sensation gleich, die ihresgleichen in der Geschichte sucht, vergleichbar wie wenn der katholische Papst die neopaganistische Hexen-Religion Wicca5 als Zweig des Christentums anerkennen würde. Auch hier müssen wie bei „Bön“ einige Leserinnen und Leser sicherlich erst einmal „googlen“, was „Wicca“ denn eigentlich ist.
Das Wort Bön bedeutet so viel wie „Wahrheit“, „Wirklichkeit“ oder „Wahre Lehre“. Gründer diese Tradition war Buddha Shenrab Miwoche (tibetisch=tib. gsen.rab.mi.bo.), der angeblich vor vielen tausenden Jahren gelebt habe, manche schreiben von 18.000, andere von 30.000 Jahren. Aber hier ist es wie mit vielen anderen Traditionen Asiens auch so, dass es keine wissenschaftlichen Zeugnisse, Beweise oder Indizien gibt. Um einer Religion in Asien Respekt zu verschaffen, muss deshalb immer überliefert sein, dass sie sehr, sehr alt sei. So natürlich auch hier. In der Bön-Tradition gibt es auch andere widersprüchliche Angaben, dass beispielsweise Shenrab Miwoche erheblich später irgendwann zwischen dem 11. bis 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt habe. Auch das wäre allerdings noch vor Buddha Shakyamuni gewesen, der erst im 5. oder 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt hat. Sogar bei Buddha Shakyamuni sind Zeitangaben relativ, denn auch hier bemüht sich seit Jahrzehnten die westliche Forschung, fundierte wissenschaftliche Fakten zu rekonstruieren.
Buddha Shenrab Miwoche lebte angeblich in Olmo Lung Ring, ein spiritueller Ort vergleichbar mit dem Berg Kailasch, dem Berg Meru oder der Stadt Shambhala. Der Ort liegt im Land „Tagzig“, manchmal auch „Tazig“ geschrieben. Dieses Wort existiert interessanterweise auch sowohl im Persischen als auch im Arabischen. In der Bön-Traditition wird beschrieben, dass Tagzig westlich des Königreichs Shangshung (tib. zhang.zhung.) lag. Das westtibetische Königreich Shangshung existierte bis 634 und lag in der Gegend um den Berg Kailasch, die Hauptstadt war Kyunglung. Das Land Tagzig liegt also irgendwo im indoeuropäischen Siedlungsbereich der heutigen Länder Pakistan, Afghanistan oder Iran. Es kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass Bön auch Reste einer indoeuropäischen Ur-Religion enthält.
Da es nach alten Quellentexten nachweisbar bis zum 8. Jahrhundert noch keinen Religionsstifter in der Bön Tradition gab, kann davon ausgegangen werden, dass durch die Konfrontation mit Padmasambhava und dem Buddhismus eine alte tibetische Legende umgeformt und neu interpretiert wurde. Im Bön wurde so eine dem Buddha Shakyamuni gleichwertige biographische Legende erfunden, um künftig im theologischen Wettstreit mithalten zu können. Das zeigt sich auch schon im Namen des Bön-Buddhas, denn der Name „Shenrab Miwoche“ enthält keinen Eigennamen, sondern bedeutet übersetzt „vorzüglichster der sGen-Priester“.
Der Buddhismus kam schon sehr früh im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung aus Indien über Afghanistan nach Persien und drang von dort über die Seidenstraße weiter nach Zentralasien vor. Der Buddhismus umging damals das Gebirgsmassiv des Himalaya quasi links herum und kam so bis China, Korea und Japan. Das war lange vor der im 8. Jahrhundert direkt aus Indien eingebrachten Tradition und der Missionierung in Tibet durch den indischen Meister Padmasambhava.
Es gibt auch Vermutungen, dass das Königreich Khotan an der Seidenstraße Ausgangspunkt der Bön-Tradition gewesen sei. Zumindest lassen sich damit einige schamanistische Inhalte dieser Tradition erklären, die auch ein wenig an den Schamanismus Sibiriens erinnern. Auch entsprang das tibetische Schriftsystem aus dem khotanesischen Alphabet, was aber durchaus auch andere Gründe haben kann.
Die Entstehung des Universums im Bön erinnert grundsätzlich an den Buddhismus mit den Abhidharma-Belehrungen über den Berg Meru, enthält aber auch alt-persische Elemente wie den Dualismus zwischen Licht und Dunkelheit. Auch die verschiedenen Götternamen und Gestalten im Tibetischen und im Alt-persischen sind sich sehr ähnlich.
Im Bön wird ausgiebig über den Zwischenzustand nach dem Tod (Bardo) und das Leben nach dem Tod berichtet. Im indischen Buddhismus wird der Bardo-Zustand aber nur erwähnt, aber nicht tiefer dargelegt, wohingegen die vier Traditionen des Tibetischen Buddhismus anscheinend dies auch sehr ausgiebig von der Bön-Tradition übernommen haben. Auch hier zeigen sich die gegenseitigen Beeinflussungen beider Grundrichtungen seit dem 8. Jahrhundert. Bön passte sich dem Tibetischen Buddhismus an und dieser wiederum musste Teile aus der Bön-Tradition übernehmen, um von der einfachen Landbevölkerung auch überhaupt akzeptiert zu werden. Ähnliches spielte sich auch damals zur selben Zeit im Frankenreich ab, als die heidnischen Gebräuche, Plätze und Feiertage schleichend Zug um Zug christianisiert werden mussten.
Vereinfacht kann angenommen werden, dass die tibetische Bön-Tradition eine sehr alte Mischung aus sibirischem Schamanismus, aus persischem Zoroastrismus, aus indischem Ur-Buddhismus, aus Tantrismus der dravidischen Urbevölkerung Indiens sowie aus „neubuddhistischen“ Einflüssen der anderen vier tibetischen Traditionen sein könnte. Der Mischungsanteil ist hierbei aber nicht gleich verteilt, sondern schwankt erheblich. Bön ist aber auch nicht gleich Bön! Es gibt verschiedene Richtungen. Generell werden verschiedene Formen der Bön-Traditionen überliefert, die sich im Laufe der Zeit in Tibet entwickelt haben.
Der Alte Bön (tib. brdol.bon.) wird auch als Schwarzer Bön bezeichnet, manche sprechen auch gerne vom primitiven, archaischen oder schamanistischen Bön. Als vorherrschende Religion einer Zeit vor Einführung der Schrift wird diese Tradition auch als Bön der Gottheiten bezeichnet. Es gibt ein Pantheon von Göttern, Geistern und Dämonen, die bei den magischen Ritualen (Trance-Erlebnissen, Wahrsagungen, Opferungen, Wetterzauber und Dämonenvertreibungen) in Erscheinung treten. Ein zweiter und sehr wichtiger Aspekt sind die umfangreichen und sehr komplexen Begräbnisriten, die zudem von keiner Wiedergeburt ausgehen. Wissenschaftlich gibt es erhebliche Zweifel, ob diese Tradition überhaupt Bön ist, diese Tradition wird deshalb auch als die „namenlose Religion“ bezeichnet. Sie existiert aber immer noch im tibetischen Großraum.
Der Yungdrung Bön (tib. gyung.drung.bon.) wird auch als „Ewiger Bön“ oder „Swastika Bön“ bezeichnet und geht auf den Buddha Shenrab Miwoche zurück. Die Lehren dieser Tradition umfassen etwa 200 Werke, die sich auch mit Kosmologie, Metaphysik, Heilkunde und Philosophie beschäftigen. Die Gottheiten des Alten Bön wurden als Meditations-Gottheiten in die Lehren integriert oder als Beschützer der Lehren mit eingebunden. Die Lehren des Yungdrung Bön teilen sich auf in die so genannten „Neun Wege“, „Vier Pforten und eine Schatzkammer“ und in die „Äußeren, Inneren und Geheimen Unterweisungen“ (Sutra, Tantra und Dzogchen6). Dies hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Nyingma Tradition des Tibetischen Buddhismus. Es gibt auch Hinweise, dass Dzogchen, die Lehren über „Die Große Vollkommenheit“, bereits vor Einführung der buddhistischen Lehren schon im westtibetischen Königreich Shangshung existierten.
Die Phase des reformierten Bön (tib. sgyur.bon.) begann im 11. Jahrhundert und zeichnet sich durch eine Systematisierung in einer zur Befreiung führenden Lehre aus, die offenbar eine Unzahl buddhistischer Elemente in sich aufnahm. Möglicherweise ein etwas anderer Begriff für Yungdrung Bön.
Die neue Bön-Tradition (tib. bon.gsar.) begann viel später sich von Kham aus zu verbreiten und zeichnet sich durch die direkte und als solche gelehrte Verbindung von Elementen der buddhistischen und Bön-Lehren aus. Korrespondierende Lehren sowohl der Bön- als auch der Nyingma-Tradition werden dort als ein stufenweiser Weg gelehrt. Hier wird Padmasambhava genauso wie in der Nyingma-Tradition als Zweiter Buddha verehrt. Diese Tradition wird aber gleichermaßen von vielen Bönpos als auch von vielen Buddhisten als nicht authentisch bezeichnet.
Letztendlich gibt es noch die Richtung des Bön-Chö oder Bön-Nyingma Ob diese Form der Verbindung buddhistischer Praktiken, die an vielen Orten im Himalaya zusammen praktiziert werden, irgendeiner Systematik im obigen Sinne folgen, ist bisher nicht ersichtlich. Häufig und lokal anzutreffen sind Lamas, die sowohl irgendeiner buddhistischen Tradition (bisher sind die Verbindungen sowohl von Kagyü- als auch von Nyingma-Praktiken bekannt) angehören und die entsprechenden Praktiken ausführen und gleichzeitig Schamanen sind. Sie verwenden Rituale für Verstorbene aus dem Kanon der Bön-Überlieferungen. Bisher sieht diese Vorgehensweise, wenn man sie im Lichte der bekannten, überlieferten Systeme der Bön und buddhistischen Traditionen anschaut, wie eine unsystematische Verbindung lokaler Praktiken und Überlieferungen aus. Generell bezieht sich der Begriff Bön-Chö auf die Verbindung von Praktiken der Bön-Traditionen und der Nyingma-Tradition. Manchmal wird auch Bön-Nyingma als Synonym für Bön Sar, die neue Bön-Tradition verwendet. Diese Form von Bön-Chö Praxis ist auch in Nepal sehr verbreitet; weitaus mehr, als man eventuell angesichts der massiven monastischen Dominanz erwarten würde. Diese Form wurde lange überliefert, bevor die Tibeter von den kommunistischen Chinesen „befreit“ wurden. Somit handelt es sich dabei nicht um eine bloße Exil-Manifestation, ganz im Gegensatz zu den monastischen Konzentrationen der buddhistischen Traditionen heute im Kathmandu-Tal. Auch sind diese Formen - typisch für Nepal - über einige Jahrhunderte hinweg ohne Probleme sogar parallel praktiziert worden, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Gruppierungen mit teilweise vollkommen unterschiedlichen Praxisformen und Traditionen.
Abschließend kann festgehalten werden, Bön ist vielschichtig, wandlungsfähig, hochkomplex und wirklich alt. Für religionsgeschichtliche Forschungen ist hier noch ausreichendes Material vorhanden, das trotz der derzeit abgeschotteten Situation in Tibet noch viele Generationen beschäftigen kann. Und vor den Bön-Praktiken und -Ritualen müssen sich nur diejenigen fürchten, die nicht an Zauberei glauben, denn es könnte ihr Weltgefüge im Kopf beschädigen.
5 Glaubensrichtung des Neuheidentums, eine Mysterienreligion der Hexen
6 „Die Große Vollkommenheit“, auch Atiyoga, Mahasandhi oder Maha Ati genannt, bezeichnet Lehren, die traditionell in der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus und im tibetischen Bön als Essenz der Lehren Buddhas übertragen werden.
Das historische Vorfeld
Streng genommen kann die Wissenschaft noch nicht erklären, woher die Tibeter ursprünglich kamen und mit welchen Völkern sie verwandt gewesen seien, das hatte wohl durch die Zeitläufe verloren gehen wollen. Auch die ersten 26 tibetischen Könige sind wissenschaftlich nicht belegbar und möchten noch unhistorisch bleiben. Sogar der Ursprung der vermutlich aus dem Süden stammenden Yarlung-Dynastie, die zunächst Zentraltibet und dann den Rest des tibetischen Hochplateaus eroberte, wird sich nicht zu erkennen geben wollen.