Suwałki Gap - René Antoine Fayette - E-Book

Suwałki Gap E-Book

René Antoine Fayette

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Beschreibung

Eine Zielfahnderin des Bundeskriminalamtes aus Wiesbaden recherchiert in München einen Mord an einem Polizisten, der vor fünf Jahren bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde. An diesem Fall hatten sich bereits die Zielfahnder des Bayerischen Landeskriminalamtes zwei Jahre lang vergeblich die Zähne ausgebissen. Akribisch und verbissen nimmt sich Elena dieser Zielperson an, die damals in der Heinrich-Wieland-Straße wegen überhöhter Geschwindigkeit geblitzt wurde und dann beim Abkassieren den ahnungslosen Polizisten erschoss. Seit fünf Jahren ist diese Zielperson auf der Flucht, spurlos verschwunden und irgendwie nicht so ganz richtig echt. Durch ihre Beharrlichkeit und Intuition nähert sich Elena mehr und mehr dem geheimen Aufenthaltsort der Zielperson an und verursacht dabei ahnungslos eine Katastrophe, die beinahe zum Dritten Weltkrieg geführt hätte, wenn nicht diese Zielperson zufällig für sich selbst Entscheidungen getroffen hätte, die nun einen russischen Traum in einen Albtraum, in ein Desaster verwandelt. Die asymmetrische Kriegsführung der Russen grenzt immer an Wahnsinn und deshalb versagt sie diesmal auch kläglich. Ich hasse Grenzverletzungen, nicht nur am Gartenzaun oder am Waldrand, sondern auch in Europa, egal ob in der Ukraine, auf der Krim, in Georgien oder in Moldawien. Wie im wirklichen Leben entgleiten mir dann schriftstellerisch die Handlungen manchmal. Plötzlich sind Grenzverletzungen möglich, die vorher undenkbar gewesen wären. Es sind Grenzverletzungen des Verstandes und Überschreitungen der Norm. Hier im Roman passiert eben auch nur eine von vielen Quadrilliarden Möglichkeiten, die passieren könnte, wenn an vielen Stellen gleichzeitig mehrere Wahnsinnige zum Zuge kämen. Mittels Zufall, Chaos und Dreistigkeit in der Handlung stolpert die Leserin und der Leser durch eine Welt, die mehr und mehr aus den Fugen geraten ist. Wie halt im echten Leben auch!

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Seitenzahl: 543

Veröffentlichungsjahr: 2017

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für meine geliebte Gabi

René Antoine Fayette

Suwałki Gap

© 2017 René Antoine Fayette

Umschlag, Illustration: René Antoine Fayette

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7439-4977-5 (Paperback)

978-3-7439-4978-2 (Hardcover)

978-3-7439-4979-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Als diese schwarz gekleidete Frau hinten rechts in das Taxi eingestiegen war und das Fahrtziel angegeben hatte, drehte sich der Taxifahrer mit erstaunter Miene um, dabei sah er diese lästige schwarze Reisetasche auf ihrem Nebensitz liegen und es regte ihn innerlich furchtbar auf. Da blickte er in ihre traurigen Augen und sagte sichtlich ergriffen: „Mei aufrichtigstes Beileid, gnädige Frau. Is sicha a furchtbar schlimma Trauerfoi?“

„Entschuldigung, aber ich habe sie nicht verstanden“, entgegnete diese Frau spontan und setzte gleich nach: „Jetzt fahren sie doch schon mal los in die Ettstraße. Es eilt! Ich muss noch vor fünf Uhr im Polizeipräsidium sein. Schaffen sie das?“

„Jawoi, gnä´ Frau!“, raunzte der Taxifahrer missmutig und startete den Dieselmotor. Anscheinend doch keine Witwe oder anderweitig entfernte Verwandte, die wegen eines Mordfalls nach München fliegen musste. Aber so schnell wollte er nicht klein beigeben. Außerdem könnte die Fahrt vom Flughafen bis in die Innenstadt Münchens fast eine Stunde dauern, denn am späten Nachmittag war immer viel Verkehr, da hätte er sich doch schon ein bisschen mit dem Fahrgast unterhalten wollen. Zumindest versuchte er mit seinen Fahrgästen immer ins Gespräch zu kommen, denn dann war das Trinkgeld üppiger. Er hatte eine neue Theorie. „San sie von da Polizei?“, fragte er deshalb zaghaft.

„Achten sie auf den Verkehr und lassen sie mich in Ruhe meine Dateien lesen. Außerdem sollten sie sich verdammt noch mal anschnallen. Das ist Pflicht!“, wies ihn diese Frau mürrisch zurecht und vertiefte sich wieder in ihr oranges Tablet. Im Gegensatz zu Hessen sollte es hier wunderlich sein, hatten ihre Kollegen gestichelt, als sie in Wiesbaden den Auftrag für München erhielt. Aber so einen verschrobenen Taxifahrer hatte sie noch nie kennengelernt, nicht einmal in Berlin, denn dort waren manche Taxifahrer auch recht wunderlich.

Dieses miese Aprilwetter, die neuen drückenden Schuhe, die er versuchte einzulaufen, seine verschlagene Chefin, die sieben Taxis besaß und nie mit dem Umsatz zufrieden war, das war heute nicht sein Tag, dachte dieser Taxifahrer melancholisch. Und nun war endlich einmal ein wenig Ablenkung ins Taxi gestiegen und wollte zur Polizei. Nicht zur Flughafenpolizei, sondern ganz hoch hinaus, ins Münchner Polizeipräsidium. Mit ihm. Jetzt um diese Zeit. Bei diesem Verkehrschaos in der Innenstadt. Muss das sein? Aber dies war kein normaler Fahrgast, der mit ein bisschen Geplauder in Stimmung kam. Das wird sicherlich eine anstrengende Tour, dachte er sich.

Aksu Cüneyt gab es auf. Wenn diese Frau wirklich von der Polizei war, dann würde es gar keine Trinkgeld geben, denn die sind immer klamm bei Kasse. Müssen ja alles mit den Steuergeldern abrechnen. Und Frauen waren nach seinen Erfahrungen zudem eh sehr sparsam mit Trinkgeld. Aber das mit dem Anschnallen hatte ihn total verwirrt. Bislang hatte er sich immer korrekt angeschnallt. Das war ein einmaliges Versehen gewesen! Weil sie so barsch und ruppig auf Eile gedrängt hatte, war er ganz aus seinem Rhythmus gekommen und hatte seit siebzehn Jahren das erste Mal das Anschnallen des Sicherheitsgurtes vergessen, aber das hätte er doch sicherlich spätestens bei der Fahrt auf der Autobahn gemerkt und nachgeholt, wenn diese giftige, unfreundliche Frau auf dem Rücksitz ihn nicht so frech zurecht gewiesen hätte. Aber besser eine stille Polizistin im Auto als stundenlanges Warten am Flughafen ohne Verdienst. Das war für heute seine Schlusstour, denn anschließend wollte er heim. Er hatte Hunger, seine Frau bekochte ihn gerne abends, wenn er Tagschicht hatte und mit seinen kleinen Kindern wollte er auch noch wenigstens eine Stunde verbringen, bevor sie ins Bett müssten.

Eine schweigsame Viertelstunde auf der Autobahn verging, der Apriltag wechselte stündlich das Wetterprogramm, es begann zu schneien, aber dann brach wieder die Sonne durch das Wolkengrau und täuschte Frühling vor. Überall links und rechts der Autobahn funkelten die nassen Wassertropfen in den grünen Büschen und Bäumen. Manche Zweige hatten die frische Ladung Schnee noch nicht abgetaut und wirkten, wie wenn vom Sturm verblasene Zeitungsblätter in den Bäumen und Sträuchern hängen geblieben wären. Kerosinbetriebene Aluminiumhüllen schwebten mit leuchtenden Flügellichtern Richtung Landebahn. Die Abstände waren sehr kurz zwischen den Maschinen, wie aufgereiht auf einer kilometerlangen Perlenkette kamen sie herein. Der Flughafen München lag zwar nun hinter Aksu Cüneyts Taxi, aber die Flugzeuge kamen momentan auf ihn zu, denn heute war ein kalter Ostwind. In der Luftfahrt wird immer gegen den Wind gelandet.

Kurz nach Garching, einer Kleinstadt neben der Autobahn mit dem Luxus eines eigenen U-Bahn-Anschlusses, begann dann das übliche hohe Verkehrsaufkommen auf der Autobahn. Die fünf Fahrspuren reichten manchmal nicht aus, dann kam es zu Staus Richtung München, hauptsächlich zur Feriensaison, wenn alles Richtung Italien strömte. Der nachmittägliche Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt, als plötzlich diese seltsame Frau ein neues Kommando gab: „Ach das ist ja interessant! Herr Taxifahrer! Zieländerung! Fahren sie in die Heinrich-Wieland-Allee! Haben sie mich verstanden? Wissen sie wo das ist?“

Der Taxifahrer nickte und brummte: „Des is koa Problem! Nur a kloaner Umweg nach Neuperlach, da nimm i die A99“, und wechselte gerade noch rechtzeitig spontan die Fahrspur nach rechts Richtung Autobahnabzweigung nach Salzburg. Im Rückspiegel sah er einen grauen Sprinter, der vor Schreck beinahe ins Schleudern geraten wäre und wie verrückt mehrmals die Hupe und die Lichthupe betätigte. Den hatte Aksu Cüneyt wohl total übersehen, war wohl im toten Winkel des Rückspiegels gewesen, während er über diese Heinrich-Wieland-Allee nachdachte, die er nicht kannte. Vermutlich meinte diese Frau die Heinrich-Wieland-Straße. Aksu kochte innerlich. Das hätte beinahe schief gehen können. Normalerweise würde er den Blinker setzen und sich sicherheitshalber nach rechts umwenden, um wirklich sicher zu sein. Denn auf den Autobahnen gab es die dümmsten Fahrer, die auf der rechte Spur neben einem unbeobachtet fahren, genauso schnell fahren statt langsamer, je mehr Spuren, desto gefährlicher werden diese Autobahnabschnitte. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Aber heute hatte ihn diese seltsame Frau in Schwarz total durcheinander gebracht. Die hatte am Flughafen einfach die Taxitür aufgerissen, ihre schwarze Reisetasche auf den Rücksitz geworfen, was er überhaupt nicht leiden konnte, wegen der Sauberkeit im Auto, denn für Reisetaschen gab es ja den Kofferraum, der war bei seinem Wagen wirklich üppig. Dann wollte er zuerst aussteigen und diese ominöse Reisetasche, die wirklich rabenschwarz war, in den Kofferraum verfrachten. Aber als er diese Frau da hinten im Taxi hat sitzen gesehen, ebenfalls schwarz eingekleidet, war er wie gelähmt sitzen geblieben. Er hatte dieser ernst dreinschauenden Witwe in ihrer Trauer keine Vorhaltungen wegen so einer blöden Reisetasche machen wollen.

Auf der Umgehungs-Autobahn A99 war dann bei Riem plötzlich der Massenstau wegen eines geplatzten LKW-Vorderreifens eines rumänischen Container-Lasters, der sich durch mindestens fünfzig Meter Leitplanken gefressen hatte. Wegen der herumliegenden Metallteile war momentan nur noch die ganz linke Fahrspur nutzbar. Weit und breit war noch kein Blaulicht zu sehen. Es gab aber auch keine Verletzten, denn der LKW-Fahrer stand seelenruhig neben seinem Lastwagen und telefonierte mit seinem Handy. Fünf Autos standen auf der Mittelspur. Sie waren durch die herumfliegenden Leitplankenteile beschädigt worden. Ihre Insassen telefonierten mit ihren Versicherungen, Familien, Chefs oder Kunden. Nur mühsam im Schritttempo quälten sich die ankommenden Fahrzeuge durch das noch verbliebene Nadelöhr auf der ganz linken Spur. Ein furchtbares gelbes Geblinke, Gehupe und Gedränge. Elena und ihr Taxifahrer brauchten deshalb fast eine halbe Stunde bis zur geplanten Autobahnausfahrt bei Putzbrunn.

Auf der endlos langen Putzbrunner Straße wurde sein Fahrgast dann doch etwas unruhig: „Sagen sie mal, sie fahren aber hier doch einen riesigen Umweg mit verstopfter Autobahn und überbreiten Dorfstraßen. Dieser Berg am Leim ist doch in der Innenstadt, also auch diese Heinrich-Wieland-Allee am Berg am Leim meine ich!“

Zuerst wollte Aksu Cüneyt unbedacht lospoltern und belehrend protestieren, denn diese Begrifflichkeiten waren irgendwie ein bisschen falsch, aber dann begriff er diese Situation. Dieser Fahrgast war nicht aus München, diese Frau kannte weder das Stadtviertel Berg am Laim noch die Heinrich-Wieland-Straße.

„Frau Polizistin, normalerweis´ dauert da Umweg über die A99 nur a paar Minuten im Gegensatz zur Fahrt mitten durch Minga, aba da Wahnsinns-Stau grad war hoid ned pland gwen und a ned im Radio ogsagt. Duad ma ehrli leid.“

Wobei das Radio auch gar nicht eingeschaltet war. Er hasste diese Labersender, die nur alten Pop für die Frührentner spielten und minutenlang sinnloses Geschwätz quasselten, nur damit die Luft schepperte. Klassische Musik mochte er auch nicht, da würde jede banale Taxifahrt zu einem musikalischen Drama, zum hochgeistig verklärten Hausnummernsuchen in stockfinsterer Nacht bei Regen. So eine Musik regte ihn nur auf und die meisten Fahrgäste wollten das auch nicht hören. Nachrichtensender waren eh tabu, das hatte er einmal einige Tage ausprobiert, kam aber jedes mal abends zutiefst depressiv nach Hause. Es gab ja weltweit ständig nur schlimme Ereignisse. Da musste er nahöstliche Straßenbombenanschläge auf sein Taxi verarbeiten, Erdbeben erschütterten die Lenkung, Tsunamis aus unbekannten Regionen schwappten durch den Innenraum, Politikergeschwafel ermüdete den Fahrer, Waldbrände, Erdrutsche, Zugunglücke, Flugzeugabstürze lauerten hinter jeder Abbiegung. Das alles wollte er eigentlich gar nicht wissen, denn es betraf ihn und seine Familie eh nicht und machte ihn auch nur benommen. Zu viele Informationen machen nur krank, besonders wenn sie unbedeutend sind für das eigene Leben. Wie der berühmte Sack Reis in China, der eines Tages umfiel und keiner wollte es eigentlich wissen, aber alle Nachrichtenagenturen verbreiteten dieses aufregende Ereignis stundenlang durch sämtliche Kanäle, bis auch der oder die Letzte Bescheid wusste. Oder diese aufregenden Meldungen über Superreiche oder Schöngemachte, die in irgend einem wahnsinnig wichtigem Quiz oder Interview so intime Details über ihr Privatleben verraten hatten, dass fast alle Superarmen und Blöd-gefressenen ihre Sklavenarbeit einstellten und aufgeregt mit ihren sündteuren Handys kommunizierten. Genau deshalb war sein Taxi ein stiller meditativer Ort. Eher eine fahrbare Gruft. Nur wenn der Fahrgast es ausdrücklich wünschte, schaltete er widerwillig das Radio ein.

Elena Scarpion musterte inzwischen ihren Taxifahrer etwas misstrauisch. Ein schwarzhaariger Typ mit angenehmen südländischem Flair, Dreitagebart, schon leicht faltigem Gesicht, irgendwas zwischen 40 und 45 Jahren alt, könnte aus Ex-Jugoslawien, Griechenland oder der Türkei stammen. Finger unberingt. Keine Armbanduhr. Kein goldenes Halskettchen. Dann ein kurzer Blick aufs Armaturenbrett und zum Rückspiegel. Aber da lag oder hing nichts, kein Heiligenbild, keine Kettchen mit Kreuz, kein Medaillon oder Glücksbringer, kein Frauenoder Kinderbild klebte neben dem Warnblinkerschalter. Das Fahrzeug war so sauber und leer, wie wenn es gerade vom Autoverleih abgeholt worden wäre.

„Ach, sie können nur bayerisch? Wissen sie, ich verstehe sie nur etwa zur Hälfte. Sind sie doch Bayer, oder?“ Elena grauste es vor diesem südlichen Dialekt, das war hier noch schlimmer als an der Nordsee. Dort hatte sie einmal vier Monate ermitteln müssen, wegen einer Wasserleiche mit Schlittschuhen. Der Ostfriese hatte noch vergeblich versucht, die aufgefundene Person wiederzubeleben. Aber erst der herbeigerufene Notarzt hatte dann die Aktion gestoppt, mit dem Hinweis auf die vorherrschende warme Frühlingswitterung im April und die Eislauf-Schlittschuhe. Unter diesen Umständen waren Wiederbelebungsversuche eigentlich kaum noch zielführend. Anschließend musste der Notarzt den Ostfriesen wegen Herzstillstand mit dem Defibrillator wiederbeleben.

„Ja scho, aber meine Eltern sann aus Ostanatolien kemma!“

Elena musste erst überlegen, was er mit Osta-Natolien meinte, denn sie verstand so gut wie kein Wort Bayerisch.

„Ostana-Tolien? In welchem Bundesland liegt denn das?“

„Nix Bundesland. Is Türkei.“

„Ach Ost-Anatolien! Aha, jetzt verstehe ich, sie sind also so ein Deutsch-Türke hier im tiefsten Bayern. Also so ein Django Asül, mit Führerschein und Taxi-Lizenz und so. Aber sagen sie mal, wann sind wir denn endlich in dieser Heinrich-Wieland-Allee?“

„Straße! Also Heinrich-Wieland-Straße meinen sie wohl. Dauert nur noch fünf Minuten. Ich fahre extra schnell, wenn sie es wünschen, Frau Polizistin!“ Aksu zog es nun lieber vor, mit dieser Frau nur noch in Hochdeutsch zu reden, der Vergleich mit einem Kabarettisten wie Django Asül und der Begriff Deutsch-Türke gefiel ihm überhaupt nicht. Denn Aksu's Eltern waren Kurden. Er selbst hatte aber seit seiner Heirat mit einer Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen und fühlte sich eher als kurdischer Deutscher oder deutscher Kurde, je nach Situation.

„Halten sie sich an die Verkehrsvorschriften! Ich zahle nicht ihre Strafzettel, das sage ich ihnen gleich! Hier eilt nichts! Die sind längst tot, die Toten!“, schnaubte es von hinten.

Aksu Cüneyt schwieg spontan, denn Tote sind immer negativ für die Stimmung, gerade wegen dem Trinkgeld und so. Deswegen war die Frau da hinten schwarz angezogen. Musste zur Beerdigung nach München. Vermutlich ein Mord oder so, denn wenn da jemand schwarz gekleidet nach München will und zuerst gleich ins Polizeipräsidium und dann woanders hin, da musste ja was vorgefallen sein. Die endlos lange Putzbrunner Straße wollte einfach nicht aufhören. Aksu hasste diese Straße, die hatte er schon mehrfach fahren müssen. Da wurden immer seine Fahrgäste unruhig und fragten oft, wann denn endlich München erreicht sei. Auf dem Programm des Apriltages stand nun eine kleine Regeneinlage, mit zwei Blitzen und fernem Donnergrollen. Aber weit in der Ferne Richtung Stadtviertel Neuperlach war schon wieder blauer Himmel zu sehen.

„Die fünf Minuten sind längst um! Na endlich, da vorne sind schon mal Hochhäuser“, stichelte es wieder von hinten. Sie erreichten endlich das Multikulti-Stadtviertel im Südosten von München. Die Häuser wurden immer höher und breiter, die Sicht aber wurde zusehends schlechter, ein Graupelschauer zwang Aksu, wieder einmal die Scheibenwischer einzuschalten.

Er schwieg weiterhin sicherheitshalber, hoffte, dass er vom Hagel verschont blieb, denn das hätte mindestens eine Woche Verdienstausfall wegen Autowerkstatt bedeutet, bei seiner Chefin, die ihn sowieso gnadenlos betrug bei den Abrechnungen, das hatte er inzwischen herausgefunden. Letztes Jahr hatte sie ihn sogar um fünf Urlaubstage beschissen, da war er sich ziemlich sicher. Er fuhr nun am Perlacher Einkaufs-Paradies vorbei, ein Beton-Paradies zum Shoppen, aber relativ kinderfeindlich. Zusammen mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern war er mindestens drei Stunden dort einmal unterwegs gewesen, um Kinderspielzeug zu kaufen, was aber misslang, denn es gab dort kein Fachgeschäft für Kinderspielzeug. Unglaublich für ihn, und das ausgerechnet im kinderreichen Neuperlach. Aksu überquerte die Ständlerstraße und Quiddestraße und bog dann an der nächsten Ampel links in diese Heinrich-Wieland-Straße ab. Endlich da, dachte er, nur noch die richtige Hausnummer finden, die aber noch nicht genannt worden war.

Zaghaft wollte er wieder einen Gesprächsfaden aufnehmen: „Meine Eltern sind zwar aus der Türkei, aber eigentlich Kurden! Sie verstehen?“ Aber jetzt blieb die Witwe hinten im Auto zu seiner Überraschung einmal stumm.

Er wechselte das Gesprächsthema: „Wir sind da. Zu welcher Hausnummer?“, fragte er vorsichtig und blickte verstohlen in den Rückspiegel.

„Gar kein Hausnummer, fahren sie einfach mal weiter.“ Elena blickte unschlüssig aus den Seitenfenstern. Aksu sah auf die Uhr, wenn das so weiter ging, dann wird das wohl noch dauern. Dann blickte er auf den Taxameter, na ja, wenigstens eine etwas einträgliche Fahrt, dachte er sich.

„Da muss doch irgendwo ein Hallenbad sein, oder?“

Aksu Cüneyt verlor beinahe die Fassung. Da flog eine Witwe nach München, um Schwimmen zu gehen, in einem Hallenbad. Diese Frau musste steinreich sein, war vielleicht gar keine Polizistin oder Witwe, sondern die Frau eines russischen Oligarchen.

„Sind sie aus Russland?“, fragte er mutig. Die Gedanken an ein üppiges Trinkgeld ließen ihn unvorsichtig, fast unhöflich werden.

Da kam es zornig von hinten: „Woran merken sie das? Hat sie vielleicht der Dr. Lachner auf mich angesetzt?“

Aksu Cüneyt zuckte zusammen: „Entschuldigen sie, das war nicht so gemeint. Ich war ganz in Gedanken, weil sie mit dem Flugzeug zum Schwimmen sind. So was habe ich nicht jeden Tag in meinem Taxi. Ich meine so eine vornehme reiche Frau, das kann sich ja nicht jede Frau leisten.“

Elena war immer misstrauisch, wenn sie jemand wegen ihrer russischen Vergangenheit ansprach oder sie zumindest daran erinnerte. Aber das war alles schon so lange her, damals während der Gorbatschow-Ära und Glasnost, als sie 1992 Leningrad und ihren Vater, einen alkoholkranken, frühpensionierten Lokführer, ohne ein Abschiedswort sitzen gelassen hatte in dieser maroden, heruntergekommenen, schimmeligen Plattenbauwohnung im dreizehnten Obergeschoss mit kaputtem Aufzug und braunem Wasser aus der Leitung. Seit Mutters Tod hatte ihr deren Liebe und deren Schutz gefehlt. Vater war nach dem gewaltsamen Tod von Mutter zum Säufer geworden, hatte sich oft mit ihrem jüngeren Bruder geprügelt. Aber sie lernte schnell, diese Gesellschaft mit Korruption und Verrat und Unmenschlichkeit zu hassen und deshalb wollte sie weg. Weg von Leningrad, das die Regierung wieder zu St. Petersburg umgetauft hatte, weil es vornehmer und europäischer klang. Sie, diese Oligarchen, diese KGB-Männer, die sich in der Not des Staatszerfalls die gesamte Wirtschaft und Industrie unter den Nagel gerissen hatten, damit es nicht zu einem Ausverkauf an die Weltkonzerne kam, die wiederum ja schon in den Startlöchern gestanden hatten, um diese marode, herunter gewirtschaftete Weltmacht auszuplündern, so wie sie es mit der DDR innerhalb weniger Jahre gemacht hatten. Elena bekam immer einen Panikschub, wenn sie jemand an Russland erinnerte. So auch hier mit diesem kurdischen Taxifahrer, der vielleicht zur PKK tendierte, noch für Moskau arbeitete und für eine sinnlose kommunistische Revolution im Taxi unterwegs war, weil er den Umsturz, die Umstürze verschlafen, also geistig nicht realisiert hatte.

Damals nach dem Frühstück war Mutter mit einem Lächeln noch auf Elena zugegangen, hatte sie auf die Stirn geküsst und ihr einen guten Tag in der Universität gewünscht. Das hatte Mutter sonst nie gemacht, das mit dem Kuss. Aber an diesem Tag plötzlich schon, obwohl Mutter es doch gar nicht wissen oder ahnen konnte, dass sie nachmittags bei einem ganz normalen Routineeinsatz im Hafenviertel erschossen würde. Der Tag hatte so sommerlich warm und mit blauem Himmel angefangen, es war ein sehr schöner Tag gewesen. Aber als Elena abends nach Hause kam, brach dann die Welt zusammen. Stundenlang heulend hatte sie sich in ihr Zimmer verkrochen, nichts war mehr wie vorher. Ihre Kindheit, ihre Jugend war somit beendet gewesen. Das wirkliche Leben war bei ihr angekommen. Die Erkenntnis, dass das Leben nur ein Schlachthaus ist, in dem die Besseren, Schnelleren, Mächtigeren gewinnen. Durch Glasnost hatte der Schmuggel mit den skandinavischen Ländern enorm zugenommen und Mutter hatte als Zollbeamtin mehr und mehr zu tun gehabt und die Russenmafia wurde auch immer dreister und gewalttätiger, denn es ging ja um viele Rubel. Für Elena brach dann die Katastrophe aus. Mutter tot. Ihr eigenes Leben war tot. Depressiv wollte sie sich aus dem dreizehnten Stock stürzen, aber der defekte Fenstergriff klemmte wieder einmal und sie musste dann doch Schwarz gekleidet mit auf die Beerdigung gehen.

Mit großer Mühe schaffte sie noch ihr Studium, denn sie war bereits im siebten Semester gewesen und studierte Deutsch. Weil sie schon als Kind diese Deutschen bewunderte, die einfach alles besser konnten, auch wenn sie den großen vaterländischen Krieg verloren hatten. Die haben sich zumindest in Westdeutschland wieder aufgerappelt und sind wieder was geworden. Die im Osten aber nicht, das hatte sie bei einer Studienexkursion nach Ostberlin damals schnell erkannt. Die Leute waren dort auch nicht besser situiert gewesen als in Leningrad.

Wehmütig dachte sie an ihre ursprünglichen Lebenspläne. Damals hatte sie in ihrer jugendlichen Naivität gehofft, wenn sie gut Deutsch studieren würde, dann käme der KGB und würde sie als Spionin nach Westdeutschland schicken. Da kam aber dann nach Abschluss des Studiums niemand, denn die Zeiten hatten sich massiv verändert. In der Not wurde sie dann ein Au-Pair-Mädchen im Westen. Ihre Rettung. Aber das ist eine andere lange Geschichte, die sie bislang niemanden erzählen konnte oder wollte. Denn dafür war sie zu einsam, trotz ihres kleinen Appartements mitten im Trubel der Altstadt von Wiesbaden.

„Da! Da war ja das Hallenbad. Wenden sie da vorne bei der Ampel und fahren sie zurück.“ Elena Scarpion blickte erneut in ihr Tablet. Ja, die Akten sprachen von der Stelle vor der Parkplatzeinfahrt zum Hallenbad. Geblitzt wurde von der Polizei immer kurz nach der St.-Michael-Straße stadtauswärts nach der Aral-Tankstelle und dann wurden die Betroffenen auf der Höhe der Parkplatzeinfahrt zum Hallenbad von den Polizisten mit der roten Kelle aus dem Verkehr gewunken und abkassiert. So war das auch damals im Herbst gewesen. Als Polizeioberwachtmeister Jochen Jünschke aber dann zum herausgewunkenen Auto ging, war das Seitenfenster bereits herunter gelassen und zwei tödliche Schüsse ins Gesicht strecken ihn nieder. Die Mörderin flüchtete mit ihrem Fahrzeug sofort stadtauswärts. Die anderen Polizisten waren zuerst minutenlang geschockt, setzten zwar dann mit einem Streifenwagen nach, starteten auch sofort eine Alarmfahndung, holten per Funk noch mindestens zehn andere Fahrzeuge und zwei Polizeihubschrauber zur Alarmfahndung hinzu, aber das Fahrzeug blieb sehr, sehr lange verschwunden und diese Frau verschwand seitdem sogar spurlos.

„Parken sie da! Ja, da! Da! Mein Gott, da ist doch noch genügend Platz für ihr riesiges Taxi. Ich muss mal kurz aussteigen.“ Aksu Cüneyt gehorchte atemlos, parkte und stieg widerwillig auch aus, sicherheitshalber. Denn er wollte ihre Reisetasche herausnehmen. Aber diese Frau ging einfach mit diesem Handcomputer spazieren. Momentan war im Aprilprogramm auch gerade Trockenphase, obwohl die Münchner Gehwegplatten noch nass schimmerten. Eigentlich war er froh, sich mal ein bisschen die Füße vertreten zu können. Inzwischen war er doch etwas neugieriger geworden, denn diese Oligarchenfrau faszinierte ihn mehr und mehr. Stinkreich und kommt zum Schwimmen. Flog einfach von Moskau nach München, zum Schwimmen. Einfach so. War sie vielleicht die Schwester vom russischen Präsidenten? Hatte der überhaupt Geschwister?

Elena stand am Straßenrand, in der einen Hand ihr Tablet, in der anderen ein Zigarette, ihre siebte heute. Seit zwei Monaten versuchte sie von der täglichen Schachtel Zigaretten herunter zu kommen, reduzierte den Verbrauch, war inzwischen schon bei acht Stück pro Tag angekommen. Diese Form der Raucherentwöhnung hatte sie in einem Fachbuch gelesen und glaubte fest daran, dies auch umsetzen zu können.

Diese Mörderin fuhr damals 2011 einen Mini Cooper Diesel. Ein relativ kleines Auto. Sie konnte also eigentlich nicht viel transportieren, zum Beispiel nur ein paar Kisten oder Taschen oder Koffer oder eine Leiche. Es musste damals einen verdammt wichtigen Grund gegeben haben, dass diese Frau in ihrer Not zur Waffe griff und einen Polizisten tötete, der von ihr eigentlich nur einen geringen Geldbetrag kassiert hätte wegen 63 km/h statt der erlaubten 50 km/h. Immerhin aber war sie professionell der Fahndung entkommen. Das Lichtbild der Radarfalle zeigte eindeutig Eva Stawowska am Steuer ihres Autos. Elena hatte sich das Photo extrem vergrößern lassen. Aber es war einfach nichts Genaues zu erkennen gewesen, die Rücksitze waren zwar heruntergeklappt und irgend etwas sackähnliches lag hinten im Auto, mehr war auf dem Photo aber nicht zu erkennen gewesen.

Der Taxifahrer Aksu Cüneyt konnte sich jetzt endlich seinen Fahrgast genau ansehen. Eine Frau Mitte Vierzig, rotblonde Pferdeschwanzhaare, schwarze Lederjacke, darunter eine schwarze Bluse, schwarze Jeans, schwarze Joggingschuhe, ringlose Finger. Eigentlich trug diese Frau überhaupt keinen Schmuck, weder Ohrringe noch Halskette. Doch, jetzt konnte er ein paar silbrige Kettenglieder zwischen Hals und Bluse entdecken. An der linken Schulter hing eine außergewöhnliche Handtasche aus bunten Stoffen und hellbraunem Leder mit einem ungewöhnlichen Label in graublau. KOMANGA. Aksu Cüneyt hatte bisher nur wenige Frauen mit solchen KOMANGA-Handtaschen befördert. Meistens aus der sündteuren Maximilianstraße zurück in ein sündteures Hotel. Solche Handtaschen besaßen in der Regel nur die Ehefrauen von Milliardären, Oligarchen und Diktatoren. Diese Handtaschen wurden nirgends verkauft, angeblich wurden sie nur privat auf Anforderung gefertigt, aber niemand im Internet wusste, von wem und wo. Gebraucht waren solche Handtaschen bei Ebay ab 18.000 Euro erhältlich, aber nur gelegentlich. Für ihn und seine Frau eine unerreichbare Summe. Vielleicht hatte diese Frau dort eine ersteigert. Oder war sie selbst diese Handtaschenfabrikantin? In der Hand hielt sie ein Tablet und wischte ständig mit ihren nagellackfreien Fingern auf dem Bildschirm herum und suchte wohl etwas in diesem Handcomputer. Dabei drehte sie sich mal in die eine Richtung, dann wieder in eine andere Richtung und deutete mit ihrer rechten Handfläche unverständliche Signale für Unsichtbare an.

Es war schon spät, Aksu wollte endlich abkassieren und heim zu seinen kleinen Kindern, die seine Frau spätestens um acht Uhr ins Bett bringen würde, egal ob der Vater da war oder nicht. Aksu war es sehr wichtig, wenigstens eine kurze Zeit mit den kleinen Kindern täglich zu verbringen. „Entschuldigen sie, Frau Oligarchin! Aber wollen sie ihr Reisegepäck jetzt haben, wegen dem Schwimmen und Umziehen und so? Und auch ihre Rechnung?“

Ganz in Gedanken versunken reagierte Elena Scarpion aber etwas derb: „Verdammt noch mal! Merken sie denn nicht, dass sie mich hier stören, wenn ich mit den Toten rede.“ Sie konnte sich das hier überhaupt nicht vorstellen. Da schoss diese Eva Stawowska ohne Vorwarnung und gab Vollgas. Und die Kollegen kamen einfach nicht mehr hinterher. Verloren die Spur oder hatten einfach keine Spur. Das musste damals so schnell gegangen sein, die Verfolger konnten an der übernächsten Kreuzung anscheinend schon nicht mehr erkennen, ob der flüchtende Wagen geradeaus, links oder rechts gefahren war. Diese Eva Stawowska hatte anscheinend bereits nach dem Blitzen zur Waffe gegriffen und als sie herausgewunken wurde, bereits das Fenster geöffnet und mit schussbereiter Waffe angehalten. Das war keine Affekthandlung, sondern ein zielgerichteter, geplanter Mord gewesen. Auch die Schüsse ins Gesicht des Polizisten verrieten einiges, denn nur Schüsse direkt ins Gehirn verhindern jegliche Gegenreaktion des Gegners. Die Mörderin wollte also verhindern, dass der Polizist irgendwie noch reagieren kann. Bei Schüssen in die Brust oder den Bauch können Menschen noch schreien, die Waffe ziehen und zurückschießen und schlimmstenfalls überleben, um zu berichten, was sie gesehen hatten. Laut den Protokollen der befragten Kollegen hatte es aber zwischen dieser Eva Stawowska und dem Ermordeten keinen Dialog gegeben. Der Wagen hielt an, der Polizist ging zum Fahrerfenster, dann fielen die Schüsse und der Wagen gab Vollgas.

Aksu Cüneyt wurde blass, er ging langsam rückwärts zu seinem Taxi. Diese Frau war weder Witwe oder Polizistin noch russische Oligarchenbraut, sondern anscheinend eine Hexe. Flog zum Schwimmen nach München und sprach mit ihrem kleinen Handcomputer aber vorher angeblich mit den Toten, anscheinend mit den im Schwimmbad Ertrunkenen. Dieses Hallenbad musste wohl früher vielleicht sehr gefährlich gewesen sein. In diesem südöstlichen Stadtviertel war Aksu bislang nur selten gewesen, seine derzeitige Wohnung war im nördlichen Stadtviertel Milbertshofen und aufgewachsen war er im westlichen Stadtviertel Aubing, beide Stadtviertel sind sehr weit von Berg am Laim und Neuperlach weg. Für ihn fast eine andere, fremde Stadt innerhalb der Metropole München mit inzwischen rund 1,5 Millionen Einwohnern.

Viel wusste er aus dem Koran zwar nicht mehr, aber der Prophet hatte sicher schon damals diese Art von Hexerei verboten. Auch für Frauen, da war er sich ziemlich sicher. Er war zwar seit fast zwanzig Jahren in keiner Moschee mehr gewesen, aber wegen dieser Frau sollte er vielleicht doch einmal einen Imam befragen. Diese Hexe könnte ja vielleicht sein Taxi schon verhext haben oder ihn selbst. Da müsste es doch sicher einen Gegenzauber geben.

„Jetzt ins Motel One am Ostbahnhof! Es ist schon spät, das mit der Ettstraße mache ich morgen. Dieser Dr. Lachner kann warten. Oh Mann, sie stehen hier auf dem Radweg wie betrunken! Ist ihnen schlecht? Was haben sie denn?“, rief Elena, weil der Taxifahrer wie benommen oder meditierend Elena anstarrte. „Vorsicht! Da kommen Radfahrer!“, Elena wollte ihn noch warnen. Die Fahrradklingeln musste er wohl überhört haben, denn Aksu Cüneyt konnte sich gerade noch mit einem Sprung auf die Straße vor den drei Radlerinnen retten.

Aksu Cüneyt stieg schlecht gelaunt in sein Taxi. Diese schwarz gekleidete Hexe nahm wieder hinten Platz und fragte: „Ist das weit zu diesem Ostbahnhof?“

„Nur wenige Kilometer, Frau He... lglbrz...“, den Rest konnte er sich gerade noch mit einem künstlichen Hustenanfall verkneifen, sonst hätte ihm der Imam wirklich nicht mehr helfen können.

„Mein Vorname ist nicht Helena, sondern Elena. Jetzt haben sie sich aber verraten. Dieser Dr. Lachner hat sie also doch auf mich angesetzt, geben sie es zu!“, donnerte es von hinten.

„Ich kenne keinen Dr. Lachner, wirklich. Wer soll das denn sein?“, beschwichtigte er kleinlaut und blickte fragend in den Rückspiegel.

„Das geht sie nichts an“, damit würgte sie das Thema vorerst einfach ab.

Schweigend wendete er das Fahrzeug an der nächsten Ampel und nahm Fahrt auf, Richtung Ostbahnhof. Diesmal gab er mehr Gas. Diesen Fahrgast wollte er unbedingt schnell los werden. Er spürte seine Aufregung, sein erhöhtes Herzklopfen und zwei Schweißperlen an den Schläfen.

„Jetzt rasen sie nicht so! Hier gilt 50! Außerdem eilt es mir überhaupt nicht! Wirklich!“, sprach diese Hexe. Dann fingerte sie wieder an ihrem Tablett herum.

„Sprechen sie oft mit den Toten? Also mit so einem Spezial-Computer meine ich. Also der mit den Toten reden kann.“ Aksu Cüneyt wollte Gewissheit haben, vielleicht würde sie ihm auch so einen Computer besorgen oder verkaufen. Ein paar tausend Euro hatte er in den letzten Jahren angespart.

„Waren sie 2011 schon hier in München, also als Taxifahrer oder so?“

„Ja freilich. Also ich fahre seit siebzehn Jahren immer vorsichtig und halte mich an die Verkehrsregeln, wenn´s des meinen.“

„Können sie sich noch an den Polizistenmord Herbst 2011 erinnern? Hier vor dem Schwimmbad. Das war doch sicher auch ein Gesprächsthema unter Taxifahrern?“

Jetzt dämmerte Aksu Cüneyt plötzlich einiges. Der Schock saß verdammt tief. Aksu trat dabei unbewusst und reflexhaft auf die Bremse. Elena flog vollkommen unvorbereitet in den Sicherheitsgurt, der sich natürlich straff spannte. Ihre linke Brustwarze schmerzte höllisch wegen dem Knopf ihrer Jacke, der genau zwischen Gurt und Brust geraten war. Hinter dem Taxi quietschten Autoreifen und dann begann ein atonales Hupkonzert. Aksu musste immer noch heftig atmen, Panik kam auf. Immer aber messerscharf an der Wahrheit bleiben, dass hatte seine Mutter ihm in der Jugend schon so beigebracht gehabt. Diese Privatdetektivin wollte also diesen Mord aufklären, zumindest untersuchen. Nach so vielen Jahren. Er gab zögerlich wieder Gas, vier Autofahrer überholten das Taxi mit wütenden Gesichtern, Gehupe und unanständigen Handgesten.

„Sagen sie mal, was war denn das gerade? Wieso haben sie so eine riskante Vollbremsung hingelegt?“ Elena war noch etwas benommen und irritiert. „Zuerst rasen sie mit fast achtzig durch die Vorstadt und dann bremsen sie hier ohne Grund! Haben sie überhaupt einen Führerschein? Nach ihrer Taxilizenz will ich schon gar nicht mehr fragen.“ Jetzt war Elena aber stinksauer.

„Die...die...der...diese Katze. Also diese schwarze Katze. Kam von rechts gerannt. Über den Gehweg und den Radweg. Zwischen dem geparkten grünen Volvo und dem weißen Toyota. Einfach über die Fahrbahn. Dann zum Grünstreifen ins Gebüsch. Mit einem Eichkätzchen im Maul.“ Dabei gestikulierte er mit seiner rechten Hand wie ein Grieche oder Sizilianer durch die Luft.

Elena hatte sich noch mühselig umgedreht, denn die Brust schmerzte, sie konnte aber keine grünen oder weißen Autos auf dem Parkstreifen sehen, dazu war inzwischen das Taxi schon viel zu weit gefahren. Der Grünstreifen zwischen den Fahrbahnrichtungen war aber tatsächlich sehr breit, mindestens vier Meter, sehr ungewöhnlich. Und auch mit sehr dichtem Gebüsch bewachsen. Dass hier einmal vor Jahrzehnten eine Trambahn nach Neuperlach fuhr, noch vor dem U-Bahn-Bau, konnte aber weder Aksu noch Elena wissen. Außerdem war das ja momentan völlig unwichtig. Mühsam wandte sie sich wieder nach vorne, denn ihre Brust schmerzte höllisch. „Sie bremsen wegen einer Katze? Diese Viecher werden doch täglich zusammengefahren! Sie hätten damit beinahe einen Massenauffahrunfall verursacht. Ist ihnen das klar? Außerdem habe ich gar keine Katze gesehen. Das ging ja alles furchtbar schnell.“

„Aber das Eichkätzchen. Diese schwarze Katze hatte ein Eichkätzchen gefangen! Verstehen sie mich?“ Auch Aksu hatte sich nun kurz umgedreht, um mit seinem Gesichtsausdruck und seinen Augen seinen falschen Beteuerungen mehr Nachdruck zu verleihen.

„Die Ampel! Vorsicht! Rot! Ja spinne ich!“ Elena versuchte meditativ den Puls zu verlangsamen, indem sie langsam ein- und ausatmete. In so kurzer Zeit angehäufte Verkehrsdelikte irritierten sie zusehends. Zum Glück war das keine Kreuzung, sondern nur die Ampel einer Fußgängerquerung gewesen, aber ohne Fußgänger. Das Taxi war aber trotz Rotlicht wie ferngesteuert einfach weiter gefahren.

„Welche Ampel?“ Aksu wandte den Kopf blitzschnell wieder nach vorne, schielte dann unauffällig in die diversen Rückspiegel, konnte aber nur erkennen, dass er die anderen Autos abgehängt hatte, weil sie grundlos stehen geblieben waren.

Elena nahm noch mal einen fragenden Anlauf: „Ach so, sie meinen, weil sie dann gleich zwei Tiere überfahren hätten? Sie haben doch einen in der...an der...ach was! Wozu soll ich mich aufregen? Wegen einer Katze mit Eichkätzchen? Es ist ja schließlich ihr Taxi, was sie zu Schrott fahren, wenn sie mitten im Verkehr voll bremsen oder bei Rot durchfahren.“

„Nein, nein, so nicht, Frau Privatdetektivin...äh...Frau Helena. Das ist wie Sechser im Lotto, sie verstehen? Diese schwarze Katze hat die Beute ihres Lebens gemacht. So was kann ich doch nicht einfach tot fahren. Außerdem kam die von rechts, sie wissen doch...“

Elena verdrehte die Augen und massierte langsam ihre schmerzhafte linke Brust. „So ein Tier hat doch keine Vorfahrt! Also das mit dieser Katze nehme ich ihnen nicht ab. Seit wann können Katzen Eichhörnchen fangen? Die rennen bekanntermaßen erheblich schneller.“

Aksu blickte verstohlen in den Rückspiegel und wunderte sich verunsichert, warum diese Frau sich ihren Busen massierte. Diese Privatdetektivin war anscheinend sehr erregt und wollte sich vielleicht jeden Moment auf ihn stürzen. „Ja gerade deswegen, Lotto mit Sechser für die Katze. Wird berühmt. Gelobt von den anderen Katzen im Revier. Hoch angesehen und geachtet. Und schwarze Katzen von rechts haben irgendwie schon Vorfahrt, wegen...wegen...“, er konnte einfach das richtige Wort 'Aberglauben' nicht finden und wollte stattdessen beinahe immer 'Hexerei' oder 'Zauberei' sagen, wozu es ihm aber momentan gar nicht so behagte, denn diese Hexe massierte immer noch ihrer Busen. Das konnte nur ein schlechtes Vorzeichen sein.

Elena schwieg eine Zeit lang, dann wurde sie wieder fordernder: „Ich glaube, sie haben wegen meiner Frage gebremst. Geben sie es doch zu. Sie haben was mit dem Polizistenmord zu tun. Also! Können sie sich noch an Herbst 2011 erinnern? Dieser Mord vor dem Schwimmbad. Ihre Taxizentrale hört doch immer Polizeifunk mit, oder?“

Aksu musste erst einmal einige Minuten überlegen. Das war doch sicherlich kein Zufall, dass diese Privatdetektivin ausgerechnet sein Taxi am Flughafen ausgewählt hatte. Diese Privatdetektivin hatte irgendwie etwas mit ihm vor. Er war sich aber keiner Schuld bewusst.

„Also, wenn es sie genau interessiert, da war ich schon irgendwie involviert, mit der Frau von dem toten Polizisten. Da kann ich mich schon noch gut erinnern. Die hatte ich damals zum Hallenbad fahren müssen. Die war total genervt, hatte ständig geweint und geschrien im Auto, dann beinahe mein Taxi vollgekotzt. Es war eine scheiß...also es war eine blöde Nacht gewesen. Meine...mei, die arme Frau, ist mitten im Leben plötzlich eine Witwe geworden. Alle Münchner Taxifahrer hatten die ganze Nacht natürlich mit der Polizei mit gesucht, war ja Ehrensache, aber der Mini Cooper ist nicht gleich gefunden worden. Den haben sie erst zwei Wochen später aus dem Isarkanal gefischt.“

Insgeheim war Aksu Cüneyt nun einerseits froh über diese neue Entwicklung. Er musste nun doch nicht zum Imam. Das hier war zwar was ganz Normales, ohne Hexerei, nur eine Morduntersuchung durch eine Privatdetektivin, aber andererseits doch etwas zu intim für sein Privatleben. Das war sogar ihm ein wenig zu aufregend. Was wusste diese Hexe? Er hatte doch immer aufgepasst, wenn er Gisela besucht hatte. Aber wer weiß, was inzwischen die Polizei herausgefunden hatte. „Geh! San sie so was wier a Bond-Frau, so mit geheime Waffen und so Zeig, oder? Machens endlos Kohle mit so eigfangne Gangsta-Mörderinnen, oder? Echt cool! Krasser Job, echt ends krass. Weiber gibt’s, de gibt’s gar ned.“

Elena verstand zwar nicht alles, aber das bisschen genügte ihr, um besser zu schweigen. Als sie endlich am Motel One ankamen, wollte sie bezahlen, aber dieser Deutsch-Kurde weigerte sich beständig, irgend einen Geldbetrag anzunehmen. Wegen der Ehre und so und wegen der Toten. Er brachte ihr das schwarze Gepäckstück sogar noch bis zum Motel-Foyer.

Seinen kleinen Kindern wollte Aksu heute Abend erzählen, dass er eine russische Oligarchenehefrau, die früher vielleicht eine Hexe war und nun für den Geheimdienst als Privatdetektivin arbeiten musste, zu einem geheimen Ort fahren musste, wo sie mit den Toten sprechen konnte. Gisela würde er aber nichts vom Schwimmbad und von der Heinrich-Wieland-Straße und von dieser seltsamen Mordgeschichte erzählen, er wollte alte Seelenwunden nicht wieder aufreißen. Denn seine Frau war die Witwe dieses ermordeten Polizisten.

Damals, während ihr Ehemann Dienst schob, war ihr heimlicher Liebhaber Aksu mit ihr im Wohnzimmer auf der Couch gelegen, als es plötzlich an der Tür klingelte und zwei Polizistinnen seiner Gisela mitteilten, dass ihr Ehemann erschossen worden war, bei einer bescheuerten Verkehrskontrolle, einfach so, wegen nichts. Als nach vielen Tränen und Taschentüchern die Polizistinnen endlich weg waren, konnte Aksu wieder aus seinem Versteck unter dem Küchentisch hinter dem Kühlschrank hervorkriechen und musste seine heimliche Geliebte zum Tatort fahren. Es war damals seine schlimmste Nacht und auch Giselas Albtraumnacht gewesen, denn sie war schwanger, im fünften Monat und wusste nicht mehr so recht, wer eigentlich der Erzeuger sein konnte. Ihr Mann oder doch ihr Liebhaber?

Wenigsten war Aksu so schlau genug, dass er dieser Bond-Frau noch schnell seine Visitenkarte überreichen konnte, falls sie in den nächsten Tagen doch irgendwie ein Taxi brauchen könnte oder wollte. Er würde für sie immer zur Verfügung stehen, wegen der Ehre und so, versprach er vollmundig in blumigen Worten. Und Spezialpreis, megabillig, fast kostenlos, also eigentlich war sie Gast, Fahrgast, kurdische Fahrgastfreundschaft mit Dieseltaxi, gültig für ganz Bayern, also zumindest Oberbayern, verkündete er nochmals gestikulierend.

Elena war davon angenehm überrascht und zutiefst beeindruckt: „Aber ein Trinkgeld nehmen sie doch sicher, als Taxifahrer. Ich meine, das gehört sich so, oder?“ Sie fingerte zwei 50-Euro-Scheine aus ihrer ledernen Geldbörse und hielt sie ihm hin. Aus einem anderen Fall kannte sie bereits diese kurdischen Gepflogenheiten und Gebräuche.

Aksu Cüneyt musste nicht lange zögern, er verstand sofort diese Geste und steckte das Geld dezent in seine Brusttasche: „Gnädige Frau, ich stehe ihnen Tag und Nacht zur Verfügung, wenn sie einen Fahrer brauchen, ehrlich. Schlafen sie gut.“ Dann wandte er sich um und ging erleichtert zurück zu seinem Taxi.

Elena Scarpion blickte ihm lange nach. Sie war sichtlich irritiert. Der Taxifahrer hatte irgendwie doch mit ihrem Fall zu tun. Aber sie verstand es jetzt noch nicht und wollte erst einmal eine Nacht darüber schlafen.

Als sie im Hotelzimmer endlich angekommen war und Dr. Lachner anrufen wollte, um ihn zu informieren, dass sie erst morgen früh ins Polizeipräsidium kommen würde, reagierte ihr Handy abweisend. Ja klar, sie hatte es schlicht und blöderweise wieder einmal vergessen, ihr Handy aus dem Flugmodus zurückzuholen. Das Tablet war ebenfalls noch blockiert.

Nachdem sie beide Geräte wieder in den Normalzustand versetzt hatte, kamen sofort mehrere Meldungen aufs Display ihres Handys. Dieser Dr. Lachner hatte sieben mal versucht, sie telefonisch zu erreichen. Und auf WhatsApp war eine Meldung von ihrem Chef: „Lachner sauer. Er erwartet sie morgen um Neun. Wo treiben sie sich denn wieder herum?“

Kurzerhand schrieb sie zurück: „Unfall auf der Autobahn. Dann Tatort besichtigt. Eine kurdische Katze hat hier ein bayerisches Eichkätzchen gefangen. Sehr mystisch!“

Dann schaltete sie ihr Handy aus und hängte es ans Ladekabel. Sie wusste, mit dieser Meldung konnte sie ihrem Chef die Schlafruhe rauben. Denn Elena hatte bislang eine Erfolgsquote von einhundert Prozent, das war in der Zielfahnder-Branche ungewöhnlich hoch, also eigentlich unmöglich. Sie wusste, hinter ihrem Rücken hatte sie bei den Kolleginnen und Kollegen den Spitznamen „Drachenflüsterin“ bekommen. Sie sei eine Hexe. Sie sei opiumsüchtig. Sie würde mit Parapsychologie die Fälle lösen. Sie hätte den siebten Sinn. Sie sei eine Verrückte mit zufälligen Erfolgen. Sie sei mit der Unterwelt im Bunde und könnte deshalb alle Fälle lösen. All diese Verdächtigungen störten sie aber nie, sie hatte bislang einfach nur Glück gehabt. Für sie galt einfach nur die Polizeidienstvorschrift PDV 384.1: 'Intensive Fahndung nach ausgewählten Straftätern, die besonders gefährlich sind. Den Aufenthaltsort der Zielperson bestimmen und die Festnahme zu ermöglichen.' Anders ausgedrückt: Elena musste immer dann antreten, wenn alle anderen mit ihrem Latein am Ende waren. So war es auch diesmal.

Anfangs hatte sie immer das Gefühl, dass sie nie etwas Neues herausfinden könnte. Oft verbrachte sie monatelang ein frustrierendes Studium von Ermittlungsakten, kam keinen Millimeter weiter, verrannte sich in Nebensächlichkeiten, untersuchte die unbedeutendsten Unwichtigkeiten und war oft auf der falschen Spur. Aber irgendwie und irgendwann hatte sie so Erleuchtungsmomente. Für sie war es überaus wichtig, sich in den Gegner hineinzuversetzen. Sie versuchte, so wie der Gegner zu denken, versuchte die Entscheidungen, das Handeln und das Gespür des Gegners nachzuvollziehen und dann kam manchmal der entscheidende Lichtblitz. Aber bei diesem Fall hatte sie irgendwie das mulmige Gefühl, dass ihr Chef verzweifelt versuchte, ihre Erfolgsserie zu unterbrechen. Denn hier hatten sich bereits zwei Jahre lang die Zielfahnder des bayerischen Landeskriminalamts erfolglos die Zähne ausgebissen. Da war einfach nichts mehr zu holen. Oder vielleicht doch?

2

Dr. Lachner nahm Elena Scarpion im Treppenhaus der Ettstraße in Empfang. Als persönlicher Mitarbeiter des Münchner Polizeipräsidenten war er von ihm beauftragt worden, die Kriminalhauptkommissarin des Bundeskriminalamtes aus Wiesbaden persönlich zu betreuen. Erst letztes Jahr war er für einige Tage zu einer Fortbildung in Wiesbaden auf dem Geisberg, Sitz des Bundeskriminalamtes, gewesen und hatte dabei Herrn Maier, ihren Vorgesetzten, kennengelernt, der derzeit das Referat TB 23 ZF, also die Zielfahndung beim Bundeskriminalamt leitete.

„Guten Morgen, Frau…äh…Scarpion. Darf ich mich vorstellen? Dr. Lachner, persönlicher Mitarbeiter des Herrn Polizeipräsidenten. Ich bin überrascht, mit so einer schönen jungen Dame habe ich noch nicht…gehen wir nach oben ins…die anderen…äh…werden sicherlich wie üblich verspätet eintreffen. Das hat ja gestern nicht mehr geklappt. Gab es…äh…Schwierigkeiten?“ Dieser Mann sah so ganz und gar nicht nach Polizei aus, eher wie so ein aalglatter Rechtsanwalt, Mitte 40, Vollglatze, mit modernstem dunkelblauen Anzug und einer schicken, aber sehr zerknitterten Krawatte, weißem Hemd. Dazu passend teure hellbraune italienische Lederschuhe.

„Ja und nein.“ Elena wusste nicht so recht, was sie lügen sollte. „Zuerst hatte sich der Flug verspätet. Wegen Hagelschlag im Raum Freising musste der Pilot ein paar Warterunden drehen. Dann geriet das Taxi in einen Stau auf der Autobahn. Und leider hatte ich mein Ladekabel vergessen, der Akku war leer und dann war es schon zu spät für den Termin gestern. Tut mir echt leid.“

„Ja, solche Tage kenne ich. Manchmal geht eben wirklich äh…alles daneben. Aber nun haben sie es geschafft, heute so pünktlich…Frau Scarpion, ich nehme an, sie haben sich schon mit dem Personagramm vertraut gemacht, das ich Herrn Maier letzte Woche äh…also das Personagramm dieser Frau Stawowska und eine Kurzfassung des Tathergangs. Sie sehen bezaubernd aus, darf ich sie zu einem Frühstück…“, unschlüssig blickte er auf seine sündteure goldglänzende Protz-Armbanduhr, „in unsere Kantine einladen? Es ist zwar schon fast neun Uhr, aber…äh.“

„Nein, danke. Nicht nötig, ich hatte auf der Fahrt ins Präsidium bereits die Gelegenheit, im Taxi ausgiebig zu frühstücken. Ein Aksu Cüneyt, sagt ihnen der Name irgendetwas?“

„Nein, das sagt mir, äh, momentan nichts, ich kenne nur Sushi oder Döner. Also ich habe noch nie im Taxi…äh gefrühstückt, wenn sie das meinen! Wie soll denn das…äh?“ Dr. Lachner war plötzlich etwas irritiert und versuchte mit der flachen linken Hand seiner zerknitterten Krawatte eine etwas mehr flächige Form zu geben. Seine Frau hätte die Krawatte sicher mal bügeln können, aber Irene hatte ihn schon vor sieben Monaten die Ehe aufgekündigt und das Haus verlassen. Wegen dem lächerlichen Vorfall mit einer jungen Polizeianwärterin in der Umkleidekabine nach dem Polizeisport. Seit diesem Vorfall war er persönlicher Mitarbeiter des Münchner Polizeipräsidenten geworden.

Denn diese junge Nymphomanin hatte sich später als die Nichte eines Polizeidirektors herausgestellt, das war megapeinlich gewesen. Nicht nur für Dr. Lachner. Der besonders aufmerksame Polizeioberwachtmeister Oischinger, der den Vorfall in der Umkleidekabine erst ins dienstinterne Rollen gebracht hatte, wurde zu seinem Geburtsort nach Straubing versetzt und vorsorglich noch zum Polizeihauptwachtmeister befördert. Und diese nymphomane Nichte eines Polizeidirektors hatte die Polizeiausbildung überraschend aufgekündigt und war angeblich jetzt als Mode-Modell in der Berliner Modebranche unterwegs. Irgendwie waren alle dann glücklich und gut versorgt gewesen, nur Irene nicht, die beschäftigte seither ihren Scheidungsanwalt wegen Unterhaltsleistungen und so weiter.

Elena hatte im Motel One kein Frühstück genießen können, denn ihre Dienststelle war bei den Buchungen immer sehr sparsam. Frühstück war eine private Angelegenheit, die sie aus eigener Tasche zahlen musste und könnte und natürlich auch bezahlen würde, wenn sie halt gebucht worden wäre. Aber es war eben nichts gebucht gewesen. Zuerst plante sie ersatzweise, sich was am Ostbahnhof zu besorgen und dann mit der U- oder S-Bahn zum Marienplatz fahren. Aber dann überkam sie ein so sonderbares Gefühl mit diesem Taxifahrer von gestern. Der hatte doch irgendwie mit diesem Fall zu tun und das wollte sie herausfinden. Möglichst unauffällig.

***

Ihr Anruf schon vor dem Duschen morgens um sieben Uhr auf die Handynummer des bayerisch-kurdischen Taxifahrers hatte sich sofort bezahlt gemacht, denn der war dann wie versprochen pünktlich um acht Uhr beim Motel vorgefahren, mit Bord-Frühstück. Mit heißem Milchkaffee im Pappbecher und einem Frühstücksbuffet, das er sich anscheinend irgendwie am Ostbahnhof besorgt haben musste. Knusprige Brezeln und Mohnbrötchen, Butter, Marmelade, Honig, Frischkäse, Wurstaufschnitt und andere Köstlichkeiten. Sogar Teller, Besteck und ein Küchenbrett mit Servietten hatte er im Cooler dabei. Sie hatten dann einfach Nähe Isartor in einer Seitenstraße in einer Hauseinfahrt geparkt und in Ruhe gemeinsam gefrühstückt. Er vorne, sie hinten. Obwohl sie sich erst seit wenigen Stunden kannten. Natürlich wollte er wieder keine Fahrtkosten verlangen, sie wollte ihm für die Fahrt und das Frühstück zwar einen Fünfzig-Euro-Schein geben. Er aber hatte aufgebracht und wortgewaltig den Geldschein mit der Begründung abgelehnt, dass sie heute wirklich sein Gast wäre und kurdische Gastfreundschaft nun mal ohne Bezahlung auskam.

„Frau Scarpion, sie wissen schon, dass dieser Fall eigentlich…äh…also nach rund fünf…äh…es war 2011, denke ich. Oder? Ach übrigens, in welchem Hotel sind sie abgestiegen? Falls sie sich abends äh…langweilen, ich wüsste da…“

Elena blickte verwirrt auf dem Zwischenpodest im Treppenhaus aus dem Fenster auf die hässliche graue Fassade eines Innenhofs. Die andere Wand mit vielen Fenstern war dagegen unten in Grün und ab dem zweiten Stockwerk in Ocker gestrichen, eine seltene Farbkombination. Sie war in Gedanken an dieses ungewöhnliche Frühstück versunken gewesen und kurz stehen geblieben. „Wie bitte?“

Dr. Lachner nahm darauf keine Rücksicht: „Unsere Zielfahnder vom Bayerischen Landeskriminalamt hatten sich zwei Jahre mit dem Fall…äh…da ist einfach nichts mehr herauszuholen, verstehen sie, was ich…äh…also der Polizeipräsident fühlt sich sehr geehrt, wenn in dieser Polizistenmord-Angelegenheit auch das Bundeskriminalamt nochmals ermittelt. Aber wir wissen doch aus eigener Erfahrung, wenn der Fall in zwei Jahren nicht gelöst werden konnte, dann hat das jetzt nach fünf…äh…Jahren…meine bayerischen Kollegen sind sehr professionell und sicherlich doch nicht schlechter als eine Kriminalhauptkommissarin aus…äh…verstehen sie mich nicht falsch! Wir begrüßen es sehr, wenn der Fall vom BKA nochmals…äh…aber wir hatten den Fall im Grunde schon im Keller…ins…äh…LKA-Archiv…äh…wann kommt eigentlich ihr Kollege, Herr Dr. Brunner? Äh, Brummer, Dr. Brummer meine ich. Ist der anderweitig…äh?“

Elena blieb ruhig und entspannt. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie in hoffnungslosen Fahndungsfällen abgeordnet wurde. Noch dazu mit diesem jungen Schnösel Dr. Brummer, der ihr bislang wirklich keine Hilfe gewesen war, denn der war fast ständig krankheitsbedingt abwesend und glänzte nicht mit besonderem Arbeitseifer. Ein junger Vater von winzigen Zwillingstöchtern. Er blieb wohl wegen den Kindern in letzter Zeit oft auch zuhause. So auch diesmal. „Ja, der Herr Kriminalkommissar Dr. Brummer kommt voraussichtlich erst nächste Woche nach, denn er ist momentan sehr erkältet, sehr schlimm, wohl grippal, sollte aus Rücksicht auf die Kolleginnen und Kollegen auch daheim bleiben und sich auskurieren. Aber ich könnte mich ja schon mal in die Aktenlage einarbeiten, wenn sie es mir ermöglichen.“

Dr. Lachner nickte nur zustimmend, öffnete die Tür und geleitete sie mit einer Handbewegung ins Besprechungszimmer.

Auf dem Tisch im Besprechungszimmer lagen zwei Umzugskisten mit zwölf staubigen Aktenordner und daneben eine kleine rote Mappe.

Hinter dem Tisch saß die Kriminaloberkommissarin Katrin Halbritter, Zielfahnderin vom Bayerischen Landeskriminalamt. Mit geschätzten 55 Jahren immer noch Kriminaloberkommissarin statt Kriminalhauptkommissarin, dachte sich Elena, diese Kollegin war in der Karriere wohl irgendwie ausgebremst worden. Halbritter trug ein undefinierbares Kostüm aus grüner Seide, hatte kurzgeschnittenen blonden Pagenschnitt und eine unförmige Modebrille aus lila Horn mit Silbereinlagen. Auch ihre Stimme war Furcht einflößend, tief und rau, fast männlich, ihre Hände ohne Ehering, trug aber eine silbernen Spirale als rechten Ohrring. Die Fingernägel waren passend grün zum Seidenkostüm lackiert. In der Falte zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand waren drei Punkte im Dreieck eintätowiert. Eine lesbische Freimaurerin, dachte sich Elena spontan. Insgesamt aber wirkte diese Halbritter charmant, hatte einen aufmerksamen Blick, war hellwach und dennoch dezent zurückhaltend, aber wohl gerne zum Sprung bereit. Elena entschied sich spontan für ein bisschen Sympathie. Immerhin kannte Elena ja den Chef dieser Halbritter, Herrn Ecker vom Dezernat 52 des LKA aus diversen Fortbildungskursen in Wiesbaden, ein sehr sympathischer Kollege mit enormer Allgemeinbildung und scharfen Analyseblick.

Links von der Halbritter saß der Profiler Dr. Sven Fricker, zumindest in Zielfahnderkreisen gut bekannt, der früher in Bremen und nun seit einem Jahr in Bayern tätig war. Ein hochintelligentes Kerlchen von nur einem Meter und Sechzig, dürr wie eine Kirchenmaus, mit einem listigen, verschlagenen Blick. Jedes mal, wenn sein Blick zu Dr. Lachner wechselte, zogen sich seine Lippenmuskeln nach unten, als ob er eine Abneigung gegen diesen Krawatten-Anzug-Träger hatte. Dr. Fricker saß einfach locker da, mit billigem Aldi- oder Lidl-Hemd, ausgefranster Jeans und abgenutzten Turnschuhen vom Netto oder Tengelmann. Seine Begrüßungshand war dünn, kraftlos, kalt und nass geschwitzt gewesen, außerdem hohlraumgekrümmt statt flach ausgestreckt. Elena kannte diese versteckten Körpersignale von Zurückhaltung, Verlogenheit und Unsicherheit, die bei einem Händeschütteln herüber signalisiert wurden, natürlich unbewusst. Dieser Dr. Fricker war erst dreiunddreißig Jahre alt, hatte es aber faustdick hinter den Ohren. Dachte um zehn Ecken, wenn andere es nur um drei oder vier schafften. Er war bekannt dafür, immer sehr gewagte Thesen aufzustellen, nur dürftig untermauert mit wagen Daten, teilweise sogar nur Vermutungen, kriminalistisch gesehen. Aber er hatte einen sechsten Sinn für Strukturen, die andere einfach nicht sehen konnten oder wollten. Elena entschied sich spontan für Antipathie, aber doch irgendwie nützlich in so einem hoffnungslosen Fall.

Nach den üblichen freundschaftlichen Begrüßungsformalitäten und der Vorstellungsrunde wurden die Umzugskisten samt Aktenordner von Dr. Lachner an Elena übergeben und es wurde ihr von Dr. Lachner und auch von der Halbritter lang und breit die Gründe für die Ausweglosigkeit des Falls erläutert.

Anders aber dieser Profiler Dr. Sven Fricker, der plötzlich sehr viel Wert auf seine schmale rote Mappe legte, in der er akribisch seine Theorie über eine Verwicklung ausländischer Geheimdienste zu beweisen versuchte. Dieser Dr. Lachner und auch diese Halbritter bemühten sich plötzlich sehr wortgewandt, Dr. Sven Fricker unglaubwürdig darzustellen. Warum war aber dieser überhaupt hier dann anwesend? Elena fing dann an, sich in die Welt von diesem Profiler Dr. Sven Fricker hineinzufragen, trotz der vielen Widerstände aller Dreien. Elenas Fragen wurden zunehmend fordernder, sie ignorierte die Ablenkungsversuche der gegnerischen Mannschaft, wollte auf den Punkt kommen. Wieso Geheimdienste? Welche Geheimdienste? Haben sie Kontakte zu Geheimdiensten? Nach etwa einer Viertel Stunde aufgeregter Diskussion und einem kurzen, neugierigen Blick in die rote Mappe stellte sich dann plötzlich heraus, dass dieser Profiler Dr. Sven Fricker nicht nur für die Münchner Polizei, sondern seit zwei Jahren gelegentlich auch für den BND in Pullach arbeitete und anscheinend mehr wusste als seine polizeilichen Kolleginnen und Kollegen.

Anscheinend gab es im abgehörten Agentenfunk- oder Email-Verkehr zwischen dem russischen SWR, der Nachfolger des ehemaligen KGB, und ihren in Deutschland operierenden Agenten wichtige Hinweise aus dem Jahre 2011, welche die verschwundene Eva Stawowska betrafen. Genauere Angaben konnte dieser Dr. Sven Fricker aber nicht liefern oder wollte sie auch einfach nicht liefern. Vorerst, dachte sich Elena.

Elena sah in weiteren Diskussionen keinen Erfolg und wollte möglichst schnell diese komische Runde verlassen. „Kann ich hier im Haus einen Scanner benutzen? Wegen der zwölf, also der dreizehn Akten. Ich möchte meinem kranken Kollegen auch Akteneinsicht gewähren, per Email, sie verstehen.“

Dr. Lachner verstand nicht gleich, hob seine rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und wollte schon den Mund aufmachen, wegen Krankenstand, Datenschutz, NSA und Polizeivorschriften. Aber da kam ihm die Halbritter zuvor: „Kein Problem, im dritten Stock. Ich zeige ihnen gerne den Weg. Kommen sie, wir machen das gemeinsam.“ Dann stand sie einfach auf, das wirkte wie ein Signal.

Beide Frauen verabschiedeten sich Hände winkend von den beiden Männern, die ihre Kolleginnen kaum beachteten und hinter ihnen weiter aufgeregt diskutierten und stritten, nahmen die Aktenkisten in die Hände und gingen. Die Besprechung war ja anscheinend doch irgendwie beendet gewesen, dachte sich Elena. Im Treppenhaus wurde Elena dann von Kriminaloberkommissarin Halbritter im tiefen Flüsterton angesprochen: „Das mit den fremden Geheimdiensten war mir auch neu. Davon habe ich jetzt zum ersten Mal etwas gehört. Dieser Dr. Fricker ist neu hier bei uns. Warum haben sie ihn zur Besprechung eingeladen? Der hat nur eine blühende Fantasie und hat mit seinen verkorksten Theorien sicherlich noch nie was richtig Wertvolles zu Ermittlungen beigetragen! Soweit ich gehört habe, hat er bisher nur bei zwei Fällen ein bisschen zur Lösung beigetragen. Verstehen sie mich? Meine Kollegen und ich stehen wieder einmal blöd da. Dieser Dr. Fricker konstruiert einfach neue Vermutungen, aber er behält die Hintergründe für sich, bis er von ihnen gegen die Wand gedrückt wird. Das haben sie gut gemacht, das mit seinem Eingeständnis, dass er gelegentlich auch für den BND nebenbei arbeitet. Das wussten wir bislang ja selber überhaupt nicht.“

Elena blieb trotz der schweren Aktenordnerkiste stehen: „Moment mal! Also ich habe diesen Kollegen sicherlich nicht zur Besprechung eingeladen. Ich dachte, das hätten sie oder dieser Dr. Lachner veranlasst.“

Kriminaloberkommissarin Halbritter war überrascht: „Also jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ich habe ihn nicht eingeladen und Dr. Lachner garantiert auch nicht, denn die zwei können sich nicht riechen.“ Halbritter machte eine kurze Atempause. „Vielleicht hat der Herr Polizeipräsident persönlich diesen Dr. Fricker hingeschickt?“

„Das werde ich bei Gelegenheit schon noch herausfinden, vielleicht wurde dieser Profiler direkt vom Bundesnachrichtendienst geschickt, um dezent eine Spur zu setzten, die aber so brisant ist, dass der Gegner daraus Rückschlüsse über die Arbeit und die technischen Möglichkeiten des BND ziehen könnte. Normalerweise wird doch die Kommunikation zwischen den SWR-Agenten und ihrer Zentrale verschlüsselt abgewickelt. Eigentlich hat dieser Dr. Fricker vorhin damit indirekt eingestanden, dass der BND diese Kommunikation nicht nur abhören, sondern auch entschlüsseln kann, vielleicht nicht in Stunden oder Tagen, aber vielleicht nach Monaten, je nach Hochleistungscomputeranlage. Und dabei muss anscheinend der Name Eva Stawowska irgendwie erwähnt worden sein. Oder etwas anderes. Vielleicht war sie eine SWR-Agentin gewesen? Egal. Jetzt sollten wir aber erst mal die Akten digitalisieren.“

„Ich glaube, sie sollten nochmals mit Dr. Fricker unter vier Augen sprechen. Vielleicht ist das doch endlich einmal eine Spur, die diese ganze Wahnsinnstat aufklärt. Eiskalt totgeschossen, berechnend! Diese Frau wusste zu genau, dass es nicht bei einer kleinen Geldstrafe geblieben wäre, wenn der Kollege einen Blick ins Wageninnere hätte werfen können. Da muss was darin gewesen sein, was sofort polizeilichen Verdacht erzeugt hätte.“

Elena fragte sofort: „Aber was?“

Halbritter fuhr fort: „Es war einfach nichts mehr im geborgenen Autowrack gewesen. Sie muss dieses Etwas vorher noch aus dem Auto entfernt haben, denn bei dem versenkten Mini Cooper waren nur die Fenster offen, Türen und Heckklappe waren verschlossen gewesen. Wir hatten auch keinerlei Hinweise im total verschlammten Autoinneren gefunden. Keine Spuren von Drogen, Waffen oder Blut. Meine Kollegen und ich haben wirklich alles untersucht. Das Umfeld, den Arbeitsplatz, die Wohnung, die Biographie, alles. Nichts. Leer. Diese Frau war so unscheinbar, so harmlos unverdächtig.“

„Zwar nur eine schlichte Kantinenköchin“, entgegnete Elena, „die aber kaltblütig schoss und professionell der Verfolgung entkam. Gute Ortskenntnis, zielstrebiges Handeln, musste sich zum Verschwinden bereits irgendwie vorbereitet haben, denn so einfach kann man nicht verschwinden. Hatte also vermutlich sehr viel Bargeld, um irgendwo im Schengener Raum abzutauchen.“

„Und das schon seit fünf Jahren!“, betonte Halbritter. „Schauen sie zum Beispiel, wir wissen nicht einmal die Stelle, wo sie den Mini Cooper in den Isarkanal versenkt hatte. Da gibt es unzählige Anfahrtsmöglichkeit. Haben aber keine Spuren an den Böschungen gefunden, keine Erdabschürfungen, Reifenprofilabdrücke, beschädigte Büsche. Einfach nichts. In den zwei Wochen nach der Flucht bis zur Fahrzeugauffindung hatten wir einmal einen schweren Gewitterregen gehabt, der hatte wohl sämtliche Spuren weg gewaschen gehabt. Irgendwo zwischen dem Kraftwerk Eitting und dem Kraftwerk Pfrombach muss es gewesen sein, da muss sie das Auto versenkt haben, denn es blieb dann zwei Wochen später in den Rechen des Pfrombacher Kraftwerks hängen.“

„Das ist doch Richtung Flughafen, oder?“, fragte Elena vorsichtig, denn sie hatte sich bei google-maps diese örtlichen Angaben bereits angesehen.

„Ja, so ungefähr. Die Fluchtrichtung zeigt in etwa zum Flughafen. Aber auch wenn sie einen falschen Pass gehabt hätte, wir hätten sie auf den Kameraaufzeichnungen des Flughafens entdeckt. Wir hatten damals drei Monate lang nur langweilige Kameraaufzeichnungen angesehen. Die haben dort sehr viele Kameras!“

„Das klingt alles gar nicht beruhigend, denke ich. Ein unlösbarer Fall wohl.“ Elena wollte der Kollegin nicht weh tun. Immerhin hatte die sich zwei Jahre mit diesem Fall vergeblich versucht.

Halbritter zuckte die Schultern: „Ja, inzwischen denke ich das ganz sicher. Wenn keine neuen Erkenntnisse hinzu kommen…aber wo gibt es noch Unerforschtes? Vielleicht haben sie ein neue Idee?“

Nach rund zwei Stunden hatten sie gemeinsam alles Akten eingescannt gehabt, die dabei erzeugten PDF-Dateien wurden vom Gerät direkt an Elenas dienstliche Email-Adresse verschickt.

Nachdem sie gemeinsam die Aktenkisten ins provisorische Dienstzimmer gebracht hatten und sich Kollegin Halbritter freundschaftlich verabschiedete, schnappte sich Elena als ersten Lesestoff gleich die dünne rote Mappe und setzte sich auf einen Drehstuhl, der an einem der zwei uralten Schreibtische stand. Der Blick aus den beiden Fenstern war trostlos, ein Dienstzimmer mit Blick in einen tristen anderen Innenhof des Polizeipräsidiums, diesmal waren die Fassaden unten in Ocker und oben in Gelb gestrichen. Alte Fassaden mit alten Dienst-Fenstern, der Himmel oben nur sichtbar, wenn man nahe genug am Fenster stand. Auf den Fensterbrettern waren noch die verkalkten Ringe von ehemaligen Pflanzentöpfen sichtbar. Die Schreibtische waren leere Holz-Ungetüme, vermutlich noch aus dem Dritten Reich, also gut siebzig oder achtzig Jahre alt, die Schubladen leer. In den Regalen standen nur leere Ordner mit schlecht abgeschabten Rückenschildern. Vermutlich war das Zimmer bis vor kurzem als Lagerraum genutzt worden. Die zwei Computer, das hatte ihr Halbritter versprochen, würden morgen Nachmittag von der IT geliefert und installiert werden. Elena konnte aber nirgendwo im Zimmer LAN-Buchsen entdecken.

So wie Elena ihren kränkelnden Dr. Brummer kannte, würde der sich angewidert gleich am nächsten Tag wieder krankschreiben lassen, wegen Stauballergie oder so, sobald er dieses Zimmer betreten würde. Hinterlistig überlegte sie kurz, ob sie ihm nicht vorab über WhatsApp schon ein paar Zimmerfotos schicken sollte, damit er gleich daheim bleiben könnte und sich angeblich zwei weitere Wochen auskurieren müsste. Ihn konnte sie momentan wirklich nicht brauchen, denn er verbreitete immer nervöse Unruhe. Einer, der ständig unterbrach, laberte und laberte, laut denkend Schrott von sich gab. Für das Aktenstudium wäre er nur ein Klotz am Bein gewesen.

Sie zog die Schuhe aus, klappte die Rückenlehne des Drehstuhls bis zum Anschlag nach hinten, legte ihre nackten Füße auf den Schreibtisch, und begann, sich durch diese rote Mappe zu lesen. Es waren nur sechs Seiten, alle mit dem Stempel „Geheim“ versehene Kopien vom BND, obwohl dieses Kürzel so nicht drauf stand. Denn auf den Seiten waren auch fast achtzig Prozent der Wörter und die Überschriften geschwärzt. Sie hielt eines der Blätter gegen das Neonlicht an der Decke. Nichts lesbar, die Schwärzungen waren bereits mit kopiert worden.

D:

30.09.2011 …

Margarine ist verreist…

WR:

01.10.2011 …

dringend Schwan treffen…

D:

03.10.2011 …

Margarine ist verreist, Ziel unbekannt…

WR:

03.10.2011 …

Schwan treffen, eilt…

D:

04.10.2011 …

Schwan fehlte heute…

D:

05.10.2011 …

Schwan fehlte heute wieder…

WR:

08.10.2011 …

prüfen, ob mit Margarine verreist…

D:

11.10.2011 …

Schwan fehlt unauffällig, aber Margarine wird von Bussard in allen Lüften gesucht, Butter steht zur Zeit unter Beobachtung von Presse…

WR:

13.10.2011 …

Standort sofort wechseln, Schwan vermutlich mit Margarine im Wald…

Das ging mehrere Seiten lang so weiter, zeitlich bis Januar 2012, immer irgendwie etwas über Schwan und Margarine und Butter.

Dr. Fricker hatte als Nachwort eine eigene Seite geschrieben, die sinngemäß den Sachverhalt so darstellte, dass „Schwan“ ein weißrussischer Agent gewesen sein musste, der zeitgleich mit dem Zielobjekt „Margarine“ spurlos verschwand, zurück blieb bloß „Butter“, vermutlich ein Angehöriger von „Margarine“.

Eine sofortige Überprüfung der Aktenlage ergab für Elena, ja, diese Stawowska hat einen Sohn namens Markus, der damals auch mehrmals von der Polizei verhört worden war, auch später von den Zielfahndern des bayerischen LKA. Und er war auch von der Presse belagert worden, zumindest die ersten paar Tage und dann nochmals einige Tage nach der Bergung des Autos. Es hatten sich aber nie neue interessante Anhaltspunkte ergeben.