Die Ausnahme - Daniel Ammann - E-Book

Die Ausnahme E-Book

Daniel Ammann

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Beschreibung

Im Zentrum des Romans steht der namenlose „Er“, welcher sein Leben aus innerer Not von Grund aus verändert. Er bricht radikal mit seiner alten Lebenswelt und reist kurz entschlossen an einen neuen Ort am Meer. Gleich am Ankunftstag begegnet er zufällig Manon, einer zwanzig Jahre jüngeren Frau, die ihn beeindruckt. Er verstrickt sich in philosophische Überlegungen entlang von Begriffen des Existenzialismus. Im Vordergrund steht die Frage, ob seine Existenz als Maler im Schaffen des vollkommenen Kunstwerks eine berechtigte Ausnahme außerhalb des Allgemeinen sein kann. Diese Begriffswelten, die ihn fesseln, aber zunehmend auch bedrängen, kann er nicht bewältigen. Zudem quält ihn Geldnot, und er erlebt, wie er am neuen Ort in Verpflichtungen des alltäglichen Lebens zurückzufallen droht. Er sucht nach einem Ausweg, erinnert sich an Manon, und ruft sie zu sich. Sie treffen sich zweimal am Meer. Manon erlangt in den Gesprächen eine Überlegenheit zu seinen Themen und fasziniert ihn durch das Weibliche in Geist und Schönheit. Während der dritten Begegnung mit Manon bei ihm zu Hause werden mit ihrer Hilfe die unauflösbaren Begriffe enttheoretisiert. Sein Ringen mit der existenziellen Idee entkrampft sich, und er gewinnt an Leben. Der Neuanfang am neuen Ort kann erst jetzt beginnen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Die Ausnahme erklärt also das Allgemeine und sich selbst; und wenn man das Allgemeine recht studieren will, braucht man sich bloss nach einer berechtigten Ausnahme umzusehen. Die legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst.

Søren Kierkegaard

1

Ob es nun Verzweiflung oder Hoffnung war, der Leere musste begegnet werden. Alles hatte sich schleichend entwickelt, anfangs getarnt als notwendige Normalität, der er sich zu fügen verpflichtet hielt, später als unverständliche Irritation. Erst nach Jahren offenbarte sich ihm das Verhängnis. Es handelt sich um Situationen, da der Nullpunkt in der Existenzgrundlage bewusst erreicht wird. Man erhält dann die Möglichkeit zum Aufbruch, die der von einem neugeborenen Kind gleicht, das ins Leben entlassen wird. Die Möglichkeit will aber erkannt werden und lässt keinen Fehler zu. Entweder wird sie durch falsche Einflüsse und Entschlüsse verfehlt, oder sie bietet einen wahrhaften Neubeginn an. Er hatte dieses Gesetz erkannt, denn seine Leere dauerte bereits lange an. Die Möglichkeit existierte erst in seinen Vorstellungen, die aber bereits die Planspiele des Schachs durchlebt hatten und die Befürchtungen waren von den Erwartungen besiegt. Der Sprung war jetzt existenziell unvermeidlich, wie beim Tier, das im harten Winter keine Nahrung mehr findet und nicht mehr umhin kommt, sein Revier zu verlassen.

Die Veränderung kam unangemeldet in der Nacht wie die Remission beim chronisch Kranken. Eine Verbrüderung mit dem Angebot der Veränderung fiel ihm leicht. Die plötzliche Zäsur, die von ihm eine andersartige Ordnung verlangte, hatte ihn weder überrannt noch überrascht, denn er hatte das Unabänderliche erwartet. Jetzt, da der Tag gekommen war, erfuhr sein Leben einen kürzesten Stillstand, gerade mal in der Zeitspanne eines intuitiven Urteils. Er fühlte sich wie ein Regentropfen, der im Gebirge auf die Steinkante fällt, über das Mineral abrollt und sich mit dem Quellwasser des nach Süden gerichteten Stroms anstatt mit dem gleich gegenüberliegenden Sammelbecken des Stroms nach Norden vereint. Den Süden in den Augen umgab ihn eine unzerstörbare Ruhe, obschon der Augenblick des Entscheids wie der Einschlag eines Blitzes geschah, der Teile seines bisherigen Lebens verbrannte, sein Lebensgefühl umpolte und die Normalität, die ihn am nächsten Morgen erwartet hätte, mit einer unbekannten Zukunft vertauschte. Gleich war die Richtung des Aufbruchs festgelegt. Ein Zweifel blieb aus.

Als er im Spätwinter der Stadt mit dem Bus entgegen fuhr, lag tiefer Nebel. Das Grau mit seinen geringfügigen Aufhellungen liess vermuten, dass bald zunehmend Licht eindringen würde. Sein Blick blieb trotz der Müdigkeit durch die lange Reise am grauen Vorhang über dem Horizont hängen, der sich noch immer in Licht und Weite öffnen konnte. Die Natur vollbrachte eines ihrer grossartigen Schauspiele, deren Dramatik er so bewundern konnte, doch heute erwartete er demütig, dass sich die Natur seinem Wunsch nach durchscheinendem Sonnenlicht fügen möchte. Obwohl das diffuse Grau wie ein Schleier in seiner Lichtgestalt stets modulierte und eine Hoffnung auf Durchblick zuliess, geschah nichts, das ihm offenbart hätte, was hinter dem Nebel lag. Schliesslich ermüdete er an der hellen Front, schloss die überanstrengten Augen und konnte eine kleine Enttäuschung nicht von sich weisen, hätte er sich doch eine Ankunft in der späten Nachmittagsonne erhofft, wo lange blaue Schatten aus der mit Licht überfluteten Stadt ihm auf seiner Einfahrt entgegen fliegen und den neuen Ort in schönstem Gewand ankündigen würden. Er löste sich aus der etwas verkrampften Haltung am Fenster, rückte sich auf dem Ledersessel in eine andere Lage und dachte: „Den Gesetzen der Natur, die bei meiner Ankunft in grauer Gestalt aufspielen, will ich nichts entgegenhalten, gerade der Natur nicht, denn sie war mein Leben lang mein zuverlässiger Begleiter. Auch muss ich nichts übereilen, schon gar nicht bevor ich angekommen bin, denn dort soll sich vieles ändern.“

Immer mehr Autos überholten den Bus und aus der Gegenrichtung jagten Lichter im Nebel vorbei. Die Stadt musste nahe sein. „Die Natur ist die grosse Künstlerin der Veränderung“, überlegte er weiter. „Der stete Wandel ihrer Erscheinung gründet in Zusammenhängen, die sich dem Menschen entziehen. Du trittst am Morgen nach der Regennacht ans Fenster und blickst zum gegenüberliegenden Waldrand. Der alte Stamm der Esche erscheint dir an diesem Morgen in einem stark leuchtenden graublauen Klang, hinterlegt von einem nebligen, gelbgrauen Dunst, durch den eben ein vorübergehender Sonnenstrahl fällt. Nach der nächsten Regennacht erscheint der Eschenstamm zu derselben morgendlichen Zeit vor einem lichtlosen Raum nahezu schwarz im noch abfliessenden Wasser. Die Ursache für die unterschiedlichen Erscheinungen liegt in Veränderungen von Bewegungen über anderen Kontinenten und den grossen Meeren. Die Veränderungen sind immer zeitrichtig und in ihren Kompositionen vortrefflich, und erfüllen den Anspruch auf unterschiedlichste Erscheinungen. Sie wirken jederzeit in ihrer jeweiligen Gestalt auf Leben ein und erzeugen andersartige Empfindungen. So wie im Zeitpunkt, da zwei Verliebte das Haus verlassen, einen warmen Abend erwarten, aber in einen Sturzregen geraten und sich glücklich im einfallenden Wasser mit durchtränkten Gesichtern küssen.“

Schon fuhr der Bus durch die Vorstädte. Erste Passagiere stemmten ihr Gepäck aus den Gestellen über den Fenstern, atmeten schwerer, wodurch sich die Scheiben beschlugen. Er sah, wie eine kleine alte Frau hilflos auf ihren Koffer im hoch liegenden Gestell schaute, sprang auf und reichte ihr den Koffer. Die Alte dankte und bemerkte: „Dies wird wohl eine meiner letzten Reisen sein. Sie war wichtig, weil meine Schwester erkrankt ist. Ansonsten ergibt es keinen Sinn wegzureisen. Ich bin glücklich, wieder an meinem alten Ort zu sein.“ Er antwortete nichts, dachte aber, wie diese Alte vielleicht seit Geburt oder zumindest Jahrzehnten in dieser Stadt lebt, vermutlich eine grosse Familie hat, sich aufopfert, kocht, putzt und allen hilft, wenn Not es verlangt. Und wie sie glücklich ist unter diesen Umständen, kein anderes Leben verlangt oder es sich nicht vorstellen kann. Eben wollte er sich mit der Alten vergleichen, einen Abgleich ihrer Standhaftigkeit im Allgemeinen und seiner Abkehr vom Allgemeinen machen, aber die immer grössere Hektik im Bus und der unbehagliche Geruch der hantierenden Leute hielten ihn davon ab. Die Luft im Wagen wurde immer schwerer und feuchter, ein erster Blick durch die beschlagenen Fenster auf die Stadt war nun gänzlich verwehrt. Er kam sich vor, wie wenn gewisse Leute die Fensterläden schliessen, da sie die untergehende Sonne in ihrer Glorie blendet. Erst als der Wagen hielt und der Motor verstummte, wusste er, dass er angekommen war. Während die Passagiere bereits mit ihrem Gepäck ungeduldig im Mittelgang standen, lehnte er auf dem Sessel seinen Kopf zurück, führte seinen kleinen Finger über das Auge und lächelte. „Da bin ich nun und habe die Auseinandersetzung mit dem Neubeginn unwiderruflich angenommen, selbst wenn der Erfolg nicht sicher ist. Die Wurzel war meine Verzweiflung, die aus Unumgänglichkeiten meines Lebens in den so vielen letzten Jahren geformt wurde. Jegliche Ideen, die in mir wurzelten, heranreiften und beachtet sein wollten, wurden der vermeintlichen Unausweichlichkeit meiner Pflichten unterworfen und unversehens vernichtet. Mein Selbst wurde untergraben und erstickt. Jetzt, spät genug, habe ich meine Wahl getroffen.“

Mit leicht unsicherem Tritt stieg er aus, befreite sich aus der Menge, stiess dabei gegen einen Randstein, knickte mit den Knien ein wenig ein, kam ins Gleichgewicht zurück, und sah sich nach dem Hauptausgang des Busbahnhofs um, denn er wollte gleich in Richtung Zent rum seines neuen Ortes aufbrechen, ins Herz dieser Stadt, über die er sich kaum informiert hatte, sondern sie vor allem aus geografischen Gründen gewählt hatte. Den Boden seiner Erwartungen unter den Füssen, stand er erfüllt, aber auch desorientiert in der nebligen Halle. Zahlreiche Fahrzeuge fuhren umher, Busse kamen auf ihren Perrons an, andere starteten den Motor zur Abfahrt und versperrten ihm die freie Sicht in die Halle. Der Nebel verstärkte noch die Unübersichtlichkeit. Um ihn entstand eine Hektik, denn alle Mitreisenden wollten schnell weiter an den Ort, der ihnen bestimmt war. Ein wuchtiger Mann in einem schäbigen Regenmantel und zertretenen Schuhen, der einen schweren Koffer auf der Schulter trug, rempelte ihn an, fluchte vor sich hin und rief ihm zu „Was stehen Sie denn so hilflos herum!“ und eilte mit langen Schritten einem Nebenausgang entgegen. „Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht kommen sehen“, sagte er viel zu leise. Dieser aber kehrte sich nochmals um, indem er die freie Schulter schwenkte, und rief verärgert: „Sie wären besser zu Hause geblieben, als hier den Leuten im Wege zu stehen.“ Da sprang ein Jüngling, ohne jegliches Gepäck, mit einer besonderen Leichtigkeit aus dem Bus, fiel einem Mädchen mit goldgelbem Lockenhaar in die Arme und liess seinem Glück freien Lauf. Er schaute den beiden jungen Menschen nach, wie sie verliebt im Nebel verschwanden und fühlte sich auf dem fremden Perron einen Augenblick einsam. Im Geruch des alten Motorenöls und der Dieselabgase raffte er sich schliesslich auf und dachte: „Die Busstationen in Städten haben immer etwas Gespensterhaftes und Verlorenes. Bin ich einmal unter freiem Himmel, so kann meine Ankunft beginnen.“ Er nahm den Weg, den die meisten eingeschlagen hatten und kam zur Türe der Haupthalle.

Auf dem weiten, kreisförmigen Platz vor dem Busbahnhof atmete er tief die feuchte Luft, als würde er alle Beschwernisse der Ankunft wegatmen. Vor ihm breitete sich ein eher ärmliches, etwas schmutziges Quartier mit kleinen Geschäften und billigen Kneipen aus. Der Nebel und die Feuchtigkeit liessen alles abgedunkelt erscheinen, wie wenn auf der hellgrauen Rinde eines alten Baums Wasser abfliesst, doch er liess sich von diesem ersten Eindruck nicht beirren, blickte auf die breite, schnurgerade und leicht abfallende Strasse mit den alten Strassenlampen, die wegen dem Nebel bereits brannten, und munterte sich auf: „Es bleibt noch Zeit die Stadt zu erkunden bis die Nacht einbricht. Die Hauptsache ist, dass meine Ruhe und Kräfte rasch zurückkommen, die ich in den letzten Jahren so jäh verloren habe.“ Seine Erwartung vor dem Neuen stieg jetzt schnell an und wärmte ihn. Er entschied sich, durch die ihm unbekannte Stadt zu gehen und nebenbei auf billige Hotels zu achten, denn schliesslich hatte er nur gerade Geld für einige Wochen oder Monate mitgenommen. Sein Besitz war nun sehr bescheiden, was ihm aber recht war, denn er wollte auf keinen Fall abgesichert hier ankommen, sein blosses Ziel war ihm genug, und es würde ihn in den nächsten Jahren tragen.

Den leichten Koffer in der Hand lief er der Stadt zu. „Eine Stadt wie jede andere“, dachte er zunächst, als er die eilenden Geschäftsleute, flanierenden Passanten und Stadtangestellten im Dienst beobachtete. Doch das Fremde der Stadt gewann an Gestalt und liess ihn leichter gehen als sonst. Ähnlich wie im Traum bewegte er sich entlang den ungewohnten Schriftzügen an den Häusern und unter dem andersartigen Baustil der Fassaden dem Stadtzentrum entgegen. Wegen einer Schar Kinder, die ihm entgegen kam, blieb er stehen und erblickte vor sich eine Bar mit grossen Fenstern gegen das Trottoir. Sie war bereits voll von Leuten, die sich hier nach der Arbeit trafen und für eine kurze Weile die Pflichten des Tages niederlegten. Er trat ein, drängte sich an die Theke und bestellte einen Averna. Eine Frau in kurz geschnittenem blonden Haar, etwas frech frisiert, wandte sich ihm lächelnd in ihrem roten Kleid zu und sagte: „So schwarz wie der Kaffee im Gedicht 'Espresso' des Literaturnobelpreisträgers.“ Er ahnte um welches Gedicht es ging, war sich dem Inhalt aber nicht sicher, sagte deshalb nichts zu diesem rätselhaften Satz, blickte ihr aber einige Sekunden direkt in die Augen und nahm ein Bild von hoher Schönheit in sich auf. Schliesslich sagte er etwas verlegen: „Sie sind von dieser Stadt?“ Die Fremde hielt seinem Blick stand und antwortete: „Nur vorübergehend, wie eine kleine weisse Wolke am blauen Himmel, die erkannt werden will, soll ihrem Dasein ein Wert entlockt werden. Unbeachtet zerstäubt sie ins Nichts.“ Hinter ihr rief jemand „Manon!“, sie wandte sich von ihm ab und verschwand in einer dunklen Ecke des Lokals. Ihre nackten Schultern lasierten sich wie Sfumato-Malerei mit Weichheit ins Dunkel, und das Kleid nahm das Schwarzrot eines schweren Weines an. „Manon heisst sie, diese ungewöhnliche Schönheit“, dachte er, und war überzeugt, dass sie kein gewöhnliches Schicksal hat, verriet doch ihr Gesicht Leidenschaft und Intelligenz zugleich, war aber auch nachdenklich und liess eine Traurigkeit erkennen.

Nach dem zweiten Averna lief er auf die Strasse. Die Frau im roten Kleid hallte in ihm wie ein Echo nach. Manchmal glaubte er, sie würde ihm folgen und kehrte sich kurz um. Dann setzte er seinen Weg fort und dachte: „Das Leben bietet immer wieder den Zufall an, dem man keine kausale Erklärung geben kann. Tatsächlich erfolgt dann ein Ereignis ohne Ursache oder zumindest ohne dass eine Ursache erkennbar wäre, wie wenn man in den Spiegel schaut und sich fragt, woher dieser morgendliche Ausdruck nach einer glücklichen Nacht stammt, vom Vater oder der Mutter. Manchmal glaubt man gewisse zufällige Einflüsse auf den eingetretenen Zufall zu kennen, etwa wenn der Croupier die Roulettemaschine in Drehung setzt und die kleine weisse Kugel nach seinem Gutdünken elegant in die Kreisbahn wirft. Aber gleich steht man in Spannung vor dem drehenden Rad und vergisst in der Erwartung der Zahl den vorausgegangen Einfluss des Spielleiters auf die demnächst eintreffende Endsituation. Kommt die Kugel in der Furche einer Zahl zum Stillstand, so anerkennt man diese Zahl als einzigen Ausdruck des Zufalls und hat vielleicht nicht gemerkt, wie während dem Spielablauf etwas Asche eines Zigarrenrauchers in die Roulettmaschine geweht wurde. Es gibt auch Fälle, wo man glaubt, den Zufall ausgeschaltet zu haben, dann nämlich, wenn eine freie Entscheidung durch äussere Einflüsse nicht mehr beeinflusst ist. Die Willensfreiheit etwa, ohne zwingenden Grund in eine Bar einzutreten, erzeugt den Zustand selbst. Wie man aber an eine unvorhergesehene Stelle an der Theke gelangt, indem man sich planlos im Gedränge der Menschen einen Weg bahnt, ist wieder eine andere Frage.“

Langsam wechselten die ärmlichen Quartiere in Strassenzüge und Plätze mit stattlichen und herausgeputzten Häusern. Vor ihm stand ein grosses Gebäude mit einer imposanten Fassade. Grosse Fenster lagen im bläulichen Dunkel und gelbes Licht schimmerte durch gezogene Vorhänge. Er trat durch die schwere Türe ein und kam auf eine Treppe zu, die wohl gegen fünfzig Stufen hatte. Bereits auf den untersten Treppenstufen sah er, wie sich am Ende der Treppe ein Seitengang nach links und ein zweiter nach rechts öffneten. Er beschloss den Weg nach links einzuschlagen. „Dies soll einer meiner ersten Entscheide im neuen Ort sein“, dachte er vor sich hin, als plötzlich in einem ohrenbetäubenden Lärm von Menschenstimmen, der sich im Treppenraum als Widerhall noch steigerte, aus dem linken Seitengang eine Menschenmasse auf die Treppe zukam und ihm entgegen strömte. Er wurde auf der Treppe trotz seines Widerstands vom Gemenge abgedrängt, immer mehr an den rechten Rand, den er doch nicht gewählt hatte, und da der Strom an Menschen nicht abbrach, blieb ihm am Treppenende nichts übrig, als den Seitengang nach rechts einzuschlagen.

Als der Andrang der Leute nachliess, dachte er: „Ich kann mich auch jetzt noch für den linken Seitengang entscheiden.“ Er war ganz in die Richtigstellung seines missglückten freien Entscheids versunken, da legte sich eine Hand sachte auf seine Schulter, und er erblickte hinter sich einen alten Mann. „Mein Herr“, sagte dieser höflich, „Sie befinden sich im Stadthaus. Dieser Seitengang führt zur Anmeldungskanzlei. Ich nehme wegen Ihres verwirrten Anscheins an, dass Sie ein Fremder sind, der sich bei uns einschreiben will.“ Er erwiderte ruhig, dass er nicht gedenke sich anzumelden, er hätte aus klarer Absicht den linken Seitengang gehen wollen, sei aber gegen seinen Willen durch eine Menschenmasse in diesen rechten Gang abgedrängt worden. „Der Seitengang gegenüber führt in den Konzertsaal der Stadtphilharmonie. Der Saal ist registrierten Einwohnern dieser Stadt vorbehalten“, betonte der alte Herr, dessen Stimme noch immer sanft klang, jetzt aber eine gewisse Strenge mitschwingen liess: „Es hätte Ihnen kaum genützt nach links zu gehen, denn Sie wären von der Türvorsteherin nicht eingelassen worden, es sei denn, sie hätte Sie übersehen, was sehr unwahrscheinlich ist, und falls das schier Unmögliche doch eingetreten wäre, hätten Sie gemäss unseren Regeln unerlaubt das Konzert erlebt. Wir versuchen mit allen Mitteln, solche Verstösse zu verhindern. Das Konzert ist ohnehin beendet, jetzt folgen die Proben. Dies ist vermutlich zu Ihrem Vorteil, denn Ihre Absicht wäre ein gewichtiger Verstoss gewesen. Aus Notwendigkeit hat sich alles in die richtigen Bahnen gelenkt, und es bleibt Ihnen nun nichts übrig, als mir zu folgen.“

Da er trotz der Aufforderung stehen blieb, zuerst an den Augen des Alten vorbei ins Leere blickte, dann den Kopf leicht senkte, sah sich der Alte veranlasst, seine Aufforderung nachdrücklich zu bekräftigen, entschloss sich aber, um die drohende Abweisung durch den Fremden zu verhindern, vorerst das gegenseitige Vertrauen wieder herzustellen, und fragte ihn: „Was wollen Sie in dieser Stadt? Sich hier niederlassen, hier leben?“ Er schwieg und dachte: „Was geht das diesen Herrn an, warum fragt er mich aus, ich bin aus freiem Willen gekommen und niemand soll dies hinterfragen und schon gar nicht durchleuchten. Der alte Beamte ist mir zufällig wegen meines ärgerlichen Vorfalls auf der Treppe begegnet, hat mich nun neben sich und will mich zur Anmeldung verpflichten.“ Alle Ereignisse in diesem Haus hatten ihn erregt und er sagte wider Willen, aber höflich: „Ich bin heute angereist und habe im Sinn, für lange Zeit in dieser Stadt zu verbleiben. Ich bin daran, mich aus meinem früheren Leben loszulösen, aus all den übermässigen Verpflichtungen, die ich viele Jahre einging und die für einen Menschen über eine derart lange Zeit zweifellos unzumutbar sind. Ich werde mir hier meine vermauerten Freiräume wieder öffnen, in mir wieder atmen, denn ich war am früheren Ort geradezu am Ersticken. Anfänglich hatte ich mich noch in der Ausweglosigkeit arrangiert, hatte die kleinsten noch übrig gebliebenen Resträume als meine Lebensessenz betrachtet. Die Resträume, die in Ausmass und Dauer immer mehr eintrockneten, hatten den ganzen Wust an Verpflichtungen aufzuwiegen. Später wurde ich immer kraftloser, schliesslich stand ich selbst einer kleinsten Möglichkeit der Entfaltung eigener Kräfte und Ideen starr gegenüber. Die Anmeldung, zu der Sie mich nötigen, ist im Vergleich zu dem, was ich Ihnen hier berichte, geradezu eine Kleinigkeit.“ Der Alte blickte ihn erstaunt an und wollte seine Ausführungen kommentieren, er fiel ihm aber ins Wort und sagte: „Gehen wir!“.

Sie liefen beinahe im Gleichschritt durch einen langen Gang, kamen zu einem Lichthof, der kolossal anmutend bis zuoberst im Gebäude reichte. Vor dem Lift hielt der Alte an und verabschiedete sich mit den Worten: „Die Anmeldung wird hier verordnet. Es gibt keine Terminaufschiebung und schon gar keine Ausnahmegenehmigungen. Sie müssen den dritten Stock wählen und werden sich dort leicht zurechtfinden.“ Während er den Liftknopf drückte, zeigte er dem Alten mittels einer ungelenken Geste, dass er bereit war, diese kleine Formalität in Kauf zu nehmen. Der Lift aus Glas, der vorgab Bestandteil des Lichthofs zu sein, setzte sich in Bewegung und verlieh ihm vorübergehend ein erleichtertes Gefühl des Schwebens nach oben. Als die Bewegung des Lifts anhielt, dachte er: „Das viele Glas täuscht mir eine Offenheit vor, die gar keine ist. Das habe ich am alten Ort immer wieder in Banken und Versicherungsgebäuden erlebt.“ Vor sich sah er eine Glastüre, die er mit der Schulter aufstiess. Sogleich stand er vor einer grossen Anzeigetafel aus roten Leuchtziffern und der Inschrift 'Willkommen!'. Niemand war im Vorzimmer des Schalterraums, einzig nebenan, hinter einer Glasscheibe des Empfangsschalters, sass eine Frau und beschäftigte sich mit einem Stapel von Akten. „Sie wollen sich für die Anmeldung anmelden?“, sagte sie ohne vom Bürostuhl aufzustehen. „Ich bin zwar erst heute angekommen, will mich aber in der Stadt für länger niederlassen. Jetzt, da ich auf merkwürdige Weise hier angekommen bin, möchte ich die Anmeldung erledigen.“ „Hier können Sie sich zur Anmeldung nur einschreiben, die Anmeldung erfolgt andernorts, ich gebe Ihnen dazu nach Ihrer Registrierung alle Angaben, wie es zur eigentlichen Anmeldung kommt“, sagte die Frau, stand nun langsam auf und kam ihm am Empfangsschalter entgegen. In diesem Augenblick verschwand die Beamtin aus seinem Sichtfeld, denn er sah, wie er an die Theke der Bar lief und plötzlich Manon neben sich hatte. Etwas durchströmte ihn, das er aber nicht deuten konnte. Die Frau am Schalter bemerkte seine Zerstreutheit und räusperte sich nervös. Sie reichte ihm ein Formular und forderte ihn auf, sich auszuweisen. Er leistete keinen Widerstand und erledigte die Formalitäten. Mit einer Anweisung und einem Ortsplan in der Hand, die ihm vorgaben, wie er sich innert drei Tagen an einem ihm unbekannten Ort in der Stadt definitiv anzumelden hatte, machte er vor der Schalterfrau eine unförmige Verbeugung und suchte verwirrt die Glastüre, um in den Lichthof zu kommen.

Als er die enge, nun beinahe verdunkelte Treppe hinter sich hatte und mit dem Lift unten ankam, war der Alte verschwunden, und die Gänge waren menschenleer. Da er jetzt die ärgerliche Anmeldung zur Anmeldung hinter sich hatte, in den Seitengang gelangte, wo er kurz zuvor von seinem Entscheid abgehalten wurde, nunmehr aber die Regel des Verbots, die Stadtphilharmonie als Fremder nicht betreten zu dürfen, durch die Voranmeldung zumindest nur noch abgeschwächt gelten konnte, nahm er den linken Seitengang. Der Vorraum war unbewacht, die Türen liessen sich öffnen. Er trat in einen weiten und erstaunlich hohen, rechteckigen Raum. Die Steinwände waren in hellblauen Tönen gehalten. Die feinen Abstufungen des Hellblaus mit grauen, goldenen und weissen Pastelltönen gaben den Mauern eine marmorhafte Ausstrahlung. Aus den Wänden ragten Steinplatten ohne Geländer heraus, nur gerade einen Schritt breit und von unterschiedlicher Länge. Auf all diesen Absätzen, auch auf jenen in schwindelerregender Höhe, standen Menschen in schöner Kleidung, viele von ihnen waren Kinder oder Jugendliche. Die Sänger am Ende der Reihe standen eine halbe Fussbreite vor dem Abgrund, eine junge Frau rückte gerade ihre Füsse noch einige Millimeter näher der gefährlichen Tiefe zu. Manchmal wurden die Chorsänger in den Reihen ausgetauscht, die Abtretenden verliessen die Steinplatte durch eine kaum sichtbare kleine Türe, die nächsten Sänger traten auf die Platte, sie waren eng gedrängt. Trotz dieser Bewegungen am Abgrund hielt der Gesang ununterbrochen an, als wären es stets dieselben Chorsänger.

Ohne Chorstimme hatte die Musik einen Rhythmus des Voranschreitens, eine drängende Bewegung, die immer kräftiger wurde, ihm plötzlich unter die Arme griff, ihn mitzog und mit einer Gewissheit über das eigene Vorwärtskommen erfüllte. Es schien in dieser Musik kein Zurück zu geben, nur ein Vorwärts auf ein Unbekanntes hin. Er wurde mehr und mehr mitgerissen, glaubte ohne jegliches Hindernis auf ein Ziel zuzuschreiten, wie ein Schwimmender in einem reissenden Fluss, der sich unerschrocken zur beabsichtigten Anlegestelle treiben lässt. Dann brach das Schreiten des Orchesters plötzlich ab, die Rhythmus gebenden Takte hielten inne, und ein feiner Gesang des Chors setzte ein. Es erklang eine Stimmenverflechtung von unbekannter harmonischer Ausgewogenheit, die den Raum mit kaum grossen Intervallsprüngen durchwebte, trat einmal kurz ein Abstand zweier zusammen oder nacheinander erklingender Töne auf, so wurden sie sogleich mit einer Gegenbewegung beantwortet, denn alles unterlag einer strengen, schwebenden Gesangfläche. Der Gesang steigerte sich von gedehnten Notenwerten hin zu kaum unterscheidbaren aufsteigenden und abfallenden Bewegungen. Der Höhepunkt des Gesangs bestand aus einer fünfstimmigen Fuge aus einem Geflecht von überwältigenden Klängen, die in ihrer Schönheit seine Sinne betäubte und schmerzlich auf sein Ohr, das diesen Klängen nicht kundig war, anschlug. Dann setzte das mitreissende Fortschreiten des unsichtbaren Orchesters wieder ein. Erst jetzt bemerkte er neben sich den Ballspieler. Dieser stand auf der Höhe des Eingangs. Weit auf der gegenüberliegenden Seite spielte sein Mitspieler. Der grüne Boden der riesigen Halle war belegt mit quer durcheinanderliegenden schwarzen Dingen, alle ohne Ausnahme in tiefstem Schwarz. Die beiden Spieler schlugen sich Bälle zu, wie im Tennis, aber ohne Netz, setzten die Bälle exakt in die zwischen den Gegenständen noch wenigen freigehaltenen Bodenstellen. Fehlerfrei und meisterhaft folgten sie dem Rhythmus der Musik.

Mit leichtem Schwindel verliess er den Saal der Philharmonie und kam auf den Seitengang zurück. „Was hat mich in diesen linken Gang gezogen?“, fragte er sich. War es bloss sein Drang auf den freien Entscheid, oder wurde er von anderen Mächten dorthin geführt, solche Fragen drängten sich ihm auf, denn die erhabene Musik liess ihn klein und unbedeutend erscheinen, sein misslungener Entscheid auf der Treppe wurde, obwohl er ihn im Nachhinein noch halbwegs durchsetzte, geradezu lächerlich. „Das Erlebte könnte mir ein Zeichen gesetzt haben“, dachte er und konnte im ersten Moment den Gedanken nicht abwehren, dass seine Absicht in der neuen Stadt überheblich oder zumindest zu hoch gegriffen sei, zeigte doch die noch nachhallende Musik bereits am ersten Abend die ganze Grösse von hoher Kunst. „Die Musik hat mich ergriffen, aber auch meine Ziele erniedrigt, sie wirkte zwiespältig und hat mich einerseits erbaut und auf der anderen Seite zur Resignation aufgefordert.“ Hatten aber diese Klänge das Recht dazu, oder war er einfach verunsichert, überlegte er weiter, schliesslich war sein Ziel noch fern und offen, seine Pläne lagen in einer ersehnten Zukunft, harrten noch der Ausführung und entzogen sich damit einer Bewertung. Er gewann die Sicherheit zurück, blickte auf die langen Vorhänge vor den Fenstern und stellte sich vor, wie sie jederzeit aufgerissen werden konnten. „Mein Entscheid gilt. Ich werde nun voranschreiten, so wie mir dies eben das Orchester vorgezeigt hat, vielleicht braucht es Jahre, bis die ersehnte Bewegung mich zu hoher Kunst antreibt und Werke aus mir hervorbringt, die ich jetzt nicht ahnen kann. Ohne den Versuch vollzogen zu haben, kann ich nicht gemessen werden“, sprach er überlaut zu sich selber, als er bei der langen Treppe angelangt war, um das Stadthaus zu verlassen.

Die Dämmerung war schon vorbei und die Stadt lag im Dunkel einer mondlosen Nacht. Er verirrte sich im nachlassenden Nebel in den Strassen des unbekannten Orts. Aus einer Seitenstrasse, wo sich kein Leben rührte, geriet er auf eine breite Strasse, die an die Boulevards grosser Städte erinnerte. Die vierspurige Strasse war von vielen Strassenleuchten orangegelb überflutet, und am Rande der Fahrspuren waren breite Trottoirs mit einer Allee alter Platanen angelegt. Die Lampen warfen Schatten des Geästs und des hängen gebliebenen Laubs auf den Steinboden und erzeugten eine geheimnisvolle Or namentik. Mitternacht stand wohl bevor. Orientierungslos stand er auf dem Gehsteig und schlug wahllose eine Richtung ein. Zwischen den Bäumen erblickte er auf einer Bank, die gegen die Strasse gerichtet war, einen einsamen Mann. „Wie ein Clochard“, dachte er und sprach ihn eigennützig an, denn er wollte erfahren, wo er sich befand. Der Wohnsitzlose rückte seine Plastiksäcke neben sich auf die Seite, drehte sich um, blinzelte mit stechenden Augen auf und sagte; „Ich reflektiere!“, wodurch er unmissverständlich zum Ausdruck gab, dass er jetzt nicht gestört sein wollte.

„Dann setze ich mich neben Sie und warte, wenn Sie erlauben. Ich muss Sie nämlich etwas fragen.“ Der Obdachlose nickte, hatte sich aber schon abgedreht. Während er auf der Bank neben dem Unbekannten einige Minuten schweigend sass, dachte er, wie eine Ankunft in einer fremden Stadt wohl immer etwas erschwert sei, doch nun sei er angekommen und hätte bereits einen Menschen neben sich, der ihm gleich den weiteren Weg weisen würde. Auch merkte er jetzt deutlich, wie diese Stadt doch andersartig war als alle anderen Städte, die er kannte. Er schätzte seine Wahl als vortrefflich ein. Die neue Umgebung mit der Nähe zum Meer und zu gewiss schöner Landschaft würde ihn in seinen Plänen mittragen. Der Verkehr auf der Strasse hatte stark abgenommen, nur manchmal fuhr ein Taxi eilig vorbei. Er merkte, dass es höchste Zeit war, eine Unterkunft zu finden. Auf dem Weg hatte er immer wieder einen Blick auf Hotels geworfen. Jetzt, da er auf der Bank neben dem Fremden Ruhe fand, erinnerte er sich an das Hotel mit dem blauen Neonschriftzug, der keinen Namen bezeichnete, sondern lapidar 'Hotel' in die Nacht ausstrahlte.

Der Obdachlose drehte nach langem Schweigen den Kopf gegen ihn, zeigte aber noch immer keine Bereitschaft zu einem Gespräch. Er aber nutzte die Gebärde und stellte die Frage nach dem Hotel. Ohne zu zögern und mit überlegener Bestimmtheit wies der Einsame ihm den Weg mit dem Zeigefinger und ausgestrecktem Arm. Er gab dem Wohnsitzlosen ein wortloses Zeichen des Dankes und lief in die vorgegebene Richtung. Die Strasse nach rechts stieg nun leicht an, die letzten Taxis fuhren schnell vorbei, und einzelne Menschen bogen als Schatten in Seitenstrassen ab. Das Quartier war leblos, hatte kaum Geschäfte, eher Bürogebäude und dazwischen bescheidene Wohnhäuser, in denen nur noch wenige Lichter brannten. Er versuchte, sich an die Geometrie der Fingerzeige des Obdachlosen zu erinnern, bog in eine nächste, von hohen Bäumen gesäumte Grosstadtstrasse ein, glaubte auf dem richtigen Weg zu sein, und dachte: „Die Zukunft gelingt dann, wenn ich die Möglichkeiten verwirkliche, die in mir angelegt sind.“ Schon musste er sich wieder angestrengt erinnern, ob er links oder rechts gehen sollte, wählte die richtige Richtung und kam erleichtert um eine Ecke, denn er erinnerte sich nun, dass hier das Hotel lag. Im blauen Schimmer der Leuchtaufschrift 'Hotel' trat er ein und fragte nach einem Zimmer. Auf die Frage des Nachtwächters nach der Anzahl der Nächte, sagte er zu seinem eigenen Erstaunen: „Für eine Nacht.“ Er musste gleich bezahlen, denn der Nachtwächter, der schläfrig das Nachtprogramm im Fernseher schaute, traf selten so späte Gäste an, und hatte einen misstrauischen Blick aufgesetzt. Der Mann gab ihm den Schlüssel, sprach vom sechsten Stock und verwies ihn mit einer Kopfdrehung auf den Lift. Bei seinen vielen früheren Hotelbesuchen hatten ihn schon immer die Zimmernummern interessiert. Auch jetzt hoffte er auf eine Primzahl und dachte: „Jeder hat seine Marotte.“ Die Nummer auf dem schweren Schlüsselanhänger war keine Primzahl, nicht einmal die Quersumme der Zahl entsprach seinem Zahlenspiel. Ihn dürstete, auch hatte er Lust auf ein Glas Wein. Er war schon nahe zum Lift, drehte sich nochmals um, und fragte den Nachtwächter aus einiger Entfernung mit zu lauter Stimme für diese Uhrzeit, ob noch etwas zu bekommen sei und wurde auf einen Seitenkorridor verwiesen.

Er trennte sich vom Mann an der Empfangstheke, lief durch den ungastlichen Korridor und bog nach rechts durch eine Schwenktüre, die aus schlechtem Holz gefertigt war, in einen langen Gang ein. Am Ende war ein hoher Eingang zu sehen, der lediglich mit einem Vorhang aus rotem Stoff mit goldenen Rändern verschlossen war. Er steckte seinen Kopf durch den Vorhang, so als würde er in einem Theater als komische Figur die Bühne betreten. Es war vermutlich der Frühstücksraum des Hotels, der Betrieb schien eingestellt, nur weit hin ten unter schwachem Licht sass ein Kellner, der ihm zuwinkte und zu merken gab, dass ein Alkoholausschank ausnahmsweise noch möglich war. Er wurde in ein Nebenzimmer bei der Theke geführt, wo Männer auf hölzernen Bänken sassen, einige lagen halbwegs hingestreckt, einer trank eben seinen Becher leer. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die er nicht kannte und noch nie gehört hatte. Für ihn war ein Platz auf der unbequemen Bank frei, wo er aus einem riesigen Krug ein Getränk eingeschenkt bekam, das ihn wegen der nahezu gallertartigen Masse und dem rosafarbenen Aussehen ekelte.

Übermüdet und mit Übelkeit riss er sich vollends frei, lief zum Lift beim Empfang, ohne dem Nachtwächter einen einzigen Blick zuzuwerfen, drängte sich mit dem Koffer in den Liftraum, der kaum für eine Person mit Gepäck Platz bot, und fuhr in den Dachstock. Im ebenso gedrängten Korridor, der fast nur aus Türen bestand, suchte er im matten Licht seine Zimmernummer, trat ein, drückte auf alle möglichen Lichtschalter, doch gerade nur ein Bettlämpchen mit einem dicken orangegrauen Schirm war intakt. Blutrote Vorhänge waren vor dem einzigen Fenster gezogen, der Teppich und die Tapeten waren von billiger Ornamentik aus Braun-Rot-Tönen. Aus dem Schlafraum führte ein ungewohnt langer und enger Gang ins Badezimmer. Der unebene und geneigte Boden des Ganges erzeugte ihm einen Schwindel, der noch verstärkt wurde, als er im fensterlosen Badezimmer eine übermässig helle Neonröhre an machte, die den Raum in blendendes Weiss eintauchte und verwinkelte Schatten in den Korridor warf. Er trank ein Glas gechlortes Wasser und warf sich ins Bett. Er räusperte sich noch einmal und merkte, wie er auf dem Kopfkissen eine Träne abrieb. Dann schlief er auf der Feuchtigkeit seiner eigenen Träne ein.

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