Die Außerstandsetzung - Björn Buxbaum-Conradi - E-Book

Die Außerstandsetzung E-Book

Björn Buxbaum-Conradi

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Beschreibung

Andreas, 33 und durchaus studiert, verliert seine Anstellung aufgrund einer computerkriminellen Gelegenheitstat. Er muss sich fortan mit einfacher Arbeit am Frankfurter Flughafen über Wasser halten. Seine freie Zeit widmet er derweil einem technikkritischen Manifest. Im manischen Streben nach Aufmerksamkeit für seine Schrift setzt er alles daran, um einen weltbekannten, aber alternden Schriftsteller auf seine Seite zu ziehen. Der Beginn einer Radikalisierung.

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Für Eduard

Inhalt

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Addendum

Über den Autor

Björn Buxbaum-Conradi wurde 1981 in Kassel geboren. Nach Abitur und Zivildienst geisteswissenschaftliches Studium in Trier und Frankfurt am Main. 2008 Magisterabschluss mit einer Arbeit über Robert Musil. Seither ist er in der Bildbranche tätig. „Die Außerstandsetzung“ ist sein erster Roman.

But lo! men have become the tools of their tools.

H. D. Thoreau

Das Auge selbst und den inneren Kodierungsvorgang ‚sehe‘ ich natürlich nicht, wenn ich in den Himmel schaue und meine, dieser sei blau. Ähnlich ist es beim Blick nach innen. Auch dafür, wie Gedanken entstehen, ist man blind. Dies ist die eigentümliche Transparenz mentalen Erlebens. Sie verunmöglicht, dass das Selbst als Repräsentation von bereits Gegebenem erkannt wird. Ich nenne es den naiven Schleier des Ichs.

aus meinen Notizen

1

Ich hatte nicht die Absicht, ihn zu töten. Es war ein Unfall, also so halb. Ich schreibe dies auf in Untersuchungshaft. Dies ist kein Rechtfertigungsversuch, ich will mich bloß erinnern – möglichst genau erinnern – an das, was war und ist.

1.1

Angefangen hat es damit, dass ich die Stelle bei der Senckenbergschen Bibliothek verloren habe. Nicht, dass ich den Job gemocht hätte, er bestand aus Formal- und Sacherschließung und erzeugte vom ersten Tag an müde Monotonie. Wenn ich dem eine Farbe hätte zuordnen müssen, wäre es Lavendel gewesen, weil Grau gefällt mir tatsächlich. Gleichwohl verlieh der Job meiner Existenz eine basale Berechtigung. Ich habe ihn aus Mangel an Alternativen ausgeübt, zumindest redete ich mir das ein, denn so richtig ausgereizt hatte ich die Bewerbungsmaßnahmen nicht, was auch daran lag, dass ich einen Abschluss habe, der mich für nichts qualifiziert, außer vielleicht für eine absurde Mittelbaukarriere.

In dieser Zeit war ich bemüht, den Tag möglichst bequem rumzukriegen. Mangelnde Motivation sollte aber nicht zur Kündigung führen. Nein, zum Verhängnis wurde mir ein Admin-Kennwort, das ein Kollege von der IT so offen eintippte, dass ich nicht wegsehen konnte und wollte. Mir erschien der Input zunächst als sinnfreie Zeichenfolge, die mit einer dreistelligen Zahlenkombination abschloss.

Behäbig zog der Kerl sein Speichermedium ab und schlich zum nächsten Rechner. Hier hätte alles enden können. Stattdessen fiel mein Blick auf sein T-Shirt, das einer tiefen Verbundenheit Ausdruck verlieh. Die memorierten Zeichen formten sich wie von selbst zu einem klaren Gandalf247, was natürlich so viel heißt wie: Gandalf der Greis ist hochverfügbar, 24 Stunden, 7 Tage die Woche.

Ich testete das Kennwort erfolgreich und ignorierte den Zugang dann für einige Tage. An einem Freitagnachmittag, an dem sich die Kollegschaft schon ins Wochenende verabschiedet hatte, gab ich dem Reiz nach. Ich stellte fest, dass ich Vollzugriff auf einen Server hatte, auf dem mutmaßlich Digitalisate verschiedener wissenschaftlicher Journale gespeichert waren. In nervöser Entschlossenheit startete ich eine Platzhaltersuche. Der Explorer wurde regelrecht geflutet von PDF-Dateien. Die Sachen waren für externe Nutzer nicht zugänglich oder aber kostenpflichtig, das wusste ich, und wie ich vermutet hatte, waren die Dateien auch nicht lesegeschützt. Ich zog einen Speicherstick aus dem Rucksack, löschte alles, was sich darauf befand, und startete einen Kopiervorgang, der trotz Gigabit-Ethernet knapp eine Stunde dauern sollte. Ich verharrte in dieser Zeit am Platz, zerkaute einen Zahnstocher und huldigte dem Datenfluss. Am frühen Abend verließ ich die Bibliothek. Ich war energetisiert wie lange nicht mehr und konnte mir das Grinsen kaum verkneifen.

Das Wochenende verbrachte ich damit herauszufinden, wem ich die Dateien anbieten könnte. Schließlich stieß ich auf Sci-Hub, eine Organisation, die die „Zerstörung aller Wissensbarrieren“ propagiert. Das klang martialisch und gefiel mir. Über ein Forum fand ich einen Kontakt, der mir eine FTP-Adresse für den Upload zukommen ließ. Es dauerte den ganzen Sonntag bis alle Artikel hochgeladen waren.

Es ist bloß eine Redewendung, aber was zwei Monate später folgen sollte, war genau das: ein böses Erwachen. Ich war in einen Honeypot gelockt worden. Der Kontakt, ein Scherge des Elsevier-Verlages, hatte meine IP-Adresse einer Behörde gemeldet, und ich war so leichtsinnig gewesen, das Ganze ohne Verschleierung durchzuführen. Mein Computer samt vorgefundenen Datenträgern wurde beschlagnahmt, darunter auch das Corpus Delicti.

Die Beweislast war erdrückend, einerseits weil ich alleine lebte und mir den Internetzugang mit niemandem teilte, andererseits weil ich die Dateien bloß gelöscht und nur teilweise überschrieben hatte. Es war den Ermittlern ein Leichtes, belastende Fragmente sichtbar zu machen. Und nicht nur das: Der Gedanke, dass sich meine privaten Dokumente in fremden Händen befanden, war schier unerträglich. Ich hatte nichts verschlüsselt. Sorge bereitete mir zudem die lokal gespeicherte Softwaresammlung, die größtenteils aus gecrackten Kopien bestand. Aber das wurde zum Glück nicht Teil des Verfahrens.

Da ich nicht vorbestraft war und ein vollumfängliches Geständnis ablegte, blieb es bei einer Bewährung – mit der Auflage allerdings, Sozialstunden zu leisten, jede Menge Sozialstunden. Zeit dafür hatte ich nun. Mein Arbeitgeber hatte schon im Zuge der Beweisaufnahme Kenntnis von der Sache genommen. Die fristlose Kündigung war im Grunde die einzig mögliche Konsequenz. Da kann ich niemandem einen Vorwurf machen, nicht einmal dem IT-Gandalf, der sich natürlich einiges anhören musste ob seiner kümmerlichen Passwortstärke.

Mir wurde freigestellt, den Ort der Wiedergutmachungsmaßnahme selbst zu wählen. In Absprache mit meinem Bewährungshelfer, entschied ich mich für ein Seniorenwohnheim der Diakonie. Der Leitsatz „Zuhause in christlicher Geborgenheit“ sprach mich irgendwie an. Außerdem hatte man mir in Aussicht gestellt, in der Kantine aushelfen zu können. Tatsächlich musste ich dann doch Ärsche wischen und Bettpfannen leeren, nicht jeden Tag, aber oft genug.

In den ersten Wochen war ich noch bemüht, ein gutes Bild abzugeben. Gleichwohl ahnte ich schon, dass die Sache, also die ganze Sache, nicht spurlos an mir vorübergehen würde. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Diejenigen, die von meiner Aktion wussten, konnten mein Handeln nicht nachvollziehen, und mir selbst log ich vor, ich hätte es aus Idealismus getan: freies Wissen und so. Doch insgeheim wusste ich, dass ich einer Kombination aus Langeweile und Geltungsdrang erlegen war. Immer häufiger blieb ich morgens einfach liegen und fehlte ohne Attest. Die Vorgesetzten im Wohnheim waren zum Glück überaus nachgiebig. Von Sozialstundlern erwartete man offenbar wenig bis gar nichts. Irgendwie brachte ich die Zeit tatsächlich rum. Kurz darauf fiel ich in ein tiefes Loch. Das sagt man ja so, wenn wirklich gar nichts mehr geht. Ich rief Hanne an und beichtete alles. Ich sollte dazu sagen, dass Hanne meine Mutter ist. Verständnis zeigte sie nicht, stattdessen forderte sie mich dazu auf, für ein paar Tage nach Kassel zu kommen, da sie mir übers Telefon ja doch nicht helfen könne. Doch auf eine Fahrt in die mir fremd gewordene Heimat hatte ich keine Lust. Seit meine Eltern sich getrennt haben, beschränke ich die Besuche auf die Feiertage: also Weihnachten, Ostern und so, manchmal auch ein runder Geburtstag oder wenn jemand gestorben ist. Je älter man wird, desto häufiger muss man ja auf Beerdigungen. Ich mag das natürlich nicht, wenn jemand stirbt, den ich gut kenne, aber die schwermütige und gleichzeitig feierliche Stimmung gefällt mir schon. Es ist ja im Grunde das einzige Event, an dem es gut ankommt, schlecht drauf zu sein. Dummerweise bin ich ausgerechnet dann meist gar nicht schlecht drauf.

Es muss Anfang Juni gewesen sein, als ich schließlich zum Arzt ging und mir ein Antidepressivum verschreiben ließ. Paroxitam. Das ist so ein typisches Medikament, das die Verfügbarkeit von Serotonin im synaptischen Spalt erhöht. Das weiß ich aus der Wikipedia. Ich hatte vor ein paar Jahren schon mal was Ähnliches ausprobiert. Seroxat. Das half ganz gut, auch gegen Zwänge und so. Mir wurde damals ja eingeredet, die Finger davon zu lassen, obwohl die meisten natürlich überhaupt keine Ahnung davon haben, was man in einer Depression so durchmacht. Ja, Medikamente haben Nebenwirkungen, aber die Annahme, dass ein seelisches Problem dieser Schwere allein durch therapeutisches Besprechen gelöst werden könne, ist lächerlich. Ich gebe zu, dass ein Plus an Botenstoffen nicht ausreicht, wenn man so gar keine Alltagsstruktur hat, aber in Kombination mit einer sinnvollen Aufgabe können Antidepressiva wirklich nachhaltig helfen.

Nun hatte ich zu besagtem Zeitpunkt keine Struktur, die mich hätte auffangen können, und so blieben schnelle Fortschritte aus. Ich lag am helllichten Tag im Bett, ernährte mich von Tiefkühlkost, ließ mir einen Bart wachsen, wusch mich vielleicht alle drei Tage, trug meine Unterwäsche, bis sie talgig war und säuerlich roch, und las in einem Buch, das einem ein neues Leben versprach, wenn man nur achtsam genug sei.

Ich war froh, als ich endlich meinen Rechner zurückerhielt. Die Wochen zuvor hatte ich in ein Internet-Cafe ausweichen müssen, wobei das natürlich gar kein Cafe war, sondern so ein heruntergekommener Laden, wo man Anrufe in die Türkei tätigen kann und Smartphones der vorletzten Generation bekommt, aber Kaffee eben nicht. Das war nun vorbei. Mein Bildschirm mit Full-HD-Auflösung wurde wieder zum Fenster zur Welt. Ich klickte mich ziellos durch Nachrichtenportale und verfolgte die täglichen Terror-Meldungen, ohne dabei irgendetwas zu empfinden. Abends schaute ich mindestens einen Film, bevorzugt die Genres Neo-Noir oder Postapokalypse. Nebenher trank ich Rotwein oder Dosenbier, manchmal auch beides. Insgeheim hoffte ich auf den Kollaps der modernen Gesellschaft. Die Verantwortung fürs eigene Dasein wäre auf einen Schlag auf ein Minimum reduziert. Es wäre einfacher, es ginge ums bloße Überleben. Vermutlich täte mir eine Frau gut. Doch nachdem ich in den letzten Jahren zweimal verlassen worden war, hatte ich das Gefühl, an der Endzeit näher dran zu sein.

Nach ungefähr vier Wochen begann ich zu spüren, wie das Medikament meinen Antrieb langsam steigerte. Mit einem Bartschneider rasierte ich mir den Schädel, und zwar so kurz, wie es nur ging. Es war umständlich und das Ergebnis mies, aber das störte mich kaum. Den Bart ließ ich dran, ich stutze ihn nur etwas zurück, denn eigentlich gefalle ich mir mit Bart. Ich sah ein wenig aus wie Vincent auf diesem Selbstbildnis von 1888, nur etwas pausbäckiger.

Ich begann mich wieder mit Michael zu treffen. Der wusste auch nicht so genau, was er vom Leben will, hatte aber immerhin einen Job. Wir spielten Schach, gingen was Essen beim Asia-Imbiss nebenan und schauten Filme von Seth Rogen. Er gab mir auch Tipps in puncto Anonymität im Netz, denn nach dem missglückten Upload entwickelte ich ein intensives Verlangen nach Sicherheit, was Computerkram angeht. Also verschlüsselte ich meine Festplatten, machte Thunderbird PGP-fähig und kaufte mir eine Prepaid-SIM-Karte, die ich in ein altes Nokia-Gerät einsetzte. Zur Freischaltung war zwar eine Ausweisnummer erforderlich, aber eine mit einem Generator erstellte ID schluckte die Seite problemlos. Mit der neuen Handynummer schaltete ich eine Prepaid-Kreditkarte von der Tankstelle zur Wiederaufladung frei. Bargeld konnte ich nun in anonymes Buchgeld verwandeln. Ich bezahlte als erstes einen VPN-Service. Dafür ging ich in dieses Internet-Cafe. Natürlich verwendete ich bei all dem einen Standardnamen, der tausendfach vorhanden und perfekt für solche Zwecke ist.

Nachdem ich das abgeschlossen hatte, stellte sich kurzweilig Genugtuung ein. Mir war zwar nicht klar, wofür mir die Anonymität über Pirate Bay hinaus konkret nützen würde, aber allein der Selbstzweck schien mir die Sache zu legitimieren. Ich dachte, es sei eine angemessene Reaktion auf PRISM oder Tempora, obwohl die Risiken, die von diesen Programmen ausgehen, ja im Grunde sehr abstrakt sind. Genau das aber führt dazu, dass die meisten selbst im Wissen über die Sammelwut denken, dass die eigenen Daten nicht so interessant seien. Fortan sah ich mich als jemanden, der sich nicht blind ergibt. Das fühlte sich gut an. Erst Tage später nistete sich der Gedanke ein, dass mich die Maßnahmen verdächtig machen könnten. Ich versuchte den Gedanken wegzudrücken. Das gelang mir sogar halbwegs, was vermutlich auch an dem Medikament lag, das nicht nur die Stimmung hob, sondern zugleich meine Zwanghaftigkeit etwas dämpfte und mich gelassener werden ließ.

Ich habe früh bemerkt, dass ich in ganz unterschiedlichen Dingen gut bin. Das hat mich mühelos durch die Schule gebracht. Allerdings war kein Talent so ausgeprägt, dass es für Größeres gereicht hätte. Nach dem Zivildienst folgte eine Phase voller Zweifel und innerer Kämpfe. Es fiel mir unfassbar schwer, eine Entscheidung zu treffen. Ich versuchte es zunächst mit Physik, aber nach zwei Semestern schmiss ich frustriert hin. Vorübergehend dachte ich, Kommunikationsdesign könnte interessant sein. Ich scheiterte aber schon an der Aufnahmeprüfung – zum Glück, sage ich rückblickend. Am Ende blieb ich bei Philosophie und Geschichte hängen, wobei man eigentlich Wissenschaftsgeschichte sagen muss, denn für Karl den Großen habe ich mich nie interessiert. Hitler schon. Das Böse beeindruckt ja alle irgendwie, erst recht, wenn es sich in einer singulären Gestalt manifestiert.

Meine Mutter hat mich christlich erzogen. Dagegen habe ich früh rebelliert. Ich wollte für alles eine Erklärung. Das festigte sich spätestens mit der Besichtigung des Foucaultschen Pendels in der Kasseler Orangerie. Dass die Erdrotation so einfach und schön nachgewiesen werden kann, faszinierte mich. Da war ich elf, glaube ich. Später gehörte ich dem Physik-Leistungskurs an. Dort wurde oft über Dinge gesprochen, die keiner fassen konnte, und wenn man den Lehrer befragte, kam auch der regelmäßig an seine Grenzen. Damals dachte ich, dass technologischer Fortschritt grundsätzlich gut sei. Selbst im Wissen, dass ausgerechnet Kriege Innovation katalysieren können, zweifelte ich nicht daran.

Heute bin ich anderer Meinung. Es ist ja so: jede Technologie schafft mindestens so viele Probleme, wie sie löst. Technisches Wissen wird immer noch einseitig kontrolliert. Es dient der Machtausübung genauso wie dem Profit. Und Zweckentfremdung ist selten bloß die Ausnahme. Das, was machbar ist, wird gemacht. Vielleicht nicht hier, aber irgendwo dann doch, Ethikrat hin oder her.

In jenen Tagen fing ich an, mich wieder für ebensolche Themen zu interessieren. Ich hatte Zeit und klickte mich bis in die Nacht hinein durch Wikipedia-Artikel und kritische Blogs. Irgendwann stieß ich auf eine Doku über den Mathematiker Ted Kaczynski, der vom Hochschuldozenten zum Einsiedler und Attentäter wurde. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er in unregelmäßigen Abständen Briefbomben verschickt, hauptsächlich an Personen, die sich professionell mit Computern beschäftigten, aber auch an einen Genforscher oder an einen Lobbyisten der Holzindustrie. Außerdem deponierte er eine Bombe im Frachtraum einer Verkehrsmaschine. Nur durch Glück führte die Detonation nicht zum Absturz. Seine Allzeitbilanz: Drei Tote und dutzende, teils schwer Verletzte.

Ich fragte mich, wie ein Mensch so fanatisch sein konnte, dass er bereit war, für seine Ideale zu töten. Und natürlich wollte ich herausfinden, was das für Ideen waren. Also verschaffte ich mir seine Schrift Industrial Society and Its Future. Diese wurde 1995 von zwei US-Zeitungen veröffentlicht. Kaczyncki hatte bei Abdruck ein Ende der Gewalt in Aussicht gestellt. Sechs Monate später wurde er festgenommen. Sein jüngerer Bruder David hatte den Text gelesen, darin den Schreibstil von Ted erkannt und die Behörden alarmiert.

Als ich den Text in den Händen hielt, spürte ich ihn wieder: den ambivalenten Reiz, der Eva getrieben hatte, als sie ihre Hand nach der verbotenen Frucht ausstreckte. Leider waren eigentlich alle Bücher fragwürdiger Autoren, die ich bisher gekostet hatte, entweder langweilig oder krank bis ekelerregend gewesen. Es stellte sich jedenfalls keine Erkenntnis ein, die mich nachhaltig beeindruckt hätte.

Mit dem Kaczynski-Manifest verhielt sich das anders. Der Autor war schließlich ein Wunderkind: übermenschlicher IQ, zwei Klassen übersprungen, mit 16 nach Harvard, Promotion mit Auszeichnung und jüngster Matheprofessor Berkeleys. Ich war also nicht überrascht ob der guten Strukturierung des Textes. Erstaunlich war indes die Aktualität der Thematik: Er antizipierte die Überwachung durch Digitaltechnologien, die Langzeitfolgen gentechnischer Maßnahmen und die Zunahme psychischer Erkrankungen. Seine Kernthese kann man ungefähr so zusammenfassen: Der Mensch der Gegenwart passt sich der Technologie an, nicht umgekehrt. Er wird durch sie gefügig gemacht, Abhängigkeiten nimmt er billigend in Kauf. Das führt zur Entfremdung vom natürlichen Leben, das durch einen hohen Grad von Autarkie geprägt ist. Oder anders gesagt: Das Geflecht hochtechnologisierter Gesellschaften verunmöglicht existentielle Freiheitsgrade und lässt den Menschen zu einem ohnmächtigen Wesen werden. Man bedenke: Als er den Text verfasste, war das World Wide Web gerade ein paar Jahre alt, ein Nischenprodukt, das vom Gros der Menschheit noch gar nicht genutzt wurde. Dass es einmal alle Lebensbereiche durchdringen würde, ahnte er in seiner Hütte im Wald voraus. Sein Bild einer „technologischen Versklavung“ war zu diesem Zeitpunkt natürlich schon länger zur Besessenheit geworden.

Er begann sein perfides Geschäft acht Jahre nach dem Rückzug in die Wildnis von Montana. „Erst die Taten“ war seine Maxime. Das ging auf. Nur so konnte er massenhaft Aufmerksamkeit für seine Schrift und den aus seiner Sicht notwendigen Widerstand bekommen.

Ich war von dieser Konsequenz beeindruckt, wenngleich mir natürlich bewusst war, dass bedingungslose Konsequenz sehr gefährlich sein kann.

Die letzten zwei Monate hatte ich von Reserven und einem Zuschuss meiner Mutter gelebt. Das Arbeitsamt hatte mir zunächst eine Sperrzeit auferlegt, weil ich ja wegen Fehlverhaltens gekündigt worden war. Nun stand ich vor der Entscheidung, entweder von Arbeitslosengeld zu leben oder mir einen neuen Job zu suchen. Ich entschied mich für Letzteres, allerdings nicht ohne vorher zu erwägen „auszusteigen“, denn so richtig Lust hatte ich nicht, also auf Sozialversicherung, Steuererklärung und so weiter. Ich dachte an La Gomera. Ja, Meer und arides Klima, das wäre perfekt! Das war natürlich ein völlig substanzloser Gedanke, ich war ja quasi mittellos, und ich musste an dieses dumme Wortspiel denken, obwohl die Kanaren natürlich gar nichts mit dem Mittelmeer zu tun haben.

Zuerst dachte ich ans Taxigewerbe – als Zivi hatte ich Behinderte gefahren und dafür den Personenbeförderungsschein erworben. Aber der Gedanke, Betrunkene in Alt-Sachs aufzulesen, missfiel mir eigentlich. Außerdem las ich, dass Uber einen Wiedereinstieg in Frankfurt plane. Das würde die Verdienstaussichten noch schlechter machen. Mir fiel dann was Besseres ein. Während meines viel zu langen Studiums hatte ich auch ein halbes Jahr in der Gepäckabfertigung am Flughafen gearbeitet. Ich ahnte schon, dass in der anstehenden Feriensaison Bedarf für Aushilfskräfte sein würde, und rief bei Fraport an, also bei der Personalstelle. Erst während des Gesprächs kam mir der Gedanke, dass mein Führungszeugnis ein Problem darstellen könnte. Aber ich hatte Glück: Ohne dass ich gefragt hätte, wurde mir gesagt, dass die Zuverlässigkeitsüberprüfung noch gültig sei und ich quasi sofort anfangen könne. Zur arbeitsmedizinischen Untersuchung wurde ich trotzdem verpflichtet. Da ich schon damit rechnete, eine Urinprobe abgeben zu müssen, fragte ich Michael, ob er mir aushelfen könne, also wegen des Medikaments, davon sollten die ja nichts wissen.

Wenn es soweit sei, bereite er alles vor, versprach er mir am Telefon, nur abholen müsse ich das Zeug schon selbst.

Am Vorabend fuhr ich also rüber zu ihm. Die Punica-Flasche stand schon fertig befüllt auf der Fensterbank. Ich war gerührt. Auf Michael konnte ich mich verlassen.

Der Check fand in der Flughafenklinik außerhalb des Sicherheitsbereichs statt. Ich hatte den Urin mit einem Trichter in einen Flachmann gefüllt. Den trug ich dann nah am Körper, damit die Pisse bei der Übergabe nicht eiskalt ist. Auf der Toilette blieb ich unbeobachtet. Es war ein leichtes Spiel.

2

Mein Name ist Andreas. Ich bin dreiunddreißig, habe einen Masterabschluss und verlade Gepäck am Frankfurter Flughafen, drei Tage die Woche in Teilzeit. An den freien Tagen schreibe ich neuerdings, versuche es zumindest … und ja, ich verleugne es nicht: das Quantum an krimineller Energie, das mich hin und wieder auf Abwege führt.

2.1

Um zwanzig nach vier reißt mich der Wecker aus dem Schlaf. Frühschicht. Ich greife nach Brille und E-Zigarette. Erst mal raus auf den Balkon. Die Luft ist trocken und angenehm kühl. Ich leere einen Energydrink und überwinde den Gedanken, mich einfach wieder ins Bett zu legen. Gleichzeitig male ich mir den süßen Genuss aus, nach der Schicht ausgiebig zu schlafen. Das geht ständig so. Ich sehne mich nach Kontemplation, womit ich meistens Schlaf meine, während mich das tätige Leben anwidert.

Ich verlasse das Haus. Draußen ist es dunkel und still, die Straßen sind leer. Der Sommer ist auch endlich vorbei. Ich mag den Herbst, weil die Insekten dann sterben, insbesondere die Zecken, die ja gar keine Insekten sind. Aber wer weiß das schon? Zur S-Bahn sind es nur ein paar Minuten. Ich ziehe mir ein Bounty aus dem Automaten. Dann fährt der Zug ein. Ein Spiegelbild in der Tür. Das bin wohl ich. Ich lasse mich auf einen Sitz fallen und koste eine halbe Stunde des Ruhens.

Gemeinsam mit einer Schar anderer Frühschichtler steige ich aus. Der Flughafen ist eine labyrinthische Stadt mit vielen unterirdischen Ebenen. Die Hallen und Verbindungsgänge gleichen sich so sehr, dass ein Neuling sie nur anhand der Beschilderung unterscheiden kann. Ich navigiere mittlerweile blind von Halle zu Halle. Die tägliche Kontrolle mitgeführter Gegenstände lasse ich gedankenlos über mich ergehen. Mein Spind hat die Nummer 476. Irgendjemand hat so einen dämlichen Aufkleber dran geklebt. FCK CPS. Als ob das intelligenter wäre, nur weil man zwei Vokale weglässt.

Ich tausche Hose und Hemd gegen die blaue Einheitskluft und schnüre die Sicherheitsschuhe. Zwei Araber, vielleicht auch Türken – so genau weiß ich das nicht, da sie Deutsch sprechen, also dieses Assideutsch ohne Präpositionen – na, die lachen sich jedenfalls über ein Pornovideo kaputt, also so ein Ekelvideo, glaube ich. Dann wird das Smartphone in den Spind gepackt. In den Katakomben und auf dem Vorfeld ist nur das Dienstgerät von Catterpillar zugelassen. Da ich in der Hierarchie ganz unten stehe, muss ich ohne das Gerät auskommen. Ich verzichte gerne. Privat besitze ich neben dem Nokia nur so ein Pseudo-Smartphone ohne 3G-Fähigkeit. Mehr als Kamera und MP3-Player brauche ich aber auch nicht. Das Modell wird natürlich nicht mehr hergestellt, deswegen habe ich mir bei eBay noch eins als Ersatz gekauft.

Ich mache Meldung und erfahre, wo ich eingeteilt bin. Das ist hier wie beim Bund, zumindest stelle ich mir das da so vor. Ich muss heute ins Sammellager für Fundsachen und nehme dies mit Erleichterung zur Kenntnis. Es bedeutet, dass kein Zeitdruck herrscht. Außerdem arbeiten dort auch Frauen, das heißt, es geht einigermaßen gesittet zu.

Die Gepäckabfertigung wird dagegen nur von Männern bewerkstelligt. Je nach Dienstgrad ist man dort entweder jemand, der delegieren oder anpacken muss. Wenn ich da erst mal im Schweiß stehe, fühlt sich das gut an. Aus den Gesprächen über die Eintracht oder „Lufthansa-Bitches“ halte ich mich gewöhnlich raus. Ich interessiere mich nicht für Fußball, für Frauen natürlich schon, aber die dummen Sprüche langweilen mich. Studenten, die sich mit dieser Maloche das Studium finanzieren, gibt es immer noch. Die haben natürlich nichts zu sagen und werden skeptisch beäugt. Von mir weiß niemand, dass ich einen Uniabschluss habe. Trotzdem spüren einige, dass ich mich geistig überlegen fühle. Ich habe vergeblich versucht, dagegen anzukämpfen. Der Gedanke, etwas Besseres zu sein, sorgt dafür, dass der Job erträglich bleibt.

Am Check-in wird das Gepäck bekanntlich mit einer barcodierten Schlaufe versehen. Auf den Transportbändern wird die manchmal abgerissen. Die Gepäckstücke landen dann bei der Fundstelle und werden nach vierzehn Tagen geöffnet, also wenn keine Adresse angebracht ist. Die enthaltenen Gegenstände werden in eine Datenbank übertragen. Wenn der Besitzer ebenfalls angibt, was er mitgeführt hat, kommt es bestenfalls zu einem Match. Alles, was trotzdem liegen bleibt, wird ohne Angabe über den Inhalt versteigert. Das ist quasi eine Form des Glückspiels. Bargeld kann man dabei leider nicht gewinnen. Geld oder Drogen werden konfisziert. Da sitzt tatsächlich den ganzen Tag ein Zollbeamter, der nichts anderes macht, als Bild-Zeitung zu lesen und Kaugummi zu kauen. Und wenn der Mittagspause macht, müssen wir auch Mittagspause machen, weil der immer dabeisitzen muss.

Am Gepäckstück erkennt man natürlich schon, wie der Reisende situiert ist: Rimowa bildet die Spitze, der Standard kommt von Samsonite und One-Way-Reisende aus Drittweltländern verwenden gerne Plastikgewebetaschen. Meistens ist der Inhalt unspektakulär, manchmal unappetitlich. Ich spreche von getragener Unterwäsche. Verdorbene Lebensmittel findet man eher selten. Es wird natürlich mit Schutzhandschuhen und Lüftung gearbeitet. Eine Sorge, die ich habe, beruht auf dem Gedanken, dass ich Erreger einatmen könnte. Gepäck, das nach Afrika oder so aussieht, öffne ich daher nur ungern. Da muss ich mich dann echt überwinden. Unlängst habe ich ein verschraubtes Plastikbehältnis entdeckt, das mit einer zähen Masse gefüllt war. Ein männlicher Kollege steckte seinen Finger rein und kostete davon, wohl ahnend, dass es nur Honig sein konnte. Manche machen den Job eben schon seit zwanzig Jahren, und die wollen auch gar nichts anderes machen.

Mittlerweile ist es kurz nach elf. Der Zollbeamte faltet die Zeitung zusammen und erhebt sich. An freien Tagen wäre ich gerade erst aufgestanden. Nun ist es schon Zeit für das Mittagessen. In den Kantinen kehren alle Berufsgruppen am Flughafen ein. Durch die jeweilige Uniform lässt sich jeder sofort einordnen. Entsprechend gesellt man sich. Die blaue Kaste wird als unterste angesehen. Sie besteht aus Gepäckleuten, Vorfeldpersonal und einfachen Technikern. Darüber kommt der Sicherheitsdienst, angeführt von Zoll und Bundespolizei. An der Spitze stehen ray-ban-taugliche Flugkapitäne, die tadellos kostümierte Stewardessen um sich scharen.

Das Kantinenessen ist gut, die Auswahl groß. Es gibt ein Salatbuffet und die Preise sind hinnehmbar. Ich esse ein Omelett mit Käse und Schinken und trinke Fanta Grapefruit. Das ist der Höhepunkt des Tages. Warum nicht? Es könnte schlimmer sein.

Nach dem Essen inhaliere ich eine Portion Nikotin, dann geht es im gewohnten Takt weiter, Koffer für Koffer, Schicksal für Schicksal. Doch spektakuläre Fälle wie Gepäck von vermeintlich desertierten US-Soldaten oder Zeugnisse missglückten Rauschgiftschmuggels bleiben heute aus. In einem gewöhnlichen schwarzen Samsonite befindet sich ein Laptop der Marke Lenovo. Während ich den Koffer durchsuche, ertaste ich eine Speicherkarte. Mittlerweile habe ich schon eine kleine Sammlung zu Hause. Ich lasse den Datenträger in meine Hosentasche gleiten und hole gleichzeitig ein Taschentuch heraus.

Als die Schicht rum ist, schleppe ich mich erschöpft zu den Spinden. In der S-Bahn muss ich gegen den Schlaf ankämpfen, obwohl ich in voller Laustärke das neue Megadeth-Album höre. An der Zielstation steige ich leblos aus. Noch fünf Minuten und ich hab’s geschafft. Die letzten Schritte hoch in den vierten Stock, Tür auf und Rucksack in die Ecke. Ich lasse mich aufs Bett fallen. Eine angenehme Ohnmacht breitet sich aus.

2.2