Zwei absolute Equilibristen - Björn Buxbaum-Conradi - E-Book

Zwei absolute Equilibristen E-Book

Björn Buxbaum-Conradi

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Beschreibung

Es war Juli, das Sommersemester lief noch und wir liefen ihm davon, einem tiefen Bedürfnis nachgebend, das sich unmerklich, wie der Farbwechsel einer reifenden Tomate, im Zentralnervensystem ausgebreitet hatte. Der Fluchtpunkt war der Harz, ihn zu durchqueren das Ziel – den Spuren eines Dichters folgend, der im Herbst des Jahres 1824 eben jene Reise auf sich genommen hatte.

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Richard Ljungman gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Z

WEI ABSOLUTE

E

QUILIBRISTEN

Ein Drahtseilakt über den Harz

von Björn Buxbaum-Conradi

I.

II.

III.

IV.

V.

V

IER EQUILIBRISTISCHE

K

UNSTSTÜCKE

von Eugen Ovčar

in deutscher und russischer Sprache

I.

II.

III.

IV.

ÜBER DIE AUTOREN

Björn Buxbaum-Conradi, geboren 1981 in Kassel, hatte schon immer ein Auge für das richtige Maß. Der Equilibrist in ihm erkennt sofort, wenn die Brille schief sitzt oder ein Argument abzurutschen droht. Doch eigentlich wäre Björn gerne ein schräger Typ.

Eugen Ovčar wurde 1983 in Kurgan, Russland, geboren. Am liebsten wäre er ein Sammler des menschlichen Lächelns geworden. Dazu hatte er leider kein Talent. Stattdessen schlug er die Laufbahn eines Mediziners ein. Sollte er nochmal ein Buch schreiben, würde dieses von einer Weltraumreise handeln.

ZWEI ABSOLUTE EQUILIBRISTEN

Ein Drahtseilakt über den Harz

Sie werden es gewollt haben müssen.

Harzer Weisheit

I

Die Stadt Frankfurt, berühmt durch ihre Würste und Wolkenkratzer, hatten wir schnell hinter uns gelassen; vor uns lagen fünf Tage, die wir fern ab der Großstadt zu verbringen gedachten. Es war Juli, das Sommersemester lief noch und ich lief ihm davon, einem tiefen Bedürfnis nachgebend, das sich unmerklich, wie der Farbwechsel einer reifenden Tomate, in meinem Zentralnervensystem ausgebreitet hatte. Unser Fluchtpunkt war der Harz, ihn zu durchqueren unser Ziel – den Spuren eines Dichters folgend, der im Herbst des Jahres 1824 eben jene Reise auf sich genommen hatte. Seine markigen Abschiedsworte, gerichtet an die Mitglieder der ungeliebten Juristischen Fakultät der Georgia Augusta, klingen auch heute noch wunderhaft lebendig.

Lebet wohl, ihr glatten Säle,

Glatte Herren! Glatte Frauen!

Auf die Berge will ich steigen,

Lachend auf Euch niederschauen.

Der Juristenstand hat seine Rechthaberei qua definitione beibehalten, indessen hat sich in der übrigen Welt einiges geändert: Das für die Gefühlswelt zuständige Organ ist heute das Gehirn, respektive das limbische System. Dort entscheidet sich, ob eingehende Informationen in Angstschweiß oder Jauchzen gebettet werden, während das von den Dichtern so lang gerühmte Herz zur bloßen Pumpe mutierte.

Die Mutter jenes Wandels, den manche Fortschritt nennen, heißt bekanntlich scientia, die exakte, die höchste aller Erkenntnisformen. Zugegeben, liebe Wissenschaft, so mancher Einfaltspinsel, der kein Haar übrig hat für Zahlenschönheit und logische Strenge, streicht in breiten Lettern Giftgas, Eugenik und Tschernobyl dir auf die Stirn, nicht wissend, dass erst der berüchtigte Wille zur Macht dich in jenen Geist verwandelte, der Giftgas und Kampfflieger aufsteigen ließ. Ich werde letzteres dir nicht anlasten, noch Fragen an dich stellen, werd' bloß von deinen Wundertaten sprechen, möchte doch dein Herz nicht brechen.

Liebe Scientia, du bist mit deinem mikroskopischen Auge bis in das letzte Molekül vorgedrungen, blickst mit dem makroskopischen Auge Raumzeit durchdringend an den Anfang des Universums zurück, mit dem endoskopischen gar in jede Zotte des Darms. Du hast mehr unterschiedliche Medikamente, als es Krankheiten gibt, hervorgebracht, machst es uns möglich, Informationen mit halber Lichtgeschwindigkeit um den Globus zu schicken, unser eigenes Erbgut zu erfassen und Sprengköpfe zu bauen, um diktatorische Köpfe zu sprengen. Dank dir können wir zum Mond fliegen, zum Spaß fliegen, zum Spaß Fliegen züchten, Hunde züchten, Menschen züchten und in naher Zukunft vermutlich menschliche Organe züchten. Nur das Aroma frischer Pistazien können deine Ökotrophologen scheinbar noch nicht angemessen synthetisieren – und da wäre noch das klitzekleine Problem, das sich Mortalität nennt und Gevatter Tod gerufen wird. Liebe Wissenschaft, dank dir glauben wir heute, dass die Welt alles ist, was der Fall ist. Der Fall sind interagierende Teilchen – nicht mehr, nicht weniger. Mit dem unvorhandenen Rest hat sich seit jeher deine schlafende Urgroßmutter beschäftigt. Philosophia ist ein bisschen launischer, als du es bist, hält sich für alles zuständig und für nichts geeignet. Vielleicht mag das daran liegen, dass sie schon sehr alt ist und du sie seit mehr als hundert Jahren nur noch als Pflegefall betrachtest. Bei guter Laune glaubt philosophia, in der besten aller möglichen Welten zu leben, während sie an schlechten Tagen befürchtet, dass genau das wahr sein könnte. Grundsätzlich meint sie jedoch, sicher zu wissen, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, was genau gut und was genau schlecht ist.

Angesichts des schlechten Wetters glaubte ich in jenem Moment bloß in der regenreichsten aller möglichen Welten zu leben. Aus dem Fenster des Zugabteils blickte ich in einen eisgrauen Himmel. In der Ferne zogen die Ausläufer des Taunus schwerfällig den Horizont entlang, im Nahbereich durchzuckten blitzendes Gleisbett und wogendes Gebäum stakkatohaft das Sehfeld, dazwischen Fußballfelder, Maisfelder, Kindergärten, Baumschulen, Schrebergärten, Faultürme, Kirchtürme, Autobahnen, Bahn- und Bauernhöfe, Menschen, klein wie Ameisen und Ameisen, klein wie Menschen, wenn man sie vom Mond aus betrachtet. Meine Gedanken drehten sich indes im Kreise wie ein rostiges Karussell, kaum hatte ich eine Runde gedreht, kam ich wieder an derselben Stelle vorbei, nur um erneut festzustellen, dass manche Fragen nicht zu lösen sind. Philosophieren ist wie Karussell fahren auf hohem Niveau, dachte ich, mit dem Unterschied, dass einem bei letzterem nur schlecht wird, während zwanghaftes Nachdenken quälender als jede Übelkeit sein kann und in schweren Fällen mit Mutlosigkeit und Sinnentleertheit einhergeht.

Auf der Höhe von Gießen nahm eine ältere Dame neben mir Platz. Die Siebzig mochte sie schon überschritten haben. Sie begann ein einseitiges Gespräch mit mir zu führen, in welchem ich erfuhr, dass sie sich nach einem Besuch ihrer Tochter, die in Heidelberg lebe und einen recht tüchtigen Sohn habe, der mittlerweile die Universität besuche und erfolgreich Jura studiere, auf der Rückfahrt nach Marburg befinde, der Stadt, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht habe, welches vor allem während der Kriegsjahre hart und bedrückend gewesen sei, aber trotz kräftezehrender Arbeit in einer Rüstungsfabrik und des frühen Todes ihres Mannes habe sie sich nicht klein kriegen lassen und den Mut nie verloren, denn, und diesen Satz sprach sie bedachtvoll aus, was einen nicht umbringe, mache einen nur härter.

Froh darüber, halbverdaute Weisheiten loswerden zu können, entgegnete ich ihr, dass, wenn ihre Lebensregel stimme, ein alter Mensch äußerst hart werden könne, so hart, dass ihn nichts mehr erschüttern oder gar zu Fall bringen könnte. Woraufhin mich die alte Dame ungläubig anschaute und fragte, was ich ihr damit um Gottes Willen sagen wolle.

Es gehe in der Tat um Gottes nichtvorhandenen Willen, sagte ich ihr lächelnd, denn welchen Willen sollte ein unsterbliches Wesen schon haben? Sie sagte, sie wisse, was mein Problem sei. Ich mache mir zu viele unnötige Gedanken. Glücklich werde man auf diese Weise nicht. Und darum gehe es ja letztendlich im Leben – glücklich zu werden. Vielleicht hatte sie Recht.

Ob wir wandern gehen wollten, fragte sie mich, als wir in Marburg hielten. Ich bejahte, half ihr beim Aussteigen und hievte ihren Koffer aufs Gleis, was sie mir mit einem warmen Händedruck und Glückwünschen für unsere Reise dankte. Nachdem ich in Gedanken die Frage, ob es genuin altruistische Handlungen geben könne, mit nein beantwortet hatte, lehnte ich mich zurück in den Sitz des Intercitys und studierte ein Heftchen mit dem Titel Unnützes Wissen, 200 skurrile Fakten, die du nie mehr vergisst. Wussten Sie etwa, dass die Niederschlagsmenge in deutschen Romanen doppelt so hoch ist wie in der Realität? Achten Sie einmal darauf.

Wir näherten uns Kassel, der Stadt, in der ich einundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte. Der Zug begann bereits abzubremsen und ich konnte in der Ferne die Hänge der Dönche aufleuchten sehen, jenes Stück Natur, das direkt an das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, angrenzt, und das uns in der Kindheit Raum für Abenteuerphantasien geboten hatte. Im Sommer waren wir durch das sonnengebrannte Gras, das uns bis zur Brust reichte, gestreift. Wir wohnten in selbstgebauten Baum- und Erdhöhlen, stauten die zahlreichen Bäche, bewaffneten uns mit Pfeil und Bogen, aßen wilde Brombeeren, fingen ab und zu einen Fisch und träumten von der zehnjährigen H., die die Hübscheste in unserer Klasse gewesen ist, mittlerweile aber zwei Kinder groß zieht und eine Drogenkarriere hinter sich hat. Im Winter fuhren wir mit unseren Schlitten die Hänge hinunter, überschlugen uns, krachten durch das Eis zugefrorener Tümpel, rieben uns die Gesichter im nassen Schnee, der auch damals nur ein paar Wochen im Jahr den Boden bedeckte, erkälteten uns, und träumten mit fiebrigen Augen von H.'s zarter Haut.