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Hinter den Kulissen der Ehe meiner Eltern Als der sechzehnjährige André Bar mit seiner Freundin Francine durch Nizza bummelt, wird er zufällig Zeuge, wie seine Mutter ein Stundenhotel verlässt. Auch Madame Bar hat ihren Sohn gesehen. Hat sie eine Affäre? Von einem Moment auf den anderen gerät die Ehe aus den Fugen. Die Eltern versuchen, den entsetzten Sohn zu beschwichtigen – und ziehen ihn damit bloß immer tiefer in die Geschichte ihrer Ehe. Dabei will André einfach nur seine Ruhe haben. Neu übersetzt von Sophia Marzolff
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2022
Georges Simenon
Die Beichte
Roman
Aus dem Französischen von Sophia Marzolff
Atlantik
Was nimmst du?«
»Und du?«
Er zögerte kurz. Aber warum sollte er eine Rolle spielen, warum sollte er sich nicht so geben, wie er war, mit seinen wahren Vorlieben?
»Einen Schokoladenmilchshake.«
Und wie erwartet nahm er ein belustigtes Funkeln in ihren Augen wahr. Aber war dieses Funkeln nicht vorhin schon da gewesen, als sie einander begegnet waren, und lag nicht der gleiche fröhliche Spott auch in seinem Blick?
Der Mann hinter dem Tresen mit seinen aufgekrempelten Hemdsärmeln wartete. Ein Kunde hatte ihn kurz zuvor Raoul genannt. Er war noch jung, höchstens dreißig. Alles hier wirkte jung und unbeschwert. Die Wände der Bar waren weiß, auch die Tische, die Stühle und die Hocker, auf denen sie saßen.
»Ein großes Glas Milch mit zwei Kugeln Schokoladeneis.«
Er deutete auf den Mixer, der neben den Regalreihen mit den Flaschen stand.
»Ist das gut?«, fragte sie.
»Geschmackssache. Ich mag es.«
»Dann nehme ich das Gleiche.«
Dies alles besaß natürlich keine Bedeutung. Doch eines Tages, wer mochte das wissen, würde es vielleicht eine größere Bedeutung gewinnen. Man verlebt ahnungslos Minuten, die einem ganz alltäglich erscheinen, und Jahre später, manchmal erst im Alter, wird einem bewusst, dass sie für das restliche Leben entscheidend waren.
»Ist das hier groß genug?«, fragte Raoul und zeigte auf ein Glas, in das fast ein halber Liter passte.
»Schon. Ist die Milch gekühlt?«
Raoul holte sie aus dem Kühlschrank. Die Musik aus der Jukebox ließ den kleinen Raum vibrieren, in dem sich nur vier oder fünf Gäste befanden, zwei Mädchen in Stretchhosen und junge Burschen, die ihre Motorräder draußen am Bordstein abgestellt hatten.
André Bar war noch nie in dieser Straße gewesen, kannte nicht einmal ihren Namen. Aber was war schon ein Straßenname? Viel wichtiger war doch, dass sie beide diesen Glanz in den Augen hatten, diesen unbekümmerten, amüsierten Ausdruck, als mokierten sie sich über sich selbst oder als spürten beide instinktiv, dass sie einen Moment außerhalb der Zeit verlebten.
»Für Sie auch zwei Kugeln, Mademoiselle?«
Sie verfolgten die Zubereitung ihres Getränks wie einen fesselnden Vorgang. Der Mixer surrte; die Eiskugeln hüpften in der Milch unentschlossen auf und ab, verloren ihre Form, zerliefen und verliehen der Flüssigkeit nach und nach einen fast violetten Farbton.
»Sieht nicht sehr appetitlich aus«, bemerkte sie.
»Aber es ist lecker!«
Sie lachte.
»Warum lachst du?«
»Weil du das mit solcher Überzeugung gesagt hast! Ein anderer Junge hätte, um mich zu beeindrucken, einen Aperitif oder vielleicht einen Whisky bestellt.«
»Ich mag keinen Alkohol.«
»Auch keinen Wein?«
»Auch keinen Wein. Nicht einmal Bier. Wenn eine Nachspeise Kirschwasser oder Maraschino enthält, kann ich sie nicht essen.«
Er war einen ganzen Kopf größer als sie, einen Meter achtundsiebzig. Der Arzt meinte, in vier, fünf Jahren werde er es auf eins fünfundachtzig bringen. Er hatte breite Schultern, einen muskulösen Körper.
Vor noch nicht allzu langer Zeit hatten diese Muskeln den Kinderspeck verdrängt, der ihn jahrelang hatte verzweifeln lassen, als er der dickste Schüler in der Klasse gewesen war. Jetzt war er der stärkste.
»Trinkt man es mit einem Strohhalm?«
»Das ist so üblich.«
»Warst du schon einmal hier?«
»Nein, ich bin hier heute zum ersten Mal.«
»Gefällt dir das?«
»Was? Der Schokogeschmack?«
»Nein. Ich meine die E-Gitarre.«
Ein Mädchen mit schwarzen Haaren, die ihr schnurgerade über die Wangen fielen, hörte nämlich gerade eine Platte mit elektrischer Gitarrenmusik. Gebannt starrte sie auf die Jukebox und lehnte sich an sie, als schmiegte sie ihren Kopf an eine Männerbrust.
»Kommt darauf an. Klassische Gitarre mag ich lieber. Und du?«
»Geht mir ähnlich.«
Sie sog die Milch durch den Strohhalm, was unvermeidlich ein gurgelndes Geräusch verursachte. Zwischen ihnen herrschte so etwas wie ein stilles Einverständnis. Er war ihr davor erst zweimal begegnet, das erste Mal, als sie mit ihren Eltern zum Abendessen zu ihnen nach Cannes gekommen war, das andere Mal, als die Boisdieus die Einladung hier in Nizza erwidert hatten. Jetzt würden sicherlich einige Monate, wenn nicht Jahre vergehen, bis die beiden Familien wieder zusammentrafen.
Deshalb hatte André Bar ein wenig nachgeholfen. Er hatte den Donnerstag abgewartet, um mit seinem Moped nach Nizza zu fahren, denn er wusste, dass Francine anders als er an diesem Nachmittag Unterricht hatte. Er wusste auch, dass sie die École Danton besuchte, eine Privatschule für Buchhaltung, Stenographie und Fremdsprachen, die sich nicht weit von der Promenade in zwei Stockwerken eines Gebäudes in der Rue Paradis befand, über einem italienischen Restaurant.
Um fünf hatte sie Unterrichtsschluss, und eine Viertelstunde vorher hatte er sich mit seinem Moped etwa fünfzig Meter von dem Gebäude entfernt an den Straßenrand gestellt und abgewartet.
Es war Mai. Die Sonne schien warm, fast heiß, und die Frauen trugen helle Kleider. Als er die Promenade des Anglais entlanggefahren war, dösten dort ältere Herrschaften unter Sonnenschirmen, und zwischen den weißen Wellenstreifen blitzten bunte Badeanzüge auf.
»Woran denkst du?«
»An nichts. Und du?«
»Auch an nichts.«
Das stimmte fast. Er dachte höchstens daran, dass sie nicht so war wie die anderen, dass sie keine solchen Hosen trug, die eng am Hintern anlagen, dass sie kein Mädchen war, das man auf dem Motorradrücksitz mitnahm.
Sie wusste zu schauspielern. Sie konnten es beide. Als er gesehen hatte, wie aus der École Danton die Schüler herausströmten, von denen manche fast zwanzig Jahre alt waren, hatte er hastig sein Moped angeworfen und so getan, als würde er zufällig durch die Straße fahren.
»Francine!«, hatte er gerufen, als er an ihr vorüberkam.
Sie hatte ihn gesehen, womöglich sogar schon, als er das Moped gestartet hatte.
»Ist das hier deine Schule?«
Als ob er das nicht wüsste!
»Was machst du denn in Nizza?«
»Ich wollte mir mal das Gymnasium ansehen, an dem nächsten Monat meine Abiturprüfung stattfindet.«
Sie hatte vorgegeben, ihm zu glauben, und dann waren sie ganz selbstverständlich nebeneinanderher durch die belebte Straße gegangen, er sein Moped schiebend und sie mit ihren Büchern und Heften unter dem Arm.
»Mir war gar nicht aufgefallen, dass du so groß bist«, sagte sie.
Da hatten beide schon jenes Lächeln im Gesicht, das André Bar bisher bei manchen Paaren auf der Straße so albern gefunden und nicht verstanden hatte.
Er fand sich selbst nicht lächerlich. Er fand auch sie nicht lächerlich. Hätte er nicht sein Moped festhalten und sie nicht ihre Bücher tragen müssen, hätten sie ebenso gut Hand in Hand gehen können.
Sie kamen an einem Blumenladen vorüber, und der Geruch von frisch geschnittenen Nelken begleitete sie ein paar Meter auf dem Trottoir. Ein Stück weiter fragte er, da ihm die Strecke bis zum Boulevard Victor-Hugo, wo sie wohnte, zu kurz erschien:
»Hast du es eilig?«
»Nicht besonders.«
»Magst du vielleicht etwas trinken?«
»Ja, würde ich gern.«
Sie hatte nicht protestiert, als er mit ihr die Avenue de la Victoire überquerte, wodurch sie sich von ihrem Zuhause entfernten, auch nicht, als er sie ziellos durch kleine Straßen führte. Und in der Tat hatten sie kein Ziel. Sie gingen einfach nur, um zusammen zu sein. André Bar hielt dabei Ausschau nach einem netten Ort, wo er mit ihr einkehren konnte, und schließlich hatten sie ihn gefunden.
»Bereitest du dich auch auf Prüfungen vor?«
»Erst für den Juli.«
»Und danach?«
»Habe ich noch ein Jahr vor mir.«
»Ist es schwer?«
»Es geht. Weniger schwer als am Gymnasium. Im Gymnasium hatte ich Mühe mitzukommen. Mir ist schnell klargeworden, dass ich das Abitur niemals schaffe. Ich bin nicht besonders auf Zack. Nicht so wie du! Hast du schon eine Ahnung, was du später mal machen willst?«
Das Gleiche hatte sie ihn schon bei ihm zu Hause gefragt, in der Mansarde, die er lieber mochte als sein Zimmer und die sein persönlicher Rückzugsort war. Während die Eltern unten im Wohnzimmer über alte Bekannte von früher sprachen und darüber, was aus ihnen geworden war, zeigte er ihr sein Reich, wo sie zu ihrer Überraschung neben einem Sammelsurium an Büchern und Schallplatten auch eine elektrische Autorennbahn vorfand.
»Magst du sie mal ausprobieren? Such dir einen Wagen aus …«
Er hatte ihr ein kleines Gerät in die Hand gedrückt.
»Zum Beschleunigen drückst du auf den Knopf hier. Um langsamer zu werden, verminderst du den Druck. Man muss vor allem in den Kurven aufpassen. Es ist kniffliger, als man denkt.«
An manchen Stellen der Mansarde musste er den Kopf einziehen, um nicht gegen die Dachbalken zu stoßen. Sie hatten sich gut amüsiert. Francine hatte ihr Auto – das blaue – ein dutzend Mal zum Überschlagen gebracht, und er hatte ihr gegenüber eine freundliche Beschützerrolle eingenommen.
»Du wirst das schnell rauskriegen. Achte darauf, dass du nicht zu plötzlich beschleunigst.«
Er war sechzehneinhalb. Sie siebzehn.
»Mit wem spielst du normalerweise?«
»Mit niemandem. Ich spiele allein. Manchmal mit meinem Vater, aber eher selten.«
»Hast du keine Freunde?«
»Nur meine Klassenkameraden.«
»Siehst du sie oft?«
»In der Schule.«
»Unternehmt ihr nichts zusammen?«
»Fast nie.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich habe keine Lust.«
Schon an jenem ersten Abend hatten beide so einen ironischen Blick gehabt, als machten sie sich über sich selbst lustig.
»Und wie ist es bei dir?«
»Ich gehe manchmal mit meiner Mutter ins Kino.«
»Gehst du abends nie allein aus?«
»Das würde mein Vater nicht gutheißen. Meine Mutter übrigens auch nicht. Sie sind da recht altmodisch. Sind deine Eltern streng?«
»Nein.«
»Lassen sie dich einfach gewähren?«
»Ich glaube schon. Sie achten nicht sehr darauf, wann ich komme oder gehe.«
»Bleibst du so lange weg, wie du willst?«
»Ich habe einen Hausschlüssel.«
Keiner von beiden fragte sich, wie es kam, dass sie sich miteinander wohlfühlten. Es war eine Tatsache, die sie akzeptierten, ohne sich darüber zu wundern.
»Ich muss dann wohl mal los.«
»Nicht noch einen Milchshake?«
»Bloß nicht! Sonst habe ich am Ende einen Liter Milch im Bauch.«
»Ich genehmige mir das manchmal. Einmal habe ich fünf solcher großen Shakes hintereinander getrunken, zwei davon mit Orange und einen mit Ananas.«
Es war keine richtige Verabredung. Es war auch keine Zufallsbegegnung. Im Grunde war es ein kleines Wunder, zu dem beide gut gelaunt beigetragen hatten. Und als sie jetzt erneut über den sonnenbeschienenen Gehweg schlenderten, legte Francine plötzlich ihre Hand auf seinen Arm und sagte:
»Ist das nicht deine Mutter dort drüben?«
»Wo?«
»Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Sie ist gerade aus dem gelben Haus gekommen …«
Jetzt bemerkte er sie auch, erkannte ihr hellblondes Haar, ihren resoluten Gang, ihr gemustertes Chanelkostüm in Altrosa.
»Glaubst du, sie hat uns gesehen?«, fragte er in gelangweiltem Ton.
»Nein. Sie hat sich gleich nach rechts gewandt, ohne sich umzusehen, als hätte sie es eilig. Ist es dir nicht recht, wenn sie uns zusammen sieht?«
»Das ist mir egal.«
»Was hast du denn?«
»Nichts.«
Es war kein Irrtum möglich. Er erkannte jetzt weiter unten in der Straße das rote Cabrio, auf das seine Mutter zusteuerte. Sie setzte sich hinein, streifte ihre Handschuhe über, schlug die Wagentür zu. Er war kaum zwanzig Meter von ihr entfernt, und als sie den Motor startete, schien ihm, als würden sich ihre Blicke im Rückspiegel begegnen. Das Cabrio fuhr los, bog um die nächste Straßenecke und verschwand im Nachmittagsverkehr.
Sie gingen immer noch Seite an Seite, er sein Moped schiebend, sie mit ihren Büchern unter dem Arm, aber sie bewegten sich nicht mehr auf die gleiche Weise. Francine hatte ihm nur einen verstohlenen Blick zugeworfen und keine weiteren Fragen gestellt. Sie fragte auch jetzt nichts.
Schließlich erreichten sie den Boulevard Victor-Hugo und das große steinerne Wohnhaus mit der hellen Eichenholztür, neben der rechts ein Messingschild angebracht war:
Dr. E. Boisdieu
Neurologe
Vormals Chefarzt in Paris
»Auf Wiedersehen, André. Danke für den Milchshake.«
»Wiedersehen, Francine.«
Er lächelte sie an, und in seinem Blick lag Wehmut, als sollten sie die Leichtigkeit dieses Nachmittags nicht mehr wiederfinden.
Er lag in seiner gewohnten Position, bäuchlings, auf dem Fußboden der Mansarde, vor sich ein Chemiebuch, als er Noémies Stimme hörte.
»Monsieur André! … Das Abendessen steht bereit …«
Sie hatte die Eigenheit, laut durchs Treppenhaus zu rufen, obwohl seine Mutter das nicht mochte.
»Können Sie ihn nicht wie jeden anderen auch zum Essen holen?«
»Nein, Madame. Sie werden mich nicht dazu bringen, mit meinen Krampfadern dreimal am Tag zwei Treppen hochzusteigen, nur um einen jungen Mann, der es sowieso weiß, an die Essenszeit zu erinnern.«
Sie aßen immer um halb neun zu Abend, denn sein Vater kam selten vor acht aus seiner Praxis. Diesmal blickte seine Mutter nicht demonstrativ auf Andrés Brust, um ihn darauf hinzuweisen, dass er wieder ohne Krawatte bei Tisch erschien.
Es war ein Kleinkrieg, der schon lange zwischen ihnen herrschte. Er hatte sich ein für alle Mal für eine Kleidung entschieden, in der er sich sowohl in der Schule als auch daheim und auf der Straße wohlfühlte: Hosen aus beigem Drillich, die mit jedem Waschen heller wurden, Riemensandalen und farbige, oft karierte Hemden, deren Kragen er offen ließ.
Außer zu festlichen Anlässen trug er kein Jackett, stattdessen eine Canvasjacke für draußen und im Winter einen dicken Pulli.
»Keiner in meiner Klasse trägt eine Krawatte.«
»Da kann ich die Eltern nur beglückwünschen.«
Sein Vater mischte sich nicht ein. Er redete nur wenig, aß bedächtig, mit einer eher gleichmütigen als besorgten Miene, und obwohl er alles mitbekam, machte er doch einen abwesenden Eindruck.
Mit seinen breiten Schultern, dem kräftigen Hals und der stämmigen Brust wirkte er kleiner, als er in Wirklichkeit war. Dabei maß er einen Meter siebzig, nur acht Zentimeter weniger als sein Sohn und drei Zentimeter weniger als seine Frau, die hingegen sehr groß wirkte.
Sie löffelten still ihre Suppe, und André hatte das Gefühl, dass seiner Mutter eine Frage auf den Lippen brannte, die sie nicht aussprach. Schließlich tat sie es doch, mit abgewandtem Blick, während Noémie den Fisch servierte.
»Was hast du heute Nachmittag gemacht?«
»Ich?«
Er war drauf und dran zu lügen, nicht für sich selbst, sondern ihretwegen. Doch weil er fürchtete, rot zu werden oder sich in Ausflüchten zu verheddern, sagte er die Wahrheit:
»Ich bin mit dem Moped nach Nizza gefahren. Ich wollte mir mal das Gymnasium ansehen, wo ich die Abiturprüfung habe. Es ist ein ziemlicher Kasten, viel hässlicher als das in Cannes.«
Sie schien zu zögern, sagte aber nichts weiter. Was hätte sie ihn auch noch fragen können? Ob er sie gesehen hatte, ob er sie erkannt hatte, in jener kleinen Straße, von der er jetzt wusste, dass sie Rue Voltaire hieß?
Sein Vater ließ seinen Blick kurz vom einen zum andern wandern, als fühlte er eine gewisse Anspannung zwischen ihnen, dann wandte er sich wieder schweigend seinem Teller zu.
Noch vor wenigen Stunden hatte sie ihn nach dem Mittagessen routinemäßig gefragt:
»Brauchst du heute den Wagen, Lucien?«
Es war ein reines Ritual, eine alte Angewohnheit, denn wochentags benutzte er fast nie das Auto. Sie wohnten in der Avenue des Anglais, wenige Schritte vom Boulevard Carnot entfernt, so nah am Gymnasium, dass man den Pausenlärm hören konnte und dass André, als er noch jünger gewesen war, manchmal auf einen Sprung nach Hause kam, um ein Glas Milch zu trinken.
Lucien Bar hatte seine Zahnarztpraxis an der Croisette, ein Stück hinter dem Carlton, Ecke Rue du Canada, und verschaffte sich gern ein bisschen Bewegung. Selbst wenn er in Eile war, verzichtete er nicht auf diese Viertelstunde zu Fuß.
Seine Frau hatte noch ungefragt hinzugefügt:
»Ich muss zu meiner Schneiderin.«
André hatte es früher schon bemerkt, aber nie war es ihm so aufgefallen wie heute: Seine Mutter konnte nicht mit Stille umgehen, und sobald sich bei Tisch Schweigen breitmachte, plauderte sie über alles Mögliche, davon, was sie unternommen hatte, was sie noch vorhatte, was eine Freundin oder ein Lieferant ihr erzählt hatte, immer ging es dabei um sie oder um etwas, was mit ihr zu tun hatte.
Jedenfalls war er sich sicher, dass sie beim Verlassen des Esszimmers gesagt hatte:
»Ich muss zu meiner Schneiderin.«
Sie hieß Madame Jamet. Als er jünger war, hatte seine Mutter ihn manchmal zu ihr mitgenommen, wenn niemand da war, um auf ihn aufzupassen, denn sie hatten nicht immer ein Hausmädchen gehabt.
Das Atelier der Schneiderin befand sich an der Landstraße nach Grasse, zwischen Rocheville und Mougins, im ersten Stock eines kleinen grauen, tristen Hauses, dessen Geruch ihm immer Unbehagen bereitet hatte.
Es gab dort eine Nähmaschine, vor dem Fenster eine Schneiderpuppe, einen Sessel, auf dem stets eine rot-weiße Katze lag, und einen Spiegelschrank, in dem sich die Kundinnen während der Anproben streng begutachteten.
Als Kind hatte es ihn erstaunt, im Spiegel ein anderes Gesicht seiner Mutter zu entdecken als das ihm vertraute, mit einer etwas schiefen Nase und einem leichten Silberblick. Es machte ihn traurig. Die Besuche bei Madame Jamet waren umso bedrückender, als sie zwei Stunden oder länger dauerten.
Alles dort war ihm verhasst, angefangen bei dem Rentner im Erdgeschoss, dem Hauseigentümer, der immer auf einem Stuhl neben der Eingangstür saß und niemals grüßte, da er die Besucherinnen als Eindringlinge betrachtete, die in sein Reich einfielen.
Ebenso zuwider waren André das dicke Nadelkissen in scheußlichem Lila, der Tisch, auf dem die Schnittmuster aus grauem Papier ausgebreitet lagen, die Heftnähte an den unfertigen Kleidern und nicht zuletzt jene dünne, alterslose kleine Frau, die die ganze Zeit über redete, selbst noch mit Stecknadeln im Mund.
Niemand hatte seine Mutter gefragt:
»Was für Kleider lässt du dir machen?«
Sie kleidete sich nicht für die Familie ein, sondern für sich selbst, und sein Vater machte ihr auch nie Komplimente für ein neues Ensemble. Sie hatte einmal erklärt, sie nehme sich die Modelle großer Modeschöpfer aus den Illustrierten zum Vorbild und Madame Jamet sei die Einzige, die fast identische Kleidungsstücke nachnähen konnte.
Hätte sie heute Mittag nichts gesagt, wäre André nicht so überrascht gewesen, sie in Nizza zu sehen, wo sie vielleicht Besorgungen zu machen hatte oder eine Freundin treffen wollte. Er konnte sich täuschen, aber er meinte in den Augen im Rückspiegel Panik gelesen zu haben.
»Vielleicht laden sich unsere Eltern ja wieder einmal zum Essen ein«, hatte Francine ohne große Überzeugung gemurmelt, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Sie hatte nichts von einem weiteren Zufallstreffen oder gar von einer Verabredung gesagt – aber war es nicht unausgesprochen klar, dass sie einander wiedersehen würden?
»Du hast sicher viel zu tun vor deinen Prüfungen?«
»Schon. Aber es geht.«
Er bereitete sich seit längerem darauf vor, ruhig und systematisch, wie er alles anging.
»Macht es dich nicht nervös?«
»Nein.«
»Auch nicht, dass du gleich zwei Abschlüsse machst?«
»Es ist weniger hart, als man denkt.«
Ursprünglich hatte er es selbst für hart, wenn nicht für unmöglich gehalten. Fragte man ihn: »Was willst du später einmal machen?«, antwortete er immer wahrheitsgemäß: »Ich weiß es nicht.«
Alles interessierte ihn, besonders Altgriechisch, die hellenische Kultur, und voriges Jahr hatte sein Vater ihm eine dreiwöchige Griechenlandreise spendiert, die er unermüdlich mit Rucksack und gelegentlichen Übernachtungen unter freiem Himmel absolviert hatte.
Einen Winter lang hatte er auf dem Boden seiner Mansarde große Papierbögen ausgebreitet, auf denen er den Stammbaum der griechischen Götter nachzeichnete. Er hatte versucht, ihre Nachkommenschaft bis in die neunte, ja zehnte Generation zu rekonstruieren, und war beglückt, wenn er eine Aigle, einen Assarakos oder andere Namen, die nicht einmal seine Lehrer kannten, an ihre richtige Stelle zu setzen wusste.
Als er dann die ersten Teilgebiete der Biologie entdeckte, hatte er sein Taschengeld für Fachbücher ausgegeben, über deren Inhalt er lange brütete, und man fragte ihn:
»Hast du die Absicht, Medizin zu studieren?«
»Vielleicht. Jedenfalls nicht, um Kranke zu behandeln.«
Auch für Mathematik interessierte er sich, und aus dem Grund würde er in drei Wochen nicht nur zum humanistischen Abitur, sondern auch zur Prüfung in Elementarmathematik antreten.
Er war nicht aufgeregt, denn er griff den Dingen nie vor. Er zerbrach sich nicht den Kopf darüber, was kommen würde und welche Richtung sein Leben nehmen würde.
Die Entscheidung würde zu gegebener Zeit fallen, und wenn er so viel Wissen wie möglich anhäufte, dann deshalb, um sich alle Möglichkeiten offenzuhalten.
»Gehst du heute aus, André?«
»Nein, Mama.«
»Und du, Lucien?«
»Ich glaube, ich werde etwas arbeiten. Im Fernsehen läuft nichts Interessantes.«
Während Noémie den Tisch abräumte, tranken sein Vater und seine Mutter ihren Kaffee im Wohnzimmer. André nahm selbst keinen. Er trank lieber Milch. Er schämte sich nicht deswegen, wie er vorhin in der kleinen Bar in der Rue Voltaire bewiesen hatte.
Es hatte etwas von einer Fotografie, wie seine Eltern einander gegenübersaßen, und er betrachtete sie mit dem Gefühl, sie in einem neuen Licht zu sehen, bevor er sich nach oben verzog.
Im Grunde hatte er sich nie groß Gedanken über sie gemacht, darüber, was sie taten, was sie dachten, was ihr Innerstes bewegte. Und selbst wenn im Zusammenhang mit ihnen eine Frage in seinem Kopf auftauchte, neigte er dazu, sie zu verdrängen. Es waren seine Eltern. Sie lebten ihr Leben, das sie gewählt hatten, und er hatte damit nichts zu tun.
Einmal hatte seine Mutter gesagt:
»Findest du nicht, Bilot, dass du ziemlich egoistisch bist?«
Er hasste diesen Spitznamen, den man ihm als Kleinkind gegeben hatte, weil er angeblich die Katze der Concierge so genannt hatte, als sie noch in Paris lebten.
»Warum meinst du, dass ich egoistisch bin?«
»Weil du nur an dich denkst, weil du nur tust, was du dir in den Kopf gesetzt hast, ohne dich zu fragen, ob es andere vielleicht stören könnte.«
»Machen das nicht alle Kinder so?«
»Nicht alle. Ich habe welche gekannt, die …«
»Wie sollen sich Kinder denn sonst wehren? Wären sie nicht egoistisch, wie du es nennst, würden sie doch nur zu einer Kopie ihrer Eltern oder ihrer Lehrer.«
»Und du willst uns lieber nicht ähneln?«
»Wem? Dir oder Vater?«
»Einem von uns beiden.«
»Nun, ich habe zwangsläufig Ähnlichkeiten mit euch.«
