Die Birkenbraut und ihr Ungeheuer - Arianne L. Silbers - E-Book

Die Birkenbraut und ihr Ungeheuer E-Book

Arianne L. Silbers

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Beschreibung

Finster, verwunschen und voller Gefahr - mitreißende Fantasy hinter verzauberten Türen! Onora liebt Bücher und gute Geschichten – zwei Dinge, für die ihr kriegslustiger Clan nichts übrighat. Und so schließt sie sich eines Tages den weisen Drunen an, die tief im Wald das Wissen der gesamten Welt versteckt halten. Als Onora allerdings anfängt, von einer mysteriösen Tür aus Birkenholz zu träumen, wird ihr klar, dass die Drunen neben all ihren Chroniken auch Geheimnisse horten. Zusammen mit dem düsteren Hecser, der gegen seinen Willen zu ihrem Beschützer ernannt wird, schleicht sie sich schließlich in den Irrgarten der Gelehrten, um die Tür aus ihren Träumen zu finden. Doch je tiefer Onora sich in dem von Monstern bewachten Labyrinth verläuft, desto mehr weicht ihre Furcht vor dem mitleidlosen Krieger einem ganz anderen Gefühl, das sie ins Verderben stürzen könnte, sollte sie die Birkenholztür wirklich erreichen. Denn auch Hecser verbindet etwas mit der rätselhaften weißen Tür – ein Zauber, zu alt und finster, um einen Namen zu haben. Und nicht jeder Fluch lässt sich brechen … Ein Herz, so schwarz wie Rabenfedern, das andere weiß wie Birkenholz.

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Für alle,

die noch zu träumen wagen.

Und für meine Eltern,

weil ein Danke allein nicht genügt.

Von Geistern& Statuen

Je näher die flüsternden Stimmen kamen, desto verzweifelter wollte Onora unter ihr Pult kriechen und sich dort verstecken. Doch das würde alles nur noch schlimmer machen. Wenn ihre Dienerinnen sie jetzt nicht fänden, wäre noch vor Einbruch der Nacht der gesamte Clan auf der Suche nach ihr. Und obwohl Onora einiges dafür gäbe, die eingebildeten Edeldamen auf Händen und Füßen durchs Schloss krauchen zu sehen, rührte sie sich nicht. Sie wollte keinen Ärger und es war ja ihre eigene Schuld, dass man sie suchte. Hätte sie heute Morgen einen Pergamentfetzen mit den üblichen fünf Runen auf ihr Kopfkissen gelegt, wären ihre beiden Wachhunde ihr vom Leib geblieben. Aber Onora hatte sich nach dem Aufstehen nicht damit aufgehalten, Máda und Deana eine Nachricht zu schreiben, sondern war sofort in die Bibliothek gestürzt, und das rächte sich jetzt.

Die Trippelschritte ihrer Dienerinnen rückten näher und näher und die beiden tuschelten aufgeregt, während sie durch die Gänge rannten. Erst vor der Bücherei verstummten sie und für einen Moment war es ganz still. Dann flogen die Eingangstüren knarzend auf.

»Herrin Onora, hier versteckt Ihr Euch!« Mádas Geschrei war so laut, dass es den Schmutz der gesamten Bibliothek aufwirbelte und zahllose Staubkörner wie funkelnde Käfer durch das Morgenlicht schwirrten.

Onora hatte Mühe, von dem jähen Lärm nicht zusammenzuzucken. Sie bog die Lippen zu einem frierenden Lächeln und musterte ihre beiden Wachhunde. Es waren zwei braune Frauen, deren Haare, Augen und Kleider Onora an die Ledereinbände ihrer Bücher erinnerten. Allerdings waren Bücher stumm, im Gegensatz zu Máda, die nun begann, ihr mit dröhnender Stimme Vorwürfe zu machen.

»Ihr hättet uns Bescheid sagen sollen, Herrin. Deana war furchtbar besorgt und hat sich die schrecklichsten Dinge ausgemalt, die Euer Vater mit uns anstellen würde, wenn –«

»Wenn was?«, unterbrach Onora die größere Dienerin matt. »Wenn ich mich in der Nacht mit einem Haufen Gesetzloser davonmache? Nun, das habe ich nicht, wie Ihr seht. Ich konnte nicht schlafen und bin schon früh in die Bibliothek gegangen – wo ich im Grunde jeden Morgen bin.« Seufzend sackte Onora zurück an das Bücherregal. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, die beiden Frauen zu bitten, ihr nicht mehr nachzulaufen. Doch dann sparte sie sich ihren Atem – es war ohnehin aussichtslos.

»Euer Vater macht sich nur Sorgen, er verträgt Verluste nicht gut, das wisst Ihr doch. Nach dem Verschwinden Eurer Mutter will er einfach nicht riskieren, dass auch Ihr vom Grünwald verschlungen werdet«, sagte Deana sanft.

Aber Onora beschwichtigte das kein bisschen, im Gegenteil, es machte sie ungeduldig, dass ihr Vater sie nach wie vor von der gesamten Welt fernhalten wollte. Immerhin war es mittlerweile zehn Jahre her, dass ihre Mutter Igrén fortgelaufen war und Onora sich in den Wald geschlichen hatte, um die verschollene Fürstin zu suchen. Warum konnte ihr Vater nicht endlich darüber hinwegkommen? Onora war damals schließlich nichts passiert. Die Hirschreiter hatten sie noch vor Einbruch der Nacht zurück in die Burg des Clans getrieben, ihre Kleider weißgewaschen und geschwiegen. Niemand hatte den Vorfall jemals wieder erwähnt, und trotzdem bewachte der Fürst Onora noch heute so misstrauisch, als wäre sie ihm gestern erst davongelaufen.

Dass ihr Vater sie wie ein Kind behandelte, war zwar lästig, aber Onora konnte ihn irgendwie verstehen. Sie sah einfach nicht aus wie eine erwachsene Frau. Ihre runden Augen und winzigen Lippen waren von der Zeit unberührt geblieben und machten sie jünger, als sie in Wirklichkeit war. Vermutlich ignorierten Máda und Deana deshalb ständig ihre Bitten und Befehle und standen auch jetzt noch wartend in der Tür.

Missmutig wandte Onora sich ihren Wachhunden zu. »Wollt ihr auch etwas lesen, oder …?« Sie ließ den unfertigen Satz absichtlich lange in der muffigen Bibliotheksluft hängen, damit die beiden Frauen begriffen, dass sie wieder gehen konnten. Es war vermutlich nicht sonderlich höflich. Aber sie spielten dieses Spiel schon so lange miteinander, dass Onora sowohl ihre freundlichen Worte als auch ihr entschuldigendes Lächeln mittlerweile abgenutzt hatte. Heute trommelte sie nur noch ungeduldig auf ihren Büchern herum, bis man sie endlich wieder allein ließ.

Deana zog sich als Erste in den Flur zurück, Máda zögerte jedoch einen Augenblick. »Seht Euch vor, Herrin, es gibt eine Redensart hier in Mhendras: Wer sich zu lang unter den Geschichten aufhält, der wird am Ende selbst zu einer.« Mit diesen Worten verschwand auch die ältere Dienerin aus der Bibliothek.

Onora sah ihren Wachhunden stirnrunzelnd nach. Sie verstand nicht, wovor dieses Sprichwort sie warnen sollte. War es nicht wünschenswert, eines Tages in den schier endlosen Sagenkanon der Insel aufgenommen zu werden? Es bedeutete immerhin, dass man etwas erlebt hatte, denn für die Leben der Langweiler erspannen die Clans keine schillernden Märchengewänder.

Nachdenklich sog Onora den Duft von verstaubtem Leder und altem Holz in sich ein und wandte sich wieder ihrem Geschichtsbuch zu. Doch die Schriftzeichen auf dem Pergament waren nicht länger runenförmige Fenster in eine fremde Welt, sondern nur noch öde Tintenstriche und Jahreszahlen, die von der Waldschlacht aus dem Jahre 409 berichteten.

Und als wenig später erste Schritte auf den Korridoren erklangen, gab Onora es endgültig auf und schlug das Buch frustriert zu. Máda und Deana mussten auf ihrer sinnlosen Suche den Rest der Burg aufgeweckt haben und nun begannen alle, ihrem Tagewerk nachzugehen – was manch einen leider auch in die Bibliothek führen würde.

Dafür ist der Speisesaal jetzt bestimmt leer, schoss es Onora durch den Kopf. Sie sprang auf, griff nach einem Geschichtenband namens ›Sagenhafte Braut- und Raubgeschichten von Dun Domnall‹ und kletterte über die herumliegenden Schriften und Bücherstapel hinweg zum Ausgang. An der Tür horchte sie sicherheitshalber auf Geräusche, doch auf dem Korridor vor der Bibliothek herrschte Stille – ihre Wachhunde waren also tatsächlich verschwunden. Erleichtert hängte Onora sich an die Klinke und zog, bis die Tür träge aufschwang.

Es war dunkel auf den Fluren. Nur am Ende des Korridors durchbrach ein einsamer Lichtstreifen die Finsternis. Wie soll ich überhaupt von hier fliehen?, überlegte Onora mit einem Blick auf das schmale Fenster. Es besaß ungefähr Armeslänge und war nicht breiter als eine Männerhand. Alle Fenster in TanGlass, der Burg ihres Vaters, hatten diese Größe. Man konnte sie einschlagen, kam aber nicht hindurch und was die Türen anging, die wurden nachts eine nach der anderen von ihrem Vater höchstselbst abgesperrt. Und tagsüber? Tagsüber hatte die Burg zu viele Augen für eine Flucht.

»Stimmt es, dass sie Mäuler statt Lippen haben und lange schwarze Fangzähne?«, fiepte es unvermittelt durch den Gang.

Onora drückte sich gegen die kalte Steinmauer und hielt den Atem an. Die schlurfenden Schritte, die nun durchs Treppenhaus hallten, waren ihr allzu vertraut. Sie drehte sich auf dem Absatz ihrer Hirschlederstiefel um und wollte bereits in die andere Richtung davongehen, als eine hochmütige Stimme sagte: »Die Drunen? Mach dich nicht lächerlich, Eari, sie sehen aus wie Menschen in grünen Mänteln.«

Elainne hat die Drunen auf der Clanversammlung gesehen? Ein Funke von Neugierde mischte sich in Onoras Missmut, denn kurz hatte sie wider alle Vernunft gehofft, dass Earie heute ausnahmsweise einmal mit ihrer bärbeißigen Freundin Rhona allein durch die Gänge streifte. Doch es war anscheinend dasselbe schreckliche Trio wie immer.

»Und du hast dich gar nicht gefürchtet, nach all den Geschichten, die wir über die Grünen Gesetzlosen gehört haben?«, fragte Eari staunend.

»Elainne ist Harras Tochter, sie kennt keine Furcht«, bestimmte Rhona auf ihre wortkarge Art. Da hätten wir also auch Nummer drei. Onora verdrehte die Augen. Elainne konnte sich wirklich keine vier Schritte ohne ihre beiden säuselnden Schatten durch die Burg bewegen. Und dabei war ›Harras Tochter‹ auch ohne ihr Gefolge schon unangenehm genug.

»Man sagt ja, sie wären Hexen …«, murmelte Eari.

»Man sagt auch, dass ein Brunnen versiegt, weil der Arbhel, der auf seinem Grund lebt, das Wasser aufsaugt, sobald er alle seine Silbermünzen aufgefressen hat – das sind doch alles dieselben Ammenmärchen«, gab Elainne spöttisch zurück.

Rhona räusperte sich ungeduldig. »Genug von diesem Unsinn, warum sind die Drunen überhaupt zur Versammlung im Steinkreis gekommen?«

Das fragte Onora sich auch. Warum verließen die Drunen ihr sicheres Versteck und riskierten dadurch ihr Leben? Sie waren Verstoßene und konnten als solche von jedem Clanmann und jeder Clanfrau folgenlos getötet werden. Im Steinkreis der Insel galt zwar eine Art heilige Waffenruhe, aber das Clanvolk war sehr schlecht im Vergeben und die Drunen wussten das eigentlich. Wenn sie die Fürsten dennoch bei einer Versammlung störten, dann mussten sie mit wichtigen Angelegenheiten kommen … Ob sie die Clans vor einem Überfall durch das Seefahrervolk warnen wollten? Oder hatten sie von einem magischen Relikt erfahren, das mutige Männer jetzt finden und vernichten sollten?

Für einen süßen Moment ersann Onora die wunderbarsten Abenteuer. Doch dann zerstörte Elainne all ihre Fantasien mit den Worten: »Die Drunen wollten dasselbe wie immer: dass wir einen neuen König wählen und ihnen vergeben. Laut meiner Mutter bitten sie die Clans alle paar Jahrzehnte um Gnade für ihre früheren Verbrechen … Ich verstehe diese Leute wirklich nicht. Sie wollen ihre Blutschuld nicht begleichen, aber verlangen Vergebung … Na egal, die Drunen haben mir auch gesagt, dass sie mich nach meinem Fest wie verabredet im Grünwald treffen werden. Dort prüfen sie dann, ob ich bei ihnen in die Lehre gehen kann – weise sind die Drunen ja trotz allem.«

Das stimmte. Die Grünen Gesetzlosen waren berühmt für ihr Wissen. Angeblich stand von jedem Buch der Insel mindestens eine Abschrift in ihrem versteckten Bibliotheksschloss. Und ausgerechnet Elainne, die sich für nichts außerhalb des Atholclans interessierte, sollte die Gelegenheit bekommen, mit ihnen zu gehen?! Der Neid stieg so jäh in Onora auf, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Schritte der Mädchen plötzlich verstummten.

»Seht mal, was ich gefunden habe …« Jemand packte Onora an den Haaren und zerrte sie gewaltsam von der Tür weg. Sie wirbelte herum und sah in Elainnes gehässiges Gesicht, auf dem die roten Pausbacken nur so leuchteten. »… das Gespenst von TanGlass«, schloss die rundliche Edeldame zufrieden.

Rhona, die links von Elainne stand, gab ein quakendes Lachen von sich und Onora starrte mit heißen Wangen zu Boden. Wie kommt es, dass ein so alter Witz nach zehn Jahren immer noch wehtut? Ungelenk zog sie sich ihre Kapuze über den Kopf und versteckte so ihre weiß-schwarzen Locken unter dem Stoff.

»Guten Morgen, Edle Elainne«, sagte Onora zu ihren Füßen. Sie hoffte, dass die drei Mädchen einfach weitergehen würden, wenn sie Elainne nicht provozierte. Aber niemand bewegte sich.

»Der Geist hat Manieren gelernt«, spottete die kleine Eari.

Elainne riss Onora unversehens ihr Buch aus der Hand. »Was haben wir denn hier?«, rief sie und legte den Zeigefinger auf die Titelrunen.

Onora wich zurück. Sie wollte fliehen, doch die trollgleiche Rhona versperrte ihr den Weg.

»Bestimmt sind es Zaubersprüche – immerhin stammt sie von einer Hexe ab« piepste Eari von rechts.

Elainne war die Einzige, die sich besorgt umdrehte, als Eari die tote Fürstin so gedankenlos beleidigte. Leider war niemand da, um die drei zu bestrafen.

Onora ballte die Hände zu Fäusten, sagte jedoch nichts.

»Ihre Mutter mag eine Drune gewesen sein, aber unser Schlossgespenst hat gewiss nichts von den kläglichen Überresten der Magie geerbt. Nein, das hier sind Märchen und Brautgeschichten«, höhnte Elainne und warf Onora mit ihren Habichtaugen einen stechenden Blick zu. »Unser Geist schmachtet lieber den Toten nach, als lebende Männer zu lieben, aber das ist wohl das Beste für alle. Wer würde schon um so etwas werben?«

Sie will mir nur wehtun, mehr bedeuten ihre Worte nicht, erinnerte Onora sich streng, doch es half nichts. Das Herz stach ihr mit jedem Schlag wie eine Nadel in der Brust.

Wenigstens löste dieser Schmerz Onora aus ihrer Schreckstarre. Barsch schnappte sie Elainne das Buch aus der Hand und tauchte unter Rhonas massigen Armen hindurch. Ich bin wie die Rehe im Wald, sehe einen Jäger und erstarre, bis ich von seinen Pfeilen durchbohrt werde …, dachte Onora dumpf. Dann rannte sie los, aber sie war nicht schnell genug, um den grausamen Worten der Mädchen zu entgehen.

»Da weht unser Geist dahin«, seufzte Elainne und Rhona brummte schlicht: »Erbärmlich.«

Die Hänseleien der Mädchen hetzten Onora wie Jagdhunde durch die Flure und es dauerte noch lange, bis ihre Beleidigungen endlich in den verwinkelten Korridoren verhallt waren.

Unten hing der Geruch von gebackenem Brot in der Luft, ein letzter Zeuge der allmorgendlichen Betriebsamkeit. Die Burgbewohner gingen jetzt glücklicherweise anderswo ihren täglichen Aufgaben nach und so gelang es Onora, sich auf dem Weg in den Speisesaal wieder zu beruhigen.

Gedankenverloren suchte sie das verblätterte Kapitel über Idél und Cúinn in ihrem Buch. Es war etwas Besonderes an dieser Erzählung, denn es war die einzige, die nicht von der Insel Ambren stammte, sondern aus dem verwunschenen Norden. Und da Onora alles liebte, was aus dem Land der langen Nächte stammte, mochte sie Cúinns und Idéls Geschichte noch ein wenig mehr als all die anderen. Sie knickte die entsprechende Seite um und stoppte vor der Tür.

Aus dem Speisesaal drangen gedämpfte Stimmen.

Elainne hat mich eingeholt, dachte Onora zerstreut. Doch das war absurd, es waren eindeutig Männerstimmen, die unter dem Türspalt hervordrangen, und außerdem konnte Elainne unmöglich vor ihr im Speisesaal angelangt sein. Von dieser zwingenden Logik bestärkt trat Onora ein.

»… Es liegt etwas in der Luft, Eoren – eine große Veränderung. Deshalb werden die Drunen und die anderen Fürsten jetzt unruhig und rufen nach einem König. Sie wollen Einigkeit und Sicherheit und darüber hinaus wäre die Königswahl eine einmalige Gelegenheit für alle ehrgeizigen jungen Clanfürsten.«

Verdutzt sah Onora, dass ihr Vater noch im Speisesaal war und sich vom hinteren Ende der langen Tafel aus mit ihrem Lehrmeister Eoren unterhielt. Der Fürst erinnerte an eine alte Statue, mit seinen steingrauen Haaren, der unveränderlichen Miene und diesen Augen, die alles überblickten und doch nichts wirklich sahen. Es war Eoren, der Onora zuerst bemerkte.

»Edle Onora, Eure Anwesenheit erhellt jeden Morgen!«, rief er und verbeugte sich dabei so tief, wie sein krummer Rücken es zuließ.

»Guten Morgen, Gelehrter Eoren – Vater.« Onora schwenkte ihr grünes Kleid in einem halbherzigen Knicks in Richtung des Fürsten. Der beachtete sie jedoch nicht und hielt seine Augen nach wie vor auf etwas gerichtet, das weit außerhalb der Burgmauern lag. Vor ihm standen vergessene Brote mit Käse, ein unberührtes Bierhorn und eine kleine, mit Moos ausgelegte Holzschüssel, in der sich frische Waldbeeren stapelten.

»Wenn wir einen König wählen würden, so wie die Drunen es wollen …«, überlegte ihr Vater seelenruhig weiter, »… dann könnte es der Junge von Diamur werden. Er ist stark und schlau und allseits beliebt. Der Eberclan hat außerdem nur die Katzen gegen sich, das sind weit weniger Fehden als bei den anderen Clans.«

Eoren räusperte sich vernehmlich. »Da habt Ihr gewiss recht … Aber mein Fürst, Eure Tochter …«

»Ja, was ist mit meiner Tochter?«, fragte der Fürst versonnen.

Onora trat langsam aus dem Türrahmen heraus. Ihre Schritte tönten träge durch die Stille wie Steine, die auf Seegrund sanken.

»Nun … sie ist hier, mein Fürst …«, erklärte der Gelehrte hilflos.

Onora selbst schwieg und setzte sich an das andere Ende der Tafel. Sie war die Abwesenheit ihres Vaters längst gewohnt und daher auch keineswegs überrascht, als er es nun fertigbrachte, sie nicht anzusehen, obwohl sie einander direkt gegenübersaßen. Kopfschüttelnd schlug Onora ihr Buch auf und zog einen Milchkrug zu sich heran.

»Natürlich ist sie hier. Sie muss hier sein. Ich wollte sie schließlich sprechen«, murmelte ihr Vater nach einer Weile mühsam.

Verwirrt sah Onora von ihrem Geschichtenband auf. Die Nebelaugen des Atholfürsten zeigten plötzlich geradeaus.

»Soll ich euch zwei allein lassen?«, fragte Eoren.

Ihr Vater schielte zu dem Gelehrten herüber, ohne sein Gesicht dabei von Onora abzuwenden. »Ja … Ja, geht, Eoren, wir unterhalten uns später weiter.«

Eoren eilte aus dem grauen Speisesaal und das Zuschlagen der Tür schien Onoras Vater wachzurütteln. Sein Blick, vorher verhangen und dumpf, wurde nun klar und schneidend wie Glas. Rasch senkte Onora ihre Augen auf die milchweiße Flüssigkeit in ihrem Kelch. Sie sehnte sich nach der Ruhe ihres Bettes und einer schönen Geschichte, das konnte doch alles kein gutes Ende nehmen.

»Morgen ist Elainnes großes Fest.«

Onora nickte vorsichtig. »Ich weiß.«

Jedes Mädchen und jeder Junge wurde an seinem sechzehnten Jahrestag feierlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen und damit zu einem mündigen Mitglied des Clans. Man gab rauschende Feste für die jungen Edlen – nur nicht für Onora. Sie war allerdings nicht sonderlich traurig darüber, vor ihrem eigenen Grünen Fest hätte sie sich schließlich nicht so leicht drücken können wie vor all den anderen. Aber ohne ihr eigenes Grünes Fest hatte Onora auch nie eine Chance bekommen, die Drunen zu sehen. Denn nach alter Sitte durften die begabtesten jungen Edlen jedes Clans am Ende ihrer Feierlichkeiten in den Wald gehen und sich den Grünen Gesetzlosen als Lehrlinge anbieten.

»Ich will, dass du auf das Fest gehst.«

»Was?« Entgeistert starrte sie ihren Vater an. »Wieso?«

»Aus demselben Grund, aus dem du die letzten fünfzig Feste auch besser besucht hättest – du bist die zukünftige Fürstin des Atholclans und die wenigsten erinnern sich noch an dein Gesicht! Es wird Zeit, dass der Clan seine Erbin zurückbekommt. Es wird Zeit, dass dein Clan dich kennenlernt. Bevor ich tot bin, muss ich sicherstellen, dass man dich als neue Anführerin annehmen wird, und das scheint eine Menge Arbeit zu werden«, schloss der graue Fürst grimmig.

»Aber …« Onora wusste nicht, was sie einwenden wollte, nur, dass sie etwas einwenden musste. Ein Fest. Elainnes Fest. Mit all diesen Leuten …

»Schweig! Ich habe genug von deinen Widerworten! Ich sollte dir das alles gar nicht sagen müssen, es sollte eine Selbstverständlichkeit sein!«

Onora fuhr zusammen und verschüttete ihre Milch quer über den Tisch. Es war Jahre her, seit ihr Vater zuletzt laut geworden war – zehn Jahre, um genau zu sein. ›Sie ist tot und kann nicht zurückkommen, also hör auf, nach ihr zu suchen!‹ Dashatte er damals geschrien, nachdem man Onora aus dem Wald zurückgeholt hatte. Doch heute ging es nicht um ihre Mutter und das war seltsam, denn normalerweise konnte nur die Erwähnung von Igrén die steinerne Fassade des Fürsten ein wenig bröckeln lassen.

»Du wirst auf Elainnes Fest gehen und du wirst dich unter dein Volk mischen und nicht nur in einer Ecke kauern und warten, bis alles zu Ende ist, verstanden?«, knurrte ihr Vater mit grimmiger Miene.

»Muss es ausgerechnet dieses Fest sein? Kann ich nicht … mit dem nächsten anfangen?«

»Nein! Erinnere dich an deine Stellung und verhalte dich endlich ihr gemäß!«

Sie funkelten sich einen Augenblick an, Grau in Grün.

»Hast du mir noch etwas zu sagen?«, fragte ihr Vater herausfordernd.

Onora biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. »Nein, nichts«, erwiderte sie schließlich, stand auf und schnappte ihren Geschichtenband von der Tafel. Inzwischen rann Milch über die Tischkante und bildete eine klägliche weiße Pfütze am Boden. Die Stille, vorhin beschwert durch diese ungesagten Sätze, war dünn geworden und das stete Tropfen der Milch hallte laut in der Leere des Saales wider. Die Worte zwischen Onora und ihrem Vater waren aufgebraucht, also schlich sie zur Tür und ließ den Fürsten wieder allein mit seinen Gedanken.

Die Feste deranderen

Auch am nächsten Morgen hing der triste Wolkenschleier der letzten Wochen noch schwer am Himmel. Nichts deutete auf einen ungewöhnlichen Tag hin, bis Máda und Deana wie üblich an Onoras Tür hämmerten – und sich nicht wegschicken ließen. Mit den Worten: »Euer Vater schickt uns«, platzten sie in Onoras Zimmer und warfen Kleidung und Geschmeide auf ihre Bettfelle.

Nachdem die beiden Onora gewaschen hatten, zerrte Máda sie auf einen winzigen Hocker vor dem Spiegeltisch und begann, ihr die Haare zu bürsten. Schweigend nahm Onora eine schwarze Feder von der Anrichte und drehte sie in der Hand. Sie ist kleiner geworden, dachte sie mit einem Blick auf den dunklen Wirbel. Alles ist kleiner geworden. Hübsch war die Feder mit ihrem metallischen Glanz allerdings geblieben. Eine hübsche Erinnerung, die ohne ihren Geruch nach Wald und Wind fast nicht mehr wirklich war.

»Tut das weg, Herrin«, bat Deana, als Onora sich die Rabenfeder prüfend unter die Nase hielt. Zögerlich ließ sie die Hand sinken und legte ihr staubiges Andenken zurück auf den Tisch neben ein Stück vertrocknete Birkenrinde. Diese ›Schätze‹ waren eine ganze Kindheit alt und stammten von lang vergessenen Waldspaziergängen mit ihren Eltern.

Plötzlich riss Máda ihr die Bürste kraftvoll durchs Haar und entfernte so gewaltsam einen Knoten aus den gelockten Enden. Onora stieß ein Zischen aus und starrte mutlos in den angelaufenen Silberspiegel, der vereinzelt dunkle Flecken und Risse in seiner Fassade zeigte. Er war weiß und schwarz – wie ihr hüftlanges Haar, das hier und da von kohlefarbenen Strähnen durchzogen wurde.

Ohne diesen Makel hätte Onora wenigstens glauben können, ein verlorenes Mädchen aus dem Nordland zu sein. Vielleicht eine Hochgeborene, die noch als Säugling von ihren liebenden Eltern über das Meer geschmuggelt worden war, um den bösartigen Ränkespinnern im Land aus Eis und Schnee zu entkommen … Aber da die Nordländer kein weiß-schwarzes Haar hatten, war sie nur die seltsam geborene Tochter eines seltsam gewordenen Fürsten.

»Máda, hilf mir mal!«, murrte Deana und streckte der dicken Frau zwei hirschköpfige Haarnadeln entgegen, die Onora zu irgendeinem ihrer Jahrestage geschenkt bekommen hatte. Sie waren aus echtem Ranhirschgeweih gefertigt und mit aufwendigen Runenschnitzereien verziert worden, was die teuren Schmuckstücke allerdings auch nicht besser in Onoras spinnenwebenfeinem Haar halten ließ. Und selbst die geschickte Máda brauchte mehrere Versuche, ehe es ihr endlich gelang, die Nadeln in Onoras glänzende Locken zu stecken und einen karierten Schleier an ihnen festzubinden. Danach zog sie Onora bis auf ihr Unterkleid aus und ließ sich von Deana den weißen Leinenstoff reichen, der auf dem Bett lag. Verwundert erkannte Onora, dass es ein Kleid ihrer Mutter war.

»Euer hoher Vater vergaß, dass Ihr keine Festgewänder besitzt, edle Herrin«, erklärte Deana verhalten. Dann half sie Onora in das Kleid hinein und es passte perfekt. Zu perfekt. Irgendwie war es unheimlich, wie die Ärmel sich präzise an ihren Handgelenken weiteten und der Saum ihr genau bis über die Zehenspitzen reichte …

»Ihr seht aus wie sie«, murmelte Máda.

Onora lächelte halb, blickte in den Spiegel und versuchte, das Gesicht ihrer Mutter an der schmalen weißen Gestalt zu sehen, die ihr nun gegenüberstand. Doch es gelang ihr nicht, die Erinnerung aus dem schwarzen See des Vergessens zu fischen. Dafür kam ihr in den Sinn, dass ihre Mutter nicht umsonst die weiße Dame – oder weiße Hexe – genannt worden war. Ihre Mutter war nämlich eine Drune gewesen und der Atholclan hatte sie verachtet und lediglich aus Respekt vor seinem Fürsten erduldet. Das hatte Onoras Mutter natürlich gewusst und deswegen war es ihr nie in den Sinn gekommen, sich den Gewohnheiten des Clans anzupassen, im Gegenteil: Sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, mit ihren farblosen Kleidern aus dem bunt karierten Clan ihres Gatten herauszustechen. Und jetzt bin ich ihr Ebenbild und werde genauso auffallen …, dachte Onora mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube.

Deana legte ihr indessen den karierten Atholumhang und zwei bronzene Armspangen an, aber Onora konnte auch diesen Kostbarkeiten nicht viel abgewinnen. Der Umhang war schwer und die Armreifen scheuerten. Nur die letzte glitzernde Sache, mit der Deana sie behing, gefiel ihr. Es war der Hauch einer Kette, ein Strang Silber, der sich in zahllose Fädchen auffächerte, sobald Deana ihn über Onoras Haare geführt hatte. Die Halskette musste auch ein Erbstück ihrer Mutter sein, denn das war keine Handwerkskunst, die den Clanschmieden vertraut war.

»So, das war alles …« Deana trat einen Schritt zurück und machte große Augen. »Ihr seid wunderschön!«

»Sie ist vor allem spät dran. Ihr hoher Vater wartet bereits an der Treppe!«, keifte Máda, die eben in den Korridor gespäht hatte. Forsch schubste sie Onora zur Tür hinaus.

Der Fürst war gewissenhaft in die Farben seines Clans gekleidet. Rot für Rehfelle, Grau für Geweihe und Grün für die Eichenblätter, die Ranhirsche gern von niedrig gelegenen Ästen fraßen. Das Tartanmuster der Athols zierte die Innenseite seines Umhangs und der kastanienbraune Pelzbesatz am Kragen kaschierte seine gebrechlich gewordenen Schultern. Er trug sogar ein Schwert. Ohne seine verwirrte Miene hätte Onoras Vater heute fast wie ein ganzer Fürst ausgesehen – oder wie ein in die Jahre gekommener Krieger.

»Wieso trägst du Igréns Kleid?«, fragte ihr Vater mit überraschender Klarheit in der Stimme.

Weil man keine Festkleider besitzt, wenn man keine Feste feiert, aber das fällt dir reichlich spät ein, Vater, dachte Onora finster. Der verwirrte Fürst hatte sein Vorhaben, sie in den Clan einzugliedern, offensichtlich nicht sonderlich gut geplant, wenn er nicht einmal daran gedacht hatte, ihr eine angemessene Clantracht zu besorgen. Denn in Igréns altem Kleid würde Onora nun auffallen wie eine Schneeflocke im Sommergrün und ausgeschlossen werden, bevor das Fest überhaupt begann. Vergeblich tastete sie nach dem Ende einer Kapuze, um wenigstens ihr seltsames Haar zu verdecken, aber alles, was sie hatte, war der kleine, karierte Schleier.

»Und wo ist dein Halsring?« Mit zusammengekniffenen Augen starrte der Fürst auf Onoras blanke Kehle, die nicht wie seine von einem geflochtenen Goldreif umschlossen wurde. Doch da schwangen die Türen zum Festsaal auch schon auf und ihr Vater tauschte seine düstere Miene gegen eine gönnerhafte Maske.

Aus dem wachsenden Spalt drangen Flammenschein und wilde Melodien. Die Musik in der Halle war bunt und ungeordnet wie eine Kriegsmeute. Barden und Laien spielten hier entweder nebeneinander her, weil jedem ein anderes Lied mit einer anderen Stimmung und Schnelligkeit besser gefiel, oder sie traten gegeneinander an und versuchten sich in Geschick, und besonders Lautstärke, zu übertreffen. Und so schallten flinke Flöten und tiefgrollende Trommeln unheilvolle Wanderlieder und frohsinnige Kriegsballaden an die Wände; die durchdringenden Sackpfeifen klangen klagend und heiter aus allen Ecken und irgendwo spielte sogar eine Harfe. Ihr Vater lächelte beim Anblick seines Clans versonnen und zog sie mit einem kräftigen Ruck in das bunte Durcheinander.

Onora kam sich zwischen den wogenden Kleidern der Feiernden sofort wie eine Ertrinkende vor, doch glücklicherweise wurde sie schon nach wenigen Wimpernschlägen von einem schlaksigen Barden abgelenkt, der schrill einen Vers der tragisch schönen Ballade ›Die Hischreiterin‹ in die Menge schrie. Es war die Geschichte der sagenumwobenen Clanmutter Hélin, eine von Onoras liebsten Erzählungen – und leider auch eine der Längsten. Sie hastete ihrem Vater hinterher, um dem schiefen Gesang zu entfliehen, aber bereits zehn Schritte weiter hallte ein noch schlechteres Klagelied über Hélins untreuen Ehemann Gaith durch den Saal. Onora sah sich gequält nach dem Urheber dieses Lärms um und bemerkte dabei, dass einige Männer zu ihrer Linken sich aufgeregt in die Rippen stießen und mit gehobenen Brauen auf sie deuteten. Sofort wurde ihre Kehle eng. Sie zog sich den Schleier ins Gesicht, sah auf den Boden und eilte ihrem Vater nach.

Wo immer der Fürst vorbeischritt, sprangen Füße beiseite und Kleider wirbelten aus dem Weg. Es dauerte nicht lange, bis er und Onora die Tanzfläche überquert hatten und am anderen Ende des Saales zum Stehen kamen. Hier warteten die Edlen und Hochgeborenen des Clans an einer langen Tafel auf sie. Die erste Begrüßung kam von einer sehnigen Frau in Lederhosen.

»Fürst Gallahd und die wunderschöne Edle Onora, es ist mir eine Freude.« Es war die Jägerin Harra, die sprach, und sie saß links neben Onoras Vater auf jenem Platz, der dem besten Krieger des Clans gebührte.

»Harra, meine liebste Freundin, niemand wusste, wo Ihr wart und ob Ihr kommen würdet«, begrüßte ihr Vater die Jägerin freudig.

Onora nahm den Platz zu seiner Rechten ein und sah direkt in Elainnes missvergnügtes Gesicht. Rasch drehte sie sich weg und überschaute das dröhnende Treiben. So gierig, wie die Feiergäste das Leben tranken, könnte man fast meinen, sie hätten gerade die Schlacht von 207 geschlagen und ihre Burg zurückerobert und der stolz geschmückte Festsaal verstärkte diesen Eindruck noch. Er sah nämlich tatsächlich aus wie nach einer siegreichen Schlacht. Überall hingen karierte Banner von den Wänden und die riesigen Geweihe der Ranhirsche zierten zusammen mit den gigantischen bronzenen Kriegshörnern die gesamte Halle.

»Ich verpasse das Grüne Fest meiner Tochter doch nicht«, erklärte Harra dem Fürsten in diesem Moment nüchtern.

Onora erkannte aus den Augenwinkeln, wie sich Elainnes eitle Miene weiter verdüsterte. Sie war in einen reich verzierten, grünen Mantel gehüllt, wie es die Tradition verlangte, und offensichtlich hatten die Schneider keine Kosten gescheut. Überall an dem Kleid waren glänzende Bernsteine angebracht und zahllose blinkende Goldlinien verknoteten sich an beiden Seiten des Gewands zu kunstvollen Mustern, die wie hungrige Zungen über den Stoff leckten. Im Gegensatz zu Elainne sah Harra in ihrer Lederkluft nahezu ärmlich aus. Man hätte sie vermutlich für Elainnes Dienerin gehalten, wenn die Jägerin nicht so eine erhabene Miene im Gesicht getragen hätte.

»Nun, wir freuen uns sehr, Euch zu sehen, Harra«, schloss Gallahd und sah in die Runde. Jeder hatte den Platz eingenommen, den ihm sein Stand zuwies, nur der Stuhl am anderen Ende der Tafel blieb leer. Es war der Thron der Fürstin, den Harra nun flüchtig musterte, ehe sie sich Onora zuwandte und sagte: »Aber so wie es aussieht, bin ich nicht der einzige Überraschungsgast. – Wie schön, dass Ihr Euch zu uns gesellt, Edle Onora.«

Onora unterdrückte ein Seufzen; sie konnte es nicht leiden, wenn jemand die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Doch wenigstens sah Harra sie offen an. Die restlichen vier Dutzend Augenpaare, die sie begafften, schielten entweder aus den Augenwinkeln in ihre Richtung oder taten so, als würden sie den reich gedeckten Tisch betrachten, sobald Onora ihr Starren bemerkte.

»Eure Tochter war mir im letzten Herbst eine große Hilfe auf der Kitzhatz – sie hat ein Talent für die Jagd, im Gegensatz zu meiner eigenen Tochter«, murmelte Harra beiläufig in Richtung des Fürsten.

Elainne packte unversehens ihre Bronzegabel und sah für einen Augenblick so aus, als wollte sie Onora damit erstechen. Eilig versuchte Onora, das Lob von sich abzuwenden.

»Ihr seid sehr gütig, Edle Harra, aber der Großteil des Ruhms gebührt Euren Hunden und meinem Pferd.«

»Pferde«, schnaubte Elainne und irgendwo an der langen Tafel kicherte Eari belustigt.

Harra schürzte die Lippen. »Ja, Pferde, Elainne – wir können nicht alle eine kindische Angst vor ihnen haben.«

Die Jägerin traf mit Worten so genau wie mit Pfeilen, denn Elainne senkte sofort den Blick. Onora hoffte, dass die Sache damit erledigt war, doch plötzlich verspürte ein junger Krieger am anderen Tischende das Bedürfnis, Elainne zu verteidigen. Er funkelte Harra herausfordernd an und sagte: »Elainne hat nicht Unrecht, jeder kann ein Pferd reiten, aber allein die stolzen Söhne und Töchter des großen Athols haben das Geschick entwickelt, die Herzen der Hirsche zu bezähmen. Wer braucht schon Pferde, wenn er die Herrscher des Waldes gebändigt hat? Außerdem ist es ungerecht, Eurer Tochter mangelnde Fertigkeit vorzuwerfen, wenn Ihr sie nie auf die Jagd mitnehmt. Sie ist sehr treffsicher mit dem Bogen.«

Nachdem der rothaarige Krieger verstummt war, wollte Onora die Tischrunde nur noch verlassen, denn Harra sah nicht so aus, als wäre sie bereit, ihre Tochter in Schutz zu nehmen.

»Ich brauche Pferde, Féinnad«, schnappte sie ungehalten, »die ›Herrscher des Waldes‹ lassen sich nämlich nicht an Jagdhunde gewöhnen und ich habe keinesfalls vor, meine Reiter durch wildgewordene Ranhirsche zu gefährden. Solange Elainne also nicht bereit ist, auf ein Pferd zu steigen, werde ich sie nicht mit auf die Jagd nehmen, so einfach ist das. Da spielt es auch keine Rolle, wie viele leblose Strohpuppen sie erschießen kann.« Harra beendete das Gespräch, indem sie demonstrativ ihr Trinkhorn hob und einen tiefen Zug des würzigen Dunkelbieres nahm. Bestimmt hat sie ihr eigenes Grünes Fest damit verbracht, alle anwesenden Männer unter den Tisch zu trinken, überlegte Onora abwesend.

Elainne war die Freude an ihrem sechzehnten Jahrestag jedenfalls sichtlich vergangen. Sie hatte die Arme fest ineinander verschränkt und versank langsam unter der Speisetafel. Seltsamerweise empfand Onora weder Häme noch Schadenfreude über die Scham ihrer Peinigerin. Sie spürte nur eine stete Anspannung und ließ die öden Gespräche der Edlen teilnahmslos an sich vorbeiziehen.

Sklaven, Diebe, kleine Familienfehden …

»Selbstverständlich wird meine Tochter von nun an all unsere Feste besuchen, und wenn die reizende Rhona im Sommer ihren sechzehnten Jahrestag feiert, kann Onora die Gelegenheit vielleicht nutzen, um sich einen geeigneten Gemahl auszuwählen«, schloss der Fürst nach einer Weile beiläufig.

Wie geschlagen erwachte Onora aus dem Halbschlaf. Sie weitete die Augen und versuchte, in ihren Vater hineinzusehen. Was ging in seinem Kopf nur vor? Erst behandelte er sie jahrelang wie eine Unsichtbare und plötzlich war sie wieder eine Edle und seine Nachfolgerin und sollte heiraten? Onora fröstelte, obwohl direkt hinter ihr ein lebhaftes Feuer im Kamin knisterte, und selbst Elainnes bitterer Blick ängstigte sie in diesem Moment nicht. Sie hätte gerade einfach gern mit Harras Tochter getauscht, dann könnte Elainne jetzt auf Onoras Stuhl sitzen und als weiße Fürstentochter mit den Kriegern anbändeln und Onora könnte das Grün tragen und die Drunen suchen.

Sie zuckte zusammen, als es neben ihr klatschte.

»So, dann holen wir mal die jungen Rehe für unsere jungen Rehe«, verkündete ihr Vater und die Tafel löste sich auf. Harra verließ den Saal zusammen mit drei Dienern und einige Krieger gingen zur nächstbesten Wand und hievten dort eines der monströsen Blashörner aus seiner Halterung. Fragend sah Onora zu ihrem Vater.

»Um diese Meute zum Schweigen zu bringen«, erklärte er und machte eine nachlässige Geste in Richtung des Instruments.

»Und wofür zum Schweigen bringen?«, rief Onora ihm durch den Lärm hindurch entgegen.

Der Fürst bedachte sie mit einem Stirnrunzeln. »Für die Ehrung der drei edlen Clankinder natürlich – du wirst eines der jungen Rehe an ein Clankind überreichen, hatte ich das nicht erwähnt? Es läuft genauso ab wie zu deiner Übergabe.«

Onoras Übergabe … Sie war schon so lange her, dass Onora sich gar nicht mehr daran erinnerte, wie sie damals ihr eigenes Reh Sai bekommen hatte… Sie konnte es sich allerdings vage vorstellen, der Ablauf der Grünen Feste änderte sich schließlich nicht: Ein junger Edler erreichte sein sechzehntes Lebensjahr und wurde damit zu einem vollwertigen Clanmitglied. Und wenn es den Ältesten gefiel, durfte er am Ende seines Jahrestages in den Grünwald gehen, um dort die Weisheit der Drunen zu erbitten. Zuvor feierte der gesamte Clan allerdings ein rauschendes Fest für sein neustes Mitglied und dabei übergab der Gefeierte zusammen mit zwei anderen Sechzehnjährigen jeweils einen Ranhirsch an eines von drei hochgeborenen Clankindern. In diesem festlichen Akt berief man die Kinder zu jungen Edlen und nahm die Sechzehnjährigen in den Kreis der Erwachsenen auf …

Aber all das war bloßes Wissen, keine Erinnerung. Onora fühlte nichts, als sie sich den Ablauf dieser Feiern ins Gedächtnis rief, und das war merkwürdig. Eigentlich war der Tag, an dem ein Kind seinen Ranhirsch bekam, einer der wichtigsten im Leben jedes Clanmitgliedes …

»Ich und Elainne werden die Tiere also übergeben – und wer ist die dritte Edle?«, fragte sie abwesend.

»Tara. Sie steht nach dir und Elainne am höchsten in der Rangfolge. – Oh, sie sind fertig mit den Hörnern.«

Onoras Blick wanderte zu den drei Riesenhörnern, die man einst in der Schlacht verwendet hatte, um dem herannahenden Feind Angst einzujagen. Der erste Bläser holte gerade tief Luft und legte seine Lippen an die Öffnung des Kriegsinstruments. Hastig schlug Onora sich die Hände auf die Ohren, doch es half nicht viel. Der Ton war laut und tief wie Donner und ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern. Onora fand es wenig verwunderlich, dass Krieger, die nicht wussten, woher dieser Lärm rührte, früher lieber die Flucht ergriffen hatten. Das Geräusch, das aus dem Kriegshorn kam, klang wie die Klage eines alten Ungeheuers. Es war so schauerlich, dass selbst die feiernden Clanleute nun verstummten und die Echos ihrer Flöten und Lieder schnellstmöglich durch Türritzen und Nischen hindurch nach draußen flohen.

Auf einmal war es ganz still im Saal und dem Clan kam das offensichtlich befremdlich vor. Ein unbehagliches Raunen ging durch die Menge, bis endlich leises Hufgetrappel auf dem Korridor erklang.

Mit einem dumpfen Schaben wurden die Portaltüren aufgestemmt und Harra kam zusammen mit den drei Dienern in die Festhalle zurück. Die ersten beiden führten am Ende ihres Strickes jeweils ein junges Ranreh hinter sich her und der letzte Knecht rangelte mit einem einjährigen Hirsch, der andauernd stehen blieb und in den Gang zurückrennen wollte.

Als die Tiere ihren Platz in der Mitte des Saals eingenommen hatten, schubste ihr Vater Onora ungeduldig hinter Elainne und Tara her, die bereits auf die drei wartenden Kinder zugingen.

Doch sobald Onora sich bewegte, fingen die Edlen wieder an, sie anzustarren. Ihre Blicke legten sich schwer wie hundert Hände auf Onoras Haut und drückten sie nieder. Es gab keine schief gesungenen Lieder mehr, mit denen sie sich ablenken konnte – und keine wilden Tänze, die die anderen ablenkten. Onora trocknete ihre feuchten Finger an dem verdammten weißen Kleid und besah sich die Trachten der umstehenden Clanmitglieder. Sie waren bunt und alle verschieden, bis auf das Clankaro, das jeder Festkleidung irgendwo anhaftete. Die Frauen trugen Gewänder mit einer aufwendig gestickten und reich verzierten Mittelnaht. Einige hatten sich Bernsteine und Rauchquarz auf den Stoff genäht, aber die meisten beschränkten sich darauf, ein möglichst buntes Fischgrätenmuster in der Mitte ihres Kleides zur Schau zu stellen. Nur Weiß trug niemand – außer ihr.

Selbst die Kinder, vor denen Onora wenig später anhielt, waren in bunte Trachten gekleidet und wirkten darin wie zu kurz geratene Edle. Die beiden Jungen sahen Elainne, Tara und Onora mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde an, doch das Mädchen in ihrer Mitte klammerte sich ebenso ängstlich an sein goldenes Zaumzeug, wie Onora es einst getan hatte. Sie kannte das Gefühl, stumm dazustehen und darauf zu hoffen, dass alles gut ging und man sich nicht über Wochen hinweg zum Gespött machte. Denn wenn es etwas gab, worin die Clans es zur Meisterschaft gebracht hatten, dann war es das Spotten und Leicht-beleidigt-Sein.

Ihr Vater ergriff das Wort und Onora versuchte, dem Mädchen aufmunternd zuzulächeln.

»Heute verlässt uns eine junge Frau, um das Wissen der Drunen zu erlernen und eines Tages als Gelehrte zu uns zurückzukehren. Eine Ära geht zu Ende, eine neue findet ihren Anfang. Die edlen Kinder Cadan, Féred und Béia werden heute mit der Pflege und Aufzucht ihrer eigenen Ranhirsche betraut und dürfen ihnen einen Namen geben«, verkündete der Fürst feierlich. Dann wandte er sich mahnend an die Clankinder: »Wenn ihr diese Aufgabe ernst nehmt und eure Tiere gut behandelt, werdet ihr starke Verbündete für den Rest eures Lebens finden.« Ein Stoß Applaus und Jubelrufe brandeten durch die Menge, und ihr Vater nickte den drei Kindern aufmunternd zu. »Ihr dürft den Edeldamen nun euren Zaum geben.«

Zögerlich trat das blaugewandete Mädchen vor und streckte Onora sein goldenes Halfter entgegen. Es war schwer zu sagen, wessen Hände mehr zitterten, als Onora das Zaumzeug an sich nahm. Mit pochendem Herzen sah sie die Plakette an, auf der die Nummer ihres Jungtieres eingraviert war. Tas stand dort in einem alten Zeichen ins Holz geritzt, es bedeutete ›zwei‹. Das Mädchen würde also das Reh bekommen, das Harra im letzten Herbst als Zweites gefangen hatten … Das Zweite … Onora betete zu den Ahnen ihres Vaters, dass sie sich irren mochte.

»Iuri«, ›eins‹, rief der Fürst da plötzlich aus. Sofort trat Tara vor und nahm das schlanke, dunkle Reh entgegen, das vor dem Portaltor geduldig auf sie wartete. Sie führte die Hirschkuh mit eleganten Tänzerschritten fort und gab so den Blick auf das zweite Jungtier frei.

Es war der Bock.

Onora hatte sich natürlich nicht geirrt. Im vergangenen Sommer hatten sie den störrischen Hirsch als Zweites gefangen … Auch Elainne erfasste die Lage und warf ihr einen gehässigen Blick zu.

Da gellte Onoras Stichwort »Tas«, allerdings schon durch die Menge. Onora verfluchte die Ahnen ihres Vaters und trottete zu Harra und dem Bock hinüber. Dabei schielte sie sehnsüchtig auf die verbliebene Hirschkuh, die ruhig und gehorsam neben der Tür stand. Sie erinnerte Onora ein wenig an ihr eigenes lang verschwundenes Reh Sai. Und obwohl Onora wusste, dass Sai sie lediglich für eine verlässliche Futterquelle gehalten hatte, versetzte es ihr immer noch einen Stich, dass das Reh eines Tages ebenso wortlos im Grünwald verschwunden war wie einst ihre Mutter.

Betrübt krallte sie ihre Finger in den weichen Halfterstoff und lief auf den jungen Ranhirsch zu, der am Ende des Saales stand. Er schien ihr hämmerndes Herz genau zu spüren, denn er regte sich nicht. Reiß dich zusammen, die prächtigsten Ranhirsche werden doppelt so groß wie dieser Jährling und tragen Geweihkronen mit mehr als dreißig Ästen!, erinnerte Onora sich streng.

Doch dieses Buchwissen tröstete sie wenig, als der mannshohe Junghirsch begann, finster auf sie herabzustarren. In seinen dunklen Augen war der Wald zu sehen, der Tag, an dem Harra, ihre Jäger und Onora ihm seine Freiheit geraubt hatten. Ich erinnere mich an dich, weißes Mädchen, schien der Blick des Bockes zu sagen, und Onora wurde von dem flauen Gefühl in ihrem Magen langsam übel. Sie unterdrückte ein Seufzen und machte Anstalten, dem Tier das Zaumzeug anzulegen.

Der Hirsch scheute, wie sie erwartet hatte. Er vollführte eine klackernde Drehung auf dem Parkett und riss dem Diener, der ihn eigentlich festhalten sollte, die lose Seilschlaufe aus der Hand. Harra griff noch nach dem Strick, aber es war schon zu spät. Das Seil ringelte sich bereits wie eine verräterische Schlange auf dem Boden zusammen und der Hirsch war frei.

Er sprang zur Seite, rollte mit den Augen und warf den Kopf in alle Richtungen. Ein aufgeregtes Tuscheln ging durch die Menge und machte alles noch schlimmer. Es versetzte den Bock in Panik, sodass er sich aufbäumte und mit den Vorderhufen austrat. Harra nutzte diesen Moment, um sich an den Hirsch heranzuschleichen. Sie blieb nur knapp hinter ihm stehen und warf Onora einen pfeilscharfen Blick zu. Warum sieht sie mich an?! Der Gedanke hallte schwerfällig in Onoras Bewusstsein wider.

Erst als der Ranhirsch sich umdrehte und Harra brüllte: »Das Halfter!«, verstand Onora, was die Jägerin wollte. Aber sie konnte sich nicht rühren, ihre Muskeln waren vor Schreck wie versteinert. Hilflos musste sie mitansehen, wie der Bock Harra entdeckte, sich erneut aufrichtete und sie mit den Hufen zu Boden riss. Die schaulustige Meute schrie auf wie aus einem Mund, und der wahnsinnige Hirsch erstarrte. Einen Herzschlag lang sah er regungslos in die Menge. Dann hielt er in vollem Lauf auf sie zu.

Instinktiv sprangen die Leute beiseite und bildeten eine breite Schneise für das wildgewordene Tier. Ihre bunten Gewänder wehten wie gefallenes Herbstlaub durch die Luft, und als sich das Farbengewirr wieder gelegt hatte, war das Hufgetrappel längst verstummt und der Hirsch war verschwunden.

Jetzt starrte der gesamte Atholclan wie ein fünfhundertäugiges Ungeheuer in die Mitte des Festsaales. Und Onora wusste genau, was er dort sah: eine weißgewandete Fremde, die sich mit verschwitzten Fingern an ein nutzloses Zaumzeug klammerte …

Wie in Trance strich Onora über den feinen Stoff des Halfters, und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis es ihr gelang, den Kopf zu heben und in die bunte Menge zurückzublicken.

Sie sah ihren Vater. Sein halb verhangener Blick wirkte bekümmert, aber es war schwer zu sagen, ob seine Sorge ihr oder Harra galt. Sie sah Elainne, die kurz davor war, einen dummen Spruch loszulassen. Sie sah die unleserlichen Mienen der besten Clankrieger, von denen sie einen heiraten sollte, und sie sah die austauschbaren Gesichter der anderen Clanmitglieder, die sie alle nicht kannte.

Das ist es also? Leben – mein Leben? Ein ewiger Kampf darum, aufmöglichst harmlose Weise zu scheitern? Ein ewiges In-der-Mitte-des-Kreises-Stehen und angegafft werden? Heute habe ich eine Frau verletzt, was würde erst passieren, wenn ich diesen Clan anführe?Selbst wenn Elainne zu den Gesetzlosen geht, jeder hier denkt, was sie denkt – dass ich nicht hierhergehöre. Und sie haben recht! Elainne sollte diesen Mantel nicht tragen. Ich sollte es. Ich sollte zu den Drunen gehen. Ich sollteüberhauptgehen …

Onora bemerkte kaum, wie ihr der goldene Zaum aus der Hand glitt. Ihre Augen waren fest auf die geöffnete Tür gerichtet.

»Ich … hole es zurück«, murmelte sie und rannte auf demselben Weg wie der Hirsch aus dem Saal, noch bevor jemand sie aufhalten konnte.

Die Tür im Wald

Erst als sie die Festgesellschaft hinter sich gelassen hatte, bemerkte Onora, dass sie gar nicht wusste, wohin das Tier gelaufen war. Und einige Leute aus dem Saal mussten ihrerseits erkannt haben, dass sie ohne Zaumzeug und Hilfe keinen wildgewordenen Ranhirsch einfangen konnte, denn das behäbige Stapfen mehrerer Clankrieger hallte plötzlich durch die weitverzweigten Gänge. Onora spürte die näher kommenden Schritte wie eine heiße Hand im Nacken und verfiel in ein gehetztes Rennen. Schwarze Steinwände flogen an ihr vorbei wie eine lange Parade dicht aneinandergedrängter Schattengestalten, und mit jeder Ecke, die Onora passierte, schienen die Korridore finsterer und schmaler zu werden. Doch auch die Echos der dumpfen Männerschritte wurden nun leiser, und so rannte Onora einfach immer weiter, bis es endlich still wurde und sie einen verräterisch roten Schimmer am Ende eines besonders engen und trostlosen Steinflures entdeckte.

Der Bock!, dachte sie und schlich sich vorsichtig näher an das verschreckte Wildtier heran, das seltsamerweise nicht noch einmal vor ihr weglaufen wollte.

Er hat einen Ausgang gefunden!,erkannte Onora mit einem Blick auf die kleine Dienstbotentür, die der junge Ranhirsch gerade neugierig beschnupperte. Dann lauschte sie prüfend in den Korridor hinein, doch es hallten nur einige desorientierte Echos durch die verwinkelten Nebenflure. Für den Moment waren sie allein.

»Ich nehme nicht an, dass du mich in den Wald bringen würdest?«, überlegte Onora leise. Der Bock stieß ein missbilligendes Schnauben aus und sie nickte abwesend. »Nein … natürlich nicht. Du und deine Geschwister, ihr habt mich nie leiden können, was?«

Onoras Augen wanderten zu dem schwach glänzenden Türring. Zaghaft griff sie danach und drückte sich gegen das dunkle Kiefernholz. Und wie durch ein Wunder schwang die Tür tatsächlich auf und ein schmaler Lichtstreifen kroch in den Korridor. Vermutlich hatten Harra und ihre Diener die jungen Hirsche auf diesem Weg in die Burg gebracht und in ihrer Eile einfach vergessen, die Tür wieder abzusperren … Sofort versuchte der Hirsch, seine Nase ins Freie zu strecken, doch Onora schloss die Tür, ehe er ausreißen konnte.

Jetzt oder nie, zischte der Wahnsinn in ihrem Kopf. Dein Vater wird dich nach diesem Festvermutlichfür alle Ewigkeit in dein Zimmer sperren! Und eine so gute Gelegenheit, die Drunen zu sehen, bekommst du nie wieder! Sie werden heute Abend immerhin im Grünwald auf Elainne warten!

Das Getrampel auf den Fluren wurde wieder lauter. Offenbar hatten Onoras Verfolger den richtigen Weg eingeschlagen. Angespannt sah sie zu dem jungen Hirsch. Wenn er die Männer lange genug ablenken würde … könnte sie entkommen. Man würde sie zuerst im Schloss suchen, nicht auf dem Weg zum Grünwald. Und bis jemand bemerkte, wohin sie verschwunden war, wäre es längst zu spät.

»Tut mir leid, Kleiner«, flüsterte sie und schlug dem Bock kräftig auf den Hintern. Erschrocken machte das Tier einen Satz zur Seite und hetzte wieder den finsteren Gang hinab.

Im Schutz des Lärms, den der Hirsch verursachte, zog Onora die Tür abermals auf und der Frühlingswind zerrte sie forsch über die Schwelle hinweg in die Freiheit.

Die Sonne schien unerwartet hell auf die zartgrüne Welt. Onora blinzelte kurz. Dann sprintete sie los und die lebende Erde erwiderte ihre Schritte. Das Laufen fühlte sich ganz anders an als auf dem harten, unnachgiebigen Steinboden im Schloss. Hier draußen, in der wirklichen Welt, hinterließen ihre Füße Spuren – doch niemand würde sie sehen, zumindest nicht rechtzeitig.

So rannte Onora eine Weile dem Wald entgegen, bis die Erschöpfung und die brennenden Atemzüge sie erst in einen langsamen Lauf und dann in ein ruhiges Gehen zwangen. Sie blickte nur einmal zurück auf die Burg ihres Vaters, die grob und stur auf einem Hügel im spätnachmittäglichen Nebel thronte und sicherlich noch viele Jahre dort stehen würde – Verfolger sah sie keine.

Der Grünwald war ein finsterer und unheimlicher Ort. Hier ragten kahle Laubbäume wie Gerippe aus dem Boden und die Tannen wirkten in ihren Nadelkleidern wie einbeinige Riesen in Kettenhemden … Manch einer munkelte hinter vorgehaltener Hand sogar von einem Ungeheuer, das hier sein Unwesen trieb. Und im schummrigen Dämmerlicht verstand Onora genau, warum die vielen Schauergeschichten über den Grünwalderer noch immer so beliebt bei Kindern und alten Waschweibern waren …

Zittrig sog sie die kalte Frühjahresluft in sich ein und sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Sie wollte nicht tiefer als nötig in den Grünwald gehen, also würde sie hier am Waldrand auf Elainne warten und ihr anschließend heimlich zu ihrem Treffpunkt mit den Drunen folgen. Sicherlich würden die Grünen Onora zuhören. Sie mussten es einfach, immerhin war Onoras Mutter eine von ihnen gewesen …

Auf einmal raschelte es keine zehn Schritte von ihr entfernt und sie schnellte herum.

Hinter ihr sprang ein Hase aus einem kahlen Brombeerstrauch. Onora lachte leise und wollte sich schon erleichtert abwenden, als sie etwas Weißes in ihrem Augenwinkel entdeckte.

Es liegt kein Schnee mehr …

Alarmiert zückte sie den kleinen Bronzedolch, den sie für Elainnes Fest getragen hatte. Es war eine Zierwaffe, aber besser als nichts, zumindest ein wenig. Onora verfluchte ihre eigene Dummheit. Jedes Kind wusste, dass Vergewaltiger in den Wäldern auf drunensuchende Mädchen lauerten! Mit hämmernder Brust trat sie ein paar Schritte zur Seite und erkannte, dass sich tatsächlich ein blonder Haarschopf hinter dem umgekippten Baumstamm verbarg.

»Ich warne Euch«, rief sie und kämpfte um eine feste, fürstlich klingende Stimme, »mein Vater ist der Herr des Atholclans und wacht nicht weit von diesem Wald. Er wird Euch von seinen Riesenhirschen tottrampeln lassen, wenn –« Sie stockte.

Das Gesicht, das jetzt hinter dem Baumstamm auftauchte und sie verdutzt anstarrte, sah nicht wie das eines Vergewaltigers aus. Es war jung, sauber und ohne Narben und Furchen – und es war so blass! Probehalber fuhren Onoras Augen erneut über Haare, Haut und Augen des Fremden, die alle ähnlich farblos waren.

»Ihr seid ein Nordländer!«, stieß sie ungläubig hervor.

»Ja, und? Was wolltet Ihr mir gerade sagen? Wann wird Euer Vater mich von Riesenhirschen tottrampeln lassen?«, knurrte der Fremde ungehalten. Er sprach Amländisch, hob dabei allerdings jeden Vokal eigentümlich klar hervor. Onora ignorierte seine Frage.

»Warum seid Ihr hier?«, überlegte sie laut vor sich her. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was einen Nordländer hierher verschlagen sollte …

»Und Ihr, warum antwortete Ihr mir nicht, Hirschprinzessin? Es wäre reichlich interessant zu wissen, für was bei den tobenden Winterwinden Ihr mich haltet!«

Der Mann stand auf und klopfte sich entrüstet den Dreck von seiner groben Hose. Er trug einfache Fischerkleidung, doch sein Blick hätte dem eines stolzen Edlen kaum verwandter sein können. Außerdem überragte er Onora um gut einen Kopf und schaute nun finster auf den Dolch in ihrer Rechten. Hastig steckte sie die Waffe weg und verlor unter dem Eisblick des Mannes fast allen Mut.

»In diesen Wäldern lauern oft Vergewaltiger«, antwortete sie kleinlaut. Woher sollte sie denn wissen, dass sich genau hinter diesem Baum ein Nordländer versteckte?

»Na wie reizend.« Verstimmt wandte der Nordländer sich wieder dem Wald zu, er schien auf etwas zu warten.

Onora versuchte, das Thema zu wechseln. »Und … warum seid Ihr hier?«

»Vermutlich aus demselben Grund wie Ihr – Drunen, und deshalb sollten wir auch lieber leise und unsichtbar sein, um sie nicht zu verschrecken. Denn wenn sie bemerken, dass das Mädchen in Grün nicht allein kommt, sind sie ganz schnell wieder fort.«

Mit diesen Worten zerrte der Nordmann Onora in sein Versteck. Er war ihr nun bedeutend zu nah und sie rückte so weit von ihm ab, wie der Platz hinter dem Baumstamm es erlaubte.

»Was wollt Ihr von den Grünen Gesetzlosen wissen?«, wisperte sie mit gedämpfter Stimme. Denn es stand außer Frage, dass er Wissen bei den Drunen suchte. Zwar kursierten einige Gerüchte über einen gewissen Reichtum, der bei den Gesetzlosen lagerte, aber eigentlich suchte jeder, der die Drunen suchte, nach ihrer Weisheit. Selbst die Clans begehrten die alten Lehren der grünen Gelehrten mehr als ihre abgeschlagenen Köpfe – zumindest unter den richtigen Fürsten. Es hatte allerdings auch andere Clanführer gegeben, was der Grund für die übermäßige Vorsicht der Drunen war.

»Ich will die Drunen ein paar geschichtliche Dinge fragen – es heißt, sie wüssten noch so einiges über die Magie«, verkündete der Nordländer unumwunden.

Magie. Ein Lächeln zuckte über Onoras Lippen, ehe sie spöttisch die Brauen hob und sagte: »Ihr seid wegen der Magie hier? War Eure Suche nach den Feen etwa erfolglos? Hier im Grünwald soll es auch ein Monster geben, falls Euch langweilig wird.«

Schlagartig verfinsterte sich die Miene des Nordländers und er sah sich nervös um. »Seid still! Es bringt Unglück, sie zu erwähnen.«

Onora schnaubte belustigt. »Ihr Nordländer seid wirklich so abergläubisch wie alle behaupten – die Feen sind ausgestorben, genau wie die Magie.« Sie wandte sich dem Wald zu, ohne wirklich etwas zu sehen. »Jeder weiß das«, ergänzte sie in bedauerndem Tonfall. Sie glaubte schon lange nicht mehr an all diese Märchen, dafür war sie zu viele Jahre von Elainne und dem übrigen Atholclan verspottet worden.

Doch der Nordländer stimmte ihr in dieser Sache offensichtlich nicht zu. Er reckte das Kinn und sagte: »Jeder weiß, dass es Magie gab und dass sie verloren ging – und was verloren ist, kann man wiederfinden.«

»Das haben die Suchenden auch gesagt, die 532 Jahre vor Euch nach Ambren kamen, um die Magie zurückzubringen – und keiner von ihnen war erfolgreich. Warum sollte es bei Euch anders sein?«

Der Nordländer grinste spöttisch. »Warum denn nicht? Für ein Mädchen, das nicht an Magie glaubt, wisst Ihr übrigens verblüffend genau, wann sie verschwand und man anfing, nach ihr zu suchen.«

»Ich lese einfach viel …«, nuschelte Onora und warf dem Nordländer einen verständnislosen Blick zu. »Findet Ihr es nicht wenigstens ein bisschen gewagt, für uralte Gerüchte das ganze Meer zu überqueren?«

»Wer seine Träume wahr machen will, der muss eben Wagnisse eingehen – wo bleibt nur Euer Sinn für Abenteuer, Hirschprinzessin?«

Onora spürte, dass es zwecklos war, mit diesem Nordländer zu streiten, daher sagte sie nur: »Ich bin lieber vernünftig als abenteuerlustig. Wie heißt Ihr überhaupt?«

»Doraín – und jetzt seid still, das grüne Mädchen kommt nämlich!«

Onora folgte dem Blick des Nordländers und entdeckte, dass Elainne, von zwei breitschultrigen Hirschreitern flankiert, auf ihrem Ranreh die Anhöhe hinuntertrabte.

»Die Krieger kommen nicht mit in den Wald. Sie warten aber bis zum nächsten Tag hier – für den Fall, dass Elainne von den Drunen abgelehnt wird«, erklärte Onora abwesend. Dann zog sie sich hinter den umgekippten Baumstamm zurück und Doraín tat es ihr gleich. Zusammen lauschten die beiden nun darauf, dass Elainnes unsichere Schritte im Wald ertönten, und es dauerte nicht lange, bis tatsächlich Zweige unter achtlosen Füßen zerbrachen.

Onora malte sich aus, wie Elainne den Blick in das ausgedünnte Blätterdach der Bäume hob und anschließend verängstigt in den dunkler werdenden Grünwald sah, der wie das Maul einer Bestie vor ihr aufragte. Wie es sich wohl anfühlte, hier mit nichts als einem grünen Mantel am Leib nach Leuten Ausschau zu halten, die die Clans schon vor Generationen aus ihren Reihen verstoßen hatten? Vermutlich nicht minder Furcht einflößend als mit einem Fremden Arm an Arm hinter einem Baumstamm zu kauern und ebenfalls auf diese Gesetzlosen zu warten, dachte Onora. Doch seltsamerweise hatte sie keine Angst – zumindest, was die Drunen anging, bei dem Nordländer war sie sich noch nicht sicher. Sein polierter Schwertschaft funkelte so verdächtig im spärlichen Dämmerlicht …

Es dauerte eine lange Zeit, bis Elainnes Schritte sich so weit entfernt hatten, dass Onora und Doraín gefahrlos aus ihrem Versteck kommen und die Verfolgung aufnehmen konnten. Onora hätte nicht gedacht, dass es möglich war, jemandem unerkannt nachzustellen, der auf das leiseste Geräusch lauschte. Aber es ging. Denn Elainne war keine Jägerin und stakste so unbeholfen durch den dunklen Wald wie ein neugeborenes Ranreh, das seine Mutter verloren hatte. Onora und Doraín mussten nur darauf achten, außerhalb von Elainnes Hörweite zu bleiben, und da die blassrote Abendsonne ihnen direkt entgegenschien, warfen sie auch keine Schatten zwischen die Bäume, die Elainne misstrauisch hätten machen können.

So schlichen die beiden eine Weile erstaunlich problemlos hinter Harras Tochter her, bis plötzlich Pferdeschnauben und gedämpftes Hufgetrappel laut wurden. Onora dachte zuerst, ein fremder Clan hätte sich in den Wald verirrt, vielleicht der Wolfsclan oder der Bärenclan … Aber dann lugte sie hinter ihrem Baum hervor und erkannte, dass die Reiter, die auf Elainne zugaloppierten, kein Tartanmuster trugen – es waren also Gesetzlose. Und da normale Gesetzlose Elainne nun bereits niedergeschlagen und ausgeraubt oder niedergeschlagen und verschleppt hätten, musste es sich um die Grünen Gesetzlosen, die Drunen, handeln. Nur dass sie gar nicht grün waren …

Die Reiter trugen milchweiße Leinenhemden, die zwar viel zu kalt für die Jahreszeit waren, doch ansonsten enttäuschend gewöhnlich aussahen. Dafür verstand Onora nicht, was die Gesetzlosen jetzt in den Wald bellten, während sie Elainne mit ihren Pferden umzingelten. Sie schienen Amländisch zu sprechen, aber ihre Worte klangen dennoch fremd und seltsam unverständlich …

Als weitere Pferde sich Elainne näherten, zog der Nordländer Onora jäh hinter einen Abhang, damit sie nicht entdeckt wurden. Sie hätte zwar gerne gesehen, was mit der umstellten Elainne geschah, aber da Doraín das offenbar für zu gefährlich hielt, rührte sie sich nicht mehr und lauschte nur angestrengt auf die seltsamen Worte der Gesetzlosen. Onora war so sehr damit beschäftigt, zu verstehen, was die Männer sagten, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Kälte anfing, sie warnend durchzuschütteln.

»Wie ist dein Name, Mädchen?«, herrschte einer der Männer Elainne unfreundlich an.

»Elainne on Athol, Tochter der Harra«, antwortete Elainne, und zu Onoras Überraschung klang ihre hochmütige Stimme plötzlich erstickt vor Angst.

»Nun, Elainne, was hoffst du, bei den Drunen zu finden?«

»Wissen«, gab Elainne einsilbig zurück. Sie musste das Gespräch auswendig gelernt haben.

»Wissen, ja? Dann sage mir, Elainne: Hoffen deine beiden bewaffneten Freunde hinter dem Hügel ebenfalls, Wissen und Weisheit zu erlangen? Es ist ein unverzeihliches Vergehen, mit Waffen am Körper nach den Drunen zu suchen, das solltet ihr Clanleute doch mittlerweile verstanden haben«, brummte der Drunenmann in unverändert ruhigem Tonfall.

Onora schreckte hoch und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Doraín. Der griff fahrig nach seinem rubinbesetzten Schwert – aber es war schon zu spät. Onora spürte bereits die Spitze einer langen, scharfen Klinge auf dem Punkt direkt zwischen ihren Schulterblättern. Die Gesetzlosen hatten sie entdeckt.

»Denkt wohl, ihr könntet unsere Herren zum Narren halten? Ein paar Drunen fangen und foltern, bis sie euch unser Versteck verraten? Haltet euch wohl für besonders klug, was?«, raunte die heisere Stimme des Schwertbesitzers Onora ins Ohr.

»Dumm nur, dass die hohen Herrschaften heute gar nicht selbst im Wald sind. Es war also alles umsonst«, ergänzte Doraíns Wächter und übertönte mit seinen Worten Elainnes hilfloses Gestammel, das einige Schritte weiter schrill durch den Wald hallte.

»Ja, sehr tragisch – jetzt dreh dich um, Mädel«, hustete Onoras Bewacher ungeduldig.

Vorsichtig tat sie, was von ihr verlangt wurde und starrte im nächsten Moment in ein furchtbar zernarbtes Gesicht.

»Gut, und nun: Waffen fallen lassen, alle beide«, grunzte der Narbenmann und atmete dabei den Gestank von Jahre altem Rauch und halbverdautem Bier aus.

Mit zitternden Händen legte Onora den Dolch vor ihre Füße und versuchte, sich so schnell wie möglich wiederaufzurichten. Doch ihr Wächter ließ es nicht zu und stieß sie mit seinem Schwertschaft sofort wieder zurück auf die Knie.

Sie musste etwas sagen! Musste die Sache richtigstellen und erklären, dass sie nur eine dumme Fürstentochter war, die auf der Flucht vor ihrem eigenen Clan das Waffenverbot der Drunen vollkommen vergessen hatte! Doch ihre Zunge war wie gelähmt.

»Schön, dann bringen wir’s hinter uns.«

Der Narbenmann hob sein Schwert und Onora erstarrte. Ihr Körper hörte auf zu zittern und ihre Gedanken verstummten. Sie bestand nur noch aus ihren Augen, aus diesem einen Blick, der an dem todbringenden Eisen hing, das nun immer höher in die Luft stieg. Und als die Klinge ihren Zenit erreicht hatte, fühlte sich Onora, als würde sie für einen Augenblick selbst in der Schwebe baumeln …

»Was sind das für Leute?«

Zuerst waren da keine Worte. Nur Laute, die Onora durch ihren donnernden Herzschlag hindurch kaum verstehen konnte. Aber diese Laute ließen den Narbenmann sofort erstarren, also mussten sie wichtig sein. Mühsam kramte Onora in ihrem Gedächtnis und ordnete den Geräuschen eine Bedeutung und einen Ursprung zu.

Die Worte stammten von einer rothaarigen Frau, die gerade von ihrem Pferd gestiegen war und nun gemächlich auf Onora und ihrem Henker zukam. Sie ging so langsam, dass sogar das Laub unter ihren Füßen nur träge vor sich her raschelte, doch trotz all der Langsamkeit fuhr Onora zusammen, als die Reiterin schließlich vor ihr stehen blieb.

Sie schaute Onora direkt ins Gesicht und Onora spiegelte den fremden Blick, unfähig, ein eigenes Gefühl auszudrücken. Sie stellte nur fest, dass in Wahrheit gar keine Frau vor ihr stand, sondern ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren. Die ernste Miene, die es trug, verbarg seine Jugend allerdings wie eine alte Kriegsbemalung.

»Das sind Eidbrecher«, knurrte der Narbenmann und sein stechender Atem rüttelte Onora wieder wach. Sie wollte nur noch weg von dem nasskalten Waldboden und diesem stinkenden Gesetzlosen … Aber die blitzende Schwertspitze an ihrer Kehle erinnerte sie daran, dass sie sich nicht rühren durfte.