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Statt Weihnachtsgans, Foie gras und Champagner hat Père Noël für Commissaire Geneviève Morel diesmal etwas ganz anderes unter dem Weihnachtsbaum: eine tödliche Schnitzeljagd durch halb Frankreich. Von der Côte d’Azur über die französischen Alpen und Paris bis an die malerischen Orte der Normandie folgt sie der Spur eines Kidnappers. Dabei wird der toughen Kommissarin alles abverlangt, sogar die Aufgabe ihrer wichtigsten Prinzipien. Ein Wettlauf mit der Zeit - und um das Leben ihres Bruders.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2025
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René Laffite
Die bittersüße Rache vom Montmartre
Commissaire Morel ermittelt
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Illustration von: © Lutz Eberle nach einem Foto von KavalenkavaVolha / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3340-0
Für Claudia Senghaas – danke, dass du von der ersten Minute an diese Geschichten geglaubt hast.
18. Dezember
Frédéric Morel saß im Gastgarten vor der Bar Cristal in Cannes’ Rue Félix Faure gleich neben dem Vieux Port und beobachtete das ausgelassene Treiben auf dem benachbarten Weihnachtsmarkt. Es war kurz nach 17 Uhr, die Sonne war bereits untergegangen, und Myriaden kleiner Lämpchen ließen die Festival-Stadt in einem bunten Licht beinahe taghell erstrahlen.
Hunderte Menschen, von ganz jung bis ganz alt, tummelten sich im Village de Noël, dem Herzen der Weihnachtsfeierlichkeiten der südfranzösischen Küstenstadt. Im Weihnachtsdorf, direkt neben dem Vieux Porte de Cannes, fehlte es an nichts, was das Herz echter Weihnachtsliebhaber höher schlagen ließ: In den sich schwindelerregend schnell bewegenden Fahrgeschäften versuchten jugendliche Halbwüchsige, ihre Angebeteten zu beeindrucken. Altersmäßig etwas weiter Fortgeschrittene versuchten, ihren Dates an den Schießbuden Stoffteddys mit Luftdruckgewehren zu erlegen. Die Jüngsten quiekten vor Freude auf dem Rücken von Karussellpferden. Wer sein Geld nicht gerade für eines der Fahrgeschäfte ausgab, tat dies an einem der Imbissstände, die einen beträchtlichen Teil der rund 50 Chalets im Weihnachtsdorf ausmachten: Punsch, aber vor allem vin chaud, Glühwein, flossen in Strömen. Marrons chauds wurden direkt vom Röstofen weg verkauft und konsumiert, kandierte Äpfel und schokolierte Früchte ließen vor allem bei den Kleinen das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Wer nicht gerade mit Essen, Trinken oder Flirten beschäftigt war, flanierte durch die mit Menschen überfüllten Korridore von Holzhütte zu Holzhütte, um sich nach einem kitschigen und völlig überteuerten Weihnachtsgeschenk umzusehen. Geboten wurde alles, von dem man niemals wusste, dass man es überhaupt benötigte: geschnitzte Engelsfiguren, flauschige Schaffell-Überzieher für Wärmeflaschen, Schmuck aus recycelten Kaffeekapseln oder buntem Glas, aufwendig dekorierte Teelichthalter und anderer Tinnef. Eingebettet dazwischen regionale Spezialitäten, von lokal produziertem Käse bis hin zu raffiniert geräuchertem Schinken. Alles natürlich auch besonders teuer.
Der Weihnachtswahnsinn in Cannes machte aber nicht an den Grenzen des Weihnachtsmarktes Halt. Selbst das gleich benachbarte ehrwürdige Palais des Festivals konnte sich der weihnachtlichen Magie nicht entziehen. Oder besser: des weihnachtlichen Kitsches. Direkt vor der Feststiege, auf der jeden Mai Hollywoodstars für Fotografen posierten, war ein gigantischer Weihnachtsbaum errichtet worden, der für Touristen und Einheimische gleichermaßen als beliebtes Fotomotiv herhielt. Der Baum war so groß, dass man sogar hinein und durch ihn hindurchspazieren konnte. Die Perspektive von innen war noch spektakulärer als von außen. Die Treppen selbst waren ebenfalls geschmückt und beleuchtet – so wie auch die Palmen, welche die Croisette säumten, die bekannteste Flaniermeile von Cannes, wenn nicht sogar der gesamten Côte d’Azur, parallel zum azurblauen Meer verlaufend. Nur wenige 100 Meter entfernt besaß die Familie Morel einen exklusiven Strandclub. Das L’Art de la mer. Frédéric wusste, dass der Club ebenfalls für die Weihnachtszeit herausgeputzt war. Nur dass sich dort nicht wie hier auf dem öffentlichen Weihnachtsmarkt der gemeine Pöbel herumtrieb. Dafür war der Eintritt zum Club zu teuer beziehungsweise die Einladungspolitik seiner Mutter für das große Weihnachtsfest in einer knappen Woche zu restriktiv. Zur Morelschen Weihnachtssause waren nur Promis und Politiker – manchmal beides in Personalunion – geladen. Als eine der einflussreichsten Kunstsammlerfamilien des Landes hatte man schließlich einen Ruf zu wahren.
Sein Blick schweifte zurück zum Weihnachtsdorf, blieb aber an Notre-Dame-de-Bon-Voyage, nur einen Häuserblock entfernt, hängen. Unter all den beleuchteten Gebäuden stach die Kirche noch einmal extra hervor. Sie wurde von allen Seiten mit spektakulären Lichtinstallationen beleuchtet, die sakrale Bilder zeigten. Die Kirche war außerdem besonders, weil Napoleon Bonaparte nach seiner Flucht von Elba am 1. August 1815 hier sein erstes Lager aufschlug. Zu dieser Zeit war die neoromanische Kirche allerdings noch nicht erbaut worden. An ihrer Statt stand an derselben Stelle Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine kleine Kapelle. Die Kirche war erst Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden. Noch mehr nutzloses Wissen, das Mamie ihm und seiner Schwester im Lauf der Jahre eingetrichtert hatte.
Ein lauter Tusch riss ihn aus seinen Gedanken. Eine zwölfköpfige Kapelle marschierte im Gleichschritt über den Weihnachtsmarkt und intonierte festliche Lieder. Ausschließlich mit Trompeten, Posaunen und Schlagwerk. Kinder und Erwachsene jubelten und folgten der Kapelle, die sich zum Zentrum des Weihnachtsmarktes bewegte – dem eigens angelegten Eislaufplatz. Frédéric schüttelte den Kopf. Welcher vernünftige Mensch begab sich freiwillig auf zwei dünnen Kufen aufs Eis? Dabei konnte man sich nur den Hals brechen. Dutzende Wagemutige, darunter auch viele Kinder, hatten sich auf die spiegelnde Fläche gewagt. Der Großteil stellte sich tollpatschig an. Was Frédéric nicht verwunderte. Sie waren in Südfrankreich. Schnee und Eis kannte man hier nur aus dem Fernsehen. Eislaufen war etwas für Alpenbewohner, aber nicht für einen stolzen Südfranzosen. Zum Skifahren hatte er eine andere Meinung. Das hatte er bereits als Dreijähriger gelernt. Die Pisten von Val-d’Isère würde er mit seiner Familie gleich nach Weihnachten wieder unsicher machen. Vom Luxushotelzimmer direkt auf die Piste. Für einen Morel war das Beste gerade gut genug.
Nach zwei ohrenbetäubend lauten Liedern machte sich die Kapelle wieder auf den Weg. Diesmal Richtung Rue d’Antibes. Auch die Einkaufsstraße hatte sich dem Weihnachtskitsch nicht entziehen können und war bunt geschmückt. An den Wochenenden der Weihnachtszeit war sie sogar zur Fußgängerzone erklärt worden.
Direkt an der Kreuzung, an der die Rue d’Antibes in die Rue Félix Faure überging, hatte ein Kinderchor Aufstellung genommen, um Weihnachtslieder zum Besten zu geben. Damit standen die Kinder in starkem Wettbewerb mit den Songs, die auf dem Village de Noël aus Dutzenden Lautsprechern plärrten. Im Moment behielt Michael Bublé mit »Let it snow« die Oberhand. Ein frommer Wunsch, der hier in Cannes jedoch keine Erfüllung finden würde. Nach Sonnenuntergang war die Temperatur zwar gefallen, befand sich jedoch noch immer im niedrigen zweistelligen Bereich.
Die Kakofonie tat der guten Laune der Menschen keinen Abbruch. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Überreizung der Sinne war in den Augen vieler Menschen durchaus eine positive Nebenerscheinung der Weihnachtszeit. In den Kinderaugen war die unbändige Vorfreude auf das Weihnachtsfest unübersehbar. In den Augen der Großeltern der Stolz auf die Enkelkinder, die sie ungeduldig von einem Chalet zum nächsten schleppten und um Geschenke oder Süßigkeiten – manchmal auch beides – bettelten. Dahinter marschierten Eltern, die sich das ganze Jahr über nicht mehr viel zu sagen hatten, Arm in Arm, und flüsterten sich, beschwingt vom Glühwein, Liebesgeständnisse ins Ohr, die am Tag nach Weihnachten wieder dem grauen Alltag zum Opfer fallen würden. Weihnachten verwandelte die Menschen. Konsumsucht hin oder her: Während der Adventszeit waren die Menschen wie verwandelt. Liebe und gute Laune lagen in der Luft.
Und der Geruch von Punsch und Glühwein.
Frédéric hasste es. Lieber wäre er mit einem guten Glas Rotwein daheim gesessen und hätte sich auf einem Pay-TV-Sender ein Premier-League-Match gegönnt. Die Engländer waren nicht so Weicheier wie der Rest Europas und spielten auch über die Weihnachtszeit ohne Pause Fußball. Oder er hätte mit seinem Vater den nächsten Coup ausgebrütet. Beides besser, als hier auf die missratene große Schwester zu warten.
Die Kunstsammlerfamilie war lediglich eine Fassade. Allerdings eine angenehme, die es ihm ermöglichte, ein dekadentes Jetset-Leben am schönsten Ort der Welt zu führen. Den richtigen Kick gaben ihm jedoch die Kunstdiebstähle, mit denen die Familie das wirklich große Geld machte.
In Wirklichkeit hasste er die ganze Weihnachtszeit. Nicht nur, weil die Menschen rund um ihn herum so gut drauf waren. Da waren dann noch die Geschenke. Was gab es schon, womit man ihm noch eine Freude machen konnte? Er hatte Geld ohne Ende und konnte sich alles kaufen, wonach sein Herz (oder seine Gier) begehrte. Und dann die Geschenke der Kinder … Er liebte Jules und Danielle wirklich über alles – vor allem, wenn er sich nicht 24/7 um sie kümmern musste, aber was die beiden alljährlich aus der Schule heimschleppten: selbst getöpferte Vasen, bei deren Anblick selbst Dalí ratlos dreingeschaut hätte, oder selbst bemalte Seidentücher, bei denen Picasso neidisch geworden wäre. Als liebender Vater musste man dazu natürlich gute Miene machen. Was Letitia in ihrer Mutterrolle leichter fiel. Frédéric hatte sie sogar im Verdacht, dass ihr die postmodernen Geschenke der Kinder tatsächlich gefielen.
Den Trip zum Weihnachtsmarkt hatte er nur gemacht, weil seine große Schwester ihn darum gebeten hatte. Sie hatte ihm am Vormittag eine kurze WhatsApp-Nachricht geschickt und gefragt, ob sie sich beim Weihnachtsdorf treffen könnten. Die Nummer war unterdrückt gewesen, aber wahrscheinlich hatte Geneviève ein neues, noch sichereres Diensthandy von der Polizei bekommen. Missmutig hatte er zugesagt, schließlich wollte er den Familienfrieden so kurz vor Weihnachten nicht gefährden. Obwohl Geneviève als leitende Kommissarin des 18. Pariser Arrondissements nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf der anderen – aus seiner Sicht falschen – Seite des Gesetzes stand, hatte sie bei ihren Eltern einen Stein im Brett. Und er hatte erst im Sommer mit einem »Streich« eine anständige Bauchlandung hingelegt. Also lieber ein freundliches Gesicht aufsetzen und weder Schwester noch Eltern weiter verärgern. Und natürlich auch nicht Letitia, seine Frau, die in letzter Zeit verdächtig oft auf Genevièves Seite gewechselt war und ihn im Regen hatte stehen lassen. An Mamie, seine Großmutter, wollte er gar nicht erst denken. Sie stahl zwar nach wie vor wie eine Elster, aber wohnte mit Geneviève gemeinsam in einem Haus am Fuß der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre. Manchmal fühlte er sich echt allein gelassen. Dafür wurde seiner Schwester bei jeder Gelegenheit Zucker in den Arsch geblasen. Und das, obwohl sie Polizistin war!
»Noch etwas zu trinken, Monsieur?«, wurde er von einer Kellnerin aus seinen Gedanken gerissen.
Er sah auf die Uhr. Geneviève sollte seit gut einer halben Stunde hier sein. Das war doch sonst nicht ihre Art. Er konnte ihr viel vorwerfen, Unzuverlässigkeit gehörte jedoch nicht dazu. »Noch einen Negroni«, beschied er sie mürrisch. Die Kellnerin nickte und kehrte kurz darauf mit dem bestellten Cocktail zurück. Dazu stellte sie eine kleine Schale mit Erdnüssen auf den Tisch.
Am Nebentisch saßen zwei Frauen, die Frédéric etwa auf sein eigenes Alter, also langsam auf die 30 zugehend, einschätzte. Sie hatten ihn schon die ganze Zeit beobachtet und immer wieder mal zugezwinkert, was er grummelnd über sich hatte ergehen lassen. Die beiden waren bildhübsch, aber der dicke goldene Ring an seiner linken Hand hätte ihnen sagen müssen, dass er vom Markt war. Ihrem Gespräch hatte er entnommen, dass es sich um zwei Russinnen handeln musste. Vielleicht auch Ukrainerinnen. Er konnte die beiden Sprachen nicht unterscheiden, und in Wirklichkeit war es ihm auch scheißegal. Sie verbrachten hier wohl die Weihnachtszeit und verprassten das Geld ihrer Oligarchen-Männer. Oder sie waren auf der Suche nach einem reichen Mann, dessen Kohle sie verbrennen konnten. Vielleicht waren es auch nur Nutten, die sich auf den angehenden Abend einstimmten. Für Frédéric waren in dieser Hinsicht die Grenzen fließend.
Er riss sich am Riemen und prostete den beiden zu, als sie wieder einmal besonders auffällig zu ihm herüberschauten. Hätte ich nicht machen sollen, verfluchte er sich selbst, als die beiden dies als Aufforderung betrachteten, sich zu ihm zu setzen.
»Valerie«, stellte sich die eine mit slawischem Akzent vor, »Marianne«, die andere. Aber natürlich, dachte Frédéric zynisch, und mein Name ist Wladimir.
Hoffentlich würde Geneviève nicht genau jetzt auftauchen. In ihrer Rechtschaffenheit würde sie garantiert die falschen Schlüsse ziehen und ihn bei Letitia verpetzen.
Er nahm einen Schluck von seinem Negroni und musterte die beiden Frauen genauer. In seiner wilden Zeit, also bevor er Letitia kennengelernt hatte, hätte er die beiden ohne zu zögern abgeschleppt. Zuerst mit »seinem« Strandclub geprahlt und dann gleich am Strand flachgelegt. Aber heute? Keine der beiden konnte mit Letitia auch nur im Mindesten mithalten. Letitia war nicht nur ausnehmend schön, sie hatte auch Klasse und Stil. Beides konnte man von den Russinnen/Ukrainerinnen nicht behaupten. »Mobiles Ersatzteillager« war passender. Wenngleich auch hochwertig verarbeitet. Die beiden würden schon noch einen Toyboy für den Abend finden. Oder einen Freier, der bereit war, ihren Preis zu zahlen. Er würde es nicht sein.
Während die beiden Frauen ihn zutexteten und unbedingt wissen wollten, was er so machte – sein BOSS-Anzug und die Rolex verrieten ihn –, trank Frédéric seinen Negroni aus und gab nichtssagende Antworten. Vor allem die Rolex schien es den beiden Frauen angetan zu haben. Sie konnten die Augen nicht von der Uhr lassen. Wenig verwunderlich, wie Frédéric nicht ohne Stolz feststellte, handelte es sich doch um eine Rolex Daytona in der »24 Stunden von Le Mans«-Sonderedition.
Langsam wurde die Sache trotzdem anstrengend. Inzwischen wünschte er sich, dass Geneviève endlich auftauchte und ihn aus dieser Situation befreite. Die beiden Tussis waren lähmend. Ihr ständiges Geschnatter war ermüdend. In Kombination mit dem Alkohol – der Negroni war nicht Frédérics erster gewesen – begannen ihm die Augen zuzufallen. Mit Mühe riss er sie wieder auf. Inzwischen hatte er komplett den Faden verloren. Was quasselten die beiden da überhaupt? Die Welt um ihn begann sich zu drehen. Er fühlte, wie er in seinem Sessel schwankte. Die Frauen beugten sich erschrocken über den Tisch, dann fühlte er, wie er immer schneller vom Sessel rutschte. Da war noch eine Hand an seinem Gelenk, an seiner wertvollen Uhr. Was zum Teufel, dachte er noch, bevor selbst das Fassen eines Gedankens unmöglich wurde. Und dann – nur mehr Schwärze.
18. Dezember
Geneviève beobachtete die braungraue Landschaft, die im Höllentempo an ihr vorbeizog. Sie saß im TGV Richtung Cannes, neben sich Merlot, ihren Maine-Coon-Kater, der sicher in einem Katzenkorb untergebracht war. Das Tier war dermaßen riesig, dass sie einen übergroßen Korb hatte anschaffen müssen, um längere Transporte für den Kater halbwegs akzeptabel zu gestalten. Richtig glücklich war Merlot damit trotzdem nicht. Er war die Freiheit gewöhnt. Sein Revier war der große Park unterhalb der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre, dem höchsten butte von Paris. So wie jedes Weihnachten musste es aber auch diesmal sein, da sich die gesamte Familie auf dem Anwesen in Cannes versammelte. Das bedeutete auch Mamie, die sich sonst bei kürzeren oder längeren Abwesenheiten Genevièves um den Kater kümmerte.
Höhepunkt war wie jedes Jahr Mamans große Weihnachtsfeier am 25. Dezember, die in ihrem privaten Strandclub L’Art de la mer veranstaltet wurde und die Promis aus halb Frankreich anzog. In den letzten Jahren hatte sich Geneviève erfolgreich vor dieser Party gedrückt. Sie hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Bei Mamans großer Weihnachtssause war das jedoch unumgänglich. Aufgrund der hohen Promidichte waren natürlich auch Reporter aller Medien anwesend.
Aber bis dorthin waren es noch ein paar Tage. Vielleicht würde sich ja ein Grund finden lassen, die Party nicht zu besuchen.
Sie legte das Buch beiseite, das sie auf dem Weg von Paris in ihre alte Heimat endlich zu Ende gelesen hatte. Bei aller Gänsehaut, die ihr die Trilogie von Evangeline Moreau bereitet hatte, musste sie am Ende von Je suis la vie doch schmunzeln. Die beiden Protagonisten trafen sich nämlich nach einem Abenteuer, das sie um die halbe Welt geführt hatte, zum Abschluss ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt in Cannes. Dorthin würde es sie in den nächsten Tagen sicher auch noch verschlagen. Vor allem nach Einbruch der Dunkelheit verwandelte sich die mondäne Küstenstadt in eine charmante Weihnachtslandschaft. Das Wort Winterlandschaft wollte sie nicht in den Mund nehmen, da es dafür eindeutig an Schnee und Eis fehlte. Aber auf der ganzen südlichen Halbkugel der Erde wurde ebenfalls Weihnachten gefeiert – und dort war es im Dezember bekanntlich Sommer. Wieso also nicht auch in Cannes? Den Schnee musste man sich eben dazudenken. Der Besuch des Village de Noël war für sie alljährlich ein Fixpunkt ihres weihnachtlichen Heimatbesuchs. Gemeinsam mit ihrer Schwägerin Letitia und deren Kindern Jules und Danielle bekam das Ganze nochmals einen ganz eigenen Charme. Natürlich war es schön, gemeinsam mit ihrem On/Off-Partner Henry Martel in Paris an einem der Glühweinstände etwas zu trinken und durch die geschmückten Einkaufsstraßen zu schlendern, aber die Freude der Kinder, ihre leuchtenden Augen bei all den angebotenen Wunderdingen waren einfach etwas anderes.
Henry, docteur der Allgemeinmedizin und Frauen-, Mädchen- und Rentnerinnenschwarm in Personalunion, hatte den Trip nach Cannes nicht mitgemacht. Schweren Herzens hatte er Geneviève erklärt, dass er sich an Weihnachten um seine Eltern kümmern musste, die im Norden Frankreichs an der Grenze zu Belgien lebten. Sein Vater hatte in den letzten Jahren Herzinfarkt und Krebs überlebt und war dementsprechend gebrechlich. Seine Mutter war nach Henrys Angaben noch voll fit, aber mit der Pflege des Vaters in ihrem fortgeschrittenen Alter dennoch überfordert. Eine 24-Stunden-Hilfe hatte sie aus Stolz abgelehnt. Henry hatte es inzwischen aufgegeben, mit ihr darüber zu diskutieren.
Persönlich kennengelernt hatte Geneviève die beiden bislang nicht. Wenn es nach ihr ging, sollte das in nächster Zeit auch so bleiben. Sie war sich noch immer nicht sicher, wie sich die Geschichte mit Henry auf Dauer entwickeln würde. Er schaffte es immer wieder, ihre emotionalen Mauern einzureißen. Genauso schnell gelang es ihr aber, diese wieder neu aufzubauen. Dafür reichte es schon, wenn Henry für einige Tage zu einem Ärztekongress ins Ausland musste. Diese Tage für sich allein waren für sie ausreichend, um die enger werdende Beziehung zum Arzt aufs Neue infrage zu stellen.
Als Henry ihr mitgeteilt hatte, dass sie Weihnachten getrennt verbringen müssten, hatte sie innerlich tief durchgeatmet. Nicht nur wegen der befürchteten Einengung, sondern auch, weil sie Henrys Kontakt zu ihrer eigenen Familie so knapp wie möglich halten wollte. Da war noch so eine Sache: Das Geheimnis der Morels galt es um jeden Preis zu bewahren. Niemand durfte erfahren, dass der Clan in Wirklichkeit dem Kunstdiebstahl frönte. Nicht erst als neues Hobby, sondern bereits seit Generationen. Irgendwoher musste der immense Reichtum der Morels ja kommen. Ars est nostra ars – so lautete das im Familienwappen verewigte Motto der Morels. Kunst ist unsere Kunst, man musste das Motto lediglich richtig zu deuten wissen …
Sie schüttelte den Kopf und steckte Merlot ein Leckerli durch die Gittertür seines Katzenkorbs zu. Der Kater verschlang es mit einem Happen. Dann sah er sein Frauchen zu gleichen Teilen traurig und herausfordernd an. Also steckte Geneviève ein weiteres Leckerli in den Korb. »Ein wenig musst du dich gedulden«, sagte sie leise, obwohl niemand da war, den sie hätte stören können. Um Platz für den großen Katzenkorb und ausreichend Ruhe für das verschreckte Tier zu haben, hatte sie ein ganzes Erste-Klasse-Abteil im TGV reserviert.
Einer spontanen Eingebung folgend griff sie zu ihrem Handy. Kurz darauf meldete sich Olivier Guyon, Leiter der BRI, der Brigade Recherche et Intervention.
»Was verschafft mir so kurz vor Weihnachten die Ehre? Hast du wieder einen Fall, bei dem ich dir helfen soll?«, witzelte Olivier.
»Nein, nein«, antwortete Geneviève lachend. »So kurz vor Weihnachten haben hoffentlich auch die Ganoven genug von unserem Katz- und Maus-Spiel.«
»Wie kann ich dir dann helfen?«
»Eigentlich gar nicht.«
»Du wolltest nur meine Stimme hören? Geneviève!«, meinte er fröhlich tadelnd, »du weißt doch, dass ich vergeben bin.«
»So wie ich«, konterte Geneviève, war sich bei ihrer eigenen Aussage jedoch nicht zu 100 Prozent sicher. »Ich dachte mir nur, dass ich mich kurz melde, weil ich eben mit dem Buch deiner Freundin fertig geworden und gerade selbst auf dem Weg nach Cannes bin. Habt ihr euch damals wirklich im Weihnachtsdorf getroffen?« Das war nämlich exakt Genevièves Problem mit der Geschichte von Evangeline Moreau. Diese bezog sich auf Geschehnisse, die zwei Jahre zuvor Frankreich erschüttert hatten. So weit, so unaufregend. Aber: Evangeline Moreau beschrieb die damaligen Vorgänge so, dass eigentlich sie im Mittelpunkt gestanden und das Ziel der Anschläge gewesen war und Hilfe von Olivier erhalten hatte.
Am anderen Ende der Leitung war es für einen Moment still. Dann sagte Olivier: »Geneviève, du weißt doch, dass ich darüber nicht so gerne spreche. Evangeline hat einen Roman geschrieben, pick dir einfach heraus, was du glauben willst und was nicht.«
»Das war wieder einmal keine befriedigende Antwort.«
»Dafür bin ich auch nicht zuständig«, erwiderte Olivier, die Stimme hörbar fröhlicher.
»Also, war es so oder nicht?«
»Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass Evangeline und ich uns damals wirklich in Cannes getroffen haben. Reicht dir das?«
»Muss es wohl. Irgendwann bekomme ich schon noch aus dir raus, was damals wirklich passiert ist.«
»Ich würde nicht mein Geld darauf verwetten«, riet ihr Olivier.
Das Geplänkel ging ein paar Minuten so weiter, bis sich Geneviève schließlich verabschiedete: »Wir fahren in Kürze in Cannes ein. Ich wünsche dir frohe Weihnachten. Und deiner Schriftstellerin auch.«
»Danke, dir ebenfalls. Ich werde es Evangeline ausrichten, wenn sie heimkommt. Sie ist wieder mal auf einer Promotion-Tour für eine Verfilmung ihrer Bücher.«
»Ganz schön hart, so ein Promileben«, flachste Geneviève.
»Du musst es ja wissen«, antwortete Olivier, lachte und legte auf.
Es waren noch einige Minuten Zeit, bis der Zug endgültig in Cannes einfuhr. Geneviève schnappte sich eine der Tageszeitungen, die in der Ersten Klasse gratis auslagen. Sie betrachtete das Titelbild von Le Dauphiné Libéré. Es zeigte ein Bild des großen Weihnachtsbaums auf Grenobles Place Grenette mit der Unterschrift: »Il est moche, non??« Nun, hässlich hätte Geneviève den Baum nicht bezeichnet. Immerhin war das Foto während des Aufstellens gemacht worden, und welcher Christbaum sah da schon besonders feierlich aus? Ansonsten war es wie beinahe überall: Irgendjemand beschwerte sich immer über den Weihnachtsbaum der Stadt oder des Dorfs.
Dann sah sie die kleinere Story direkt unterhalb des Christbaums, der, ganz objektiv betrachtet, tatsächlich ein wenig zerzaust wirkte. Bei dieser Geschichte ging es um einen spektakulären Juwelendiebstahl im Verlauf einer Charity-Veranstaltung, die vor wenigen Tagen in Grenobles Bastille abgehalten worden war. »Einbrecherbande noch immer auf der Flucht«, lautete die Headline. Geneviève beschlich ein unangenehmes Gefühl. Mamie war doch wegen dieser Charity-Veranstaltung extra einige Tage früher von Paris in den Süden gereist. Hektisch blätterte Geneviève die Zeitung durch, bis sie im Lokalteil die ganze Geschichte fand.
Der spektakuläre Diebstahl der mehrere Millionen Euro wertvollen Diamantohrringe »Raffael und Michelangelo« aus dem Centre d’Art Bastille harrt weiter der Aufklärung. Grenobles Polizeichef Martin Rochelle versichert, dass sein Team einigen vielversprechenden Spuren folgt, aufgrund der laufenden Ermittlungen aber nicht mehr dazu sagen kann.
Der Raub der Ohrringe ist nach wie vor Tagesgespräch Nummer 1 in Grenoble und Umgebung. Vor allem die Art und Weise, wie die Diebe vorgegangen sind, ruft Spekulationen über einen Insiderjob hervor. Zur Erinnerung: Während eines Charity-Events hatten es Diebe auf den ausgestellten »Red Lady« abgesehen, einen der größten Diamanten der Welt. Dieser Diebstahlversuch wurde durch das beherzte Einschreiten eines Cocker Spaniels vereitelt. Aramis, der Hund der bekannten Kunstsammlerin Olivia Morel, die einer der Ehrengäste des Events war, hatte sich todesmutig den Einbrechern entgegengestellt und die Alarmanlage ausgelöst. Die durch einen anonymen Tipp bereits kurz zuvor verständigte Polizei konnte die drei verhinderten Diebe problemlos festnehmen. Zur gleichen Zeit nahm sich jedoch eine zweite Bande unbemerkt den Tresor der Museumsdirektorin vor, sprengte diesen auf und entwendete die beiden wertvollen Ohrringe, die für eine Ausstellung im nächsten Jahr als Hauptschaustücke eingeplant waren. Durch den Lärm der Alarmanlage war die Sprengung des Tresors nicht zu hören gewesen. Danach gelang den Dieben unbemerkt die Flucht. Madame Couturier, die Direktorin des Museums, bemerkte den Diebstahl erst Stunden später, nachdem die Polizei das Museum bereits verlassen hatte: »Ich wollte mir noch meinen Mantel aus dem Büro holen, als ich sah, dass in mein Büro eingebrochen worden war«, so Madame Couturier. »Mich traf fast der Schlag. Es ist unfassbar, mit welcher Rücksichtslosigkeit Einbrecher heutzutage ans Werk gehen. Die Sprengung hätte die Diamanten zerstören können!« Was laut Polizei nicht der Fall war. »Die Einbrecher sind absolute Profis. Sie haben genau die richtige Menge an Sprengstoff verwendet, um den Tresor zu knacken, den Inhalt aber nicht zu beschädigen«, erklärte Rochelle am Tag nach dem Einbruch. Seitdem äußerte sich der Polizeichef nur mehr sehr einsilbig gegenüber der Öffentlichkeit. Tatsache ist, dass solche aufwendigen Schmuckdiebstähle – wie auch jene von großen Kunstwerken – eine äußerst niedrige Aufklärungsrate aufweisen. Zumeist stecken dahinter Profis, die im Auftrag von reichen Schmuck- oder Kunstliebhabern handeln, die Beute rasch außer Landes bringen und diese dann in der Privatsammlung des Auftraggebers verschwindet.
Geneviève blinzelte, da sie ihren Augen nicht traute: Neben dem Bericht war ein kleines Foto, das Mamie mit Aramis im Arm zeigte. Die Bildunterschrift lautete: »Kunstsammlerin Olivia Morel mit ihrem Hund Aramis, dem Helden des Abends.« Sie faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf die Seite und griff sich mit der Hand an die Stirn. Von wegen zweite Bande. Mamie war nicht zufällig vor Ort gewesen. Nein, sie hatte bei dem Diebstahl garantiert ihre Hände im Spiel gehabt. Der ganze Ablauf, wie er im Artikel geschildert wurde, entsprach genau ihrem Modus operandi. Dass sie sich mit Aramis im Arm sogar noch als Heldin feiern ließ, passte ebenfalls ins Bild. In Cannes musste sie dringend ein ernstes Wort mit ihrer Großmutter sprechen. In ihrem Alter sollte sie es doch wirklich nicht mehr notwendig haben, solche Risiken einzugehen. Vor allem: Wer hatte ihr bei dem Coup geholfen? War es ihr unsäglicher Bruder gewesen? Ihr Vater? Allein, dass sie bislang nichts von dem Vorfall erzählt hatte, sprach dafür, dass sie die Finger im Spiel gehabt haben musste.
Mit einem Ruck und einem Zischen hielt der Zug am Bahnhof von Cannes an. Es war kurz nach 18 Uhr. Geneviève schnappte ihren Rollkoffer und den Katzenkorb und verließ den Zug. Auf der Place de la Gare atmete sie genussvoll die salzige Meeresluft ein. Im sanften Abendwind wogten die Palmen auf der Place leicht hin und her. Sie fühlte sich sofort daheim. Aus der nur zwei Querstraßen entfernten Rue d’Antibes klangen Weihnachtslieder, und wenn sie die Augen leicht zusammenkniff, konnte sie auch die ersten Weihnachtsbeleuchtungen ausmachen. Ein gelbes Plastikband, das quer über die Straße gespannt war, machte klar, dass die berühmte Einkaufsstraße um diese Uhrzeit ausschließlich den Fußgängern gehörte.
Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Es war Lorenzo, der Chauffeur der Familie, der sie in einer schwarzen Limousine erwartete. Er half ihr, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen, Merlots Katzenkorb landete neben Geneviève auf der Rückbank.
»Schön, dass Sie wieder Ihren Weg zu uns gefunden haben, Mademoiselle«, erklärte Lorenzo. Über den Rückspiegel sah Geneviève, dass er ihr fröhlich zuzwinkerte. Lorenzo war der Einzige, dem sie die »Mademoiselle« durchgehen ließ. Er kannte sie seit ihren Kindheitstagen und würde damit auch in 20 Jahren nicht aufhören.
»So wie jedes Jahr«, entgegnete Geneviève, während sie es sich in ihrem Sitz gemütlich machte. In der Mittelablage wartete ein Glas gekühlten Champagners auf sie. Warum auch nicht? Es war Weihnachten, sie hatte Urlaub, warum also nicht ein wenig im Luxus schwelgen? Schließlich sah sie auch niemand, da durfte man es sich schon einmal gut gehen lassen.
»Und bei dir, Lorenzo? Aufregende Tage gehabt?« Vielleicht bekam sie über den Chauffeur ja heraus, was genau ihre Großmutter getrieben hatte. Lorenzo diente der Familie seit Jahrzehnten und war der einzige Außenstehende, der in die eigentlichen Machenschaften der Morels eingeweiht war.
»Aufregend trifft es ganz gut, Mademoiselle.«
»Inwiefern?«
»Ich durfte Ihre Großmutter mit ihrer Schwägerin aus Grenoble abholen. Um diese Jahreszeit ist es in den Alpen ganz schön abenteuerlich, was den Zustand der Straßen betrifft.«
»Wohl nicht nur die Straßen?«
»Wie meinen Sie?«, fragte Lorenzo unschuldig.
»Ach nur so. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es just bei diesem Charity-Event zu einem … nennen wir es ›Zwischenfall‹ gekommen ist.«
»Ach das«, bestätigte Lorenzo. »Ja, tatsächlich. Die Welt ist schlecht, nicht wahr?«
»Nicht nur die Welt …«, murmelte Geneviève und gab auf. Aus Lorenzo würde sie nichts weiter herausbekommen. Dafür war der Italiener in Diensten der Familie zu verschwiegen. Grundsätzlich eine lobenswerte Eigenschaft. Nur gerade in diesem Moment alles andere als hilfreich.
Eine Viertelstunde später erreichten sie das Anwesen der Familie am östlichen Rand von Cannes zwischen der Pointe Croisette und dem Cap d’Antibes. Die Villa lag mitten in den grünen Hügeln, umgeben von anderen ausgedehnten Anwesen. Keines davon jedoch so weitläufig wie das Morelsche Anwesen, das zusätzlich zu der Villa ein parkähnliches Anwesen inklusive Gästehäuser umfasste.
»Bienvenue à la maison«, meinte Lorenzo pathetisch, als sie das schmiedeeiserne Tor und die geschotterte Auffahrt hinauf zum Haupthaus passiert hatten.
Geneviève schmunzelte ihm über den Rückspiegel zu: »Cannes wird immer ein Teil von mir bleiben. Aber inzwischen habe ich mich schon gut in Paris eingelebt.«
»Bei allem Respekt, Mademoiselle«, widersprach Lorenzo mit gespielter Empörung, »selbst Ihrer Großmutter wird es nie gelingen, aus Ihnen eine Pariser Dame zu machen.«
»Muss es ihr auch nicht. Paris besteht nicht nur aus der feinen Gesellschaft. Aber wenn ich will, finde ich mich auch dort zurecht.«
Sie stieg aus, nahm den Katzenkorb, stellte ihn vor der Haustür ab und öffnete ihn. Zunächst steckte Merlot nur vorsichtig sein Näschen hinaus. Dann eine Vorderpfote, gefolgt von der zweiten. Sein Kopf drehte sich links und rechts, die Schnurrhaare wie kleine Antennen nach vorne gedreht. Schließlich bewegte er sich ganz aus seinem Plastikgefängnis. Er schnupperte am Boden, sah sich weiter um. Mit den Gerüchen kamen die Erinnerungen an die letzten Jahre zurück, und schon nach wenigen Sekunden war er in einem der Büsche verschwunden. Das Revier musste frisch markiert werden. Es war ein Glück, dass ihre Familie keine Haustiere besaß. Nicht einmal einen scharfen Wachhund. Das Gelände war auch so gut genug gesichert, und an dem zum Teil zu einem Tresorraum umgebauten Keller der Villa hätte sich selbst ihr Vater die Zähne ausgebissen.
»Mademoiselle?«, meldete sich Lorenzo zaghaft zu Wort.
»Ja?«
»Vielleicht sollten Sie Ihren Kater vorerst zurückbeordern.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Hast du schon einmal versucht, einer Katze etwas zu befehlen? Wieso denn?«
»Es gibt jetzt hier auch eine Katze.«
»Seit wann?«, fragte Geneviève erstaunt.
»Seit letzter Woche. Ein entzückendes kleines Kätzchen, wenn ich das so sagen darf.«
»Darfst du. Aber … aber woher? Niemand wollte jemals ein Haustier haben.«
»Jules und Danielle haben Neige vor ein paar Tagen auf dem Spielplatz in einer Mülltonne gefunden. Das Kätzchen wurde ausgesetzt. Unmenschlich, wenn Sie mich fragen«, empörte sich Lorenzo. »Das arme Ding ist laut Tierarzt erst drei Monate alt. Wer setzt so ein harmloses Wesen aus?«
»Leider gibt es immer wieder solche Idioten«, bestätigte Geneviève. »Aber wieso Neige?«
»Weil das Kätzchen weiß wie Schnee ist. Ich bin mir sicher, dass Sie es lieben werden. Tun Sie mir nur einen Gefallen.«
»Welchen?«
»Jules und Danielle wollten Sie überraschen. Tun Sie bitte so, als wüssten Sie nichts von der Geschichte.«
»Keine Sorge«, lachte Geneviève. »Tarnen und täuschen gehört in unserer Familie ja dazu. Ist Neige im Garten?«
»Nein, momentan lassen die Kinder die Katze nicht aus den Augen. Sie muss sich erst an ihre neue Umgebung gewöhnen. Freigang gibt es nur in Begleitung.«
»Sehr vernünftig. Aber dann kann Merlot fürs Erste auch nichts anstellen.«
Kaum hatte sie den Satz beendet, wurde die Eingangstür aufgerissen und die zuvor angesprochenen Jules und Danielle standen im Türrahmen.
»Tatie Gené, Tatie Gené!«, jubelten die Kinder. Für den zehnjährigen Jules und die achtjährige Danielle war ihre Tante die große Heldin. Sie war schließlich Polizistin. Und nicht irgendeine, sondern eine leitende Kommissarin. Wie gut, dass die beiden von ihrem familiären Erbe noch nichts wussten …
»Da sind ja meine beiden Schätze«, jubelte Geneviève, beugte sich ein Stück hinunter und nahm beide in den Arm. »Seid ihr in den letzten Wochen gewachsen? Ist doch noch gar nicht so lange her, dass wir uns gesehen haben, und jetzt kann ich euch schon fast nicht mehr umarmen.«
»Hast du uns etwas mitgebracht?«
»Wie könnte ich nicht?« Geneviève nahm ihren Rucksack ab und zauberte eine Tüte mit Leckereien heraus. »Extra aus der Framboise Gourmande für euch geholt.« Die Kinder rissen ihr die große Tüte beinahe aus der Hand. Es war Jules, der größer und stärker als seine Schwester war, der den Preis schließlich unter Kontrolle brachte und mit glänzenden Augen ein Teil nach dem anderen aus der Tüte nahm und an seine kleine Schwester weiterreichte: Tartelettes au chocolat, Eclairs, Madeleines und was das Herz eines kleinen Schleckermäulchens sonst begehren konnte. Lediglich auf Schoko-Croissants und Pain au chocolat hatte sie verzichtet. Das Blätterteiggebäck hätte den stundenlangen Transport von Paris an die Côte d’Azur nicht unbeschadet überstanden. Und es gab kaum etwas Furchtbareres als zähes Gebäck.
Mit je einer der Leckereien bereits im Mund verschwanden die Kinder – ihrer Tante den felligen Familien-Neuzugang vorzustellen, hatten sie über den Mitbringseln völlig vergessen. Dafür erschienen nun Genevièves Eltern. Ihre Mutter, wie üblich herausgeputzt, als könnte jeden Moment der Präsident höchstpersönlich reinschneien, umarmte sie enthusiastisch und küsste sie auf die Wangen. Ihr Vater beließ es bei den Wangenküsschen. Als Nächste war Letitia, ihre Schwägerin, an der Reihe. Auch sie herzte Geneviève energisch. Im Anschluss übernahm sie die Vorstellung des neuen Familienzugangs.
»Das ist Neige, ist sie nicht süß?«, gluckste sie, als sie das weiße Kätzchen aus seinem Versteck geholt hatte. Das Tier war verschreckt, weil auf einmal so ein Auflauf war.
»Total!«, bestätigte Geneviève. Aus ihrem Rucksack nahm sie die Tüte mit Leckerlis für Merlot und fütterte die tierische Schneeflocke mit zwei, drei Häppchen. Daraufhin begann die kleine Katze zu strampeln, wand sich aus Letitias Griff und krallte sich an Genevièves Jacke fest. Und begann zu schnurren.
»Untreue Seele«, lachte Letitia.
»Sie weiß eben, wo es etwas abzustauben gibt.« Geneviève sah sich um: »Apropos abstauben: Wo ist Mamie?«
»In Monte Carlo. Sie wollte sich mit einigen Freundinnen treffen und das Casino unsicher machen«, gab ihr Vater die gewünschte Auskunft.
»Wie meinst du – unsicher machen?« Eine leichte Paniknote hatte sich in ihre Stimme gemischt.
Michel Morel lachte. »Kein Angst, Casinos sind nicht ihr Ding. Sie und ihre Freundinnen sind nur spielen und Champagner trinken. Aber du kennst diese Damenrunden sicherlich. Da kann es wild zugehen«, schloss er mit einem fröhlichen Augenzwinkern.
Geneviève atmete durch. »Und Frédéric?«
»Der erwartet dich doch im Weihnachtsdorf in Cannes«, sagte Letitia verblüfft.
»Was macht Frédéric im Weihnachtsdorf? Dafür ist er doch überhaupt nicht der Typ.«
»Wie meinst du das?«, fragte Letitia, ihre Verblüffung wuchs von Sekunde zu Sekunde. »Du hast doch ein Treffen mit ihm dort ausgemacht.«
»Ich habe was?«
»Frédéric ist vor einer Stunde los. Er meinte, dass du ihn um ein Treffen gebeten hättest.«
»Wieso sollte ich das?«
»Keine Ahnung. Er hat es auch nicht gewusst. Ich bin davon ausgegangen, dass du ihm vielleicht einen Weihnachtsfrieden anbieten wolltest.«
»Nach allem, was er sich in den letzten Monaten geleistet hat?«
Letitia zuckte mit den Schultern. »Was soll er sonst dort machen?«, stellte sie schließlich die einzig logische Frage in den Raum.
»Ruf ihn an, dann wissen wir es.«
Letitia folgte dem Rat ihrer Schwägerin, legte aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. »Nichts, ich komme nur direkt auf seine Mailbox.«
»Das ist eigenartig.«
»Vielleicht will er nicht gestört werden. Wobei auch immer«, meinte Geneviève. Sie war nicht unglücklich, ihrem Bruder nicht gleich zu Beginn ihres Heimatbesuchs über den Weg zu laufen.
Als Frédéric um 20 Uhr noch immer nicht daheim und auch auf seinem portable weiterhin nicht erreichbar war, begann Letitia sich Sorgen zu machen. Geneviève hatte sich in der Zwischenzeit in ihrem alten Zimmer eingerichtet und Merlot mit einer Schüssel frischen Hühnerherzen ins Haus gelockt. Die Katzen-Delikatesse hatte Lorenzo in weiser Voraussicht ihrer Ankunft besorgt und eingekühlt. Neige war über den Neuankömmling zunächst wenig amüsiert. Für eine gerade mal ein paar Monate alte Katze machte sie einen beachtlichen Katzenbuckel und fauchte gewaltig, während sie wie ein Pingpong-Ball um den großen roten Eindringling herumsprang. Merlot ließ sich davon nicht beeindrucken. Er fraß in Ruhe seine Schüssel leer, dann kümmerte er sich um den Fell-Schneeball. Nachdem Neige zwei, drei Mal mit gekrümmtem Rücken und aufgestelltem Schwanz wie ein Flummi um den großen Maine-Coon-Kater herumgesprungen war, streckte Merlot gelangweilt eine Pfote aus, warf die kleinere Katze um und drückte sie am Boden fest.
»Neige!«, rief Letitia erschrocken.
»Pssst«, hielt Geneviève sie zurück. »Warte kurz.«
Und tatsächlich hatte Merlot nicht vor, der anderen Katze etwas anzutun. Stattdessen zog er das weiße Fellknäuel über den Holzboden zu sich und begann es von oben bis unten abzuschlecken. Was bei dem kleinen Jungtier nicht viel Zeit beanspruchte. Nach nur wenigen Sekunden sah die kleine Katze wie eine gebadete Ratte aus.
»Ich denke, wir können die beiden allein lassen«, meinte Geneviève zufrieden. »Kümmern wir uns um Frédéric.«
»Was sollen wir machen? Er hebt nicht ab.«
»Wir gehen ihn suchen. Interessiert dich nicht, was er so treibt?«
»Du meinst doch nicht, dass er mich …«
Geneviève zuckte kryptisch mit den Schultern. Dann wandte sie sich an ihren Vater: »Papa, kann ich mir eines deiner Autos ausborgen?«
»Nur zu, mein Schatz. Die Auswahl ist ganz deine.«
Geneviève entschied sich für eines der neueren und vor allem geschlossenen Modelle der Autosammlung ihres Vaters, für ein Cabrio war es ihr zu frisch. Es waren etwas über zehn Grad. Mit Letitia auf dem Beifahrersitz des Audi RS7 brauste sie nach Cannes. Den Wagen stellte sie in der Tiefgarage des Carlton an der Croisette ab, gleich gegenüber war der Strandclub der Familie, das L’art de la mer, wo sie ihre Suche starteten. Vielleicht war Frédéric einfach nur bei einem Kontrollbesuch an der eigenen Bar hängen geblieben. Laut Letitia wäre es nicht das erste Mal gewesen. Aber im Club hatte man Frédéric den ganzen Tag nicht gesehen.
Enttäuscht zogen sie weiter. Die Croisette entlang ging es Richtung des Alten Hafens, an dem sich das Weihnachtsdorf befand. Um diese Jahreszeit hielt sich die Anzahl an Protzjachten entlang der Küste für Geneviève erfreulich in Grenzen. Noch immer trieben sich genug Reiche und Prominente in der Festivalstadt herum, aber im Gegensatz zum warmen Frühling und Sommer war die Stadt praktisch leer. Eine wohltuende Abwechslung. Im Dezember gehörte die Stadt den Einheimischen. Abgesehen von den paar Touristen, die es wegen des Weihnachtsmarktes an die Côte verschlagen hatte.
Geneviève machte sich wegen ihres Bruders noch immer keine Sorgen. Er war schon als Jugendlicher ein Rumtreiber gewesen, und es hatte sie gewundert, dass er an der Seite Letitias so schnell brav und sesshaft geworden war. Insgeheim hatte sie ihm das bis heute nicht abgenommen. Dass sie ihrem Bruder mit diesem Vorurteil Unrecht tun könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Zu tief waren die Spannungen zwischen den Geschwistern im letzten Jahr gewesen. Frédéric hatte sich einfach zu viel erlaubt, um es als Neckerei zwischen Bruder und Schwester durchgehen zu lassen.
Letitia ging es ganz anders. Sie war unruhig, richtig zappelig. So sehr, dass Geneviève sich schließlich bei ihr einhakte und mit belanglosem Small Talk abzulenken versuchte. Nicht gerade ihre größte Stärke, aber für ihre Schwägerin überwand sie sich auch dazu.
Je näher sie dem Alten Hafen kamen, umso weihnachtlicher wurden Stimmung und Geräuschkulisse. Den olfaktorischen Faktor durfte man auch nicht außer Acht lassen. Der Geruch von Glühwein und Punsch lag in der Luft. Mehr oder weniger betrunkene Leute kamen ihnen entgegen.
»Schau mal!«, rief Letitia wie ein aufgeregtes Mädchen. »Der sieht aus wie Rudolf!«
»Was meinst du?«, fragte Geneviève, die ihrer Schwägerin nicht folgen konnte.
»Na die Nase von dem Typ. Die ist so rot wie die von Rudolf, dem Rentier. Der aus dem Weihnachtslied.«
Der Mann, auf den Letitia zeigte, war zum Glück bereits so betrunken, dass er nicht mitbekam, wie sich Letitia über ihn lustig machte. Geneviève musste gestehen, dass Letitia recht hatte. Er machte mit seiner Nase nicht nur Rudolf, sondern auch den Spitalclowns Konkurrenz. Wenigstens solange, bis er sich an einer der die Croisette säumenden Palmen abstützte und geräuschvoll übergab.
»So viel zur Weihnachtsstimmung«, kicherte Letitia.
Die Episode war schnell vergessen, denn sie hatten inzwischen den Festival-Palast erreicht. Ab hier überlagerte die Musik vom Weihnachtsdorf beinahe alle anderen Geräusche. Last Christmas dudelte ihnen entgegen. Flucht zwecklos. Ebenso wie Widerstand. Das Village de Noël zog sie an wie eine Venusfalle ihre Opfer.
Sie machten eine schnelle Runde durch das Weihnachtsdorf, aber nirgendwo war eine Spur von Frédéric zu entdecken. Auch nicht auf dem kleinen Eislaufplatz, damit hatten aber weder Geneviève noch Letitia gerechnet.
»Und jetzt?«, fragte Letitia, bei der sich wieder Verzweiflung breitmachte.
»Jetzt darfst du dich an echter Polizeiarbeit beteiligen«, antwortete Geneviève mit ernster Miene.
»Echt? Rufen wir deine Kollegen hier in Cannes an?«
Geneviève schluckte. Nein, so hatte sie das nicht gedacht. Nach Möglichkeit wollte sie die lokale Polizei aus der Sache raushalten. So wie in allen anderen Sachen, die mit ihrer Familie zu tun hatten. Stattdessen sagte sie: »Nein, jetzt gehen wir von Stand zu Stand und fragen, ob jemand meinen Bruder gesehen hat. Du hast doch sicher ein Foto von ihm auf dem Handy?«
Letitia nickte. »Du nicht?«
Als Antwort hob Geneviève eine Augenbraue streng in die Höhe. Sie ließ sich von Letitia ein Foto Frédérics schicken, dann machten sie sich getrennt daran, die einzelnen Chalets abzuklappern.
Als sie sich nach einer halben Stunde wieder trafen, war Letitias Make-up von Tränen verschmiert, dafür hielt sie zwei Tassen dampfenden vin chaud in der Hand. Widerstand war zwecklos gewesen, der Wein war ihr beim letzten Stand von der Verkäuferin förmlich aufgezwungen worden, nachdem Letitia zu weinen begonnen hatte, weil auch sie ihr keine positive Auskunft hatte geben können. Sie reichte Geneviève eine der beiden Tassen. Der Glühwein war der einzige zählbare Erfolg. Frédéric war an keinem der Chalets gesehen worden.
»Und jetzt?«, schluchzte Letitia wie schon eine halbe Stunde zuvor. »Ich habe es auch gut ein Dutzend Mal auf seinem Handy probiert. Ich komme immer direkt auf die Mailbox.«
Geneviève seufzte, musste sich aber eingestehen, dass auch sie sich langsam begann sich Sorgen zu machen. »So ist Polizeiarbeit nun mal«, gab sie sich betont gelassen, um ihre Schwägerin zu beruhigen. »Fehlanzeige ist da ganz normal. Das Geheimnis ist, dass man nicht aufgibt. Jetzt klappern wir einfach die Lokale rund um das Weihnachtsdorf ab. Vielleicht hat Frédéric ja dort auf mich gewartet.«
Den Fast-Food-Laden gleich gegenüber ließen sie links liegen. Nie im Leben würde der verwöhnte Milliardärssprössling einen Fuß in so einen Burgerladen setzen. Mehr Hoffnungen setzte Geneviève in den kleinen Weinladen in der Rue Félix Faure, aber auch dort mussten sie enttäuscht abziehen.
30 Minuten später hatte noch immer keine Menschenseele Frédéric gesehen. Egal, ob sie es im Sternerestaurant, beim kleinen Italiener oder in der Crêperie probierten, Frédéric war wie vom Erdboden verschluckt. Dass in einigen Lokalen in der letzten Stunde Schichtwechsel beim Bedienpersonal war, half ihrer Sache naturgemäß nicht weiter.
»Setzen wir uns in ein Lokal«, schlug Geneviève vor. Letitia willigte ein. Sie war die letzten Minuten immer stiller geworden. Weitere Versuche, Frédéric am Handy zu erreichen, waren wieder fehlgeschlagen. Geneviève hakte sich bei ihr ein und steuerte ihre Schwägerin die Rue Félix Faure entlang Richtung Mairie. Ihr Ziel lag am westlichen Ende der Straße, ein Lokal (ob Café oder Bar, war es sich seit Jahrzehnten selbst nicht so sicher), das sie in ihrer Jugend selbst regelmäßig besucht hatte und in dem sie auch schon mit Letitia öfter auf einen oder mehrere Drinks gewesen war. Der Anblick der Bar Cristal erhellte schließlich das Gesicht ihrer Schwägerin.
Sie nahmen an einem Tisch im Freien, direkt auf dem Bürgersteig vor dem Lokal, Platz. Heizlampen spendeten angenehme Wärme. Die Sache mit dem Energiesparen war noch nicht bis hierher vorgedrungen. Das Lokal war innen und außen gut besucht, an einem ihrer Nebentische saß eine Horde Jugendlicher, die die bevorstehenden Weihnachtsferien feierten, an einem anderen zwei Frauen, die Geneviève mit geschultem Blick sofort als osteuropäische Edelprostituierte identifizierte.
Sie bestellten jeweils einen Aperol Spritz und teilten sich eine Pizza. Die kam hier zwar nicht aus dem Holzofen, schmeckte aber wegen des entspannten Pub-Ambientes trotzdem hervorragend. Der volle Magen erweckte Letitias Lebensgeister neu. Sie sah sich die Leute an den benachbarten Tischen genauer an. Immer wieder blieb ihr Blick an den beiden Bordsteinschwalben hängen, die wohl schon den einen oder anderen über den Durst getrunken hatten, so laut wie sie sich unterhielten. Ob sie in dem Zustand heute Nacht noch einen Freier finden würden? Gesprächsthema Nummer 1 der beiden schien die Uhr am Handgelenk der einen Frau zu sein. Eine wunderschöne schwarze …
»Madame?«, fragte Letitia zögerlich.
Die beiden Edelprostituierten drehten sich zu ihr.
»Oui?«, antwortete die eine mit deutlich hörbarem Akzent.
»Eine wunderschöne Uhr, die Sie da tragen. Dürfte ich sie einmal sehen?«
»Warum?«, fragte die Frau misstrauisch und legte eine Hand schützend über die Uhr.
»Ich würde sie einfach gerne sehen.« Letitias Stimme war schärfer geworden, ihre Körperhaltung angespannter.
Geneviève konnte sich darauf keinen Reim machen: »Was ist denn los?«, fragte sie leise.
Ohne sich zu ihr umzublicken, antwortete Letitia: »Weil das eine Rolex Daytona in einer Spezialedition ist, von der gibt es nicht so viele. Aber …«
»Aber?«
»Aber Frédéric besitzt so eine. Ich muss es wissen, ich habe sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt. Ich denke, das ist seine.«
»So eine Frechheit!«, echauffierte sich die Beschuldigte.
»Das lässt sich ganz einfach aufklären«, meinte Letitia. »Auf der Rückseite der Uhr ist nämlich eine persönliche Widmung für meinen Mann eingraviert.«
»Den Teufel werde ich tun und meine Uhr ablegen. Glauben Sie, ich falle auf so einen billigen Trick herein?« An ihre Freundin gewandt, sagte sie: »Komm, wir gehen. So etwas muss ich mir nicht bieten lassen.«
»Attendez«, mischte sich Geneviève ein. »Dieses Missverständnis, so es denn eines ist, lässt sich doch wirklich leicht aus der Welt schaffen. Nehmen Sie die Uhr kurz ab und zeigen Sie sie uns. Sie müssen das wertvolle Stück nicht einmal aus der Hand geben. Zeigen Sie uns die Rückseite.«
»Auf gar keinen Fall. So etwas habe ich doch nicht nötig. Mich hier von zwei dahergelaufenen …«
»Ich wäre jetzt sehr vorsichtig, was Sie weiter sagen«, schnitt ihr Geneviève das Wort ab. Sie zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn den beiden Prostituierten vor die Nase. Nur für einen Moment, nicht lange genug, um zu sehen, dass es sich um einen Pariser Ausweis handelte. »Und jetzt noch mal von vorne«, sagte sie genüsslich, während die beiden anderen Frauen in ihren Sitzen ganz klein wurden. Geneviève hielt ihnen die ausgestreckte Hand entgegen. Nach kurzem Zögern nahm die Frau die Uhr ab und gab sie ihr. Sie reichte die Uhr umgehend an Letitia weiter.
»Das ist Frédérics Uhr!«, kreischte ihre Schwägerin beinahe. »Hier, schau!« Sie hielt Geneviève die Rückseite der Rolex unter die Nase. Eingraviert war der Satz: Pour Frédéric – voleur de mon cœur.
