Die Blaue Reiterin - Monika Pfundmeier - E-Book

Die Blaue Reiterin E-Book

Monika Pfundmeier

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Beschreibung

Kunst und Krimi-Spannung im »Blauen Land« Eine renommierte Künstlerin wird tot im Murnauer Moos aufgefunden. Die Polizei geht von einem Unfall aus. Doch Theres Hack hat Zweifel. Die Tote ist eine Freundin der Familie. Und so nimmt die Metzgerin die Ermittlungen selbst in die Hand. Gemeinsam mit ihrem Vater Josef und Dorfpfarrer Paul stellt sie Nachforschungen in Hannas Umfeld an und stößt dabei auf ein tragisches Familiengeheimnis. Ein Geheimnis, das Hanna womöglich den Tod brachte? Im zweiten Band ihrer Krimireihe um Theres Hack legt Autorin Monika Pfundmeier die Spuren von Oberammergau bis nach Murnau, zu Gabriele Münter und der legendären Künstlervereinigung »Blauer Reiter«. - Unterhaltsamer Regionalkrimi mit Biss und Herz - Schauplatz Oberbayern: von Oberammergau nach Murnau, zu Gabriele Münter und dem Russenhaus - Mysteriöse Todesumstände: War der Unfall der Künstlerin doch Mord? - Nach Band 1 »Kreizkruzefix« erscheint nun die Fortsetzung der erfolgreichen Krimi-Serie - Lebendig und amüsant geschrieben: die perfekte Urlaubslektüre! Der richtige Riecher in Sachen Tod und Mord: Eine unkonventionelle Ermittlerin eckt an Als Jägerin und Metzgerin ist der Tod praktisch die Spezialität von Theres Hack. In Oberammergau führt sie den Traditionsbetrieb ihres Vaters fort – oder, besser gesagt: krempelt ihn ordentlich um. Mit Wort und Grant mischt die taffe junge Frau das Dorfleben gehörig auf. Da gehört schon eine Portion Mut dazu – schließlich stößt das nicht nur der Polizei auf, sondern befeuert auch den Dorftratsch. Die gelungene Mischung aus Spannung und Unterhaltung mit einem guten Schuss Sarkasmus macht diesen zutiefst bayrischen Krimi zu einem unvergesslichen Lesevergnügen für alle Krimi-Fans!  

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Seitenzahl: 318

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Monika Pfundmeier

DIE BLAUE REITERIN

Ein Oberammergau-Krimi

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 by Monika Pfundmeier

Copyright Deutsche Erstausgabe © 2021 Servus Verlag bei

Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der

Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni Black

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: © Library of Congress /Mary Evans/picturedesk.com

(APA Olivia Lehenauer) sowie © Alexandru Nika/shutterstock.com

ISBN: 978-3-7104-0237-1

eISBN: 978-3-7104-5026-6

Meiner Familie

Inhalt

Personenverzeichnis

1. Still

2. Radar

3. Babba – Montagskaffee

4. 1956 Zurück – Die Frau mit den Pinseln

5. Klara – Verabredungen

6. Theres – Zurück-Von-Vorne

7. 1957 Zurück – Überführung

8. Theres – Ver-Sucht

9. Klara – Datenspuren

10. Babba – Stufenweise

11. 1962 Zurück – Das blaue Haus

12. Paul – Eindrücke

13. 1964 Zurück – Besitz & Bekanntschaften

14. Anton – Zufälle

15. 1964 Zurück – Neue Bewohner

16. Babba – Geheimnisse

17. 1966 Zurück – Geschichte und Bilder

18. Klara – Schlüssel

19. 1968 Zurück - Tanz in den Mai

20. Theres – Bilder aus der Vergangenheit

21. 1968 Zurück – Träume

22. Toni – Ansteigend

23. 1968 Zurück – Gefangen

24. Klara – Verlorene Seiten

25. Babba – Ungezähmte Monster

26. 1968 Zurück – Splitter

27. Theres – Ungleich

28. 1968 Zurück – Aufbruch

29. Anton – Aufgeblitzt

30. 1968 Zurück – In den Morgen

31. Paul – Weggefährten

32. Theres – Familienbande

33. Toni – Schöner wohnen in München

34. Klara – Auf dem Weg

35. Theres – Familienpläne

36. 1968 Zurück – Verborgen

37. Babba – Eine Frage von Schmalz

38. Anton – Durchs Netz geschlüpft

39. 1971 Zurück – Gehen & Bleiben

40. Klara – Erkenntnisse

41. Paul – Vorbereitung

42. 2001 Zurück – Tag & Tod

43. Theres – Vom Suchen und Finden

44. 2021 Zurück – Eine Woche vor dem Fall

45. Klara – Flucht nach vorne

46. Theres – Bellende Hunde

47. Theres – Betreute Monster

Nachwort

Danke

Fakten. Fiktion.

Personenverzeichnis

Theresa (Theres) Hack (39), geschieden, Ex-Eventmanagerin, Metzgerin und Jägerin mit Schweinefleischallergie, Auf-den-Kopf-Stellerin der väterlichen Traditionsmetzgerei. Bei all den neuen Ideen für den Familienbetrieb wird sie gelegentlich von der Vergangenheit eingeholt, sodass ihr Privatleben immer wieder hinter den Verpflichtungen rund um die Metzgerei zurückbleibt.

Wolfin, Irische Wolfshündin, graufellig, jagderfahren und treueste Gefährtin von Theres in allen Lebenslagen.

Josef Hack (65), Theres’ Vater, gewöhnt sich allmählich an seinen Ruhestand nach Jahren als Oberhaupt des Familienbetriebs. Seine Bedenken zu Theres’ Art der Geschäftsführung und seinem fortschreitenden Alter – sowie das ein oder andere aus der Vergangenheit – begräbt er unter wohldosiertem Schweigen und Brummen. Mithilfe der Künstlerin Hanna versucht er seit einer Weile regelmäßig die richtigen Worte aus Kaffee und Kuchenkrümeln zu basteln.

Anton Sollinger (40), Hauptkommissar, Leiter der Polizeistation Oberammergau mit glänzender Verbrechensstatistik – bevor Theres wieder im Ort aufgetaucht ist. Die Metzgerin und Jägerin hat ihm schon zu Schulzeiten schlaflose Nächte bereitet.

Toni Baurieder (42), Kommissar, liebt Schiller, Shakespeare und Ruhe. In den Polizeiberichten lebt er seine schriftstellerische Begabung aus und treibt damit seinen Vorgesetzten Anton Sollinger zur Verzweiflung. Theres’ Blick für die Details schätzt er ebenso wie ihren Wein und ihre Gesellschaft – was die Spannungen mit seinem Vorgesetzten nicht gerade mindert.

Paul Langer (39), Dorfpfarrer und Theres’ bester Freund seit dem Kindergarten. Verstärkte Online-Betreuung seiner Schäfchen hat ihn von seiner heimlichen Leidenschaft für Online-Games entfernt. Dass mit Theres eine ganz besondere Konstante zurück in seinem Leben ist, schätzt er sehr. Was immer ihn in Gottes Arme getrieben hat, ist Theres ein Rätsel.

Hanna Schuster (71), Künstlerin, ursprünglich aus Murnau mit durchwachsener Geschichte, hat immer ein offenes Ohr für Josef Hacks Schweigen. Sie sucht die richtigen Worte, um zerbrochene Verbindungen zu knüpfen und die Monster der Vergangenheit zu zähmen, bis etwas sie aus der Balance wirft.

Stenz, Hannas Australian Shepherd, wachsam und seinem Frauchen treu ergeben.

Klara Schuster (21), Hannas Enkelin, Studentin (Informatik und Kunstgeschichte), computerverliebt, nerdy, versucht Daten und Geschichten an die richtigen Plätze zu bringen.

Thoralf Schuster, Hannas Sohn, Klaras Vater, lebt getrennt von seiner Frau, besucht seine Mutter regelmäßig, gleichgültig wie sehr sie manchmal nicht einer Meinung sind.

Familie Langmann, Hannas Onkel († 2001), dessen Sohn Gerd (Hannas Cousin, 74) und seine Frau Ute (71), Franz (deren Sohn, 33), haben Hanna seit den 1970ern aus den Augen verloren.

Lisa Höglinger, Hannas kontaktfreudige, aber viel beschäftigte Nachbarin und dreifache Mutter.

Der Kofel, Oberammergaus Haus- und Wächterberg.

Boandlkramer, Theres’ besonderer »Kumpel«, der Tod, der Senser.

Gabriele Münter, (19.2.1877 – 19.5.1962), prägende Künstlerin Anfang des 20. Jahrhunderts, Hannas private Kunstlehrerin.

Elli Zöpf, Hebamme in Murnau.

1. Still

Murnauer Moos, Nähe Ähndl, Frühjahr, Montagmittag

Hanna hielt inne, blieb ein paar Meter auf Abstand zu dem Auto. Sie zog ein Lächeln in ihr Gesicht, versuchte, es zu halten, bis die Fahrertür sich öffnete. »Wir hätten uns an einem gemütlicheren Ort treffen können«, rief sie. Hanna steckte ihr Handy weg, dann winkte sie grüßend.

Über den Parkplatz und die schmale Straße am Ähndl jagte der Wind, riss an Hannas grauem Zopf und ärgerte sie mit ihren eigenen Haarsträhnen. »In Murnau gibt es doch schöne Cafés – zum Beispiel das im Alten Schloss. Und der Abstand zwischen den Tischen ist ausreichend.« Hanna zog den Schal enger und schlug den Kragen ihrer gefütterten Regenjacke hoch.

Ihre Verabredung hob Kinn, hob die Braue. Kein Gruß, keine Worte, nicht der Anflug eines Lächelns folgten.

Hannas Blick schweifte über das Autodach zu den ewig blauen Bergen und zurück. Bäume streckten ihre Äste wie ausgezehrte Finger gegen die graue Wolkenwand. Der Biergarten neben dem Kirchlein war heute unbesetzt, im Schummerlicht hinter den Gasthausfenstern duckten sich nur ein paar zerfranste Schemen. Daneben der Turm des Ramsachkircherls. Ähndl, schoss Hanna der volkstümliche Name der kleinen Kapelle in den Kopf. Ahnin. Als wäre sie eine Wächterin über die Vergangenheit. Ein wenig musste sie schmunzeln.

»Ist das hier nicht gut genug für dich?«, schnaubte Hannas Verabredung mit einem angespannten Lachen. »Du wolltest dieses Treffen. Ich dachte, deinem Anliegen wäre dieser Ort angemessen – am Drachenstich. Ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit. Oder nicht?« Die Autotür knallte zu. »Und dein Hund bekommt seinen Auslauf. Und niemand stört.«

Stenz knurrte und bellte kurz. Sein kupferfarbenes Fell um die Augenpartie wirkte wie die Maske eines Rächers. Der Australian Shepherd hielt seine eisblauen Augen auf die ankommende Person gerichtet.

»Ist gut, Stenz«, sagte Hanna, wuschelte kurz durch die Fellmischung aus Kupfer, Schwarz und Weiß und wandte sich wieder ihrer Begleitung zu. Sie zwang sich, ihre Mundwinkel oben zu halten und das Lächeln, das ihr entgegensprang, nicht in die Kategorie heuchlerisch einzuordnen. »Ich war zuletzt vor fünfzig Jahren hier, mehr sogar. Aber das weißt du. Du hast alles gelesen so weit, nehme ich an.« Nach einem Moment fuhr sie fort. »Nur um transparent zu sein: Auf meiner Website wird zu meiner Geschichte noch etwas mehr erscheinen. Das ist aktuell noch als Entwurf nicht veröffentlicht, aber das betrifft dich nicht.«

Hanna schnalzte mit der Zunge. Stenz trottete voraus, Hanna und ihre Begleitung folgten. Entlang des nassgesogenen Sträßchens verdichteten sich auf der einen Seite die Stämme zu Gehölz. Auf der anderen Seite legten die Wiesen einen grünen Teppich vor der kantigen Majestät der blauen Berge aus.

»Deine Geschichte, ja. Ich denke, die Vergangenheit ist das eine. Aber sie gehört nicht einfach dir allein.« Mit jedem Wort schnitt die Stimme von Hannas Begleitung schärfer, dann zuckten die Schultern. »Wie dem auch sei … Du hast dich gemeldet, du hast gefragt um – nennen wir es: Hilfe. Und du weißt, wie’s ist: Ein wenig Entgegenkommen deinerseits wäre nett.«

»Entgegenkommen? Ich denke, wir sind eine Familie, und es ist an der Zeit, sich endlich auszusprechen«, seufzte Hanna und musterte das Profil ihrer Begleitung. »Weder Vergangenheit noch Zukunft werden besser, je größer die Lügen und dunklen Geheimnisse sind, die man hinter sich herschleift oder unter den Teppich zu kehren versucht. Gerade du müsstest das verstehen.«

»Gerade ich?« Ihre Begleitung schnaubte. »Glaubst du, du kennst mich und meine Situation? Du bist deinen Weg gegangen. Ich wünschte, ich hätte so viel Glück wie du.«

»Glück nennst du das, was mir passiert ist?« Hanna spürte einen Stich. Sie mahnte sich zur Ruhe.

Die Gestalt neben ihr lachte kurz auf. »Zufall, dann eben … Kein schöner – aber wenn man aus heutiger Sicht darauf blickt, hat er dich dorthin gebracht, wo du jetzt stehst. Und nun willst du allen deine Geschichte unter die Nase reiben! Deine Geschichte, deine Sicht der Dinge, wie es dir passt.«

»Als wäre es reiner Selbstzweck«, murmelte Hanna, dann lauter: »Geschichten und Erfahrungen entstehen nicht aus sich selbst heraus, sondern mit und um und durch uns. Natürlich erzähle ich aus meiner Sicht. Das hat mich geprägt, so habe ich mein Leben geformt. Dabei war nicht alles richtig. Ich habe meine Fehler gemacht und beim nächsten Mal versucht, es besser zu machen. Darum geht’s doch.« Hanna marschierte weiter. »Nichts zu tun, zu schweigen, im Alten zu verharren und Fehler zu vertuschen, anstatt aus ihnen zu lernen, ist zu wenig. Zu behaupten, dein Schicksal wäre dir einfach so passiert, anstatt einen besseren Weg zu finden – dafür kannst du wirklich keinen Orden erwarten.«

Nebeneinander folgten sie der Abzweigung, Stenz ein paar Meter vor ihnen, die Feldwege vollgesogen vom Frühlingsnass. Durch den Hohlweg und die kahlen Äste hörte Hanna schon den Wasserfall. Sie hielt inne. Stenz stoppte und drehte sich nach ihnen um.

»Die Sage vom Drachenstich – kennst du die eigentlich?«, fragte Hanna. Im Schnauben neben sich glaubte Hanna Ungeduld zu hören, Wut.

»Bitte nicht!«, zischte neben ihr die Stimme. »Sentimentaler, jahrhundertealter Schmarrn.«

Aus dem Augenwinkel musterte Hanna das Gesicht neben sich. Einmal mehr rätselte sie, wie es möglich war, so viel Vertrautes darin zu finden und so viel Fremdes zugleich. Ein Schmerz rührte sich, so alt, so tief verborgen – vergessen beinah. Ganz gleich, wie sehr man sich abschirmt, wie viel Zeit vergeht, wie niedrig man die Hoffnung hält … Die, die einem nahestehen, treffen selbst den kleinsten wunden Punkt. Hanna richtete sich auf.

»Vor all der Zeit, so sagt man, gab es einen Drachen in Murnau. Hass, Gier und die bösen Taten und Gedanken der Leute haben ihn gelockt. Er fraß von den Herden: Kühe, Lämmer, die Tiere des Wassers, Menschen.« Hanna deutete in die Richtung, in der das Wasserrauschen lauter wurde. »Und hierher zerrte er die Jungfrauen Murnaus. Keine kam lebendig zurück. Er war flink und immer hungrig. Niemand konnte ihn erlegen, kein Murnauer, kein Fremder, kein Ritter. Auf seiner Walz machte ein Schustergeselle halt in Murnau. Er war fleißig und seine Arbeit gut. Einmal kam ihm ein ganz besonderes Schuhwerk unter: das des Kaisers. Der Lohn für seine Arbeit war ein Wunsch. Nicht Gold wünschte sich der Schustergeselle, Kalk und Leder bestellte er. Er nähte das Leder zusammen, stopfte es mit Kalk und formte daraus die Gestalt einer Kuh. Er stellte sein Werk mitten aufs Feld, und Stunde um Stunde wartete er mit seiner Lanze. Der Drache kam und fraß. Im Drachenkörper erstarrte der Kalk, und mit ihm das gesamte Ungeheuer. Dann: ein Stich. Der Drache war vom Schusterburschen erlegt.« Hanna wandte sich zur Seite. »Die Gefahr, die ständige Angst über allem und allen war besiegt. Der Bursche lebte weiter in Frieden und Freiheit. Und mit ihm alle anderen auch.«

»Kein Geld, kein Ruhm? Was für eine dumme Sage, oder besser: was für ein dummer Versager!« Hannas Begleitung schnaubte. »Der ganze Einsatz ohne die kleinste Belohnung.«

»Ein Leben in Freiheit ist nicht die schlechteste Belohnung.« Hanna schob ihren Kiefer nach vorne.

Die Miene, die Hanna entgegenstarrte, verhärtete sich. »Und du glaubst, du erreichst genau das – Freiheit? Mit deinem Vorhaben, deine Lebensbeichte mitten aufs freie Feld zu stellen?«

Seite an Seite wanderten sie vorbei am Wasserfall. Über das Felsgrau schmiegte sich Moos, dazwischen stürzte Wasser in silbernen Streifen hinab. Farne und Äste beugten sich wie Zuschauer darüber. Hanna sog den Anblick ein, die Waldluft, schnaubte. »Darum geht es nicht. Ich bin frei – weil ich mich entschieden habe, frei zu sein.« Hanna ballte die Hand. »Erst habe ich mich gefügt, dann habe ich all die Jahre weggesehen, geschwiegen. So wachsen Ohnmacht und Hass und alles, was uns trennt, immer weiter. Im Kleinen wie im Großen. Ich hatte immerhin die Möglichkeit, mich zu entscheiden und zu gehen, ich war nur zu blind, das zu sehen. Jetzt ist es an der Zeit, dieses Schweigen und den alten Hass zu überwinden, und die Grenzen, in die er uns presst.«

»Du sagst, du willst überwinden, was uns trennt, und bittest mich um Hilfe für die Veröffentlichung deiner Geschichte. Aber was die Auswirkungen für die Familie sind, sobald jeder davon erfährt, kümmert dich nicht! Was die Leute dann reden werden …« Die Worte fielen wie Kiesel, unscheinbar, scharfkantig.

Neben dem Wasserfall führte der Weg über Baumwurzeln und Erdstufen nach oben. Stenz überholte, nahm die Treppen geschmeidig und flink. Regennass glänzte der Handlauf des Geländers. Hanna fasste danach. Klamme Kälte drückte sich in ihre Hand. Auf dem feuchten Boden, den Nadeln und dem Matsch rutschten ihre Schritte ein wenig. »Ich will den ganzen Müll der Vergangenheit aufräumen. Ich will sauber anfangen auf einem neuen Blatt. Und euch die Hand reichen«, sagte Hanna.

»Du sitzt gemütlich und sicher in deinem Haus in Oberammergau, selbst als Künstlerin musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe nicht vor, meine Zukunft ohne eine gewisse Sicherheit wegzuwerfen«, hörte Hanna neben sich.

Hanna nahm Stufe für Stufe, zog sich am Geländer hoch. »Du weißt, ich müsste dich nicht wirklich um deine Hilfe bitten. Ich tue das, weil ich glaube, es ist wichtig. Damit wir als Familie wieder mehr zusammenwachsen.«

Der Wind warf sich durch Baumstämme und Äste, biss Hanna in den Nacken und zerrte an ihrer Jacke, als wollte er sie weiterdrängen, nach oben, hinaus aus der Schlucht. »Ich glaube nicht, dass Geld dir eine bessere Zukunft erkauft«, setzte Hanna nach.

Ihre Begleitung holte auf, war neben ihr. »Früher oder später geht alles ohnehin an uns, auch an mich«, flüsterte sie. »Ist früher nicht besser – und mit warmer Hand?«

Hanna sah auf, ihr Blick blieb an den Augen, der kalten Miene, ihres Gegenübers hängen. »Mit warmer Hand anstatt mit kalter, im Tode erstarrter? Geht es dir nur ums Geld? Meinst du das wirklich ernst?« Hanna schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich zu lange geschwiegen. Vielleicht war es ein Fehler, dich um Hilfe zu bitten.«

Sie hörte stapfende Schritte neben sich, Missbilligung in jedem Atemzug.

Annähernd gleichzeitig erreichten sie auf der Hälfte des Anstiegs ein weniger steiles Stück. Hanna presste die Hände in die Hüften, legte den Kopf in den Nacken. Über den Wipfeln bauschten sich Regenwolken. Sie blickte hinunter auf den Wasserfall und die Schlucht zu ihren Füßen, bis ihre Atmung sich allmählich beruhigte. Die ersten Tropfen fielen. Stenz kehrte zu ihr zurück, drängte sich gegen ihr Bein.

»Letztlich entscheide ich, was ich tue«, sagte Hanna. Mit einem leichten Stups schickte sie den Hund wieder voraus.

Ihre Begleitung zog die Kapuze über. Das Wolkengrau und der Wald verwandelten die Gestalt zu einem dunklen Schatten, der an Hanna vorbeiglitt. »Du?«, zischte die Stimme. »Denkst du, alles dreht sich immer nur um dich? Es geht um viel mehr!«

Hanna seufzte, lehnte sich gegen die Steigung, setzte den nächsten Schritt. Rutschte. Ihre Hand schoss zum Geländer, zu hart knallten ihre Finger gegen das Holz. Stenz bellte neben ihr. Sie fing sich, schnappte nach Luft und wartete, bis ihr Puls weniger in den Ohren dröhnte. »Es geht nicht nur um mich«, erwiderte Hanna.

Durch den Wald klopfte ein Specht sein Stakkato, Äste knarzten aneinander.

Die Schritte stoppten, Hannas Begleitung drehte sich um und kam auf sie zu. Starre Augen blickten sie an. »Es geht dir also nicht nur um dich? Ist es das, was du dir einredest? Dass es dir auch um deine Familie geht?«

Für einen Moment schauderte es Hanna.

»Mit deiner eitlen Beichte machst du mehr kaputt, als irgendwas zu heilen!«, schnappte ihre Begleitung. Sie stapfte auf Hanna zu, die Kapuze rutschte nach hinten. Wut funkelte in den Augen. Ein Stoß traf Hannas Schultern. Sie wich zurück, strauchelte, fing sich wieder.

»Du und deine Geschichte!« Die Stimme überschlug sich, die Gesichtszüge verzerrt. Noch ein Stoß, noch mehr Wut. »Die Familie, unser Ruf! Denkst du auch nur einen winzigen Moment daran? Du …«

Wieder traf ein Schlag Hannas Oberkörper.

»Mit deinem fahrlässigen Eigensinn! Wer kann sich das erlauben? Wer? Ich nicht! Noch nie!«

Ein Blick, so kalt, so hart, bohrte sich in Hannas Augen. Stenz schlug an. Hanna spürte, wie Angst in ihr aufkeimte, und verlor die Balance. Und ein weiteres Mal stießen Hände gegen ihre Brust. Sie schlitterte.

»Vielleicht … vielleicht ist es besser so …«, hörte Hanna ein Zischen.

Hannas Hand fuhr zum Geländer, verfehlte es. Ihre Sohlen glitschten über den schmatzigen Waldboden. Sie kippte nach hinten, fiel. Unter ihren Füßen war nichts mehr, kein Halt, keine Sicherheit.

Als sie wieder zu sich kam, platzte Schmerz in ihren Kopf und ihren Rücken, stach ihr ins Kreuz mit tausend Messern. Hanna versuchte zu sprechen. Sie spürte die Anwesenheit ihrer Begleitung mindestens so stark wie deren noch immer glühende Wut.

Wortfetzen verklangen unter Stenz’ Bellen und Knurren. Nebel füllte ihr Sichtfeld, vermischte Grau und Grün und Braun, Himmel und Wald. Sie tastete mit der Hand über ihren Hinterkopf. Etwas Warmes, Feuchtes war unter ihren Fingern, über ihr zwei dunkle Augen.

»Vielleicht braucht es nicht mehr als eine Gelegenheit, um eine Entscheidung richtigzustellen.« Die Stimme schabte unter Hannas Haut. Sie schauderte, konnte sich nicht bewegen. Sie hörte, wie sich die Schritte ihrer Begleitung entfernten.

Dann war Hanna allein. Nur Stenz’ Japsen und das Rauschen des Wasserfalls störten die Stille. Kälte umschlang Hannas Glieder, kroch von den Zehenspitzen über die Knöchel nach oben. Sie spürte den Druck eines warmen Körpers neben sich, doch die Kälte war stärker. Ihr Rücken, ihre Unterschenkel – alles wie zu lang in einem zu kalten Wintersee. Ihre Haut brannte, und in ihrem Kopf stach noch mehr Kalt. Wald und Erde und Kiesel schmirgelten ihre Fingerkuppen auf. Hanna versuchte aufzustehen, die Beine anzuwinkeln, wenigstens ihren Oberkörper aufzustemmen. Nirgends war Halt, nirgends in ihrem Körper ein bisschen Kraft. Ihre Muskeln weigerten sich zu gehorchen.

Ihre Hand schaffte es in die Hosentasche. Hannas Finger stippten an ihr Handy, sie entsperrte es per Daumenabdruck. Der Schmerz schnürte ihr die Brust ein, gleißte hell vor ihren Augen. Stenz bellte. Sie presste den Daumen noch einmal aufs Display, hoffte, sie erwischte den richtigen Knopf, dann glitt das Handy aus ihrer Hand.

Baumwipfel beugten sich auf sie herab, verschwammen. Das Bellen wurde Knurren. Verschwand.

2. Radar

Bundesstraße B2 Murnau nach Oberammergau, Montagnachmittag

Kurz glitt ihr Blick in den Rückspiegel. Die Straße war leer und blieb es. Vor ihr schmiegten sich die Bäume an die blauen Felsen. Dann starrte sie aus dem Seitenfenster durch den Regen. Baumgruppen, Büsche krümmten sich zwischen den grauen Schlieren. Frühlingsgrün lief in dem glatt gezogenen Braun der Felder aus. Auf der Frontscheibe verschmierten Rinnsale die Sicht.

»Moos. Murnauer Moos heißt das hier. Wieso sagt keiner, was es wirklich ist: Ein Moor. Ich hab’s nie verstanden. Als würde etwas allein dadurch hübscher, nur weil man es mit einem neuen Namen versieht.«

Sie drückte das Gaspedal tiefer. Der Regen der letzten Tage stand in überdimensionierten Pfützen auf den Wiesen. So grau wie der Himmel, so grau wie die Bundesstraße. Dann starrte sie wieder nach vorn, auf die Steinkanten dieser Berge, an denen Bäume in sattem Grün nach oben ragten. Alles schien von ihnen umgeben.

Sie griff nach ihrem Handy und wählte eine Playlist aus der Musik-App, die wütend genug war. Und düster. Über das Lenkrad schaltete sie ihr Radio lauter. Der Bass vibrierte, und das Schlagzeug schickte kleine Stöße bis in den Fahrersitz, ins Lenkrad und in ihre Knochen. Weiter vorne sah sie Autos von der A95 auf die Bundesstraße einfädeln. Sie drückte aufs Gas und zwang damit den nächsten Abbieger zu bremsen. Unter dem Beifahrersitz schepperte etwas metallisch, kurz runzelte sie die Stirn, doch der Verkehr forderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nach der nächsten Ortschaft Richtung Ettal beschleunigte sie erneut.

»Ach, fuck!« Alles in ihrem Sichtfeld blitzte mit einem Mal rot. »Verfluchter Blitzer!« Sie blinzelte und verriss für eine Sekunde das Lenkrad. Ihr Auto schlenkerte aus der Spur, der Fahrer im Gegenverkehr hupte. Auf das Kopfschütteln des anderen antwortete sie mit einem gestreckten Mittelfinger. Er war längst viel zu weit entfernt, um die Geste zu sehen. Im Rückspiegel entdeckte sie den Golf mit dem Radargerät. Sie krallte ihre Hände fester um das Steuer.

»Kann eigentlich noch mehr schiefgehen an einem Tag wie heute?«

Erneut fand ihr Fuß das Gaspedal. Die Nadel neigte sich in Richtung 120 km/h.

»Auch schon egal«, knurrte sie. In ihrem Bauch spürte sie Wut und Ärger gleichermaßen. »Fuck!«

Mit der flachen Hand schlug sie auf das Lenkrad.

»Kurz vor Oberammergau. Da nimmt man schon mal den anderen Weg, und dann das!« Ihr Fuß wechselte kurz auf die Bremse.

»Und Hanna …« Sie schluckte. »Ich hoffe, das reicht aus.«

3. Babba – Montagskaffee

Oberammergau, Theatercafé, Montagnachmittag, ca. 14 Uhr

»Hat dich dein Date heut versetzt, Sepp?«, flachste der Bursche neben der riesigen Siebträger-Kaffeemaschine des Theatercafés, begann, die Milch aufzuschäumen, und zwinkerte Josef Hack zu. Gegenüber der Eingangstür spannte sich die Holztheke in einer Mischung aus gemütlich und modern durch den Raum. Im helleren Eingangsbereich des Cafés fiel das Licht fast golden auf die gebackenen Leckereien in der Vitrine. »Heut ist doch euer Montagstreff, oder nicht? Du und Hanna.«

Josef Hack zögerte kurz. Er rieb sich den Nacken, als könne er das seltsame Kribbeln vertreiben, dass sich dort einnistete. »Hanna«, wiederholte er. Sein Blick glitt auf das undefinierbare Graunass vor der großen Fensterfront. Unbeeindruckt stand das Passionstheater auf der anderen Straßenseite. Auf dem Brunnen hatte sich der bronzene Esel mit seinem Jesus nicht bewegt, so wenig wie irgendetwas anderes. Josef Hack wandte den Kopf und blickte nach drüben in den großzügigen Nebenraum des Theatercafés. Im Eck hinten hatten zwei Wanderer einen Platz gefunden. An den Tischen gegenüber der Theke war er der einzige Gast. Er musterte den jungen Mann.

»Was macht die Ausbildung, Jonas? Oder übernimmst du jetzt hier bald das Theatercafé?«, fragte er.

»Ich? Oje!« Ein kleines Lachen keckerte über die Vitrine. »Ich helf hier immer gern aus. Aber ich glaub, das ist nichts für mich. Ich bin ja jetzt fast fertig mit der Ausbildung bei der Gemeinde.«

»Ausbildung.« Josef Hack runzelte die Stirn, tippte sein Handy neben der Kaffeetasse an. Die Uhrzeit leuchtete auf. »Zeit vergeht. Ich weiß noch, wie du dich an meiner Wursttheke auf dem Arm der Mama nach den Gelbwurstscheiben gestreckt hast.«

Jonas stellte zwei Platten mit Kuchen auf den Tresen. »Schon eine Weile her mit der Wursttheke.«

Josef Hack winkte ab. »Wem sagst des.«

Der junge Mann legte den Kopf schief, lächelte. »Aber so ein Fast-Ruhestand ist nicht verkehrt, oder? Mein Großbabba jedenfalls ist recht glücklich damit. Und andernfalls wären deine Montage nicht so entspannt. Was die Theres alles aus eurer Metzgerei gemacht hat, seit sie aus Wien zurück ist, mit der Tages-Bar und dem Lieferservice und allem, was sie sonst noch so treibt … Das müsst dir doch gefallen?«

»Vor allem: was sie sonst noch alles macht, meine Tochter!«, brummelte Josef Hack kopfschüttelnd. »Aber ist schon recht! Meine Res und ihre neumodischen Ideen fürs Geschäft.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sag, Jonas: Wie geht’s deiner kleinen Schwester eigentlich?«

»Laura studiert das letzte Semester Kunst in Florenz. Grad hat sie ein Angebot aus Madrid gekriegt. Bestimmt freut sich Hanna, wenn sie’s hört. Damals beim privaten Unterricht hat Hanna gleich gewusst, wohin es die Laura zieht.« Er unterbrach sich, deutete zur Tür. »Wo bleibt sie denn jetzt? Nach euch beiden kann man normalerweise die Uhr stellen. Ich kenn Hanna immer nur pünktlich.«

Im Hintergrund ratterte die Kaffeemaschine. Josef Hack beobachtete, wie sein Lieblingskuchen kleiner wurde – seine Unruhe nicht.

»Sie müsst längst da sein.« Wieder tippte er das Handy an. »Seit einer Stunde. Gehört hab ich nichts von ihr, geschrieben hat sie auch nicht.«

»Und geht sie nicht ans Telefon?«

Josef Hack beobachtete die Crema in seiner Kaffeetasse. Die schwarzen Kringel klumpten sich zusammen wie das ungute Gefühl in seinem Bauch. Er schluckte, sah auf.

»Die Hanna? Hast sie angerufen?«, hakte der Bursche nach.

Er seufzte. »Freilig.«

»Und …«

Die Eingangstür schwang auf. Eine tropfnasse Figur stocherte mit ihrem Regenschirm in den Raum. Halb hing sie noch am Griff der Eingangstür. Einem Windstoß folgten donnernde Schritte, die erst mitten im Raum stoppten. Im Gegenlicht verschwand alles, bis sich Josef Hacks Augen an den Kontrast gewöhnten.

Um ein Mµ hob Josef Hack die rechte Braue, dann rutschte er an seinem Tisch ein Stück zur Seite. Er presste die Tasse gegen seine Lippen, trank, als er erkannte, wer dastand. Die Augen riesig klappte Jonas’ Mund erst zu, als die Gestalt ihre Kapuze nach hinten zog.

Über die Jacke perlten Tropfen, sammelten sich in einer Pfütze am Boden. Die schweren Stiefel glänzten nass. Theres Hack wischte sich den Regen von der Stirn. Die andere Hand seiner Tochter stoppte auf Hüfthöhe kurz oberhalb des regenzauseligen Fells ihrer Irischen Wolfshündin. Noch einmal drehte sich Theres um zum Wetter, das von draußen hereindrängte. Sie knurrte ein »Servus« in den Raum, das vermutlich erst kurz vor den Wanderern im Nebenbereich ausrollte. Ihre Augenbrauen hoben sich, wie immer, wenn ihr eine Frage auf den Lippen brannte. Ihr Blick ging zu Jonas.

»Passt schon!« Der Bursche winkte Herrin und Hündin herein. »Bei dem Sauwetter musst Wolfin nicht draußen lassen.« Mit einem Tablett kam er hinter der Theke hervor und trug Kuchen und Kaffee zu den Gästen im Nebenraum. Hinter Theres tappte die Wolfshündin über die Fliesen.

»Merci dir!« Theres stapfte weiter. Mit einem Lächeln rief sie hinter ihm her. »Milchkaffee, bitte, Jonas.« Die klamme Jacke warf sie auf einen Stuhl und setzte sich neben ihren Vater auf die Bank. »Servus, Babba!« Sie sah ihn an, die Uhr ihres Handys und wieder ihn. Stirnrunzelnd. »Sag mal …«, ihre Geste umfasste die freien Plätze am Tisch. »Stellst ’nen neuen Rekord auf: Wie schweige ich meine Mitmenschen am schnellsten in die Flucht?«

»Depp«, knurrte Josef Hack, drückte das zuckende Grinsen in seinen Mundwinkeln fort. »Deppin«, korrigierend. Er hielt den Blick seiner Tochter. Unter dem regenfeuchten Braun der Haarsträhnen wirkten ihre Augen dunkler, der Spott grimmig.

»Was machst du hier? Bist schon fertig im Geschäft?«, fragte er.

»Alle Bestellungen vorbereitet, das ganze Wild, den Rest schaffen unsere Leute allein«, fasste sie zusammen.

»Die beiden sind ein Glücksgriff für die Metzgerei & Tages-Bar«, bestätigte er. »Und für das Catering und den Lieferdienst natürlich auch.«

Theres strich sich die Strähnen aus der Stirn, lehnte sich zurück. »Wo wir gerade dabei sind: Catering. Langsam brennt es mit Hannas Event. Wir müssen dringend ihre Vorstellungen zum Catering besprechen. Heute Vormittag hat es bei mir absolut nicht geklappt, sie zu treffen. Aber ich weiß ja, ihr seid immer hier. Berechenbare Gewohnheiten sind einfach was Schönes«, grinste sie. Sie richtete sich auf und sah sich im Café um. »Also: Ich hab mir die Zeit freigeschaufelt, hier bin ich. Wo ist sie denn jetzt? Hanna? Auf der Toilette weggespült?«

Josef Hack zögerte. Sein Blick driftete an ihr vorbei durch die Wand. Theres’ Blick brannte dennoch auf ihm wie das schlechte Gefühl unter seiner Haut. »Sie war noch nicht da«, antwortete er.

»What? Hanna?« Seine Tochter sah sich um im Café, musterte ihn unter halb geschlossenen Lidern. »Was ist los? So kenn ich das gar nicht von ihr. Hast du …«

»Freilig«, schnappte er. »Die ganze Zeit – Nachrichten, Anrufe. Was glaubst?« Er schluckte, doch der eisige Klotz in seinem Bauch verschwand nicht. »Ich dachte, du wolltest dich schon längst mit ihr besprochen haben wegen des Caterings für ihr Ausstellungs-Event-Zeug«, lenkte er ab. »Was macht ihr denn sonst die letzten Wochen jedes Mal, wenn du bei ihr bist?«

Theres hob die Hände in einer Geste zwischen Abwehr und Fatalismus. »Du weißt, wie’s ist. Die ganze Zeit, die ich in Wien war, muss ich ja nachholen mit meiner Firmpatin. Aber heute besprechen wir ihr Event, damit in drei Monaten auch wirklich alles passt, wenn sie die Vernissage eröffnet. Sie hat angedeutet, ihre Ausstellung wird eine Verbindung von Kunst und ihrer Geschichte. Weißt du mehr dazu, Babba?«

Josef Hack runzelte die Stirn, verengte die Augen und dachte an die Unterhaltungen der letzten Wochen. Kurz hielt er inne, dann verneinte er.

Sie musterte ihn eine Weile. »Und sie ist einfach nicht gekommen heut? Meinst, ihr ist was passiert? Sie ist gut siebzig …«

»Nein«, schoss er zurück, winkte hastig ab. »Bestimmt nicht. Sie ist kaum älter als ich. Ihr ist nix passiert.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist einfach was Wichtiges dazwischengekommen. Unerwartet.« Mit dem Zeigefinger schob er das Handy auf dem Tisch hin und her, das Display dunkel, von Hanna keine Reaktion. »Sie ist bestimmt …« Er räusperte sich, seine Stimme brach. »Sie ist nicht so eine wie die ganzen Event-Schnösel aus deiner Zeit in Wien. Bestimmt hat sie einfach die Zeit vergessen.«

»Hanna? Die Zeit vergessen?« Theres stützte die Ellbogen auf den Tisch, in ihren Augen tausend Fragen. »Unsere Hanna?«

Die gefurchte Miene seiner Tochter ignorierte er, nickte mehrmals, wie um sich selbst zu versichern, alles wäre gut. Er versuchte ein Lächeln. »Künstlerin«, warf er ein, hob entschuldigend die Hände. »Und sie wird auch nicht jünger.«

»Babba!«, zischte sie. Der Unterton in ihrer Stimme klang nach Filetiermesser. »Merkst eigentlich, wenn du dir grad selbst widersprichst? Oder werden nur die anderen älter, und du bleibst ewig jung?«

»Theres!«, schnappte er zurück, hielt ihren Blick. Er spürte den Puls an seinem Hals, spürte den Klotz im Bauch, der nach den Worten seiner Tochter noch schlimmer scheuerte und zog. Dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, wandte sich zur Theke. »Jonas, den Kuchen – die Prinzentorte. Gibst mir zwei Stück zum Mitnehmen heut. Oder machst drei, zur Sicherheit.« Er senkte die Stimme. »Ich schau nach«, brummte er Theres an, drückte noch einmal die Taste zur Wahlwiederholung. Erfolglos. »Ich geh bei ihr daheim vorbei.«

Sie nickte, fasste seine Hand. »Gute Idee, Babba.« Beide schlüpften in ihre Jacken. »Soll ich mit?«

Josef Hack schüttelte den Kopf, zog seinen Geldbeutel. »Ich schau bei ihr vorbei, dann bring ich sie mit. Wirst sehen: Ist bestimmt alles gut.« Er schluckte. Wieder nickte er, verfluchte das Scheuern in seinem Magen.

Jonas begleitete sie beide samt Wolfin zur Tür. »Bis nächste Woche dann, sagst Hanna ’nen Gruß. Oder schaut ihr diese Woche noch mal vorbei? Ende der Woche kommen neue Torten.«

Gegen den Himmel, das Grau, die schmutzigen Wolken zog Josef Hack seine Kapuze über. Theres tat es ihm gleich.

»Gibst Bescheid, Babba!«, sagte sie, drückte seinen Arm, bevor sie den Weg zur Metzgerei einschlug und er den zu Hannas Haus. »Bis gleich, dann!«

Die Regentropfen prasselten auf Josef Hacks Jacke. Er stapfte am Passionstheater vorbei durch die Gassen, vorbei an der Buchhandlung und weiter. Er blickte auf die Lüftlmalereien an den Fassaden und überlegte, ob sie ohne die Fotoapparate der Touristen eindrucksvoller wirkten oder nicht. Idylle, die sich von einem jahrelangen Sprint zu erholen schien und der Atempause misstraute. Ein wenig schneller marschierte er weiter.

Am Boden vor Hannas Haustür hatte der Regen die Tageszeitung aufgeweicht. Kein Licht fiel durch das Glaselement der Tür. Durch das schmale gekippte Fenster neben der Haustür drang der Ton der Klingel und verlor sich im Haus. Nach einer gefühlten Ewigkeit presste er den Schalter erneut. Und wieder.

Auf seine Schultern drückte die Jacke schwer, klamm, kalt. Die Tropfen trommelten weiter. In einer der Jackentaschen kramte er nach seinen Schlüsseln, spürte deren Kanten an der Kuppe seines Daumens. Den für Haus und Metzgerei, den von Theres und dem alten Schuppen – und den anderen, der nur für den Notfall am Schlüsselbund hing. »Für den Notfall«, murmelte er. Notfall. Er ließ den Schlüssel zu Hannas Haus los und trat näher an die Tür unters Vordach. Wieder klingelte er, schnaubte.

Nichts geschah. Ganz gleich wie oft er schellte.

An den Rändern seiner Kapuze vorbei schaffte er einen Blick nach rechts und links, wandte sich um, stapfte los. Ein paar Schritte später war er bei Hannas Nachbarn. Sein Zeigefinger zielte auf die Messingklingel, die Tür schwang unmittelbar auf. Er stolperte beinahe über die Treppe nach hinten. Sein Gegenüber wirkte mindestens ebenso überrascht wie er.

Die junge Frau starrte ihn an. »Ähm? Servus, Sepp!«

»Grüß dich, Lisa!«

»Das ist jetzt unerwartet.« Sie strich ein paar Haarsträhnen zurück, noch mehr Fragezeichen erschienen auf ihrem Gesicht. »Haben wir heut eine Bestellung bei euch gehabt? Ich hol die doch immer selbst, oder einer von meinen Jungs.«

Sie zerrte ihre Hand aus der Manteltasche. Ein knallbunter Haargummi und eine grüne Plastikfigur purzelten heraus, ein krumpeliges Tempo trudelte zu Boden. Schnell stippte sie es mit dem Fuß in den Flur hinter sich. Sie lächelte entschuldigend. »Kinder! Da hat man immer mit allem die Taschen voll.« Sie nickte zur Garage. »Ich muss grad los, den Mittleren abholen.«

Josef Hack klappte seine Kapuze zurück, und im nächsten Moment warf sie sich ihren Schal um Hals und Mund.

»Nein, Lisa.« Josef Hack fröstelte, er schüttelte den Kopf, trabte die Stiege hinunter und deutete aufs Nachbarhaus. »’s ist wegen Hanna.«

Die junge Mutter zog die Haustür hinter sich zu. »Ach so.« Sie runzelte die Stirn. »Oma Hanna?« Ihr Blick blieb am Nachbarhaus hängen.

»Oma?«

»Nein!« Sie lachte, winkte ab. »Na ja, in letzter Zeit war sie so oft meine Rettung, wenn sie mal ein Auge auf die Kinder geworfen hat. Und mit dem Großen hat sie sich durch alles Mögliche am Computer gefuchst, sie ist selbst eine halbe Expertin – und wie eine dritte Oma für die Kinder. Omas kann man einfach nicht genug haben. Hanna gefällt das, glaub ich auch – ein paar Enkel mehr.« Sie legte den Kopf schief.

»Enkel, schon schön.« Josef Hack brummte. »Und jetzt? Weißt du, wo sie ist?«

Die junge Frau wandte sich wieder in Richtung Hannas Haus, dann fiel auch ihr Blick auf die durchweichte Zeitung. »Ja, komisch«, murmelte sie. »Ist schon ein wenig dunkel bei ihr, gemessen an dem trüben Wetter. Gestern Abend war auf jeden Fall Licht. Aber heute? Gute Frage. Heute hab ich sie noch nicht gesehen. Das heißt: Doch! Heut Morgen kurz mit ihrem Sohn.« Sie drehte den Schlüssel in der Tür. »Aber vielleicht hat sie auch einfach nur mal was anderes vor. Vielleicht weiß einer drüben bei den Nachbarn Bescheid. Aber beide arbeiten Schicht. Um die Zeit schlafen die, glaub ich.« Sie lächelte ihm zu, wandte sich zum Garagentor.

Er nickte. »Schon gut. Merci dir, vergelt’s Gott!«, haspelte er, korrigierte sich dann, nicht sicher, ob die junge Frau ihn verstanden hatte. »Danke. Ich ruf sie an.«

Sie nickte noch schneller als er und verschwand in der Garage.

Den Rückleuchten ihres Wagens blickte Josef Hack noch eine Weile hinterher. Fünfzehn Uhr sieben zeigte der Bildschirm seines Handys. In seiner Jackentasche wurde das Metall zwischen den Fingern langsam warm. Hannas Ersatzschlüssel. Er klingelte noch mal. Das Türschloss ließ er nicht aus dem Blick.

4. 1956 Zurück – Die Frau mit den Pinseln

Murnau, am Ufer des Staffelsees, Sommer 1956

Hannas Sandälchen trippelten noch schneller den Rest des Weges zum See. Über die riesige spiegelnde Fläche schob der Wind silberne Wellen, die Sonnenstrahlen blitzten und tanzten darauf. Staffelsee, hatte Oma ihr erklärt, wie Staffelei, beinahe. Beinahe stolperte sie, als sie den Kopf zurück über die Schulter drehte, fing sich im letzten Moment. Wenigstens war der Mann nicht mehr hinter ihr, sehen konnte sie ihn jedenfalls nicht. Hanna zupfte ihr Röckchen zurecht und das Kleidchen ihrer Puppe, blinzelte über den Uferrand hinweg.

Noch ein Stück tapste sie weiter. Die Puppe schlenkerte gegen ihre Beinchen. Sie entdeckte die Leinwand und die Frau, zu der ihre Mama sie manchmal mitgenommen hatte, lief zu ihr und blieb schließlich neben ihr stehen. Hanna legte den Kopf ein wenig in den Nacken, ihr Blick wanderte am bunt vertupften Malerkittel hoch, die Arme in die Hüften gestemmt.

»Wann bist du fertig?« Hanna setzte die Puppe neben ihren Füßen ab und platzierte sie, bis sie mit ihren Knopfaugen den See sehen konnte. Ein paar Fäden spitzten aus dem Häkelkleidchen der Puppe und Strohhalme spießten sich durch die Maschen. Hanna musterte den See, die Bauminseln darin, die Bergkanten dahinter, dann wieder die Leinwand mit den bunten Flecken. Zum Schluss stierte sie auf die Pinselfrau mit den Runzeln im Gesicht. »Wann, Ele? Wann bist du fertig?«

Die Weißhaarige zog die Brauen zusammen, die wie weißer Flaum waren über ihren Augen. »Dich habe ich eine Weile nicht gesehen, Hannalein. Wie alt bist du jetzt?«

Hanna streckte die Hände hoch. An der linken alle Finger und den Daumen von der rechten. »So viel«, sagte sie.

»Weiß deine Ma…« Die Malerin stoppte mitten im Wort. Ihr Gesicht bekam noch mehr Furchen, und der hellrosa Strich der Lippen verschwand beinahe. »Weiß deine Großmutter, wo du bist?«

Hanna zupfte einen ihrer Zöpfe nach vorne. »Die Oma weiß es, die muss aber noch zur Post, dann holt sie mich hier ab. Die Mama weiß es auch immer, sagt Oma.« Ihr Zeigefinger wanderte gen Himmel.

»Mhhh.« Die Malerin nickte. Mit dem Stiel des Pinsels kratzte sie sich am Ohr, wie Hanna es oft bei ihr gesehen hatte, und schob ein paar Haarsträhnen zurück. Ihre Augen wurden schmaler, ihr Blick schweifte ans andere Ende der Promenade. »Und du wolltest lieber zum See, als deine Oma zu begleiten?«

»Ich …« Hanna rieb sich die Nase. »Zum See hat mich Mama immer mitgenommen. Manchmal auch zu dir.«

Die Frau mit dem Pinsel nickte. Sie war so alt wie die Oma. Die weißen Haare rollten sich um ihre Ohren. Die Münter, nannte die Oma sie. Gabriele