Die Boulevard-Ratten - Philipp Probst - E-Book

Die Boulevard-Ratten E-Book

Probst Philipp

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Beschreibung

Ein Paparazzo-Bild sorgt für einen Skandal: Der verheiratete Bundesrat und Familienvater Battista flirtet mit der Tochter eines deutschen Konzernchefs. Dass in dieser Firmengruppe lebensgefährliche Viren entwickelt und an Ratten getestet werden, macht die Sache zusätzlich brisant. Fotograf Joël wird Opfer eines Mordanschlags, Bundesrat Battista verschwindet, und kurz darauf entdeckt ein Fischer in der Algarve Battistas Auto und eine Leiche. Auf das involvierte People-Magazin prasselt ein Shitstorm sondergleichen nieder. Aber Chefredakteurin Myrta Tennemann lässt nicht locker. Zusammen mit Kollegen vom Boulevardblatt "Aktuell" stöbert sie in Portugal Battistas Geliebte auf. Fotograf Jöel forscht in dessen privatem Umfeld in Basel nach Fakten. Zusammen decken sie nach und nach auf, was das Ganze mit dem Virus zu tun hat, das die gesamte Menschheit bedroht. Eine Geschichte über People-Journalismus, die Pharmaindustrie und die Sucht nach Ruhm, Ehre und TV-Präsenz - nach dem Medienkrimi "Der Storykiller" ist "Die Boulevard-Ratten" Philipp Probsts zweiter Roman.

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Philipp Probst

DIE BOULEVARD-RATTEN

Philipp Probst

DIE BOULEVARD- RATTEN

Roman

1. Auflage, 2013

© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Eliane Ottiger Umschlagbild: FikMik (iStockphoto) ISBN: 978-3-85882-659-6 ISBN eBook: 978-3-85882-660-2

www.appenzellerverlag.ch

17. August

NEUNLINDENTURM BEI OBERROTWEIL, DEUTSCHLAND

Um 23.28 Uhr schoss eine besonders helle Sternschnuppe durch den westlichen Nachthimmel und verschwand hinter dem Totenkopf. Christian notierte Zeit, Himmelsrichtung und Helligkeit in seinem Notizbuch, das den Namen «Christians Sternbeobachtungen» trug. Die Helligkeit bewertete der 12-Jährige mit einer Neun. Die höchste Note, die Zehn, hatte er an diesem Abend noch nicht vergeben.

«So Junge, das war das Finale», sagte Andreas Mehrendorfer zu seinem Sohn. «Wir müssen jetzt wirklich gehen.»

«Nein, nein, Papa», widersprach Christian. «Ich habe noch keinen Stern mit der Helligkeitsstufe zehn!»

«Komm, wir müssen jetzt wirklich gehen», mahnte der Vater und schob seinen Sohn sachte zur Wendeltreppe. «Wir kommen ein andermal wieder hier hinauf.»

Christian stopfte sein Sternenbuch in den Rucksack, warf ihn über die Schulter und verschwand in der Tiefe. Seine Schritte auf der Stahltreppe hallten durch den stockdunklen Turm. Andreas Mehrendorfer blickte noch einmal kurz zum Fernsehturm, der gleich neben dem Gipfel des Totenkopfs stand, sah aber keine Sternschnuppe mehr, stieg dann die ersten Stufen der Wendeltreppe hinunter, drehte sich um und schloss die Holztüre zur Plattform des Neunlindenturms. Danach knipste er seine Taschenlampe an und folgte seinem Sohn in die Tiefe.

«Mama, wir haben eine Sternschnuppe mit Helligkeit neun gesehen!», schrie Christian und liess die untere Türe des Neunlindenturms zuknallen. Als Andreas den Turm ebenfalls verliess, eilte seine zehnjährige Tochter Janina zu ihm und griff nach seiner Hand.

«Gehen wir jetzt?», fragte sie.

«Hast du etwa Angst?»

«Ja, ein bisschen.»

«Was hat dir die Mama denn alles über den Totenkopfberg erzählt?»

«Hier hat früher ein Mann gewohnt, der ein grosses Feuer gemacht hat», sagte Janina leise. «Aber niemand hat den Mann je aus der Nähe gesehen, denn keiner hat sich getraut, auf den Berg zu steigen, um den Mann zu besuchen.»

«Warum wusste man denn, dass es ein Mann war, der hier oben lebte?»

«Weil, ähm, weil …» Das Mädchen stolperte über eine Wurzel, doch Andreas konnte seine Tochter halten. Zwar hatten Andreas und Veronika Mehrendorfer Taschenlampen dabei, führten ihre Kinder an der Hand und versuchten, den Weg zu beleuchten. Trotzdem war es ziemlich gefährlich, da der steile Weg voller Wurzeln und loser Steine war. Deshalb kam die Familie nur sehr langsam voran.

«Also, der Mann da oben war so gross, dass er manchmal über die Bäume ins Tal hinunter gucken konnte», erzählte Janina weiter. «Und weil er so gross war, hatten die Leute auch grosse Angst. Vor allem aber vor dem grossen Feuer.»

«Warum hatte er denn so ein grosses Feuer?», fragte Andreas.

«Mama, warum hatte der Mann ein so grosses Feuer?» Janina drehte sich zu ihrer Mutter um und stolperte erneut.

«Schau auf den Weg», mahnte Veronika. «Der Mann hatte immer kalt. Selbst im Sommer. Das habe ich dir doch erzählt.»

«Oh ja, genau. Und deshalb hat er das grösste Feuer der Welt gemacht. Und es gab ganz viel Rauch. Und der Rauch sah aus wie ein Totenkopf!»

«Deshalb heisst der Berg ja Totenkopf», ergänzte Veronika.

«Das hat Mama alles nur erfunden», warf Christian ein.

«Ist das wahr, Mama?»

«Nein, aber heute weiss niemand mehr so genau, was passiert ist. Das alles ist schon so lange her. Es gibt verschiedene Legenden über den Totenkopfberg.»

«Was sind Legenden?»

«Das sind seltsame Geschichten von früher», versuchte Veronika zu erklären.

«Dann gibt es also noch andere Geschichten über den Totenkopf?»

«Na ja, vielleicht, aber ich kenne auch nicht alle.»

Veronika wusste natürlich, dass der Totenkopf vermutlich deshalb so hiess, weil hier einst Hinrichtungen stattgefunden hatten, die der Kaiser angeordnet hatte. Mehrere Männer waren hier oben enthauptet worden. Doch diese Geschichte wollte sie ihrer Tochter nicht zumuten. Zumindest nicht um diese Uhrzeit.

«Erzähl alle Geschichten, Mama», bettelte Janina.

«Der Totenkopf war ein Vulkan», meldete sich Christian nun zu Wort. «Er ist der höchste Berg des Kaiserstuhls. Das ist eine der wärmsten Gegenden Deutschlands wegen der Burgpf…, wegen der Bugu…»

«Wegen der Burgundischen Pforte, du Klugscheisser», ergänzte Andreas und lachte. «Und was ist die Burgundische Pforte?» Andreas blieb stehen und leuchtete seinem Sohn mit der Taschenlampe ins Gesicht.

«Das ist die … also da kommt der Wind aus dem Burgund zwischen dem Jura und den Vogesen hindurch. Und dieser Wind ist ganz warm.»

«Genau. Deshalb gibt es hier manchmal Warmlufteinbrüche», erklärte Andreas und ging dann weiter.

«Wo ist denn der grosse Mann vom Totenkopfberg hin, Mama?», wollte Janina nach wenigen Schritten wissen. «Und warum brennt das grosse Feuer nicht mehr?»

«Weil der Vulkan längst erloschen ist, du dummes Huhn», sagte Christian.

«Hey, hey!», mahnte Veronika. «Vielleicht ist der Mann auch einfach weggegangen und hat das Feuer mitgenommen.»

«Wie hat er das Feuer mitgenommen?», wollte Janina wissen.

Veronika antwortete nicht mehr. Sie war müde und ausgelaugt. Zwar war es ihre Idee gewesen, die Sommerferien daheim zu verbringen. Die Familie hatte eben erst ein Haus gekauft, die finanzielle Lage war deshalb etwas angespannt, und auf Billigferien irgendwo in einer schäbigen Ferienanlage hatte Veronika keine Lust gehabt. Mittlerweile war sie sich allerdings nicht mehr so sicher, ob der Heimurlaub ein guter Einfall gewesen war. Die Kinder jeden Tag auf Trab zu halten, war anstrengender, als einfach am Strand zu liegen. Jetzt freute sie sich sogar auf den Europapark in Rust, den sie in den nächsten Tagen besuchen wollten. Obwohl sie Freizeitparks hasste, wusste sie ganz genau, dass sie sich für ein, zwei Stunden irgendwohin setzen und ein Buch lesen könnte, während ihr Mann mit den Kindern die verrücktesten Achterbahnen hinuntersausen würde. Sie müsste sich in dieser Zeit keine Geschichten für ihre Tochter ausdenken und keine Antworten auf die naturwissenschaftlichen Fragen ihres Sohnes geben, die sie sowieso überforderten. Sie war zwar Lehrerin wie ihr Mann Andreas. Trotzdem fragte sich Veronika manchmal, ob sie als Eltern nicht zu dumm und zu phantasielos waren für ihren Nachwuchs.

Die Familie kam nun zu einem breiten Weg. Die Kinder schnappten sich die Taschenlampen ihrer Eltern und rannten voraus. Andreas und Veronika gaben sich die Hand.

«War doch ein toller Ausflug», sagte Andreas. «Christian war hin und weg von seinen Sternen und Sternschnuppen.»

«Schön. Ihr wart ja auch lange auf diesem Turm. Mir fiel keine sinnvolle Geschichte mehr ein, sorry. Aber Janina wollte noch eine und noch eine hören. Ich bin fix und fertig. Und es ist kalt. Und ich bin müde. Und überhaupt.»

Andreas umarmte seine Frau und gab ihr einen Kuss. Dann gingen sie eng umschlungen weiter.

«Hey, wartet auf uns!», rief Veronika den Kindern zu. Andreas und Veronika rannten zu ihnen. Dann liefen alle vier Hand in Hand weiter Richtung Oberrotweil.

Es war bereits kurz vor 1 Uhr, als sie eine kleine Wanderhütte erreichten. Janina wollte noch eine Geschichte hören und Christian wieder den Sternenhimmel beobachten. Doch die Eltern meinten, es sei nun wirklich spät und höchste Zeit, ins Bett zu kommen.

Der Weg führte durch die Rebberge, dann wieder in den Wald hinein. Das Zirpen der Grillen war zu hören. Und einige Geräusche und Laute aus dem Wald, deren Ursprung nicht eruierbar war.

Andreas, der mit der Taschenlampe vorausging, nahm den seltsamen Gestank als Erster wahr, sagte aber nichts.

«Du, Andy, riechst du das auch?», sagte kurz darauf seine Frau. «Da brennt es irgendwo.»

«Ja, da unten ist doch eine Feuerstelle», antwortete Andreas gelassen. «Ein paar Jugendliche feiern wohl eine Party.»

Von einer Party war allerdings nichts zu hören.

«Das ist doch keine Party, Andreas. Es riecht auch so seltsam. Ganz und gar nicht nach leckeren Grillwürsten.»

Drei Minuten später kamen sie aus dem Wald und sahen hinunter auf den kleinen Parkplatz, bei dem eine Grillstelle eingerichtet war. Tatsächlich brannte dort ein Feuer. Jugendliche waren nicht zu sehen. Auch keine Autos, Motor- oder Fahrräder.

«Seltsam», sagte Andreas und wies die Kinder an, da zu bleiben und nicht zu reden. Die Situation war ihm nicht geheuer.

«Schau, Mama, da ist doch das Feuer vom …»

«Pssst», machte Veronika und flüsterte ihrem Mann zu: «Wollen wir nicht einen anderen Weg nehmen?»

«Wird schon nichts sein», antwortete Andreas. «Sonst müssen wir das ganze Stück wieder zurück. Kommt, gehen wir einfach weiter.»

Nach einigen Schritten blieb Andreas stehen: «Riecht ihr das auch?»

«Was?», fragte seine Frau.

«Das riecht doch nach verbranntem Fleisch.»

«Ich würde sagen, es riecht vor allem nach verbrannten Haaren.»

Janina und Christian drückten fest die Hände der Eltern.

«Los, gehen wir weiter», flüsterte Andreas.

Das Feuer loderte. Funken stoben. Die Flammen waren gut ein, zwei Meter hoch. Die Familie erreichte die kleine Strasse. Die Feuerstelle lag etwa 20 Meter vor ihnen.

«Hallo, ist da jemand?», rief Andreas plötzlich und blieb erneut stehen.

Doch ausser dem Knistern des Feuers war nichts zu hören.

«Hallo, jemand da?»

Der Geruch nach verbranntem Fleisch und angesengten Haaren war jetzt sehr penetrant.

«Los, geht weiter, ich schau mal nach», sagte Andreas.

«Pass auf, Andy», mahnte seine Frau.

Veronika und die Kinder liefen rasch an der Feuerstelle vorbei und rechts hinunter der Strasse entlang Richtung Dorf. Andreas ging einige Schritte näher zum Feuer, rief nochmals laut, ob jemand da sei. Er überlegte sich, ob er das Feuer selbst löschen oder die Feuerwehr rufen sollte.

«Schon gut, ich bin da hinten», meldete sich plötzlich eine Männerstimme. «Gehen Sie einfach weiter. Ich habe das Feuer unter Kontrolle.»

«Was machen Sie hier, wo sind Sie?»

«Gehen Sie weiter, da ist nichts, ich übernachte hier und habe mir etwas grilliert.»

«Das riecht aber verbrannt. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Brauchen Sie …»

«Sie sollen endlich weitergehen, verdammt!»

Andreas starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam, konnte aber niemanden entdecken. Das ist wohl kein Einheimischer, dachte er, denn der Typ spricht Hochdeutsch, nicht Dialekt.

«Wo sind Sie denn?», fragte Andreas laut.

«Hauen Sie ab!»

Plötzlich erkannte Andreas eine Gestalt. Obwohl es Hochsommer war, trug der Mann dicke Kleider, für Andreas sah es so aus, als stecke der Kerl in einem Skianzug mit Helm. Wohl eher ein Motorradfahrer, sagte sich Andreas. Wo hatte der denn seine Maschine?

«Haben Sie eine Panne mit ihrem Motorrad?»

Der Mann antwortete nicht.

Dann krachte ein Schuss.

Andreas rannte davon. Er spurtete zu seiner Familie und schrie: «Lauft! Lauft! Lauft!»

Ein zweiter Schuss knallte. Und ein dritter.

Dann waren nur noch die Schreie der Kinder zu hören.

24. Dezember

GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN, SCHWEIZ

«Pass auf und komm nicht zu spät zurück, wir feiern um …»

«… um 18 Uhr, wie jedes Jahr, Mama!»

Myrta gab ihrer Mutter einen Kuss und schnappte sich eine Karotte von der Küchentheke.

«Mein Grosser bedankt sich für dein Weihnachtsgeschenk», sagte sie und verliess die Küche. «Also tschüss!», rief sie laut, wobei sie das Tschüss in die Länge zog und zweisilbig betonte: Tschü-üss. Dann trat sie in die Kälte hinaus.

Ihr «Grosser» hiess Mystery of the Night und war ein 23jähriger Rappe. Er stand angebunden vor dem Stall und blickte zu seiner Reiterin. Myrta gab ihm die Karotte, band ihn los und schwang sich auf den grossen Hannoveraner Wallach. Sie tätschelte seinen Hals.

«Los, Mysti, auf geht’s!»

Myrta hatte das Pferd zum zehnten Geburtstag von ihren Eltern geschenkt bekommen. An jenem Morgen war sie erst fürchterlich enttäuscht gewesen: Statt eines richtigen Geschenks hatten ihr die Eltern nur eine Karte überreicht. Auf der stand geschrieben: «Mysti für Myrta». Erst als sie hinaus zum damals noch jungen Mystery of the Night geführt worden war, war sie in Freudengeschrei ausgebrochen. Dass der Name des Pferdes zu ihrem passte, war ein glücklicher Zufall. Oder fast: Eigentlich hatte sich Myrtas Vater schon für ein anderes Pferd entschieden, als ihm ein Züchter aus dem Nachbarsort Mystery angeboten hatte. Er kostete zwar 3000 Franken mehr, aber das war ihm dieser glückliche Zufall wert gewesen.

Myrta liess Mysti eine Viertelstunde im Schritt laufen. Es ging leicht bergauf Richtung Andwiler Moos. Dann, auf einem langen geraden Feldweg, gab sie Mysti den Befehl, in Trab zu wechseln. Der Schnee unter den Hufen knirschte, die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen. Myrta war gut eingepackt, sie genoss die glasklare Luft, diese prickelnde Kälte in ihrem Gesicht. Der Rückenschutz, der sie im Sommer zum Schwitzen brachte, wärmte sie jetzt zusätzlich. Und unter dem Helm trug sie eine dünne Thermomütze. Am Ende des Weges liess Myrta ihr Pferd wieder in Schritt fallen. Mysti schnaubte. Aus seinen Nüstern stiegen kleine Wolken auf, die kurz in der Abendsonne herumwirbelten und sich dann auflösten.

Das sieht aus wie in einem Comic, dachte Myrta und lächelte.

Sie hatte als Kind Lucky-Luke-Hefte gelesen. Nicht wegen Lucky Luke, sondern wegen seines Pferdes Jolly Jumper. Und wegen Rantanplan, dem Hund. Die Hefte hatte sie heimlich lesen müssen. Martin, ein Junge aus dem Dorf, hatte ihr manchmal welche gegeben. Denn bei ihr zu Hause waren Comics tabu. Hatte irgendwas mit der Rudolf-Steiner-Schule zu tun, die sie besuchte. Aber was, wusste sie nicht. Und später interessierte es sie nicht mehr.

Sie schnallte den Helm ein bisschen enger, schloss die Jacke bis zum letzten Zacken des Reissverschlusses und nahm die Zügel fest in die Hand. «Na, Grosser, bereit für einen Galopp?»

Ab ging’s. Quer über ein Feld. Die Höhe und Konsistenz des Schnees waren genau richtig für einen tollen Ritt. Mystery of the Night legte ein ordentliches Tempo vor. «Yeah!», schrie Myrta. «Wie in alten Tagen: Myrta und Mysti in flottem Galopp.»

Das war ein bisschen übertrieben. Mysti war zwar für sein Alter wirklich fit, allerdings wurde er nach drei, vier Minuten merklich langsamer. Myrta liess ihren Liebling auslaufen, um dann in gemütlichen Schritt zu wechseln. Wieder blies er kleine Wolken aus, diesmal allerdings etwas grössere und schneller hintereinander.

Myrta war gerade sehr glücklich. Die Arbeit, der ewige Fast-Freund, das komplizierte Leben – alles war weit weg. Sie und ihr Pferd. Das war eine Verbindung, die durch nichts erschüttert werden konnte. Obwohl sie jahrelang in Köln gelebt hatte, jetzt in Zürich wohnte und meistens nur an den Wochenenden nach Hause zu ihren Eltern und zu Mystery nach Engelburg kam, hatte sich in dieser Beziehung nichts geändert. Noch immer spitzte Mystery of the Night seine Ohren und streckte seinen Hals aus der Box, wenn sie mit ihrem Auto vorfuhr. Und er war natürlich immer der Erste, der von ihr begrüsst, geküsst und umarmt wurde.

Die Sonne ging unter, es wurde kälter, Wind kam auf. Myrta genoss das Schaukeln auf ihrem Pferd, betrachtete die Weihnachtsbeleuchtung der Häuser, an denen sie vorbeiritt, und stellte fest, dass da und dort im Vergleich zum letzten Jahr ein paar Lämpchen dazu gekommen waren. In der Ferne waren unten die Stadt St. Gallen mit ihren vielen Lichtern und darüber in den Hügeln die Appenzeller Dörfer zu sehen. Auf den Strassen die Scheinwerfer der Autos. Alles Menschen, die unterwegs zu ihren Liebsten sind, dachte Myrta.

Zu ihren Liebsten?

Vielleicht. Sie war zwar bei ihren Eltern, bei ihrem Pferd, aber nicht bei ihrem Liebsten. Sie war noch nie an Heiligabend bei ihrem Liebsten gewesen.

Sie blickte auf die Uhr. Schon 17.30 Uhr! Höchste Zeit. Sonst bekäme Mama eine Krise. Ihre Schwester und ihr Bruder waren sicher schon da. Und das Filet im Teig im Ofen. «Los, Mister Mystery, heim zu Mama!»

Es war dunkel. Dank des Schnees aber trotzdem hell. Galopp. Der alte Hannoveraner gab Vollgas. Der Schnee wurde nach hinten weggeschleudert. Myrta sah den schwarzen linken Fuss von Mysti. Das war ein gutes Zeichen: Streckte Mysti die Vorderläufe so weit nach vorne, hatte er Spass und war motiviert. Nur der Fuss vorne links war schwarz, die drei anderen Füsse waren weiss. «Yeah!», schrie Myrta. Sie liess die Zügel fast los. Schloss die Augen. Blinzelte. Herrlich! Schloss sie wieder. Öffnete sie.

Das Pferd schnaubte. Plötzlich hatte Myrta das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte um sich, konnte aber nichts erkennen. Also konzentrierte sie sich wieder auf ihren Ritt. Aber irgendwie war sie jetzt angespannt. Das übertrug sich sofort auf das Pferd. Der Galopp wurde holprig. Myrta parierte Mystery, er fiel zurück in Schritt. Doch ihre Anspannung blieb. Der Wald vor ihr war rabenschwarz. Der Weg nach Hause führte da hindurch – ausser, so überlegte Myrta, sie machte einen grossen Umweg. Ach was, sagte sie sich und steuerte auf das Dunkel zu.

Mysti klappte die Ohren nach hinten.

«Musst keine Angst haben, Mysti, da vorne ist nichts», sagte Myrta laut zu ihrem Pferd. Und vor allem zu sich selbst.

Doch es nützte nichts. Im Wald sah sie Gestalten. Augen, die sie anfunkelten. Kameralinsen, die auf sie gerichtet waren. Auch die Geräusche waren ihr plötzlich unheimlich. Bloss Äste im Wind, sagte sie sich.

Kurz bevor sie den Wald erreichte, gab sie Mystery das Zeichen zum Galopp. «Los, schnell hindurch.» Mysti schnaufte und schnaubte.

Myrta kniff die Augen zusammen und versuchte, nur auf das Getrampel ihres Pferdes zu hören. Als sie sie wieder öffnete, waren bereits der Waldrand und das Schneefeld dahinter zu erkennen. Sie schloss die Augen erneut. Öffnete sie wieder, und schon war das Feld hinter dem Wald ein gutes Stück näher gekommen.

Es knackte und krachte neben ihr, aber das war ihr jetzt egal.

«Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …» kam ihr in den Sinn, das Gedicht vom unheimlichen Erlkönig, welches sie in der Schule auswendig gelernt hatte und nun vor sich hin murmelte. Ja, ja, die Waldorfschule. Gedichte gelernt, gemalt, musiziert, Eurythmie gemacht und wenig vom realen Leben begriffen. Ein Gedanke, der ihr jetzt aber gut tat, weil er sie ablenkte. Sie rezitierte laut: «Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm …»

Endlich ritt sie aus dem Wald.

Doch dann sah sie in einiger Entfernung rechts vor sich einen Mann mit einer Kapuze, der eine Sense über der Schulter trug. «Wie irre ist das denn?», hauchte Myrta und schloss erneut die Augen: «Der Erlkönig? Der Sensenmann?»

«Los, Mysti, los!», rief sie und blinzelte.

Der Kerl war nun deutlich am Horizont zu erkennen. Ob es wirklich eine Sense war, die er trug? Vielleicht einen Besen? Im Winter? Eine Schneeschaufel wahrscheinlich. Einen Weihnachtsbaum?

Myrta kniff die Augen zusammen und zählte laut Mystis Galoppsprünge. «Eins, zwei, drei …» Das Pferd schnaubte heftig. «… vier, fünf …» Auf zehn riss sie die Augen auf: Der Mann war weg.

Einige Sekunden später zuckte das Pferd zusammen, die Ohren schnellten nach hinten, der Galopp endete jäh. Myrta flog über Mystis Hals, machte einen Salto und krachte kopfvoran durch den Schnee auf den Boden. Es wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hörte dumpfes Getrampel, das aber schnell leiser wurde. Mysti galoppiert davon, dachte sie, hoffentlich passiert ihm nichts.

LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND

«Geh endlich nach Hause, Phil», sagte Mette Gudbrandsen und legte die Hand auf seine Schulter. «Du wirst es schaffen. Aber nicht mehr heute. Erstens ist heute Sonntag und zweitens Heiligabend.»

«Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich sollte nach Hause gehen. Und ja, ich, das heisst wir werden es schaffen.»

«Nein, du. Ich habe dir nur den Weg geebnet und dich beraten. Aber jetzt ist Weihnachten. Deine Frau wartet sicher auf dich.»

«Mary ist es gewohnt, auf mich zu warten. Wir müssen es schaffen. Unser Chef bringt uns um, wenn wir nicht endlich das Schlussresultat liefern. Ich kann bald nicht mehr, jede Nacht nur zwei, drei Stunden Schlaf …»

«Eben. Geh endlich.»

«Okay. Und was wirst du tun?»

«Ich werde ebenfalls nach Hause gehen, mir eine Flasche Bordeaux gönnen und lange mit meiner Familie in Trondheim skypen.»

«Skypen?»

«Telefonieren übers Internet, mein Lieber. Alles, was nicht mit Wissenschaft zu tun hat, scheint dir relativ fremd …»

«Nein, nein, liebe Mette», unterbrach Phil Mertens und lächelte sie an. «Ich bin mittlerweile auf Facebook, Twitter, Xing, LinkedIn und, ähm …»

«Google plus. Alle sozialen Netzwerke, die ich dir eingerichtet habe.»

«Na ja. Mittlerweile bin ich ganz up-to-date und kenne sogar die komischen Internetkürzel und -zeichen. Und im Übrigen gehöre ich mit meinen fünfzig Jahren langsam zum alten Eisen.»

«Genau, alter Mann!», sagte Mette und lächelte Phil an: «Los, hau endlich ab!»

Phil Mertens fuhr den Computer hinunter, stand auf und zog seinen Barbour-Mantel und die Jack-Wolfskin-Fleecemütze an.

Er breitete seine Arme aus: «Komm her!»

Mette Gudbrandsen kam auf ihn zu, liess sich in die Arme nehmen, und da sie dank ihrer Stiefel mit etwa sechs Zentimeter hohen Absätzen gleich gross war wie Phil, berührten sich ihre Wangen.

«Merry Christmas», sagte Phil.

«Merry Christmas», sagte Mette. «God jul, wie es auf Norwegisch heisst. Og godt nytt år.»

«Happy New Year. Aber wir werden uns noch vor Neujahr sehen.»

«Meinst du?»

«Yeah. Wir müssen es noch in diesem Jahr schaffen. Du weisst, was wir der Geschäftsleitung garantiert haben.»

«Den Schlussbericht vor Weihnachten.»

«Die feiern sicher schon.» Phil Mertens gab Mette einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.

“God jul”, wiederholte Mette.

WALD BEI ENGELBURG, ST. GALLEN

Es war nur ein kurzer Moment, in dem Myrta das Bewusstsein verloren hatte. Jedenfalls konnte sie Mystis Galopp noch ganz, ganz leise hören. Vielleicht bildete sie sich das auch ein. Denn nachdem sie aufgestanden war und festgestellt hatte, dass sie den Sturz wohl heil überstanden hatte, glaubte sie, den Galopp noch immer zu hören.

«Toll», sagte sie leise vor sich hin, «meine Familie wird sich schlapp lachen, wenn Mysti ohne mich zur Weihnachtsfeier kommt.»

Sie wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und klopfte die Kleider ab. Dann griff sie in die Innentasche ihrer Jacke, holte ihr iPhone heraus und wählte die Nummer ihrer Eltern.

«Hey!», rief jemand.

Myrta unterbrach den Rufaufbau und steckte das Handy in die Tasche zurück.

«Hey!»

«Ja! Ich bin hier!», schrie Myrta zurück. Schauderte aber plötzlich: Was, wenn das der Mann mit der Sense war?

«Sind Sie die Reiterin?», schrie der Jemand zurück. Es war die Stimme eines Mannes. Myrta antwortete nicht. Allmählich konnte sie in einiger Entfernung im Schnee einen dunklen Fleck ausmachen, der sich bewegte. Je näher dieser kam, desto deutlicher erkannte sie, dass es wohl zwei Flecken waren, und dann war auch schnell klar, dass der eine Fleck eine Person war und der andere ein Pferd. Wenig später schimmerte der weisse Punkt auf der Stirn des Pferdes durch die Nacht.

«Mysti!», rief Myrta, so laut sie konnte, und stapfte durch den Schnee auf ihr Pferd zu.

Mysti wurde an den Zügeln von einem Mann geführt, der eine grosse, dunkle Mütze mit Ohrenschutz aufhatte.

«Sind Sie verletzt?», fragte der Mann.

«Nein, alles klar. Danke, dass Sie mein Pferd eingefangen haben.» Myrta konnte sein Gesicht nicht erkennen, die Mütze verdeckte zu viel davon.

«Kein Problem. Mystery kennt mich ja.»

«Oh, Sie kennen mein …» Myrta hielt inne und starrte den Mann an. «Bist du das, Lucky?»

«Ja. Hallo Myrta, habe dich zuerst auch nicht erkannt!»

«Wow, ewig nicht gesehen! Lucky Luke …»

«Also, ehrlich gesagt, es nennt mich eigentlich niemand mehr so.»

«Oh sorry, klar, Martin natürlich!» Myrta war es ein bisschen peinlich. Aber Martin war wegen seiner Lucky-Luke-Hefte von allen Kindern immer Lucky Luke genannt, gar als Möchtegern-Lucky-Luke verspottet worden. Myrta wandte sich ihrem Pferd zu und kontrollierte, ob es sich verletzt hatte.

«Danke, Martin, nichts passiert!»

«Warum bist du denn gestürzt?»

«Nun, das war sehr seltsam, ich habe plötzlich …» Myrta stockte. Dass sie den Sensenmann gesehen hatte, hielt sie nun für völlig verrückt. «Keine Ahnung, wie es dazu kam», sagte sie schnell. Da Martin nicht weiterfragte oder sonst etwas sagte, entstand eine Pause. Sie konnte sich nicht erinnern, mit ihm je über was anderes als über Lucky Luke, Jolly Jumper und Rantan-plan gesprochen zu haben. Und auch nur ein paar wenige Sätze. Sie war sich jedoch sicher, dass Martin früher für sie geschwärmt hatte. Ebenso überzeugt war sie davon, dass er es gewesen war, der damals in die Holzwand von Mysterys Stall M+M+M und ein Herz geritzt hatte. Aber ausser als Comics-Lieferant war er für Myrta nie interessant gewesen, sie hatte ihn, den pummeligen Bauernbub, sonst kaum beachtet.

«Na, dann, Martin», sagte Myrta jetzt. «Ich muss los. Frohe Weihnachten. Und danke nochmals.»

«Ja, dir auch. Frohe Weihnachten.»

Myrta wollte sich in den Sattel schwingen, doch es wurde ihr schwindlig, und sie fiel erneut in den Schnee. Dabei spürte sie einen heftigen Schmerz im linken Knie. Sie schrie kurz auf. Da klingelte auch noch ihr Telefon.

«Martin, kannst du mal abnehmen? Ist sicher Mama. Beruhige sie einfach, ich mag nicht reden mit ihr. Das Handy ist in meiner linken Innentasche.»

Martin fischte vorsichtig das Handy heraus und sprach mit Myrtas Mutter, gehemmt, in einem holprigen Schweizer Hochdeutsch, denn die Tennemanns waren Deutsche, Frau Doktor und Herr Professor Tennemann. Martin kannte Myrtas Eltern gut, weil er seit Jahren zu Mystery schaute. Sie sagten Du zu ihm, er ihnen Sie.

Er versprach mehrmals, Myrta und Mysti nach Hause zu begleiten und, nein, ein Notarzt sei nicht nötig, ihrer Tochter gehe es so weit gut und dem Pferd auch.

«Danke, Luck… äh, Martin», sagte Myrta, nachdem er ihr das Telefon zurückgegeben hatte. «Also los, bring die dumme Tussi mit ihrem Pferd heim zu Mama.»

Myrta stand auf, spürte erneut den stechenden Schmerz im Knie und bat Martin, ihr zu helfen. Schliesslich legte sie ihren linken Arm um Martins Hals und humpelte neben ihm durch den Schnee heimwärts. Mystery trottete links von Martin.

Nach einigen Minuten fragte Myrta: «Wo feierst du Weihnachten? Mit der Familie? Mit deiner Frau, deinen Kindern?»

«Nein. Alleine. Meine Eltern sind bei meinem Bruder eingeladen.»

Myrta hätte nun einige Fragen nachschieben wollen, doch sie sagte sich, dass sie nicht als Journalistin hier war. Deshalb schwieg sie.

Das Knie tat wirklich weh. Myrta hielt sich mit ganzer Kraft an Martin fest. Obwohl sie und auch Martin in dicke Jacken eingepackt waren, glaubte Myrta, seine kräftigen Muskeln zu spüren. Erst war es ihr unangenehm, so nahe mit dem Typen zusammen zu sein, der früher als Pseudo-Lucky-Luke gehänselt worden war. Doch dann fand sie es plötzlich schön. Martin war ein Mann, ein richtiger Kerl. Gross und stark. Und gar nicht mehr dick und schwabbelig. Den Schmerz in ihrem Knie bemerkte sie kaum noch.

Dafür schlug ihr Herz umso heftiger.

«Feierst du mit uns Weihnachten?», fragte Myrta plötzlich.

Martin sagte nichts. Myrta spürte allerdings, wie sich Martins Muskeln spannten.

«Zum Dank, dass du mich und Mysti vor dem Sensenmann gerettet hast», sagte Myrta und liess dem Satz ein etwas gekünsteltes Lachen folgen.

«Hey, so schlimm war der Unfall nun auch wieder nicht.»

«Also kommst du?»

«Ich weiss nicht …»

«Schön», meinte Myrta. «Meine Familie wird sich freuen. Und ich mich auch.»

25. Dezember

CORVIGLIA, ST. MORITZ

Joël stand seit gut einer Stunde vor der Bergstation der Standseilbahn. Er trug einen neuen weissen Spyder-Skianzug mit einer grossen schwarzen Spinne auf dem Rücken und neue, weisse Salomon-Skischuhe. Dieses Outfit hatte ihn über 2000 Franken gekostet, was er sich eigentlich nicht leisten konnte. Doch Joël war sich bewusst, dass es zu seinem Job gehörte, mit den Schönen und Reichen einigermassen mitzuhalten, um nicht von Vornherein als Schmuddelfotograf abgetan zu werden.

Die neuen Stöckli-Ski hingegen waren gemietet. Joël hatte sie in den Skirechen gestellt, um frei vor der Bergstation herumlaufen zu können. An seinem Hals baumelte seine neue Nikon-Kamera D4 mit einem lichtstarken Zoom-Objektiv 24-70 mm. Darauf montiert hatte er das Blitzgerät, das er an einen externen, schweren Akku angeschlossen hatte. Diesen hatte er an einem Fotoharnisch festgemacht, den er unter seinem Skidress trug. So blieb der Akku auch einigermassen warm, denn bei dieser Kälte ginge ihm sonst schnell der Saft aus.

Joël hatte bisher 47 Bilder geschossen, die allerdings praktisch wertlos waren: einige hübsche Mädchen, die ihn angelächelt und um ein Foto gebeten hatten, und dabei ihre Jacken so weit geöffnet hatten, dass ihre vollen Busen deutlich unter den teuren Shirts zu erkennen gewesen waren. Sie hatten ihm ihre Mailadressen zugesteckt, und falls er daran dachte, würde er ihnen die Bilder auch schicken. Fotografiert hatte er die Girls nur, um sich die Zeit zu vertreiben und ein wenig zu flirten.

Joël wartete auf Prominente.

Dank seiner Beziehungen zu Hoteliers, Sportläden- und Boutique-Inhabern sowie Skilehrern – und vor allem Skilehrerinnen – wusste er ziemlich genau, wer Weihnachten und Neujahr in St. Moritz verbrachte. Es waren vor allem reiche Russen, Italiener und ganze Generationen von Deutschen. Es war bloss eine Frage der Zeit, wann sie ihm vor die Kamera laufen würden und er die Bilder an Fotoagenturen und Medien verkaufen könnte. Da sein Geschäft mit Prominenten im November und Anfang Dezember schlecht gelaufen war, musste er nun Umsatz machen.

Joël schaute besorgt zum Himmel. Es zogen immer mehr Wolken auf. Das passte ihm gar nicht. Denn der Durchschnitts-Promi war ein Schönwetter-Skifahrer. Und da es zudem minus 15 Grad kalt war und der Wind auffrischte, sank die Wahrscheinlichkeit, dass demnächst irgendwelche bekannte Leute aufkreuzen würden, noch mehr. Ausserdem kamen Schlechtwetter-Fotos bei den Illustrierten nicht gut an. Die Fotoredakteure verlangten in der Regel strahlende Gesichter unter strahlender Sonne und stahlblauem Himmel.

Da Joël zu frieren begann und es bald Mittag war, beschloss er, die diversen Restaurants, Schneebars und Skihütten abzuklappern. Vielleicht hatte er dort mehr Glück. Im Gourmetrestaurant «La Marmite» der Bergstation Corviglia sassen schon einige Gäste, allerdings nicht solche, die für Joël interessant waren. Giovanni, der Oberkellner und Joëls «Spion», meinte nur, alle Tische seien reserviert, und es lohne sich nicht, an der Bar zu warten, bis etwas frei würde. Hätte Giovanni gesagt, er solle doch einen Moment an der Bar warten, wäre dies für Joël das Zeichen gewesen, dass sich echte Promis angekündigt hatten.

Es war ein Spiel.

In der Alpina-Hütte, einem Clublokal neben der Bergstation, zu dem meistens nur geladene Gäste Zutritt haben, hatte Joël mehr Glück. Der Türsteher liess ihn herein und gewährte ihm fünf Minuten. Joël drückte ihm eine 50er-Note in die Hand und ging an die Wärme. Im Entree blieb er stehen und wartete. Aus dem Speisesaal drangen viele fröhliche, laute Stimmen. Doch Joël war nicht bereit. Denn wegen der hohen Luftfeuchtigkeit im Raum hatte sich die Linse seiner Nikon beschlagen. Joël musste das Objektiv mehrmals mit einem Tuch abwischen, aber die Linse lief immer wieder an. Er schaltete das Blitzgerät ein. Dann betrat er den Speisesaal.

Die Leute waren noch beim Apéro. Die Damen hielten Champagner-Gläser in der Hand und versuchten, in den klobigen Skischuhen einigermassen elegant dazustehen. Die meisten Herren tranken Weissbier und waren bereits ziemlich angeheitert.

Joël entdeckte Chris, einen seiner Skilehrer-Freunde: “Hey, was geht ab?»

«Ach, kleine Privatparty. Bin heute noch keinen Meter Ski gefahren. Die wollten gleich in die Hütte.» Chris war lieber Skilehrer als Promi-Betreuer. Aber das gehörte eben zum Geschäft.

«Wer sind denn die Leute?», fragte Joël, der kein einziges Gesicht erkannte.

«Der dort hinten», Chris zeigte auf einen älteren Mann, der einen knallgelben Pullover trug, «ist Franco. Franco Medina, Unternehmer aus Mailand.»

«Den kennt doch keine Sau.»

«Doch, in Italien schon.»

«Hast nichts Besseres zu bieten, Chris?», meinte Joël leicht säuerlich.

«Da ist Josefina, die war beim italienischen Fernsehen in einer Castingshow.»

«Das ist gut! Danke!»

Joël liess Chris stehen und kämpfte sich durch die schwatzenden Menschen zu Josefina, einer stark geschminkten, etwa 2ojährigen Blondine.

«Salute, Josefina, come va? Tutto bene?» Obwohl er diese Frau noch nie in seinem Leben gesehen hatte, schlug Joël gleich einen vertraulichen Ton an.

Der Trick funktionierte einmal mehr. Josefina fiel ihm um den Hals, Küsschen, Küsschen und dazu viel italienischer Text, den Joël zwar nicht verstand, aber so deutete, dass sie sich sehr freue, ihn wiederzusehen. Auf Englisch fragte er dann, ob er einige Fotos machen dürfe. Für die Zeitung, fügte er hinzu, allerdings ziemlich leise.

«Oh, yes, feel free!», antwortete Josefina und warf sich in Pose.

Joël reinigte nochmals die Linse, zielte und drückte ab. Danach stürmte Josefina zu dem Mann im gelben Pullover, Franco Medina, der offensichtlich ihr Papa war. Sie drückte sich an ihn und lächelte in die Kamera. Dann gesellte sich noch eine ältere Dame hinzu, hässlich geliftet und noch hässlicher geschminkt, und Joël drückte noch ein paar Mal ab.

«Grazie, Mama!», sagte Josefina zu der Dame und küsste sie. «Grazie, Papa!» Küsschen, Küsschen. Und auch für Joël gab es nochmals Küsschen.

Danach drängten sich bereits die nächsten Leute vor Joëls Kamera. Der Promi-Fotograf drückte ab, ohne noch irgendwelche Fragen zu stellen. Es spielte keine Rolle mehr, wen er fotografierte. Die italienischen Gazetten kennen die Leute schon, dachte er sich. Zudem kann ich die Fotos Franco Medina sicher direkt verkaufen.

Als Franco in die Hände klatschte und zu Tisch bat, war für Joël klar, dass es Zeit war, einen Abgang zu machen. Als Profi wusste er, wann dieser Moment gekommen war – bevor er den Leuten auf die Nerven ging.

Als er wieder draussen war, checkte er kurz die Fotos im Kameradisplay und war zufrieden. Der Anfang war gemacht. Er packte seine Ski, liess sie in den Schnee fallen und stieg in die Bindung. Dann fuhr er hinunter nach Marguns, einem weiteren Hotspot des St. Moritzer Skigebiets. Dort war promimässig aber gar nichts los. Auch in den übrigen Skihütten wurde er nicht fündig. Es war Weihnachten und dazu schlechtes Wetter, er konnte also froh sein, überhaupt etwas fotografiert zu haben.

Joël beschloss, die Promijagd abzubrechen und noch ein bisschen Ski zu fahren. Er verstaute die Kamera im Foto-Rucksack der Marke Think Tank, schaukelte mit dem Sessellift wieder zur Corviglia hoch und bestieg nach kurzer Abfahrt die Luftseilbahn zum Piz Nair. Er liebte diesen Berg. Da es ausser Wolken heute nichts zu sehen gab, fuhren lediglich zwei weitere Skifahrer mit ihm hoch. Es waren Deutsche. Der eine textete den anderen regelrecht zu, erklärte ihm, dass hier die Ski-Weltmeisterschaften 2003 stattgefunden hätten und sicher wieder einmal stattfänden, vielleicht sogar die Olympischen Spiele. Ach nein, die kämen ja nicht in Frage, das Volk habe diesen Grossanlass in einer Abstimmung abgelehnt. Diese Schweizer seien doch verrückt, diese Spiele nicht haben zu wollen. Jetzt, hier, hier müsse er gucken, hier sei der wahnsinnig steile Start der Herrenabfahrt: «Siehst du, da, nein, hinter dem Felsen, pass auf, ja genau, irre was?»

Joël nervte sich.

Dann erzählte der Typ, dass er damals während der WM für den Deutschen Skiverband gearbeitet habe und für die ganze Logistik und Sicherheit zuständig gewesen sei.

Joël spitzte die Ohren.

Er näherte sich den beiden und tat so, als schaute er zum Fenster hinaus, versuchte aber, die beiden Typen genauer zu betrachten. Der Kerl, der ununterbrochen geredet hatte, schwieg nun und musterte Joël. Danach wandte er sich wieder seinem Kollegen zu und meinte, das Wetter werde immer schlechter, und es bestehe kaum noch Hoffnung auf Sonne.

Joël bemerkte, dass der, der praktisch nichts gesagt hatte, ziemlich gut versteckt unter Helm und Jacke einen Knopf im rechten Ohr trug, das Kabel dazu verschwand hinten im Kragen.

Joël ging auf die andere Seite der Gondel, drehte den beiden den Rücken zu und holte seine Kamera aus dem Rucksack. Er zurrte seine Skijacke auf, hängte sich die Kamera um den Hals und schloss den Anzug wieder.

Er war jetzt kein Skitourist mehr, sondern wieder Reporter.

GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

«Hey, Lucky», sagte Myrta und wartete gespannt auf Martins Reaktion. Sie hatte ihr iPhone am Ohr und lief damit humpelnd in ihrem alten Mädchenzimmer auf und ab.

«Hey, Jolly Jumper», antwortete Martin.

Myrta musste lachen und freute sich, dass Martin ihren Scherz parierte.

«Ich habe deine Telefonnummer unter ‹Lucky Luke› gespeichert, ich hoffe, das ist okay für dich.»

«Deine Nummer finde ich unter M & M, Myrta und Mysti, oder wie die Schokobonbons.»

«Oh, wie süss …» Sie kicherte. Unterdrückte das aber schnell wieder, weil sie es teenagermässig fand. Sie strich sich durch ihr kurzes, dunkelblondes Haar. «Hast du Lust auf einen Spaziergang?»

«Ja, warum nicht», erwiderte Martin.

Falsche Antwort, dachte Myrta.

«Sehr gerne, wollte ich sagen», fügte Martin hinzu.

Myrta schmunzelte. «Gut, holst mich ab? Jetzt?»

“Okay!”

«Bye, Lucky.»

«Bye, Jolly.»

Sie warf das Handy auf die Kleider in ihrem Koffer und sagte leise vor sich hin: «Was mache ich da?» Dann legte sie sich aufs Bett, ihr altes Mädchenbett, und kuschelte sich an ihr Plüschpferd Black Beauty. Es war genauso schwarz wie Mysti, aber noch einige Jahre älter. Es lag immer da, auch wenn sie wochenlang nicht hier war. Ihre Gedanken flogen zurück in ihre Kindheit, sie erinnerte sich an all die Weihnachtsfeiern, die immer so schön gewesen waren.

Auch der diesjährige Heiligabend im Hause Tennemann war mehr oder weniger harmonisch verlaufen. Natürlich hatte Myrta lange Zeit wegen ihres Reitunfalls im Mittelpunkt gestanden. Alle hatten sich um sie kümmern wollen. Christa, die Frau von Myrtas Bruder Leon, untersuchte ihr Knie, konnte aber keine ernsthafte Verletzung feststellen. Damit gaben sich alle zufrieden, denn Christa war Ärztin. Allerdings nicht mehr praktizierend. Sie war Radio- und TV-Ärztin beim Schweizer Radio und Fernsehen. Und Mutter von zwei Kindern. Myrta mochte weder Christa noch die Kinder. Dafür ihren Bruder umso mehr.

Nachdem Martin Myrta und Mystery of the Night nach Hause gebracht hatte, war er kurz in seine Wohnung gegangen und hatte sich in Schale geworfen. Dass der einstige Dorfdepp Lucky Luke ein äusserst gutaussehender Mann mit dichtem schwarzem Haar und ebensolchen Augenbrauen geworden war, stellte Myrta sofort fest. Beruflich hatte sie zwar dauernd mit schönen Menschen zu tun. Was ihr aber besonders auffiel, waren Martins Hände. Sie waren nicht nur schön, sondern männlich. Dicke Adern, knochig, ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln. Myrta fand das sexy.

Die spontane Einladung fanden alle Tennemanns okay bis auf Christa, die lange mit grimmiger Miene ihrer Schwiegermutter auf Schritt und Tritt nachgelaufen und ziemlich penetrant – wie Myrta fand – versucht hatte, sich nützlich zu machen. Zudem quatschte sie dauernd über wissenschaftliche Dinge, um sich einzuschleimen. Doch weder Herr Professor Tennemann noch Frau Doktor Tennemann hatten Lust, an Heiligabend intellektuelle Gespräche zu führen. Die kleine Schwester Leandra hingegen bedrängte Myrta dauernd mit Fragen, flüsternd natürlich, was die Sache mit Martin zu bedeuten habe. Martin war äusserst souverän, selbst dann, als Papa Tennemann beim ersten Glas Champagner Duzis machte und sich mit Paul vorstellte. Mama Tennemann grinste verlegen, sagte beim Anstossen, sie sei die Eva, und wünschte Martin ein frohes Weihnachtsfest. Die etwas peinliche Situation wurde durch Christas und Leons Kinder entschärft, weil sie gerade dabei waren, der Tennemann’schen Katze Softie die bunt geschmückte Weihnachtstanne als Kletterbaum beliebt zu machen.

Der Abend wurde mit vielen Geschenken für die Kinder und reichlich Cognac für die Erwachsenen ausgeläutet. Als Martin nach Hause ging, verabschiedete er sich etwas übertrieben dankbar von Eva und Paul Tennemann, schüchtern von Leandra, Leon und Christa. Myrta begleitete ihn zu seinem Range Rover älteren Jahrgangs. Sie tauschten die Handy-Nummern aus und küssten sich rechts-links-rechts auf die Wangen.

Erst danach versuchte Myrta, an den selbstgebastelten Geschenken der beiden Kinder ihres Bruders Freude zu zeigen: eine miserable Zeichnung eines Pferdes und eine total verkrüppelte Kerze aus Bienenwachs. Bevor sie schlafen ging, checkte sie ihre Mails und SMS. Tatsächlich hatte sie auch von Bernd, ihrem ewigen Fast-Freund, eine Mitteilung erhalten. Er hatte über WhatsApp geschrieben: «Wünsche Dir eine schöne Heilige Nacht. Denke an Dich.»

«Ich sollte mich bereit machen», sagte Myrta nun und riss sich aus den Gedanken. Schnell stand sie auf und legte Black Beauty sorgfältig auf ihr Kopfkissen. Dann kauerte sie vor ihren Rollkoffer und überlegte, was sie für den Spaziergang mit Martin anziehen sollte. Da entdeckte sie Bernds Geschenk, das er ihr beim letzten Rendezvous in Köln überreicht hatte. Sie löste das silberne Band und riss das rote Papier weg. Zum Vorschein kam eine Schmuckbox, darin lag eine Perlenkette. Sie schloss die Box und legte sie in den Koffer zurück. Dann zog sie enge Jeans und eine rot-orange-farbene Strickjacke von Tulchan an. Myrta betrachtete sich im Spiegel. Sie erkannte eine junge Frau im englischen Landleben-Look, Rosamunde-Pilcher-Style, unschuldig und trotzdem ein bisschen verrucht-sexy, da die Strickjacke genau auf Po-Höhe endete. Myrta wuschelte sich die Haare, lächelte.

Sie war zufrieden.

BERGSTATION PIZ NAIR, ST. MORITZ

Die beiden Skifahrer, die mit Joël in der Gondel auf den Piz Nair hochgefahren waren, verliessen die Bergstation schnell, stiegen in ihre Bindungen und fuhren gleich los. Joël folgte ihnen mit einem gewissen Abstand. Nach kurzer Fahrt erreichten die beiden das Bergrestaurant Lej da la Pêsch. Sie hielten an, zogen die Ski aus und schauten zurück zum Berg, wo Joël wartete. Dann traten sie in die Hütte.

Joël flitzte am Restaurant vorbei zum Sessellift. Die Fahrt dauerte nur einige Minuten. Es war verdammt kalt. Es schneite, der Wind blies heftig, was sich im Gesicht wie Nadelstiche anfühlte. Oben angekommen, raste Joël die Piste hinunter, bis er einen Ort fand, von wo aus er die Berghütte sehen konnte. Dank seines weissen Spyder-Skianzugs war Joël gut getarnt. Er löste die Ski, legte sie in den Schnee, setzte sich darauf und wartete.

Nach rund 15 Minuten erschienen die beiden Deutschen, montierten ihre Bretter und bewegten sich langsam Richtung Sessellift. Joël wartete noch einen Augenblick, dann sauste er zur Hütte.

Viele Leute waren nicht drin. Ein paar Skifahrer in der hinteren linken Ecke, eine Familie mit drei Kindern in der rechten und ein Pärchen vorne rechts. Joël setzte sich an einen Tisch in der Mitte des Raums und bestellte bei einer jungen Kellnerin eine Ovomaltine.

Er beobachtete die Herrenrunde. Sie sprachen Hochdeutsch. Einer allerdings so holprig, dass man klar den Bündner Dialekt heraushören konnte. Er trug einen Skilehreranzug, doch Joël kannte ihn nicht. Er kannte zwar viele Skilehrerinnen und Skilehrer, aber eher die jungen. Dieser war um die 60, schätzte Joël. Er entsprach dem Klischee des Pistenhelden: braungebrannt mit dunklen, buschigen Augenbrauen, schneeweissen Zähnen.

Die Familie am anderen Tisch redete italienisch. Und das Pärchen konnte er nicht verstehen, es war zu weit weg. Die Herrenrunde und die Familie schienen dem Promi-Fotografen uninteressant. Blieb nur das Pärchen.

Er stand auf und ging Richtung Ausgang. Er schielte nach links. Den Mann sah er nur von hinten. Da Joël wegen seiner Skischuhe ziemlich Krach machte, schaute die Frau zu ihm hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Es dauerte eine Sekunde, dann schauten beide weg. Joël hatte diesen Moment festgehalten, er hatte ihn mit seinen Augen «fotografiert».

«Suchen Sie die Toilette?», fragte die Kellnerin, die gerade aus der Küche kam.

«Ähm, ja …»

«Die ist draussen.»

Er musste um die Hütte herum und eine Schneetreppe nach unten gehen. Dann, gleich neben der Piste, sah er zwei Türen; auf der einen war ein Steinbock abgebildet, auf der anderen eine Geiss. Er wählte die Türe mit dem Bock. Als er am Pissoir stand, ging er das Bild, das er vorher im Restaurant von der jungen Frau gespeichert hatte, im Detail durch. Grüne Augen, helle Pupillen, dezenter Lidschatten. Junges, hübsches Gesicht, markante Wangenknochen, gerade Nase, sehr glatte Haut. Schmale Lippen, ungeschminkt. Dunkelbraune, lockige, schulterlange Haare, mehrheitlich bedeckt durch eine blaue Wollmütze, Marke unbekannt. Weisse Fleecejacke mit glitzernden Sternchen, vermutlich Swarovski-Steine, teuer. Daneben auf der Bank eine silbrige Daunenjacke mit schwarzem Innenfutter von Bogner. Die junge Frau trank Weisswein. Sie sah glücklich aus. Verliebt? Vielleicht.

«Aber völlig unbekannt», flüsterte Joël, hämmerte mit dem rechten Skischuh auf die Spülung, wusch sich die Hände und ging wieder Richtung Gaststube.

«War wohl nix», sagte er sich. Die beiden Bodyguards waren vermutlich gar keine, und der Typ mit dem Knopf im Ohr und dem geringelten Kabel hatte vielleicht nur ein Spezialmodell eines Smartphone-Kopfhörers.

Joël betrat die warme Stube und «fotografierte» nun den Mann, der ihn allerdings nicht anschaute, sondern sich auf die Frau konzentrierte. Joëls Blick wurde abgelenkt, weil der Mann die Hände der Frau hielt. Er hatte behaarte, schöne Hände, feingliedrig, sauber, gepflegt. Sie hatte lange, schlanke, äusserst attraktive Hände, die Nägel rosa-schimmernd lackiert, ein bisschen unpassend.

Joël musste seinen Gang verlangsamen, um sich das Gesicht des Mannes einzuprägen. Als er nahe genug war, machte es in seinem Gehirn «klick» – Bild gespeichert.

Einen Sekundenbruchteil später spürte er, wie sein Magen, seine Brust und sein Hals zuckten und sich zusammenzogen.

AUF EINEM FELDWEG BEIM ANDWILER MOOS

Sie schlenderten durch das Schneetreiben und sprachen vorwiegend über die letzten zehn, fünfzehn Jahre. So lange hatten sich Myrta und Martin nämlich nicht mehr gesehen. Nachdem Martin in groben Zügen seinen Lebenslauf erzählt hatte – Ausbildung zum Landwirtschaftsmechaniker, zwei Jahre Lastwagenfahrer, Fachhochschule, Übernahme des elterlichen Bauernhofes –, fragte ihn Myrta nach dem Verbleib der anderen Kinder aus dem Ort. Martins kurze Schilderungen lösten bei Myrta immer wieder ein «Nein sowas!» oder ein «Das gibt es ja nicht!» oder einfach nur «Was, die ist schon dreifache Mutter!» aus. Wirklich Erstaunliches oder Verrücktes wusste Martin aber nicht zu erzählen.

«Und du, Myrta? Immer noch beim Fernsehen?», wollte Martin schliesslich wissen.

«Nein», antwortete Myrta kurz angebunden. «Nein, nein.»

«Aber du warst doch bei RTL …»

«Ja, hast mich mal gesehen?»

«Klar. Das war toll.»

«Ja, war es. Aber jetzt bin ich wieder in der Schweiz.»

«Schweizer Fernsehen?»

«Oh mein Gott, nein!»

Da Martin nicht nachfragte, was Myrtas Reaktion «Oh mein Gott!” bedeuten sollte, schwiegen sie einen Moment. Martin verstand nichts vom Fernsehen, und wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht besonders. Myrta überlegte deshalb, was sie dem einstigen Nachbarsbub, der damals als schräger, verschrobener Typ gegolten hatte, erzählen sollte. Sie wollte nicht überheblich klingen. Schliesslich hatte sie in ihrem Leben schon so viel Erfolg gehabt und schon so viel Geld verdient, dass Martin neidisch werden konnte. Davon ging sie jedenfalls aus.

«Ich bin jetzt Chefredakteurin der ‹Schweizer Presse›.»

«Was, tatsächlich? Toll!»

«Kennst du denn das Blatt?»

«Natürlich. Meine Eltern haben es immer noch abonniert. Aber ehrlich gesagt, lese ich es nicht so oft.»

«Weil du meinst, es sei immer noch ein Klatschheftli!»

«Ist es ja auch …»

«Hey, Lucky Luke, du bist immer noch der gleiche Vollpfosten wie damals», fiel Myrta ihm ins Wort, sie bückte sich und lud Schnee auf, den sie gegen Martin schleuderte. Dieser konnte aber ausweichen und griff nun seinerseits ins Weiss. Myrta rannte davon. Die kurze Schneeballschlacht endete damit, dass Martin ausrutschte. Er blieb auf dem Rücken liegen, und Myrta kniete sich neben ihn, um ihn zünftig einzuseifen. Dann liess sie sich neben ihn fallen. Sie spürte Martins Körper.

Es schneite noch immer.

«Deinem Knie scheint es ja wieder gut zu gehen», sagte Martin, nachdem er sich den Schnee aus dem Gesicht gewischt hatte.

Myrta hatte den gestrigen Reitunfall längst vergessen. Erst jetzt kam er ihr wieder in den Sinn. Und auch die seltsame Erscheinung des Sensenmanns.

«Sag mal, was hast du gestern eigentlich da draussen getrieben?», fragte Myrta. «Warum warst du plötzlich zur Stelle?»

«Ich war auf dem Heimweg vom Holzen. Warum fragst du?»

Myrta überlegte kurz, ob sie ihm ihr seltsames Erlebnis erzählen sollte. «Ach nichts. Ein glücklicher Zufall. Vielen Dank nochmals, dass du mir geholfen hast.»

Sie schwiegen. Beide lagen auf dem Rücken und liessen sich die Schneeflocken aufs Gesicht fallen.

«Hast du kalt?», fragte Martin nach einer Weile und schaute Myrta an.

«Nein.»

«Geht es dir gut?»

Myrta schaute den Schneeflocken zu, die auf sie zufielen. «Im Moment geht es mir sehr gut», sagte sie.

Sie drehte sich zu Martin, legte die Hand auf seine Brust und schaute ihm in die grossen, dunkelbraunen Augen. An seinen Brauen hingen winzige Schneeflöckchen.

BERGRESTAURANT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ.

Dort hinten sass also Luis Battista, der Schweizer Wirtschaftsminister, mit einer attraktiven Frau und hielt Händchen. Joël war sich sicher, dass es nicht Battistas Ehefrau war. Er hatte zwar weder Battista noch dessen Gattin je live gesehen, weil der Bundesrat und seine Familie aber häufig im Fernsehen und in Magazinen erschienen, kannte Joël sie bestens. Sie waren beide um die 40, hatten drei kleine Kinder und schienen die perfekte Familie abzugeben. Sie kamen aus Reinach, einer typischen Agglomerationsgemeinde von Basel. Battistas Wahl in das höchste politische Amt war eine für Schweizer Verhältnisse unglaubliche Glamour-Story: Der smarte Mann mit dem rabenschwarzen Haar und Grübchen in den Wangen galt als Hoffnungsträger, stand für eine neue und moderne Politikergeneration. Von den Boulevardmedien wurde er auch als John F. Kennedy oder Barack Obama der Schweiz tituliert.

Wenn Joël nun ein paar Bilder schiessen könnte, würde er locker ein paar tausend Franken verdienen. Er müsste es nur richtig anstellen und mit den verschiedenen Bildredakteuren geschickt verhandeln. Immerhin sass ein Politstar mit seiner Geliebten fast unmittelbar vor Joëls Linse. Joël müsste nur noch abdrücken.

Schade, dass es kein deutscher Politiker war, der würde ihm mehr einbringen. Viel mehr.

Joël ging auf Nummer sicher und liess seine Kamera erst mal unter seiner Jacke. Dafür nahm er das iPhone hervor und tat so, als würde er simsen, Mails checken oder auf Facebook surfen. Er wählte allerdings das Fotoprogramm und knipste unauffällig das Paar. Da Joël das künstlich erzeugte Kameraklicken ausgeschaltet hatte, war nichts zu hören. Er kontrollierte die Bilder und musste einsehen, dass er damit nicht das grosse Geld machen konnte: Battista war nur von hinten zu sehen, die Frau zwar von vorne, aber auch nicht gerade superscharf. Am besten waren die Swarovski-Steine auf ihrer Jacke zu erkennen. Aber immerhin hatte Joël schon mal etwas im Kasten. Und die beiden hatten nichts bemerkt. Er konnte also einen Schritt weitergehen.

Joël stand auf und schlenderte Richtung Theke, als suche er etwas. Als er von der Kellnerin angesprochen wurde, fragte er, ob sie Sonnencrème hätten. Die Kellnerin reichte ihm ein Körbchen mit kleinen Tuben und bemerkte, man müsse sich auch eincremen, wenn die Sonne nicht scheine. So wie heute.

Joël wühlte im Körbchen, holte sein Handy hervor, drehte sich um, Richtung Bundesrat Battista und der Frau, und tat so, als sehe er nicht richtig, was im Körbchen lag, und suche mehr Licht. Dabei hielt er das iPhone so, dass die Linse Richtung Battista zeigte, und drückte ein paar Mal auf den Auslöser.

Er angelte sich eine Tube Sonnencrème und wandte sich wieder der Kellnerin zu: «Danke, diese nehme ich!»

Er setzte sich, schmierte sein Gesicht mit dem Sonnenschutzmittel ein und kontrollierte danach seine neuen Aufnahmen. Eindeutig besser. Battista erkennbar, die Frau auch – sogar, dass sie Händchen hielten. Aber schlechte Bildqualität, unscharf, verwackelt.

Nun holte er seine Kamera aus der Jacke, putzte sie gründlich und legte sie dann auf den Tisch, so dass die Linse direkt auf das Paar gerichtet war. Sein Plan war, auf diese Weise noch einige Fotos zu machen und dann direkt auf den Bundesrat zuzugehen und ihn zu fragen. In der Schweiz waren Politiker immer noch gewöhnliche Menschen, die man in der Regel einfach anquatschen konnte. Ob dies unter den pikanten Umständen allerdings funktionieren würde, da war sich Joël nicht so sicher, deshalb machte er zuerst auf Paparazzo. Er unterlegte die Kamera mit einigen Bierdeckeln, um einen besseren Ausschnitt zu bekommen. Als er zum ersten Mal abdrücken wollte, stand plötzlich ein Mann vor seinem Tisch und verdeckte ihm die Sicht.

Joël erschrak, denn er hatte sich so auf seine Kamera und das Pärchen konzentriert, dass er nicht mitbekommen hatte, was sonst um ihn herum passiert war.

«Allegra», brummte der Mann. «Was gibt denn das?» Es war der Skilehrer mit dem braungebrannten Gesicht und den buschigen Augenbrauen vom Nebentisch, den Joël nicht kannte.

«Ähm, nichts …» stotterte Joël.

«Nichts? Dann ist ja gut.»

Der Kerl schaute zu den anderen Männern am Nebentisch. Sind das Bodyguards, Polizisten?, fragte sich Joël. Das kann nicht sein! Ein Bundesrat braucht das doch nicht. Und die beiden anderen Kerle aus der Gondelbahn, der eine mit dem Knopf im Ohr?

«Sind Sie Polizist? Und wenn ja, was ist los?», fragte Joël und kicherte verlegen.

«Nein, CIA!», sagte der Typ mit finsterer Miene. Doch dann lachte er und liess seine schneeweissen Zähne blitzen. Auch die anderen Männer grinsten. «Nein, kein Problem», meinte der Mann weiter. «Einfach keine Fotos machen, das ist privat hier, okay?»

«Ach, warum …»

Ob es okay sei, wiederholte der Kerl nun forsch.

«Hey, klar!», sagte Joël sofort und packte seine Kamera demonstrativ weg.

Er zahlte und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Bundesrat Battista drehte sich kurz zu ihm um. Sie schauten sich in die Augen. Joël lächelte ihn an und murmelte: «Allegra.»

Äusserlich schien Joël ganz ruhig. Innerlich kochte er. Erst als er auf dem Sessellift war und schon einige Meter hochgefahren war, brüllte er in den Wind und den Schnee hinaus: «Scheisse!»

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Martin hatte Myrta zu einem Tee eingeladen und servierte nun Champagner. Taittinger.

«Warum Taittinger?», wollte Myrta wissen.

«Keine Ahnung, fand den Namen irgendwie kurios für einen Champagner.»

«Wie bitte?»

«Taittinger klingt doch eher nach Bier, oder? Herb, stramm, deutsch!»

«Also bitte! Taittinger ist ein wundervoller Champagner aus Frankreich, das Gut gehört immer noch der Familie beziehungsweise es gehört ihr wieder, nachdem die Marke erst verkauft und dann mit grossem Tamtam wieder zurückgekauft worden ist.»

«Oha. Taittinger klingt nicht besonders franz…»

«Die Familie stammt ursprünglich aus dem Elsass.»

«Tja, da weisst du mehr als ich.»

«Ich bin die People-Tante, nicht du.»

«Ja, ich bin der Rossknecht …» Martin lächelte.

Myrta lächelte auch. Und dachte: Wie süss! Und: Er hat schöne weisse Zähne.

Der einstige Dorftrottel Lucky Luke war gerade dabei, Myrtas Herz zu erobern. Sie war sich zwar bewusst, dass sie schnell Feuer und Flamme für jemanden sein konnte und sich ruckzuck verliebte. Deshalb hatte sie nur zögerlich die Einladung angenommen, nach der Schneeballschlacht bei Martin einen Tee zu trinken. Da sie ein heruntergekommenes Bauernhaus mit einem muffigen Stall erwartet hatte, schlug ihr Puls beim Anblick des «Reiterhofs Sitter» so heftig, dass sie ihn in der Halsschlagader spürte. Vor dem Hof standen zwei Range Rovers, ein Mercedes, ein BMW und je ein Luxusmodell von Kia und Subaru. Myrta kannte sich mit Autos aus: Ihre journalistische Karriere hatte schliesslich bei einer Autosendung begonnen.

Von aussen sah der Bauernhof immer noch gleich aus wie früher: spitzes Dach, uralte graue Schindelfassade, graue Fensterläden. Die Fenster hingegen waren neu. Innen war alles modern, helles Holz, kleine Spots an der Decke, Möbel aus Eisen und Stahl. Keine Blumen, keine Deko, relativ kühl. Geschmacklos, fand Myrta, typischer Männerhaushalt, allerdings aufgeräumt und sauber.

Martin erzählte ihr, er habe den Hof seiner Eltern total umgekrempelt. Aus dem einstigen Landwirtschaftsbetrieb mit Milch- und Fleischwirtschaft habe er einen Reiterhof gemacht. Am meisten Umsatz erziele er mit der Pferdepension und dem Pferdeleasing. Eine kleine Reitschule, einige Ponys für die Kinder und noch ein bisschen Ackerbau für das Futter würden den Betrieb komplettieren.

Myrta wünschte sich eine Führung, fragte aber erst, wo das Bad sei.

Das war ihr persönlicher Lackmustest: Klo sauber, Lavabo glänzend, Spiegel mit mehreren kleinen Zahnpastapunkten unten rechts. Der kleine Schrank dahinter aufgeräumt. Gillette-Rasierer, Migros-Budget-Rasierschaum, After-Shave-Balsam von Nivea, Eau de Toilette von Paco Rabanne. Na ja, dachte Myrta. Daneben Zahnpasta aus der Migros. Und eine Zahnbürste. Eine.

Myrta registrierte dies erfreut.

Sie schloss den Schrank und prüfte sich im Spiegel. Sie war kaum geschminkt. Ihre grossen dunkelbraunen Augen kamen trotzdem wunderbar zur Geltung. Sie strich sich über die kurzen Haare. Danach rückte sie ihren ziemlich üppigen Busen im Büstenhalter zurecht, zupfte ein paar Mal an der rot-orangen Jacke und ging zurück zu Martin.

«Du hast gar keinen Weihnachtsbaum», sagte sie. «Das fällt mir erst jetzt auf.»

«Ach, das brauch ich nicht. Weihnachten findet bei mir im Stall statt.»

Wow, wie romantisch, Myrta lächelte, strahlte Martin an.

«Hey, was grinst du jetzt so dämlich?»

«Vollpfosten, ich lächle dich an», erwiderte Myrta und ergriff Martins Hand. «Los, zeig mir die Pferde!»

BERGSTATION LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Warten.

Joël hockte in seinem weissen Anzug im Schnee und wartete. Er hielt seine Kamera bereit. Er hatte nun das 600-mm-Objektiv von Nikon mit Bildstabilisator montiert. Ein sündhaft teures Teil, über 10000 Franken. Aber unabdingbar für Paparazzo-Einsätze.

Er fror. Wenn Bundesrat Battista mit der unbekannten Frau hochfuhr, schwebten sie praktisch an ihm vorbei. Und der Minister musste hier vorbeikommen. Es war die einzige Möglichkeit, um überhaupt von hier wegzukommen. Bei allem Pech: Immerhin dies sollte klappen.

Joël sah das Foto bereits vor sich: Battista kuschelnd mit der unbekannten Lady. Obwohl es Vierersessel waren, war sich Joël sicher, dass die beiden nur zu zweit hochfahren würden. Um zu knutschen. Was ihn hingegen störte, war, dass die Sessel mit Sturmhauben aus Plexiglas ausgestattet waren, damit die Fahrgäste vor Wind geschützt waren. Aber das konnte er nicht ändern, und schliesslich musste er mit dem Bild keinen Fotopreis gewinnen, sondern nur die beiden Köpfe erkennbar drauf haben, am besten küssend. Es ging nicht um Kunst, sondern um Geld.

Das Wetter wurde schlechter, der Schneefall und der Wind nahmen zu, und es war bereits 15.30 Uhr. Das bedeutete in dieser Jahreszeit Dämmerung – fototechnisch fast schon Nacht. Sessel um Sessel gondelte vorbei. Alle leer. Joëls Aufgabe wurde nicht einfacher.

Gut zehn Minuten später sah Joël mehrere mit Personen besetzte Sessel. Das mussten sie sein. Erst kamen zwei dunkel gewandete Männer. Dann der Skilehrer, der ihn angequatscht hatte. Neben ihm die Frau in der silbrigen Daunenjacke von Bogner. «Shit», murmelte Joël und drückte auf den Auslöser. «Shit. Warum sitzen die Idioten nicht zusammen!?»

Dahinter Bundesrat Battista mit Helm und grosser Skibrille mit gelben Gläsern. Klick. Klick. Neben ihm ein Mann in schwarzem Skianzug. «Shit!»

Mit Tempo Teufel raste Joël zur Talstation des Sessellifts. Vielleicht konnte er die Gruppe noch verfolgen.

Da keine Leute am Sessellift anstanden, hangelte er sich flugs zum Einsteigebereich vor und machte sich bereit zum Aufsitzen. Plötzlich rauschten zwei Typen heran, stellten sich links und rechts neben ihn und hockten sich auf den gleichen Sessel wie Joël. Der Sicherheitsbügel schloss sich, ebenso die Sturmhaube.

«Habt ihr es pressant?», sagte Joël verärgert. «Der Witz an einer solchen Anlage ist, dass alle paar Sekunden ein freier Sessel kommt!»

Die Typen reagierten nicht.

Joël schaute den Kerl links neben sich an.

Er hatte einen Knopf im Ohr.

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Tatsächlich war der Stall mit Tannenästen geschmückt, ein Weihnachtsbaum war plaziert, und überall leuchteten elektrische Kerzen. Die Pferde in den Boxen bekamen gerade von einem Mitarbeiter Heu. In der Mitte des Stalls befand sich ein weiss gekachelter Raum mit mehreren Wasserschläuchen. «Das ist unsere Pferdedusche», erklärte Martin. Daneben ein Raum mit einer Solarium-ähnlichen Installation. «Und das ist der Trockner für die Pferde.» Und noch ein Stück weiter ein Raum mit einem überdimensionierten Laufband, auf dem ein Pferd trabte. «Das wäre dann unser Fitnesscenter!»

Dann kamen wieder Pferdeboxen. Myrta blieb stehen, streichelte dieses und jenes Pferd und fragte Martin: «Welches ist dein Lieblingspferd?»

«Mystery of the Night», antwortete Martin, ohne zu zögern.

SESSELLIFT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ

Joël war es mulmig zumute. Seine beiden Begleiter auf dem Sessellift waren die beiden, die schon in der grossen Gondel mit ihm hinauf zum Piz Nair gefahren waren. Da das Wetter nun wirklich schlecht war, waren sie drei die einzigen Skifahrer, die noch unterwegs waren.

Warum müssen diese beiden ausgerechnet mit mir zusammen hochfahren?, fragte sich Joël. Das kann doch kein Zufall sein.

«Das Wetter hat umgeschlagen», sagte Joël und hoffte, die beiden würden sich auf einen sesselliftüblichen Small-Talk einlassen und sich dabei als ganz normale Touristen entpuppen. Doch keiner von beiden antwortete.

Der Wind pfiff. Der Sessel schaukelte. Schneeflocken klatschten gegen die Sturmhaube.

Der Typ rechts neben ihm zog den rechten Handschuh aus, ballte die Hand zur Faust.

Der Schlag traf Joël mitten auf die Nase. Es knackste. Joël schrie auf, spürte Blut auf den Lippen, sah alles nur noch verschwommen. Das Bild wurde in Tausende einzelne Punkt aufgeteilt, die in rascher Folge aufleuchteten und erloschen, es verfinsterte sich vom Rand her, schliesslich wurde es ganz schwarz.

Joël spürte, wie die beiden Kerle an ihm herumfummelten. Er hörte, wie die Sturmhaube geöffnet wurde. Seine Beine mit den Skischuhen und den Skis wurden vom Sicherheitsbügel des Sessellifts gezerrt. Er wehrte sich, schlug mit den Armen um sich.

Den nächsten, heftigen Schlag spürte er zwar noch.

Dann aber nichts mehr.

REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Als Myrta ihr Handy checkte, sah sie, dass es bereits 18.04 Uhr war. «Himmel, schon so spät», sagte sie leise.

Sie sah auch, dass sie fünf Anrufe in Abwesenheit erhalten hatte. Drei waren von Bernd. «Die Alte am Kochen und die Kids am Fernseh gucken», murmelte Myrta.

Der vierte Anruf stammte von ihrer Mutter. «Ja, Mama, ich lebe noch, und ich bin um 20 Uhr zu Hause.»

Der fünfte war von Joël. «Was will der denn?», sagte Myrta laut. So laut, dass es Martin hörte, der gerade in die Küche gegangen war, um eine zweite Flasche Champagner zu holen. Myrta war zwar schon etwas beschwipst, aber das war ihr im Augenblick egal.

«Was hast du gesagt?», fragte Martin, als er zurückkam.

«nichts. Doch. Joël hat mich angerufen.»

«Joël?»