Eismusik - Philipp Probst - E-Book

Eismusik E-Book

Probst Philipp

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Beschreibung

Die Tessinerin Sängerin Nunzia ist ein aufstrebender Schlagerstar. Doch während eines Konzerts wird sie ausgepfiffen. Sie verliert die Nerven und schmeisst ihre Schuhe ins Publikum. Daraufhin erntet sie viel Kritik und Hass in den sozialen Medien. Zu viel für Nunzia: Die Hasstiraden setzen ihr so sehr zu, dass Reporterin Selma sie wieder aufbauen und ihr Comeback mit geschickten Marketingmassnahmen ermöglichen soll. Dafür fährt Selma über Silvester zu Nunzia ins Bavonatal, einem Seitental des Maggiatals. So wunderschön dieses einsame Tal im Sommer ist, so kalt, grau und unwirtlich ist es im Winter. Nunzia pendelt zwischen dem echten Leben und der Scheinwelt der sozialen Medien, schwebt gar zwischen Leben und Tod. Und auch Selma macht eine Grenzerfahrung: Ihr Partner Marcel ist plötzlich spurlos verschwunden. Die dramatische Suche nach ihm wirft viele Fragen auf – und liefert gleichzeitig lang ersehnte Antworten.

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Philipp Probst

EISMUSIK

Die Reporterin im Bavonatal

orte Verlag

© 2023 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel

Gesetzt in Arno Pro Regular

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-320-2

ISBN eBook: 978-3-85830-321-9

www.orteverlag.ch

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

PROLOG

Sie sass vor dem Spiegel und starrte auf ihre goldenen High Heels. Sie müsste sie anziehen. Jetzt.

Jemand klopfte an die Tür. Nunzia reagierte nicht.

Die Tür wurde geöffnet. Im Augenwinkel sah Nunzia, dass Iviza hereinschaute.

«In zwölf Minuten geht es los», sagte er. «Bist du bereit?»

«Nein», antwortete Nunzia, ohne ihn anzuschauen.

«Wie nein?»

«Ich bin nicht bereit. Ich will nicht auf die Bühne.»

Iviza trat ein und schloss die Tür. Dann ging er neben Nunzia in die Hocke und legte seine Hand auf ihr Knie, das von ihrem gold-weissen Spitzenkleid knapp bedeckt war. Vorsichtig strich er eine Locke aus ihrem Gesicht, achtete darauf, mit seinem Finger nicht in Kontakt mit Nunzias Haut zu kommen, damit er ihr aufwendiges Make-up nicht ruinierte. Er lächelte Nunzia an: «Prinzessin, du siehst toll aus, du bist toll, du bist die Beste.»

«Das sagst du vor jedem Konzert», entgegnete Nunzia und starrte noch immer auf ihre Schuhe.

«Nein, nein, nein», sagte Iviza und schüttelte theatralisch den Kopf. «Ich sage es nur, wenn dich wieder Selbstzweifel packen.»

«Mich packen keine Selbstzweifel.»

«Schau mich an, Prinzessin», bat Iviza.

Nunzia blickte ihn an.

«Oh – mein – Gott, bist du schön! Deine dunkelbraunen Augen, deine schwarzen Locken mit dem Goldstaub …» Iviza schlug die Hände zusammen. «Du wirst immer schöner, Prinzessin.» Er stand auf, strich sein orange-rotes Hemd glatt und hielt Nunzia die Hand hin. Energisch sagte er: «Los jetzt! Noch elf Minuten.»

«Vergiss es», murrte Nunzia.

Iviza ging wieder in die Hocke und fragte: «Ist es wegen der Schuhe?» Mit hoher, kindlicher Stimme sagte er: «Diese bösen, bösen, bösen Schuhe.» Er streichelte sanft Nunzias Füsse, die in einer blickdichten, hautfarbenen Nylonstrumpfhose steckten. «Die zarten Nunzia-Füsschen wollen einfach nicht in diese blöden Schuhe, nicht wahr?»

Nunzia stand auf und schlüpfte wortlos in die High Heels.

Auch Iviza stand auf und verdrehte die Augen. «Na endlich, geht doch, immer dieses Theater! Noch zehn Minuten.»

«Ich werde nicht …»

«Keine Widerrede! Dreissig Minuten Trallala und schon ist die Show vorbei.»

«Es sind zweiunddreissig Minuten und siebenundvierzig Sekunden», sagte Nunzia. «Das solltest du als Produzent und Regisseur der Show eigentlich wissen.»

«Ach, Prinzessin. Hopp, hopp, auf die Bühne mit dir.»

Die beiden verliessen die Garderobe und fuhren mit dem Lift vom fünften Stock ins Erdgeschoss. Dort war die grosse Eingangshalle der Softwarefirma Powersoftware4U beim Escher-Wyss-Platz in Zürich zu einem Konzert- und Bankettsaal umgestaltet worden.

«Und nicht vergessen, bitte, Prinzessin», flehte Iviza, als sie den Lift verliessen, «bitte, bitte, immer schön mit deinem süssen, charmanten, italienischen Akzent singen und sprechen. Sonst wird unser künstlerisches Genie Gözart einen Herzinfarkt erleiden.»

«Was ist mit mir?», fragte Gözart, der sich von hinten den beiden genähert hatte.

«Oh – mein – Gott, Gözart», sagte Iviza schockiert. «Du schleichst dich an wie eine Giftschlange. Ich habe Nunzia nur darauf hingewiesen, dass sie unbedingt mit Akzent singen soll.» Iviza blieb stehen und musterte Gözart. «Dein Béret sitzt schief.»

«Das muss schief sitzen», fauchte Gözart.

«Ein echter Künstler …»

Gözart warf Iviza einen bösen Blick zu und wandte sich dann an Nunzia: «Iviza ist zwar ein Spinner, aber er hat recht: schön mit Akzent …»

«Endlich!», schnauzte Jessy, die mit klappernden Pumps herbeigeeilt kam. «Noch sechs Minuten. Wo habt ihr bloss gesteckt?» Sie hielt ihr Funkgerät vor den Mund: «Kann losgehen. Sie ist da.»

Jessy packte Nunzia am Arm und führte sie hinter die Bühne zur Band. Die Musiker bildeten mit Nunzia einen Kreis und streckten ihre Hände in die Mitte. Jessy zückte ihr Smartphone und rief: «Wir machen ein nettes Foto für unsere Fans auf Social Media. Alle lächeln!»

Nunzia schaute grimmig.

«Nunzia, bitte!», sagte Jessy resolut und stampfte mit ihrem Absatz auf den Boden.

Nunzia lächelte. Kurz und gequält.

Jessy knipste und lud das Bild auf Facebook hoch. Dann aktivierte sie den Videomodus. Bernd, der Schlagzeuger, gab die Parole durch: «We will, we will …»

«Rock you!», skandierten Nunzia und die anderen vier Bandmitglieder.

«Sehr gut», lobte sich Jessy selbst und postete den Clip auf Instagram und TikTok.

Bernd nahm Nadine, die grosse, schlaksige Gitarristin mit den kurzen, blonden Haaren zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: «Warum ist Nunzia so spät gekommen? Stimmt etwas nicht?»

«Keine Ahnung», antwortete Nadine ebenfalls flüsternd. «Ich frage sie gleich.»

Ein Fotograf, der für den Backstagebereich akkreditiert war, schoss ein Bild nach dem anderen.

Nadine löste sich von Bernd und ging zu Nunzia. Sie drückte ihre Hand. «Sweetie, was ist los?»

«Das wird eine mega Katastrophe. Lass uns nach Hause fahren.»

«Hach», seufzte Iviza, der neben Nunzia stand. Er wandte sich an Nadine: «Rede du mit ihr. Unserem Prinzesschen ist eine Laus über die Leber …»

Nunzia funkelte ihn mit ihren dunkelbraunen Augen an.

«Schon gut, ich bin weg», sagte Iviza und verschwand mit kurzen, schnellen Schritten.

Aus der Lobby drang jetzt neben dem Geschwätz des Publikums der Bee-Gees-Hit «You Win Again» aus den Lautsprechern. Es war wie bei jedem Nunzia-Konzert der zweitletzte Titel der Hintergrundmusik vor der Show. Der letzte Titel würde Elvis mit seinem Schmachtfetzen «Can’t Help Falling in Love» sein. Der ideale Einstieg zu Nunzias Auftritt. Fand zumindest Iviza. Das ganze Publikum würde sich in Nunzia verlieben …

«Nunzia», sagte Nadine und legte den Arm um die Sängerin. «Nur noch diese Show. Danach haben wir zwei Wochen Zeit für uns.»

«Ach, Nadine, diese Show wird eine Katastrophe.»

«Warum denkst du das?»

Nunzia nahm Nadine an der Hand und führte sie zum Bühnenrand. «Schau dir diese Leute an. Die werden mich nicht mögen.»

Die Bee Gees wurden leiser, Elvis begann zu singen.

«Noch zweieinhalb Minuten!», schrie Iviza.

«Wir rocken das», sagte Nadine, warf Nunzia eine Kusshand zu und hüpfte zu den anderen Bandmitgliedern.

«Wir rocken gar nichts», murmelte Nunzia.

Jessy hakte sich von hinten bei Nunzia ein und sagte: «Zwei Wochen Ferien. Ich fliege auf die Malediven. Was machst du eigentlich? In deinem geliebten Tessin hocken? Du könntest rund um den Erdball jetten und dir die schönsten …»

«Jessy, ich werde heute nicht auftreten.»

Aus dem Konzertsaal erklang das schmerzerfüllte «Can’t Help Falling in Love» von Elvis.

Jessy baute sich vor Nunzia auf. «Pass auf, Prinzessin! Du machst diese Show, danach ein nettes Blabla mit den beiden Bossen dieser Firma, also dem jungen und dem alten, noch ein bisschen Fanpflege, Meet and Greet und dann ab nach Hause. In anderthalb Stunden sind wir hier Geschichte. Und ich als deine Managerin darf sagen: Leicht verdientes Geld. Viel Geld. Kapische?»

«Hör auf mit deinem fürchterlichen Italienisch», murrte Nunzia. «Ich habe solche Auftritte nicht mehr nötig, basta!»

«Als uns die Firma Powersoftware4U gebucht hat, waren wir auf solche Auftritte angewiesen. Niemand ahnte, dass du innert Wochen ein Superstar wirst. Und ich habe schliesslich nur die besten und lukrativsten Angebote für dich ausgesucht. Der Inhaber des Unternehmens war und ist dein Mäzen, Fan der ersten Stunde. Sein Sohn übrigens auch. Und der ist genauso jung wie du.» Sie zwinkerte Nunzia zu. «So, und jetzt bieten wir der ganzen Belegschaft an diesem tristen Novembertag das, was wir am besten können: eine Spitzenshow.» Sie schaute auf ihre digitale Armbanduhr. «Noch 32 Sekunden.»

Der Funk plärrte. Jessy eilte zum Bühnenrand, winkte die Band zu sich und streckte den Daumen nach oben.

Elvis verstummte. Die Scheinwerfer gingen an. Dann betrat ein junger Mann mit Hipster-Bart und runder Brille die Bühne. Er trug einen viel zu weiten, grauen Pullover und schlabbrige Jeans. Auf Englisch sagte er: «Hello! Ich kann gut programmieren, das wisst ihr hoffentlich.» Gelächter. «Sonst kann ich nicht viel.» Noch lauteres Gelächter, kurzer Applaus. «Vor allem kann ich nicht so tolle Musik machen wie Nunzia. Und reden kann ich auch nicht. Deshalb übernimmt jetzt mein Vater.»

Langer Applaus.

Nun betrat ein etwas älterer und schmächtiger Mann die Bühne. Er umarmte seinen Sohn. «Danke, Matteo, danke.» Dann wandte er sich auf Englisch an seine Angestellten: «Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde. Ich habe drei Leidenschaften: Meine Familie, diese Firma und die Musik. Es ist mir deshalb eine Ehre, die Überfliegerin der Popwelt präsentieren zu dürfen.» Und dann schrie er ins Mikrofon: «Nunziaaa!»

Das Licht ging aus. Sphärische Musik erklang.

Iviza trug jetzt einen Kopfhörer, schaute die Band an und zählte herunter: «Drei, zwei, eins, viel Spass!»

Die Band betrat, wie im Skript geplant, ohne Nunzia die Bühne. Der Star sollte erst etwas später erscheinen. Nadine ergriff ihre Gitarre, brachte sich in Position und liess den ersten Ton erklingen. Den zweiten. Den dritten. Der Scheinwerfer ging an. Jetzt ihr Solo. Ein kurzes, perfektes Riff. Pause. Ein Blick zu Schlagzeuger Bernd. Dieser schlug drei Mal seine Sticks aufeinander. Dann ein Schlag auf das Snare. Gitarre, Bass und Keyboard setzten ein. Voller Sound. Volles Licht.

Die Show begann.

Iviza spurtete zu Nunzia und strahlte sie an. «Prinzessin, hopp, hopp, in dreissig Sekunden kommt dein phänomenaler Auftritt.»

«Ich werde nicht auftreten. Die Leute passen nicht. Zu jung, zu international. Das ist eine Softwarefirma. Die verstehen nur Englisch. Ich singe Deutsch, wir machen Schlager. Das passt nicht. Zudem sind alle betrunken. Nein, mein Auftritt wird ein Flop. Die werden mich fertigmachen.»

«Oh – mein – Gott», sagte Iviza. «Nunzia, bitte! Auf die Bühne mit dir.»

Managerin Jessy kam hinzu. «Was ist los?»

« Sie will nicht», schimpfte Iviza.

Jessy schaute Nunzia giftig an.

Dann stoppte der Sound.

Jetzt müsste Nunzia auf der Bühne erscheinen, Bernd würde seine Sticks wirbeln lassen und das erste Lied anspielen: «Ich will nur dich».

Stille.

Plötzlich Buhrufe und Pfiffe.

Nadine reagierte als Erste, liess die Saiten ihrer Gitarre erklingen und fing mit dem Intro von vorne an. Ihre Bandkollegen begriffen sofort und überspielten die Panne professionell.

Aus dem Funk war der Tonmeister, der am Regiepult mitten im Saal sass, zu hören: «Was ist los?»

Jessy packte Nunzia an beiden Schultern. «Du gehst jetzt auf diese Bühne und singst. Hast du das verstanden? Wo liegt dein gottverdammtes Problem?»

«Das passt nicht, Jessy, das passt einfach nicht. Das sind nicht meine Fans. Die hassen Schlager, die hassen mich.»

Von hinten schubste Iviza Nunzia nach vorne. «Prinzessin, versau uns nicht die ganze Arbeit, lächle, lächle. Und plaudere mit italienischem Akzent. Dann werden sie dich lieben. Can’t help falling in love!»

Das Intro war zu Ende. Pause.

«Los!», flüsterte Iviza und gab Nunzia noch einen Stoss. Diesmal einen heftigeren. Nunzia sprang in ihren goldenen High Heels gekonnt auf die Bühne.

Applaus. Aber auch Buhrufe und Pfiffe.

Bernd trommelte, ein schneller Disco-Beat, ein kerniger Bass, der Keyboarder legte den Soundteppich dazu, Nadine liess auf ihrer Gitarre die Harmonie erklingen, und Nunzia sang: «Ich will nur dich. Nimm meine Hand, lass alle Zweifel los. Ich sage dir, das mit uns hier ist gross. Lass uns das Glück neu erfinden, eh es ganz zerbricht. Ich will nur dich.»

«Geht doch», kommentierte Jessy und umarmte Iviza. Der Regisseur strich sein Hemd glatt, schloss die Augen und wippte zum Takt. «Magisch, diese tiefe, samtene Stimme, dieser charmante Akzent. Ein Glücksfall, Jessy! Was für ein Mädchen.»

«Sie wird uns reich machen.»

«Ich werde uns reich machen», sagte Gözart trocken und drückte sein Béret noch tiefer und schiefer auf den Kopf. «Nunzia ist mein Produkt, meine Mona Lisa.»

«Oh – mein – Gott», sagte Iviza und verdrehte die Augen. «Maler bist du auch noch! Ach was, du bist ein Universalgenie, wie Leonardo da Vinci.»

«Ich will nur dich», sang Nunzia. «Ich will nur dich. Nimm meine Hand, lass alle Zweifel los.»

Schlussakkord. Buhrufe, Pfiffe. Nunzia verneigte sich trotzdem. Dann begrüsste sie das Publikum auf Deutsch und Englisch, natürlich mit italienischem Akzent. Wieder Buhrufe.

Die Band setzte mit dem zweiten Titel an: «Die Nacht ist stärker als wir». Doch wieder schallten Buhrufe, Pfiffe und lautes Geschwätz aus dem Publikum.

Nunzia, die Band und das ganze Team spulten die vorgegebene Setlist herunter. Nunzia sang wunderschön, ergreifend. Besonders bei den Balladen kam ihre tiefe, volle Altstimme zur Geltung. Bei den Tanzhits wirbelte Nunzia auf der Bühne umher, klatschte und forderte das Publikum zum Mitmachen auf. Nunzia – die immer fröhliche Stimmungskanone aus dem Tessin, der Sonnenstube der Schweiz.

Aber der Funke sprang einfach nicht über.

«Sie kämpft», sagte Iviza zu Jessy. Dann schrie er Richtung Bühne: «Prinzessin, zeig es diesen Banausen!»

Fliessender Übergang zu Nunzias grösstem Hit. «Unsere Zeit ist immer und ewig, ab jetzt». Mit ihm hatte sie vor wenigen Monaten den Durchbruch geschafft, die Hitparaden in der Schweiz, Deutschland und Österreich gestürmt.

Doch hier, in der Lobby dieses mondänen Geschäftshauses in Zürich, blieb das Publikum kühl und abweisend. Kein Mitklatschen, kein Mitsingen, kein Mitschunkeln. Und beim langsameren Mittelteil des Songs keine leuchtenden Smartphones.

«Und die Zeit ist immer und ewig», sang Nunzia tapfer, wurde immer lauter, klatschte und hüpfte. «Und die Zeit ist immer und ewig.»

Doch das Publikum ging einfach nicht mit.

Dann änderte Nunzia plötzlich den Text: «Und die Zeit ist abgelaufen, jetzt!» Sie zog ihre goldenen Schuhe aus, warf sie ins Publikum und schrie ins Mikrofon: «Eure Zeit ist abgelaufen, für immer und ewig. Verpisst euch!»

Sie stapfte von der Bühne.

1

Es war Liebe auf den ersten Blick. Zumindest für Selma. Umgekehrt war es definitiv keine Liebe. Nicht einmal Zuneigung oder Interesse. Sondern Angst.

Er hiess Tom, war sehr schlank, hatte bernsteinfarbene Augen und lange Beine. Und ein rabenschwarzes Fell.

Selma fotografierte den Rüden schon über eine Stunde lang. Aber ein wirklich gutes Bild kam dabei nicht zustande. Tom tigerte entweder im Gehege auf und ab, drehte im Innenhof des Tierheims seine Runden oder versteckte sich an der Leine hinter Petra, einer jungen Frau, die sich in ihrer Freizeit um die armen Seelen kümmerte.

Selma versuchte Tom nicht nur gut und freundlich zuzureden, sie streckte ihm auch Hundebiskuits hin. Aber sie hatte keine Chance. Tom behielt seinen Schwanz zwischen den Hinterläufen, zitterte und wollte fliehen.

Tom war nicht nur schwierig zu fotografieren, er war noch schwieriger an jemanden zu vermitteln, wie Petra erzählte.

«Kennst du seine Vorgeschichte?», fragte Selma.

«Leider nein», antwortete Petra und streichelte Tom, wobei er sich auch ihrer Berührung entziehen wollte. «Er war ein Strassenhund in Italien. Oder er wurde dort ausgesetzt. Jedenfalls landete er in einem Tierheim in den Abruzzen. Von dort wurde er in die Schweiz gebracht. Doch sein neues Herrchen und sein neues Frauchen kamen mit ihm nicht klar. So wurde Tom als Verzichtshund bei uns abgegeben.»

«Verzichtshund?»

«Ja, Verzichtstiere. Das ist der Ausdruck für alle Tiere, die im Tierheim abgegeben werden.»

«Schrecklich.»

«Man könnte sie auch Wegwerftiere einer Wegwerfgesellschaft nennen.»

Selma versuchte abermals, einige gute Bilder von Tom zu schiessen. Doch erfolgreich war sie nicht. Egal. Sie hatte schliesslich genügend andere Fotos von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Vögeln und Reptilien und allen anderen Verzichtstieren, die im Basler Tierheim lebten.

Selma hatte sehr viel Zeit in dieses Projekt gesteckt. Dank ihrer Kampagne sollten Spenden gesammelt, Gönnerinnen und Gönner gewonnen werden. Vermittelt hatte den Auftrag ihre Mutter. Charlotte spendete dem Tierheim jedes Jahr viel Geld, obwohl sie gar keine ausgeprägte Tierliebhaberin war und auch nie ein Haustier besessen hatte. Aber sie fand die Leute vom Tierheim nett. Und sie sah den finanziellen Zustupf als Wiedergutmachung für die Arbeit ihres Vaters an, Hjalmar Hedlund. Das vermutete zumindest Selma. Gesprochen hatte sie mit ihrer Mutter nie darüber. Der schwedische Forscher gehörte zu den Begründern der berühmten Basler Pharmaindustrie und hatte wohl an so manchem Tier Experimente durchgeführt und Medikamente getestet.

Obwohl Selma mit ihren Reportagen in den vergangenen Jahren äusserst erfolgreich war, verlangte sie für diesen Auftrag kein Geld. Sie hatte an ihren Fotos und Geschichten über die Schweizer Alpen, über Wölfe und über eine Forscherin, die das Elixier des ewigen Lebens suchte, gut verdient. Die Arbeit für das Tierheim lag ihr einfach am Herzen.

Sie band ihre braunen, gewellten Haare zusammen und legte sich mit der Kamera bäuchlings auf den kalten Boden. «Lass Tom noch einmal frei», sagte sie zu Petra, «vielleicht kommt er ja doch noch zu mir.»

Petra klinkte die Leine aus und bewegte sich langsam an die Seite des Innenhofs. Tom schien völlig überfordert zu sein. Er begann wieder seine Runden zu drehen.

Selma wartete. Sie fror. Es war ein kalter Dezembertag.

Tom schaute immer wieder zu Selma. Irgendwie interessierte er sich nun doch für diesen Menschen, der da auf dem Boden lag. Langsam kam er näher.

Selma fotografierte. Ihr Herz schlug schneller. Sie war fast so aufgeregt wie damals in Engelberg, als sie die Wölfe fotografiert hatte.

Tatsächlich: Tom beschnupperte sie.

Doch kaum bewegte sich Selma, war er schon wieder weg.

Selma stand auf, ging zu Petra und zeigte ihr die Bilder.

«Wow!», rief Petra. «Mit diesen Fotos finden wir vielleicht doch noch jemanden, der ihn aufnimmt.»

«Was für eine Rasse ist er eigentlich?»

«Langbeinig, gross, schlank, elegant, sportlich – such dir eine Rasse aus, die dazu passen könnte.»

«Und er ist wirklich schwierig zu vermitteln?»

«Er ist schon einige Monate hier. Die Leute finden ihn zwar schön, aber er ist schwarz. Schwarze Hunde sind immer schwer vermittelbar.»

«Warum?», fragte Selma.

«Laut einer Umfrage, die ich mal gelesen habe, wegen Aberglaubens und Vorurteilen. Und auch aus Angst. Dabei ist es vor allem Tom, der Angst hat. Er traut Menschen nicht.»

Petra und Selma schauten zu Tom. Er stand zitternd neben ihnen.

Plötzlich sagte Selma: «Ich nehme ihn.»

«Echt jetzt? Hast du denn Zeit und Platz für einen …»

«Habe ich. Ich und meine Familie.»

«Okay, wow. Toll. Allerdings … also …»

«Was ist? Ich habe mich in Tom verliebt. Bin ich nicht gut genug für ihn?»

«Na ja, das müssen wir abklären.»

«Dann klärt mal ab, durchleuchtet mich und uns. Ich bin freischaffend, kann mich also nach dem Hund richten. Und wenn nicht ich, dann ein anderes Familienmitglied. Er wird selten allein sein. Meine Freundin Lea wohnt ebenfalls bei uns im Haus. Sie hat sogar ihren Coiffeursalon im Parterre. Da kann Tom sicher auch zwischendurch sein.»

Petra war etwas verlegen und druckste herum: «Also, es ist so, dass wir schon einige Interessenten hatten, Familien, du weisst schon … Aber Tom hat es nicht so mit …»

«Mit Familien?»

«Nein, also, ja. Selma, wir wissen einfach nicht, was passiert ist mit ihm …» Petra hielt kurz inne, fragte dann: «Hast du Kinder?»

«Kinder?» Selma schaute Petra mit ihren grossen Augen an und wiederholte: «Kinder?»

Selma wurde schwindlig.

Tom näherte sich ihr und beschnupperte sie nun sehr lange.

2

Kinder!

So hatte das Drama vor einigen Monaten angefangen. Und es war noch immer ungewiss, ob es gut oder böse enden würde.

Sonnenaufgang am Hochhamm im Appenzellerland. Nach der Reportage über Fabienne, die Wissenschaftlerin, die nach dem Elixier des ewigen Lebens gesucht hatte, nach dem Brand in der Alphütte, nach der Verfolgungsjagd quer durchs Appenzellerland, nach den dramatischen Szenen auf dem Bodensee, als Fabienne über Bord gegangen war – nach all dem war Selma mit ihrem Lebenspartner Marcel auf den Hochhamm gewandert, hatte zum Säntis geschaut, den Sonnenuntergang bestaunt und Marcel gesagt, dass sie sich ein Kind wünsche.

Und Marcel hatte geantwortet, er müsse ihr etwas sagen. Er sei wegen seiner Atemnot beim Arzt gewesen. Und er wünsche sich auch ein Kind. Dann war er zusammengebrochen.

Selma hatte den Notruf alarmiert. Ein Hubschrauber hatte Marcel in die Klinik nach St. Gallen geflogen. Der Verdacht auf Herzinfarkt hatte nahegelegen.

Aber es war kein Herzinfarkt. Im Spital wurde Marcel komplett durchgecheckt. Wie schon der Herzspezialist, den Marcel zuvor in Basel aufgesucht hatte, fanden die Ärzte auch jetzt keine koronare Herzkrankheit.

Also hatte Marcels Atemnot, die seit längerer Zeit bei Anstrengungen auftrat, andere Ursachen. Selma tippte auf Stress und Überforderung. Und hatte ein schlechtes Gewissen. Marcel war der Ruhepol in ihrer Beziehung, war immer für sie da, sorgte sich um sie, wenn es ihr nicht gut ging. Daneben arbeitete er Vollzeit als Tram- und Buschauffeur bei den Basler Verkehrsbetrieben. Und dies mit Früh- und Spätschichten. Das zehrte sicherlich an seinen Kräften.

Und dann stresste sie ihn auch noch mit dem Kinderwunsch.

Marcel bestritt das. Und meinte, dass er schliesslich studierter Psychologe sei und sehr wohl beurteilen könne, ob ihn etwas stresse und er deshalb unter Atemnot leide.

Selma riet ihm, er solle doch mit einem Kollegen oder einer Kollegin sprechen, er kenne bestimmt viele Leute aus seiner Studienzeit. Aber das wollte Marcel nicht. Eigentlich beschäftige ihn nur eins, sagte er: weshalb die Spezialisten den Grund für seine Atemnot nicht herausfänden.

Irgendwann waren die Beschwerden so schlimm, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Selma machte sich grosse Sorgen und bestand darauf, dass er ab sofort bei ihr wohnen würde – falls er wieder einen Erstickungsanfall wie auf dem Hochhamm erleiden sollte.

Marcel versuchte, viel zu schlafen und sich zu erholen. Las Bücher, kochte, las noch mehr Bücher. Aber es half alles nichts. Seine Leistungsfähigkeit nahm ab, er war ständig erkältet, bekam einen fürchterlichen Husten, den er nicht mehr loswurde, schwitzte in der Nacht und verlor Gewicht.

Sein Hausarzt schickte Marcel schliesslich zum Schichtröntgen. Und da entdeckte es eine Spezialistin: ein Lymphom im Mediastinum, dem Gewebe zwischen den Lungen. Die Biopsie brachte Gewissheit: Marcel hatte einen Tumor, einen bösartigen.

Er begann sofort eine Chemotherapie. Selma kümmerte sich um ihn. Arbeiten hätte sie zwar viel können. Denn ihre Reportage über das Elixier zum ewigen Leben war ein Riesenerfolg und hätte unzählige Nachfolgeaufträge generiert. Doch Selma lehnte alle ab. Sogar ihr Chef Jonas Haberer hatte Verständnis dafür. Der Auftrag im Tierheim war der erste seit Monaten, den Selma angenommen hatte.

Sie sprachen während dieser Zeit nie über Familie und Kinder. Es war zu ungewiss, ob Marcel die Krankheit überstehen würde. Dafür redeten sie oft über die Ursache seines Lymphoms. Selma wollte diese unbedingt wissen oder herausfinden. Marcel und die Fachärztinnen und -ärzte erzählten viel über genetische Veränderungen von Zellen, mussten Selma aber im Ungewissen lassen. Ob Marcel genetisch vorbelastet war, wollte auch niemand bestätigen, obwohl sein Vater an einem Hirntumor verstorben war. Denn das war schliesslich eine ganz andere Erkrankung.

Selma machte das alles sehr zu schaffen. Marcel nicht. Er sprach oft über den Tod. Was Selma noch mehr missfiel. Marcel fing trotzdem immer wieder damit an, behauptete, dass er keine Angst habe, dass er loslassen könne. Und dass er sich nur um Selma Sorgen mache. Sie müsse ihm versprechen, sagte er, dass sie weiterlebe und glücklich werde, auch mit einem neuen Partner.

Selma verzweifelte schier. Nach den Erlebnissen mit Fabienne, die im Appenzellerland ihr Lebenselixier mit Kräutern und allerlei esoterischen Methoden vervollkommnet hatte, löcherte Selma ihre Schwester Elin über alternative Therapien. Die studierte Apothekerin konnte einige aufzählen. Sie empfahl eine Misteltherapie als Zusatzbehandlung und noch einige andere Kuren zur Nachbehandlung. Selma steigerte sich in etwas hinein, verfluchte die Medizin und die Pharmaindustrie und begann sich mit Geistheilerei zu beschäftigen.

Davon wollte Marcel nichts wissen. Einverstanden war er mit der Misteltherapie, hoffte auf die seit Jahrhunderten genutzten Kräfte dieser Pflanze.

Und dann schlug die Chemo an. Selma frohlockte. Und auch Marcel war voller Zuversicht.

Marcel erholte sich langsam. Er und Selma begannen wieder, Pläne zu schmieden. Aber nur solche, die in naher Zukunft zu verwirklichen waren.

Kinder?

Darüber sprachen sie nicht mehr. Wohl beide aus demselben Grund: Selbst wenn bei Marcel die letzten Befunde gut ausfallen und er als geheilt gelten würde – der Krebs konnte zurückkehren. Vielleicht würde Marcel sein Kind dann gar nicht aufwachsen sehen.

Zugleich war Selma klar, dass sie aufgrund ihres Alters nicht mehr so viel Zeit hatte. Sie musste jetzt oder zumindest bald entscheiden, ob sie Mutter werden wollte oder nicht.

Und sie musste es mit Marcel bereden. Sie würden entscheiden. Nicht der Krebs.

3

«Selma?»

Selma reagierte nicht.

«Selma? Alles okay mit dir?»

«Ja … mir war nur ein bisschen schwindlig … die Kälte.»

«Er mag dich», sagte Petra. «Tom mag dich. Er hat dich beschnuppert. Das ist ein Anfang.»

«Ja, das ist ein Anfang.»

«Würdest du ihn wirklich aufnehmen?»

Selma überlegte kurz, dachte an Marcel, an seine Krankheit und sagte dann entschlossen: «Ja.»

Tom tigerte wieder herum, setzte sich, zitterte, ging weiter, drehte seine Runden.

«Ich bring ihn wieder zurück in seine Box», sagte Petra.

«Du hast mich nach Kindern gefragt. Wieso?»

«Tom hat Angst vor Kindern. Wir wissen nicht warum. Irgendetwas muss passiert sein.»

«Ich habe keine Kinder.»

«Dann ist ja gut», sagte Petra und eilte zu Tom.

Selma kam Petras letzter Satz etwas schräg vor, sie war aber überzeugt, dass sich Tom als neuer Bewohner des Hauses «Zem Syydebändel» am Basler Totentanz nicht nur an sie und Marcel, an ihre Mama Charlotte und ihren Vater Arvid Bengt, an ihre beste Freundin Lea und deren Partner Olivier gewöhnen würde, sondern auch an ein Baby. Schliesslich hatte Selma das ausgeprägte soziale Verhalten von Wölfen bei einer Reportage kennengelernt und studiert, hatte sogar ein Buch über Wölfe veröffentlicht und bewunderte diese Tiere. Und Hunde stammten schliesslich vom Wolf ab. Tom würde bald zu ihrem Rudel gehören.

Als Selma am frühen Nachmittag nach Hause kam, fand sie Marcel auf dem Bett. Er döste. Sie schlich in die Küche und stellte ihre Filterkaffeemaschine an. Während sich der Duft frischen Kaffees in der ganzen Wohnung verbreitete, schaute Selma die Fotos auf dem Display der Kamera durch und bestaunte den schwarzen, eleganten, aber so scheuen Tom.

«Ich rieche Kaffee», sagte Marcel. Er stand im Eingang zur Küche und sah ziemlich verschlafen aus.

«Schatz!» Selma sprang auf und küsste ihn. «Wie geht es dir?»

«Gut, ein bisschen müde. Wie immer.»

Selma goss den Kaffee in zwei Tassen.

«Ich muss unbedingt aktiver werden», sagte Marcel. «Mich mehr bewegen, schliesslich bin ich geheilt. Zumindest hoffe ich das.»

«Liebster, wir werden es sehr bald wissen. Dann kannst du mit dem Training beginnen.»

«Ich habe ja schon begonnen, aber ich bin einfach zu faul.»

Selma schnappte sich die Kamera und zeigte ihm Tom.

«Der wollte irgendwie nicht so richtig posieren, oder?», stellte Marcel fest.

«Wollte er nicht. Aber er ist unglaublich schön. Und ich habe mich verliebt.»

«Und das heisst?»

«Das heisst, dass ich zwar weiss, dass du eher der Katzentyp bist, aber mit einer Katze musst du nicht spazieren gehen, deshalb habe ich mir … » Selma hielt inne.

«Lass mich raten», sagte Marcel und streichelte sanft ihr dunkles, langes Haar. «Du willst mir nun weismachen, dass es für meine Genesung sinnvoll wäre, wenn Tom zu uns kommt. Das ist sehr selbstlos von dir.»

Selma schaute irritiert zu Marcel.

Er lächelte. «Tom ist willkommen, Liebste. Er wird mir sicher guttun. Er wird uns guttun.»

«Bist du dir sicher? Du sagst das nicht einfach so? Du willst doch lieber eine Katze, so vernarrt wie du in Minousch aus dem Appenzellerland warst.»

«Die Hexenkatze», sinnierte Marcel. «Die schwarze Katze mit der weissen Schwanzspitze und dem weissen Fleck auf der Stirn … » Dann sagte er entschlossen: «Tom gefällt mir. Ich finde das wirklich eine gute Idee. Wir schauen nach vorne. Tom ist ein Langzeitprojekt. Alles wird gut.»

Selma umarmte ihn.

Dann klingelte ihr Handy.

«Selmeli!», schrie ihr Auftraggeber Jonas Haberer ins Telefon. «Selmeli, Kleines, ich bin es, dein guter Geist in allen Lebenslagen, dein Retter in der Not.»

«Das letzte Mal habe ich dich gerettet», sagte Selma.

«Ich weiss, du hast mich aus dieser Feuerhölle im Appenzellerland geholt. Ich bin zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Und das wirst du bis an mein Ende ausnutzen.»

«Natürlich. Was gibt’s?»

«Nicht so schnell, Kleines. Erzähl mir erst, wie es Märssu und deiner hochverehrten Frau Mama geht.»

Selma brachte Jonas auf den neusten Stand. Sie erzählte ihrem journalistischen Ziehvater, heutigen Medienmanager und Freund der Familie Legrand-Hedlund, wie ihre Mutter seit dem Einzug von Selmas leiblichem Vater aufblühte und dass Marcel wieder ganz gesund werde. Sie schloss mit den Worten: «Und wir werden einen Hund bekommen.»

«Selmeli, einen Hund, Jesusmariasanktjosef! Du willst dir doch keine Ungezieferschleuder ins Haus holen, einen Hund, der sich im Dreck wälzt und Müll frisst? Deine Mama wird das niemals akzeptieren, nein, sie wird das noble Haus am Rhein niemals so verludern lassen.»

«Jonas, was kann ich für dich tun?», fragte Selma.

«Einen Hund … Ich fass es nicht.»

«Jonas?»

«Kannst du zu mir nach Bern kommen? Morgen zehn Uhr. Es ist wichtig.»

«So kurzfristig?»

«Ich muss dir jemanden vorstellen. Es war ein bisschen schwierig, sie zu überzeugen. Aber wenn die Fotografin eine Frau ist, ist sie einverstanden.»

«Sie?»

«Ja, sie.»

«Und wer ist … sie?» Selma betonte das «sie» ziemlich schnippisch.

«Eine tolle, junge Frau. Und wir haben eine ganz tolle Sache vor. Das Konzept ist von mir. Logisch. Ich bin schliesslich der Beste. Also morgen, zehn Uhr?»

«Jonas, noch einmal: Wer ist sie?»

«Ganz ruhig, Selmeli, ich sage es dir, aber du musst mir versprechen, dass du ruhig und gechillt bleibst. Gechillt, das sagt man doch heute, oder?»

«Jonas, bitte!»

Jonas räusperte sich laut.

«Jonas!»

«Es ist … Nunzia.»

«Nunzia? Die Pfui-Nunzia? Die Schlagertussi, die ihr Publikum beschimpft und mit High Heels bewirft? Vergiss es! Ich bin weder Klatschreporterin, Skandaljournalistin noch Paparazza.»

«Selmeli, Kleines …»

«Nenn mich nicht Selmeli und nicht Kleines, damit erreichst du das Gegenteil, Jonas. Ich muss jetzt auflegen.»

«Selma!», schrie Haberer ins Telefon. «Du weisst überhaupt nicht, was Nunzia durchgemacht hat, seit dieser Skandal bekannt geworden ist.»

«Durchgemacht?»

«Ja! Nunzia wurde wochenlang auf den unsozialen Medien mit Dreck beworfen und fertiggemacht.»

Selma schluckte. Das hatte sie nicht mitbekommen. Sie war zu sehr mit Marcel und seiner Krankheit beschäftigt gewesen.

Jonas Haberer, der umtriebige und mit allen Wassern gewaschene Medienmanager, redete über eine halbe Stunde auf Selma ein. Sie solle sich wenigstens anhören, was Nunzia zu sagen habe. Auch Marcel, der das Gespräch mitbekam, empfahl Selma, nach Bern zu reisen.

«Ich werde morgen sowieso absorbiert sein», sagte Marcel. «Ich muss zur Untersuchung.»

«Ich werde dich begleiten», entgegnete Selma.

«Nein, das wirst du nicht. Ich möchte das nicht. Das ist meine Scheisskrankheit. Und ich werde nicht zulassen, dass sie unsere beiden Leben zerstört. Du machst jetzt deinen Job, Selma.»

«Nein, ich will für dich da sein.»

«Das bist du doch.»

«Das bin ich nicht, wenn ich nach Bern fahre.»

«Selma», meinte Marcel ganz ruhig, «du hast dich doch in Tom verliebt. Du wünschst dir, dass wir diesen Hund adoptieren. Ich könnte mich immer noch dagegen …»

«Jetzt wirst du unfair, Schatz», unterbrach ihn Selma.

«Ich werde diesen Köter, äh, diesen Hund lieben, wuff, wuff!», bellte Jonas Haberer ins Telefon. «Ich liebe Hunde über alles. Habe ich das schon erwähnt? Und ich werde ihn hüten, falls ihr mal verreisen wollt. Oh, Selmeli, dieser Tom und ich sind füreinander geschaffen. Das spüre ich im Urin. Wir beide mögen Weibchen und Fleisch. Und Bier.» Er räusperte sich und fragte schliesslich leise: «Tom mag doch Bier, oder?»

4

Nunzia sprach ein ziemlich spitzes Züritüütsch mit vielen Üs und Ois. Das war das Erste, was Selma auffiel, als sie die Sängerin und ihre Entourage in Jonas Haberers Büro in Bern begrüsste. Da Nunzia eine tiefe, samtene Stimme hatte, klang der Zürcher Dialekt angenehm. Trotzdem war Selma irritiert, da sie erwartet hatte, dass Nunzia, wie bei den Konzerten, in den Videos und Interviews in einem charmanten, italienisch gefärbten Deutsch sprechen würde.

«Nunzia ist aber dein echter Name, oder?», fragte Selma.

«Wie meinst du das?»

«Dein Dialekt, dein Name – alles nur Show?»

«Nein», antwortete Nunzia. «Der Name ist echt. Der Dialekt auch. Ich bin zwar in Zürich aufgewachsen, aber meine Eltern kommen beide aus dem Tessin. Italienisch ist eigentlich meine Muttersprache. Und ich bin nicht diese Bitch, zu der ich von den Medien und auf allen Social-Media-Kanälen gemacht werde.»

Selma hatte gestern recherchiert und tatsächlich viele bösartige Kommentare auf Facebook, Instagram und TikTok gefunden. «Warum habt ihr diese Posts nicht einfach gelöscht?», fragte sie nun.

«Wir haben gelöscht, Selma, glaube mir», erklärte Nunzia. «Aber wenn man etwas löscht, folgen noch bösere Kommentare. Ich erhielt sogar Morddrohungen.»

«Echt jetzt?» Selma war entsetzt.

«Ohne Scheiss», sagte Nunzia und hielt zwei Finger an ihre Schläfe. «Die wollen mich kaputtmachen. Da kamen Mails und persönliche Nachrichten wie: ‹ Stirb, du Hure.› Oder: ‹Dich hätte man abtreiben sollen.› Horror, Selma, echt der Horror. ‹Gib dir die Kugel, du fucking bitch.› Solche Sachen, krass.»

«Woher kommt dieser Hass? Nur wegen diesem missratenen Konzert?»

«Keine Ahnung, Selma. Diese Leute sind krank, echt krank.»

«Habt ihr das der Polizei gemeldet?»

«Ja. Aber wegen ein paar Drohungen bekommst du noch keinen Personenschutz.»

«Glaub mir, das willst du auch nicht», sagte Selma. «Von der Polizei vierundzwanzig Stunden bewacht oder überwacht werden.»

«Du kennst das?», fragte Nunzia erstaunt.

«Ansatzweise. Während meiner letzten Recherche wohnte eine Forscherin bei mir im Haus, die sich mit den falschen Leuten angelegt hatte. Da war die Polizei äusserst präsent.»

«Das war tatsächlich ein brandgefährlicher Einsatz», warf nun Jonas Haberer ein. «Ich kann das bestätigten.» Er zeigte auf seine Glatze, die deutliche Narben aufwies. «Ich wäre bei dieser Geschichte beinahe bei lebendigem Leib verbrannt. Weisst du, Nunzia, wir Reporter leben immer gefährlich. Die Gratwanderung zwischen Leben und Tod ist unser Alltag. Morddrohungen? Die ganze Zeit.»

Selma hüstelte und wollte gerade sagen, dass er nicht übertreiben solle. Doch Jonas stiess sie unter dem Tisch mit seinen spitzigen Boots an und warf ihr einen grimmigen Blick zu.

Zu Nunzia sagte er: «Wir sind genau die Richtigen für diesen Job.» Dann wandte er sich an alle: «Will jemand Kaffee? Tee? Bier, Wein, Schnaps? Oder alles in dieser oder einer anderen Reihenfolge?» Er lachte laut, stoppte abrupt und sah in die Gesichter seiner Gäste «Freunde, das war ein Scherz. Ihr dürft lachen und applaudieren. Ihr seid doch vom Fach, vom Showbiz, und wisst: Wir Künstler brauchen den Applaus.»

Nunzia lächelte. Sie sah wirklich süss aus, fand Selma. Perfekte weisse Zähne, schöne dunkelbraune Augen, dezent geschminkt und eine lange schwarze Lockenpracht. Nunzia wirkte nicht im Geringsten wie ein durchgeknallter Pop- oder Schlagerstar. Sie war eine junge Frau, ziemlich schüchtern und ziemlich klein, trug Schlabberlook und weisse Sneakers. Hätte Selma Nunzia nicht im Internet recherchiert – sie hätte sie niemals für eine Schlagersängerin gehalten.

«Dann also Kaffee?», fragte Jonas, stand auf, öffnete die Bürotür und schrie hinaus: «Sibe, Kaffee für alle, viel Milch fürs Selmeli und für mich einen dreifachen Espresso.»

Sibe hiess eigentlich Sybille und war Jonas Haberers Assistentin. Selma hatte sie beim Eintreffen kennengelernt und sich gewundert. Dass Jonas eine Assistentin hatte, war ihr neu. Die Geschäfte schienen gut zu laufen.

Selma war mit ihren Eltern frühmorgens mit dem Zug nach Bern gereist. Mutter Charlotte wollte Arvid Bengt, Selmas nach Jahren wiederaufgetauchtem, schwedischen Vater, die Schweizer Hauptstadt zeigen. Selma war mit den beiden bis zum Bundeshaus spaziert, dann hatte sie sich verabschiedet und in der Münstergasse Jonas Haberer in dessen Büro getroffen. Haberer hatte sie zwar lautstark empfangen, das übliche Tamtam – Selmeli hier, Selmeli da – aber ausgelassen. Nunzia, Managerin Jessy und Produzent und Regisseur Iviza warteten schliesslich schon.

Sibylle servierte den Kaffee. Jonas Haberer sagte leise zu ihr: «Sibe, du hast den Tisch sicherlich schon reserviert, oder? Selma und ihre Eltern», er schaute kurz zu Selma, «sind von adligem Geschlecht. Compris?»

Sybille nickte. Und Selma fuhr sich peinlich berührt durch die Haare.

Haberer wandte sich wieder Nunzia zu: «Also, meine Lieben, Madame Selma Legrand-Hedlund und ich sind die absoluten Profis und seit Jahren unschlagbar erfolgreich. Wie lautet der Plan?»

«Wir wollen im Frühling eine richtig grosse Kampagne starten», erörterte Nunzias Managerin Jessy, deren Parfüm ziemlich süss roch. Etwas aufdringlich, fand Selma. «Nunzia hautnah. Wir wollen sie zeigen, wie sie wirklich ist. Ein einfaches Mädchen aus dem Tessin, das supernett ist und superschöne, romantische Lieder und megageile Partykracher singt.»

«Dann kommt das neue Album, die neue Show», ergänzte Produzent Iviza. «Und ich kann jetzt schon verraten …» Er verdrehte die Augen und gestikulierte wild mit den Armen. «Oh – mein – Gott! Es wird gigantisch. Sowas hat die Welt noch nie gesehen.» Danach strich er sein blau-grünes Hemd glatt.

«Aha», murrte Jonas Haberer gelangweilt und trank seinen dreifachen Espresso in einem Zug. Danach wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab. «Ich bin schon ganz aufgeregt.» Leise fügte er hinzu: «Wegen des Espressos.» Er schaute zu Iviza. «Und wegen diesem fantastischen Hemd.»

«Danke», sagte Iviza lächelnd.

«Bitte. Ich bekomme gleich Schluckauf. Super!»

Nun stiess Selma Jonas mit dem Fuss an und warf ihm einen bösen Blick zu.

«Bevor Nunzia aber wieder auftritt», erklärte Jessy, «möchten wir die Imagekampagne lancieren. Tolle natürliche Fotos. Nunzia pur. Wie sie zu Hause im Tessin lebt, einkauft, kocht, alles ganz normal, wie wir alle. Das streuen wir peu à peu auf Social Media und bieten die Fotos und Videos auch den grossen und wichtigen Fernsehstationen und Magazinen an. Einige Zusagen haben wir bereits.»

«Und was passiert, wenn wieder ein Shitstorm auf Facebook, Instagram und TikTok losbricht?», fragte Selma.

«Die Leute vergessen schnell. Nunzia hat sich für ihren Fehler, für ihren Ausraster entschuldigt.»

«Keine Morddrohungen mehr?», wollte Selma wissen.

«Schon lange nicht mehr. Wir sind auf Tauchstation, haben alle Weihnachtsshows abgesagt. Alles ruhig. Nunzias Fans wollen sie endlich wieder sehen und erleben. Wir starten durch. Nunzia, das einfache Mädchen aus dem Tessin, das die Welt erobert. Die Deutschen lieben das Tessin. Italien. Italianità ist die Mutter aller Sehnsüchte.»

Selma verschluckte sich an ihrem Milchkaffee und hustete. Diesen Satz wollte sie sich merken: Italianità ist die Mutter aller Sehnsüchte …

«Wir planen übrigens auch einige Songs auf Englisch», sagte Iviza. «Und auf Italienisch und Spanisch. Nunzia, unsere Prinzessin, wird ein Weltstar.»

«Wir machen das, kein Problem, wir machen Nunzia gross», sagte Jonas Haberer. «Kommen wir nun zum geschäftlichen Teil.»

Der geschäftliche Teil bestand darin, dass Haberer eine sechsstellige Summe für das Medienmanagement verlangte – und sie, ohne zu verhandeln, zugesprochen bekam.

Nunzia lächelte Selma an und sagte: «Du weisst, dass du jetzt viel Zeit mit mir verbringen wirst. Ist das okay?»

«Wenn du wirklich dieses einfache Mädchen aus dem Tessin bist, ist es okay», antwortete Selma. «Ich bin ein einfaches Mädchen aus Basel.»

«Bist du nicht adlig?», fragte Nunzia und schaute kurz zu Haberer.

Haberer nickte.

«Nein, wirklich nicht.»

«Egal. Fangen wir gleich an», sagte Nunzia und zog die Hand weg. «Wir machen ein Foto und posten es. Okay?»

Für Selma war es in Ordnung, sie richtete ihre Frisur, lehnte sich zu Nunzia und lächelte. Nunzia griff nach ihrem Smartphone und machte ein Selfie mit Selma, Wange an Wange. Sie zeigte es Selma, dann lud sie es auf ihre Kanäle hoch und schrieb dazu: «Grosse Pläne mit Selma. Lasst euch überraschen.»

Als Selma eine Stunde später mit Jonas zum Restaurant ging und während seines Redeschwalls über das eben vereinbarte, glorreiche und vor allem lukrative Projekt auf ihr Telefon blickte, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Marcel hatte fünf Mal angerufen.

«Jonas», sagte Selma. «Warte kurz.»

«Was ist denn?»

«Marcel hat angerufen. Mehrfach. Ich fürchte, seine Untersuchung ist nicht gut …»

«Scheisse!»

5

Selma rief Marcel sofort zurück. «Liebster, was ist passiert?», fragte sie aufgeregt.

«Selma, sag du mir, was passiert ist.»

«Wie meinst du das?» Selma klemmte sich das Telefon mit der Schulter ans Ohr und knöpfte ihren beigen Wollmantel zu. Es war Mitte Dezember, und in Bern wehte ein kalter Wind durch die Lauben der Altstadt.