Lebenslust - Philipp Probst - E-Book

Lebenslust E-Book

Probst Philipp

0,0

Beschreibung

Ist sie eine seriöse Wissenschaftlerin oder eine Kräuterhexe? Oder beides? Reporterin Selma trifft im Appenzellerland die mysteriöse Fabienne, die in einem geheimen Labor in einer Alphütte das Elixier des ewigen Lebens entwickelt. Doch wirklich geheim scheint das Labor nicht zu sein: Selma bemerkt, dass Fabienne beobachtet wird. Ist die Polizei hinter ihr her? Big Pharma? Oder gar die chinesische Mafia? Es kommt zu einer Explosion, zu einer abenteuerlichen Flucht und zu einem dramatischen Finale auf dem Bodensee. Und Fabienne ist plötzlich verschwunden … Nach den erfolgreichen Werken «Alpsegen», «Wölfe» und «Gipfelkuss» entdeckt Philipp Probsts Basler Reporterin nun die Kraftorte des Appenzellerlands und wandelt auf den Pfaden der Naturheilerinnen, der Geister der Ahnen und Hexen. Kein Wunder, wirbelt all dies Selmas Privatleben durcheinander.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 343

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philipp Probst

LEBENSLUST

Die Reporterin im Appenzellerland

orte Verlag

© 2022 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel

Gesetzt in Arno Pro Regular

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-304-2

ISBN eBook 978-3-85830-310-3

www.orteverlag.ch

INHALT

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

PROLOG

Als der Vollmond hinter dem Berg aufging, war sie bereit.

Sie war ruhig. Sie sass mit gekreuzten Beinen am Boden der Hütte, der roten Fensterscheibe zugewandt, die Arme ausgestreckt, die Handflächen nach oben gerichtet. Um sie herum standen Töpfe mit Pflanzen, Kräutern und Wurzeln: Arnika, Brennnessel, Gelber Enzian und viele andere. Dazwischen Steine: Kalk, Schwefel, Quarz, aber auch Metalle wie Eisen und Zinn. Und ein grosser Felsbrocken. Ein Felsbrocken mit Einkerbungen.

Beim Kamin, in dem die Kohle glühte, sass Minouche, die schwarze Katze mit der weissen Schwanzspitze und dem weissen Fleck auf dem Kopf. Sie schaute mit ihren grünen Augen schläfrig zu Fabienne.

Fabienne spürte die Wärme. An ihren Händen, an ihrem Kopf. Bald an ihrem ganzen Körper. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie schloss ihre Augen.

Sie hörte, wie die Pflanzen knisterten. Fabienne lächelte. Denn sie war sich sicher: Nicht nur mit ihr passierte etwas, sondern auch mit den Pflanzen. Sie war erleichtert: Es passierte tatsächlich etwas! Und das lag nicht allein am Licht des Vollmonds, das durch das rote Fenster schien. Es lag auch am Fensterglas, an den Metallen darin und an der eingeschliffenen Engelsfigur.

Es lag aber auch an der klaren Luft auf 1100 Meter über Meer, an der gesamten Atmosphäre.

Und es lag am Berg. Sie nannte ihn bei seinem Ur-Namen: Sambatinus, der am Samstag geborene.

Es war Samstag, kurz nach 2 Uhr.

Sie spürte, wie Minouche sich an sie schmiegte, um sie herumstrich und sich auf ihren rechten Oberschenkel setzte. Minouche starrte zum Fenster, gähnte, schaute zu Fabienne, gähnte noch einmal. Dann fielen ihr die Lider zu.

Fabiennes Puls wurde immer schneller. Ihr Körper glühte. Es war ein Kraftakt und ein Leiden. Aber ihr Wille war stark. Sie musste durch diese Pforte hindurch. Lange, sehr lange lieferten sich Körper und Geist einen Kampf. Der Körper wollte aufgeben. Die Hitze und der Schmerz wurden unerträglich. Der Puls hämmerte in ihrem Kopf. Sie sah Flammen. Sie glaubte zu verbrennen.

Doch sie blieb sitzen. Der Wille und der Geist gewannen.

Minouche döste friedlich.

Plötzlich sah sie sich von oben. Sah sich mit der Katze in der Mitte dieses Pflanzen- und Steinkreises, ihr rot beleuchtetes, lächelndes Gesicht, ihre rotbraunen Haare, die sich aus dem Zopf lösten, den sie geflochten hatte. Sie sah, wie sich ihr Körper langsam vom Boden abhob. Sie wurde zu einer Fee.

Minouche schnellte auf, miaute.

Fabiennes Körper schwebte durch den Raum. Er durchbrach die Decke der Hütte und wurde nun in das silberne Licht des Monds getaucht, die Haare glänzten im Mondschein und flatterten im Wind. Ihr Körper wurde immer weiter nach oben getragen, zum Mond, zu den Sternen, wurde immer kleiner und verschwand im Himmelsgewölbe.

Jetzt sah sie sich als Mädchen, wie sie mit einem Chemie-Baukasten spielte. Sie sah ihren Vater, der mit einem Segelboot auf einem Ozean über die Wellen flog. Ihre Mutter, die mit Geistern sprach. Sie sah einen Knaben, der sie frech angrinste, ins Meer zog und sie unters Wasser drückte. Sie sah sich als junge Frau in der Uni sitzen, wie sie an den Lippen der alten Professorin mit den langen, geflochtenen Haaren hing. Sie sah Pflanzen, Steine, fremde Länder und Menschen. Die Bilder wechselten immer schneller. Dann begann sich alles zu drehen und verschmolz zu einer braunen, erdigen Masse. Plötzlich erschien ein Punkt, der näherkam und heller wurde. In diesem Licht war das Antlitz eines Engels zu erkennen. Es war das Engelsgesicht aus dem roten Fenster.

Abrupt wurde es schwarz.

Sie erwachte. Sie schrie. Sie war nach hinten in die Pflanzen und Steine gekippt. Alle Glieder taten ihr weh. Sie hatte fürchterliches Kopfweh. Sie atmete durch. Ihr war heiss. Sie brauchte dringend Abkühlung. Sie musste raus.

Fabienne schnellte hoch, stolperte über den Felsbrocken mit den Einkerbungen, erreichte die Türe, öffnete sie und rannte hinaus. Sie atmete die kalte Luft ein. Wie gut das tat! Sie spürte, wie der Schmerz nachliess, wie sich ihr Puls beruhigte. Atmen, atmen, atmen.

Der Mond stand hoch am Firmament. Sein Licht liess den Sambatinus bläulich erscheinen. Es war wunderschön. Es war einzigartig. Es war ein Naturschauspiel.

Fabienne ging mit festen Schritten um die Hütte herum und schloss den Laden des roten Fensters. Dann eilte sie in die Hütte zurück, stocherte mit einem Holz in der Asche im Kamin herum, blies hinein, brachte ein Stück Kohle zum Glimmen, legte das Scheit dazu. Es brannte schnell. Sie stellte einen Gitterrost mit Beinen über das Feuer und setzte einen grossen Topf mit Wasser darauf. Dann pflückte sie Blätter, Blüten und Dornen von den Pflanzen und gab sie in das Wasser. Sie zwickte Kräuter von den Stauden und legte sie ebenfalls hinein. Dazu Wurzeln, Steine und Metallklumpen.

Minouche sass daneben und starrte sie an.

Fabienne ging in den kleinen Nebenraum. Ein Schreibtisch mit Computer, Büchern, Unterlagen und Dossiers. Dahinter ein Regal mit Fläschchen, Reagenz- und Kolbengläsern. Sie nahm einige, ging zurück zur Feuerstelle, betrachtete die Flüssigkeiten in den Gläsern, roch daran und schüttete sie in den Topf. Mit einer Holzkelle rührte sie vorsichtig im Wasser, mal nach rechts, mal nach links, mal in einer Acht, mal in Herzform. Sie zählte stumm die Sekunden.

Die schwarze Katze mit der weissen Schwanzspitze und dem weissen Fleck auf dem Kopf sprang Fabienne plötzlich an, krallte sich an den Pullover und kraxelte auf Fabiennes Schulter.

Nach sieben Mal sechzig Sekunden legte Fabienne die Kelle beiseite und wartete. Sie setzte sich auf einen Schemel am Feuer und starrte in den Topf. Das Wasser begann zu brodeln und liess die Blätter und Kräuter tanzen. Ein herber Duft breitete sich aus.

Minouche schnurrte. Fabienne wurde müde. Sie knickte nach vorne und schlief auf dem Schemel sitzend ein.

Das laute Gebimmel einer Glocke liess sie erwachen. Fabienne räkelte sich, stand auf. Ihre Glieder schmerzten. Das Feuer war erloschen. Draussen war es hell. In der Hütte roch es herb und bissig. Fabienne sah um sich und suchte nach Minouche. Die Katze war verschwunden.

Fabienne stand auf, ging zur Türe und öffnete sie. Das Tageslicht blendete. Sie blinzelte, sah, dass eine Kuh mit einer grossen Glocke sie anglotzte. Fabienne hielt ihr die Hand hin. Die Kuh leckte sie mit ihrer rauen Zunge ab. Dann streckte sie ihre Zunge nach Fabiennes langen Haaren aus. Erst jetzt wurde Fabienne bewusst, dass sich die Haare aus dem Zopf gelöst hatten und nicht etwa zerzaust waren, sondern so, als wären sie lange und liebevoll gekämmt worden.

Fabienne warf die Haare in den Nacken und streichelte die Kuh. Diese trottete davon und liess ihre Glocke erklingen. Fabienne atmete tief durch, warf einen Blick auf den mächtigen Berg, den Säntis, den Sambatinus, und ging in die Hütte zurück. Sie nahm einen Suppenlöffel und schöpfte die Brühe aus dem Topf in eine Tasse.

Sie nippte daran. Der Tee war lauwarm, schmeckte bitter, bissig, erdig. Mit grossen Schlucken leerte sie die Tasse.

Sie schöpfte nach.

Nein, ein Genuss war es nicht. Aber das musste es auch nicht sein. Fabienne ging nach draussen.

Plötzlich spürte sie einen Stich im Magen. Ihr wurde übel. Schwindelig.

Wasser. Sie brauchte Wasser. Sie müsste ihren Trunk verwässern. Sie hielt ihren Bauch und rannte zum Brunnen, der neben der Hütte stand. Sie hielt den Kopf unter den Hahn mit frischem Quellwasser.

Das Wasser, das über ihren Kopf plätscherte, spürte sie nicht. Sie sackte zusammen.

Es wurde ganz schnell ganz still. Sie sah jetzt weder Feen, Engel, noch Sterne.

Sie sah nichts.

Nichts.

1

Selma kam aus der Dusche. Sie trug ihren flauschigen Morgenrock und trocknete ihre langen, braunen Haare mit einem Frotteetuch.

Da klingelte die Hausglocke.

Selma wischte mit dem Tuch schnell ihre nassen Füsse ab, ging barfuss ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und schaute vom dritten Stock hinunter zum Eingang ihres Hauses «Zem Syydebändel» am Basler Totentanz. Doch es stand niemand draussen.

Es klingelte erneut.

«Ich komme», rief Selma. Sie vermutete, dass ihre Mutter, die im ersten Stock lebte, direkt vor der Wohnungstüre stand. Oder ihre beste Freundin, die gleich unter ihr im zweiten Stock wohnte. Aber nein, schliesslich war es kurz nach 9 Uhr, und Lea müsste längst in ihrem Coiffeursalon im Parterre des Hauses sein. Also würde es ihre Mutter sein. Allerdings wunderte sich Selma, dass sie klingelte. Meistens klopfte Charlotte. Und trat danach manchmal gleich ein.

Selma öffnete die Türe und sagte: «Mama, warum …»

Es war nicht Selmas Mutter Charlotte, die vor ihrer Wohnungstüre stand. Es stand überhaupt niemand da. Es kniete jemand vor ihrer Türe. Es musste ein Mann sein, denn er trug einen Nadelstreifenanzug. Der Mann kniete ganz tief und hatte den Kopf zum Boden gesenkt bis auf die Fussmatte. Er hatte halblange, gegelte Haare. Und er trug rote Cowboyboots.

«Jonas, was soll das?», fragte Selma irritiert.

«Jesusmariasanktjosef, Selmeli, bitte verzeih mir», sagte Jonas Haberer in einem hohen monotonen Singsang. «Ich bitte um Gnade.» Er hob ohne aufzublicken etwas den Kopf und atmete tief durch die Nase ein. Mehrere Male. «Ich rieche Lavandula angustifolia, wie wir Lateiner sagen. Lavendel, Selmeli, du duftest nach Lavendel. Lavendel soll eine beruhigende Wirkung haben.» Er atmete noch einmal tief ein und aus und senkte dann seinen Kopf wieder auf die Fussmatte. «Ja, ich spüre sie schon. Lavandula angustifolia tut meinem unsteten und manchmal aufbrausenden Geist gut.»

«Was ist denn mit dir passiert?», fragte Selma.

«Selmeli, oh holde und gütige Selma des adligen Geschlechts Legrand-Hedlund. Ich knie vor dir und bitte dich um Verzeihung für all meine Schandtaten. Darf ich mein Haupt nun erheben und zu dir …» Haberer stockte, starrte gebannt auf Selmas nackte Füsse, räusperte sich laut und sagte jetzt in seinem normalen, lauten und rüden Tonfall: «Selmeli, du hast griechische Füsse!»

Selma musste lachen und sagte: «Griechische Füsse? Was sind griechische Füsse?»

«Sie sind göttlich. Du bist eine griechische Göttin.»

«Jonas!»

«Von griechischen Füssen spricht man, wenn der zweite Zeh länger ist als der grosse.»

Selma schaute zu ihren Füssen: «Aha, das wusste ich nicht.»

«Deine Füsse sind wunderschön, oh göttliche Selma, aber sehr, sehr knochig. Darf ich mich nun erheben und dir ins Antlitz schauen?»

«Jonas, ich bitte dich darum.»

Unter lautem Gestöhne erhob sich Jonas Haberer, schaute Selma ins Gesicht und hob die dichten Augenbrauen: «Selmeli, du siehst schrecklich aus.»

«Oh, danke, vielleicht ist es besser, wenn du wieder hinkniest.»

«Selmeli, nicht nur deine Füsse sind knochig, dein Gesicht ist es auch.»

«Komm jetzt endlich herein», sagte Selma und ging zur Küche. «Und nenn mich nicht immer Selmeli.»

Selma goss Kaffee aus dem Krug der Filterkaffeemaschine, die sie vor dem Duschen in Gang gesetzt hatte, in zwei Tassen, gab in ihre Milch dazu und setzte sich zu Jonas an den Küchentisch.

«Wo ist die Schnapsflasche?», murrte Haberer leise.

«Es ist gerade einmal neun Uhr, Jonas.»

«Du hast recht. Aber dein Gesöff kann man ohne Schnaps nicht trinken.» Er nippte das Getränk, schluckte und verzog das Gesicht: «Doch, mit viel Fantasie kann man den Kaffeegeschmack in diesem heissen Wasser erkennen.»

«Du willst dich also entschuldigen?»

«Ja.»

Es waren gut zehn Monate vergangen, seit Selma Legrand-Hedlund, die Reporterin, ihren Auftraggeber Jonas Haberer das letzte Mal gesehen hatte. Jonas hatte zwar immer wieder angerufen und geschrieben, aber Selma hatte nie geantwortet. Das Drama, das sie im vergangenen Sommer auf dem Piz Bernina im Engadin erlebt hatte, beschäftigte sie bis heute. Ihre Erfrierungen waren verheilt. Doch nach wie vor hatte sie die Bilder vor Augen, wie Julia, die Braut, nach dem Gipfelkuss auf dem Piz Bernina mit ihrem Bräutigam beim Abstieg in den Tod gestürzt war. Bilder, die sie mit ihrer Kamera festgehalten hatte, weil sie den Abstieg des Brautpaars über den Biancograt, der Himmelsleiter, fotografieren wollte. Bilder, die Jonas Haberer anschliessend gegen ihren Willen an die Medien verkauft hatte.

«Selma, es tut mir aufrichtig leid», säuselte Haberer in seinem breiten Berner Dialekt. «Kannst du mir verzeihen? Können wir endlich wieder zusammenarbeiten?»

«Jonas, wie lange kennen wir uns?», fragte Selma, wartete aber die Antwort nicht ab. «Viele Jahre. Du warst mein journalistischer Ziehvater, mein Mentor, hast mich als Fotografin und Reporterin herumgehetzt, in die Machenschaften der Politik eingeführt, mich im Dreck wühlen lassen und mich öfters in den Schlamassel geritten. Aber gut, das ist lange her. Dann haben wir uns beide selbstständig gemacht. Ja, ich bin dir dankbar, dass du als Medienunternehmer mit all deinen Kontakten mir immer wieder schöne Aufträge zugehalten hast. Und ich glaubte wirklich, du hättest dich geändert. Ich dachte, du betrügst keine Leute mehr. Aber dann das! Jonas, du hast die Todesbilder an die Medien verscherbelt.»

«Also verscherbelt würde ich es nicht nennen», maulte Haberer. «Ich habe einen tollen Preis erhalten und redlich mit dir geteilt. Zudem haben wir das grosszügige Honorar des Brautpaars behalten können. Also ganz so schlecht ist die Sache nicht gelaufen, würde ich mal …»

«Kapierst du es nicht?», unterbrach ihn Selma wütend. «Nur weil Julia eine der reichsten Erbinnen Deutschlands war, haben sich die Medien auf die Fotos gestürzt und ihr Schicksal breitgeschlagen.»

Jonas Haberer senkte seinen Kopf und sagte kleinlaut: «Ich weiss. Schande über mich.» Nun schaute er mit Hundeblick zu Selma. «Können wir nicht wieder Freunde sein?»

Selma verschränkte die Arme. «Kann man mit dir befreundet sein? Ist überhaupt jemand mit dir befreundet?»

«Du willst, dass ich weine, nicht wahr?» Haberer verzog das Gesicht und versuchte eine Träne herauszudrücken.

«Blödmann», sagte Selma und trank Kaffee. Vielleicht hatte Haberer recht, vielleicht war es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie stellte die Tasse ab und reichte Haberer die Hand.

Jonas drückte sie fest: «Endlich, Selmeli, Selma, Madame Selma Legrand-Hedlund. Danke.» Er stand auf und sagte barsch: «Wir sehen uns.»

Klack – klack – klack. Haberer stampfte mit seinen roten Boots übers Parkett zur Wohnungstüre. Selma folgte ihm. Jonas öffnete die Türe, drehte sich um, griff in die Innenseite seines Jacketts, zückte einen Briefumschlag und sagte: «Fast hätte ich das Wichtigste vergessen.» Er überreichte Selma das Couvert, nickte, klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und verliess die Wohnung.

Haberers Schritte hallten durchs Treppenhaus. Dann hörte Selma, wie ihre Mutter Jonas begeistert begrüsste und ihn zu einem Frühschoppen einlud.

Selma lächelte und ging zurück in die Küche. Sie setzte sich und öffnete den Briefumschlag. Zum Vorschein kam ein Gutschein für einen Wellnessurlaub am Bodensee. Von Hand hatte Haberer etwas darauf gekritzelt, was Selma mühsam entziffern musste: «Für dich und deinen lieben besten Freund und Partner Märssu. Ihr dürft ab nächster Woche ausspannen. Also fast …» Dahinter hatte Jonas einen Smiley gezeichnet.

«Warum fast?», fragte sich Selma. «Habilein, was hast du vor?»

2

Selma schaute sich lange im Spiegel an. Haberer hatte recht. Sie war knochig geworden. Dass sie Gewicht verloren hatte, wusste sie. Marcel, ihre Freundin Lea und auch ihre Mutter Charlotte hatten ihr immer wieder gesagt, dass sie mehr essen soll. Doch sie konnte einfach nicht.

Wie sie auch nicht mehr arbeiten konnte. Und auch nicht malen. All das, was sie vor dem Unglück auf dem Piz Bernina, bei dem sie selbst fast gestorben wäre, mit grosser Leidenschaft gemacht hatte, war nicht mehr wichtig.

War es wirklich nicht mehr wichtig?

Zum ersten Mal zweifelte sie daran. Marcel hatte immer wieder zu ihr gesagt, dass sie Zeit brauche, irgendwann würde die Lebensfreude zurückkehren. Hatte er recht? War jetzt der Zeitpunkt gekommen?

Marcel, ihr Partner, ihr bester Freund, Bus- und Tramchauffeur bei den Basler Verkehrs-Betrieben, war eigentlich Psychologe. Diesen Beruf übte er aber nicht mehr aus, weil ihn die Patienten und deren Erkrankungen zu sehr belastet hatten. Noch immer wohnten sie nicht zusammen, und übers Heiraten hatten sie …

Selma erschrak. Heiraten! Tatsächlich. Selma hatte vor dem Unfall immer wieder daran gedacht. Sie hatten sogar darüber gesprochen. Wann war es das letzte Mal? Genau, damals, als sie auf dem Berg in diesem fürchterlichen Sturm im Delirium war und mit Marcel per Funk kurz geredet hatte. Aber seither war Heiraten kein Thema mehr gewesen.

«Selma, du musst endlich zurück ins Leben», sagte sie ihrem Spiegelbild und lächelte es an. Aber nur kurz. Sie sah das Grübchen in ihrer rechten Wange, das sie von ihrem leiblichen Vater Arvid Bengt geerbt hatte. Sie hatte es noch nie gemocht. Aber jetzt war es noch markanter geworden. Richtig eklig, wie sie fand.

Sie wandte sich ab und zog sich an. Enge Jeans, die an ihr nicht mehr wirklich eng wirkten, ein weisses Hemd, halbhohe Sandalen. Sie betrachtete ihre Füsse und schmunzelte: «Griechische Füsse …»

Sie schminkte sich dezent, frisierte ihre mittlerweile trockenen dunkelbraunen, gewellten Haare und lächelte erneut ihr Spiegelbild an. Ich muss wirklich mehr essen, nahm sie sich vor. Dann holte sie aus ihrer grossen Schublade, in der sie all ihre Handtaschen aufbewahrte, eine beige Alltagstasche hervor, steckte Haberers Gutschein hinein, um ihn Marcel zu zeigen, und verliess ihre Wohnung.

Aus dem ersten Stock hörte sie lautes Lachen. Es war Haberers Lachen. Selma klingelte bei ihrer Mutter und wurde von einer glücklich lächelnden Charlotte empfangen. Sie trug ein bordeauxrotes Kleid mit hohen schwarzen Pumps mit einem bordeauxroten Blumenmuster. Der Lippenstift passte einmal mehr perfekt dazu. Der silbergraue Pony-Haarschnitt war ebenfalls in bester Form.

«Sind wir nicht zum Mittagessen verabredet?», fragte Selma. «Du und ich und die ganze Familie? Du wolltest uns doch etwas mitteilen.»

«Aber sicher», antwortete Charlotte und bat ihre Tochter herein.

Jonas Haberer sass breitbeinig auf dem abgewetzten Biedermeiersofa und grinste. Auf dem Salontisch standen eine halbleere Flasche Aquavit und zwei Gläser. «Selmeli, habe ich nicht gesagt, dass wir uns sehen? Überraschung, ich bin immer noch da!» Er hob die Hände und schnitt eine Grimasse.

Charlotte nahm ihre Tochter in die Arme und sagte: «Ich wusste, dass es klappt. Es war auch höchste Zeit.»

Selma löste sich von ihrer Mutter und schaute sie mit ernster Miene an: «Was wusstest du? Hast du Haberer …?»

«Ich habe ihn zu unserem Familienessen eingeladen und gedacht, dass es höchste Zeit wäre, die Sache zwischen dir und ihm zu klären. Ist das verkehrt, Liebes?»

«Nein», sagte Selma zögerlich.

«Na los, Selmeli, trinken wir einen», sagte Haberer laut.

Charlotte brachte ein drittes Schnapsglas. Jonas schenkte ein, prostete allen zu und kippte den Inhalt hinunter. Selma nippte den Schnaps, Charlotte nicht einmal das.

«Danke für das Geschenk», sagte Selma zu Haberer.

«Aber gerne. Das Hotel ist sehr gepflegt und auf Öko getrimmt. Da kannst du mit Märssu den ganzen Tag mit bestem Gewissen wellnessen und die Seele baumeln lassen.»

«Und du kannst segeln lernen», ergänzte Charlotte. «Das wolltest du doch.»

Auch das hatte Selma völlig vergessen. Sie wollte mit ihrem schwedischen Vater Arvid Bengt, den sie erst kurz vor dem Drama im Engadin persönlich kennengelernt hatte, segeln. Und sie wollte mit ihm malen. Eine Leidenschaft, die sie ebenfalls von ihm geerbt hatte. Nicht nur das Grübchen.

«Wandern kannst du auch», sagte Haberer. «Das nahe gelegene Appenzellerland ist ein Wanderparadies. Das wird deiner Seele und deinem Geist und deinem Körper guttun. Du kannst all die mystischen Kraftorte besuchen und endlich wieder richtig gesund werden.»

«Also das hast du gemeint mit deinem Hinweis auf dem Feriengutschein?»

«Welcher Hinweis?», fragte Haberer.

Selma nahm den Briefumschlag aus der Handtasche und las vor: «Ihr dürft ab nächster Woche ausspannen. Also fast …»

Haberer goss sich nochmals Aquavit nach und leerte das Glas erneut in einem Zug. Dann sagte er: «Nimm auf alle Fälle deine Fotoausrüstung mit. Ich habe einen kleinen Auftrag für dich, der dir grosse Freude bereiten wird. Du besuchst eine Kräuterhexe. Eine echte Kräuterhexe!»

«Eine Kräuterhexe?»

«Na ja …» Haberer räusperte sich. «Tolle Sache. Eine Geschichte, wie für dich gemacht. Du wirst deinen Grossvater Heini Hedlund …»

«Hjalmar», korrigierte Charlotte. «Er hiess Hjalmar Hedlund und wanderte als Forscher von Schweden nach Basel aus.»

«Mitbegründer der heutigen Pharmamultis, ich weiss, liebe Charlotte», sagte Haberer und wandte sich wieder Selma zu: «Du wirst wie dein Grossvater Grosses erschaffen. Und die Pharmabranche auf den Kopf stellen.» Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ergänzte: «Mit meiner unbedeutenden Unterstützung.»

3

Im Restaurant Schiff in der St. Johanns-Vorstadt, nur hundert Meter vom Haus «Zem Syydebändel» entfernt, stocherte Selma lustlos in ihrem Teller herum. Sie hatte sich das vegetarische Menü bestellt, einen Auberginen-Pasta-Auflauf. Eigentlich schmeckte es ihr, aber in Gedanken war sie woanders.

Sie war im Appenzellerland und stellte sich vor, wie sie eine Kräuterhexe fotografierte. Was war überhaupt eine Kräuterhexe? Eine etwas seltsame alte Frau, die aus Kräutern geheimnisvolle Mixturen mischte? Selma fragte sich auch: Kann ich es noch? Beherrsche ich das Reporter-Handwerk? Und was will Haberer damit bezwecken? Was sollte der Hinweis auf die Pharmabranche? Da schenkt er mir einen Urlaub, dachte Selma, und verknüpft ihn mit einem Auftrag. Verschaukelt er mich schon wieder?

Mitten im Essen stand sie auf und bat Haberer hinaus. Charlotte, Selmas Schwester Elin und ihr Mann Eric, Marcel und Selmas beste Freundin Lea schauten irritiert, als die beiden auf die Strasse hinaustraten. Nur Erins und Erics Kinder Sven und Sören assen unbekümmert weiter.

«Jonas», sagte Selma resolut. «Was soll das?»

«Selmeli, was meinst du?»

«Du sollst mich nicht Selmeli nennen!»

«Ups, das wird ein ernsthaftes Gespräch.» Er zupfte an der weissen Serviette, die er ins Hemd gesteckt hatte. In seinen Mundwinkeln klebten Reste von der Tomatensauce.

«Du schickst mich in die Ferien und gleichzeitig zu einem Auftrag. Verkaufst du mich für blöd?»

«Nein, natürlich …» Haberer hielt inne und wartete, bis ein Tram der Linie 11 vorbeigefahren war. «Natürlich nicht. Ich dachte wirklich, der kleine Auftrag freut dich.»

«Für wen ist der Auftrag? Wer ist unser Kunde?»

Haberer druckste herum: «Ich habe noch keine definitive Strategie. Wir müssen die Geschichte zuerst im Trockenen haben. Das ist ein bisschen …»

«Du gibst mir einen Auftrag, der möglicherweise im Papierkorb landet?», unterbrach ihn Selma unwirsch. «Einfach, um eine übergeschnappte Reporterin etwas werkeln zu lassen? So als Psychotherapie? Danke für dein Mitleid.»

«Mach mal halblang, Selmeli, der Auftrag ist delikat.»

«Aha?»

«Sehr delikat sogar.»

«Und wer hat dich darauf gebracht?»

«Das kann ich dir nicht sagen.»

«Das wird immer besser. Die doofe Selma erstellt eine Fake-Story für einen geheimnisvollen Kunden oder einen Fake-Kunden!»

Haberer packte Selmas Arm und sagte jetzt wütend und laut: «Jetzt krieg dich wieder ein, Selma. Es reicht endgültig. Erstens habe ich mich entschuldigt. Und zweitens bist du an diesem Scheiss-Unfall auf dem Piz Bernina nicht schuld. Und drittens», Haberer sprach nun sehr leise in Selmas linkes Ohr, «ist das ein verdammt heisser Auftrag. Die Kräuterhexe ist nicht einfach eine Kräuterhexe, sondern heisst Fabienne Richemond und ist Doktor der Biochemie. Sie erforscht das ewige Leben. Sie ist verdammt nah dran, den Schlüssel beziehungsweise den Cocktail dafür zu finden. Und wir werden die Story als Erste gross bringen und richtig abkassieren.» Er liess Selma los, hustete und ergänzte: «Sofern alles gut ausgeht.»

«Sofern alles gut ausgeht?»

«Also, die Sache ist die …» Er neigte sich wieder zu Selma und sprach noch leiser. «Big Pharma ist natürlich nicht erfreut, dass eine Kräuterhexe beziehungsweise eine unabhängige Forscherin den Code zum ewigen Leben knackt. Die werden alles versuchen, an sie heranzukommen. Und wir werden uns warm anziehen müssen, Selmeli. Gerade du, da du in Basel wohnst, der Hauptstadt der Big Pharma.»

«Benutzt du mich als Versuchskaninchen? Als dumme Nuss, die es nicht mehr bringt?»

Haberer schaute Selma mit funkelnden Augen an und zischte: «Ich schicke dich einzig und alleine deshalb zu dieser Hexe, weil du die Beste bist. Hast du das kapiert?»

«Okay», sagte Selma kleinlaut.

«Bitte?», schrie Haberer. «Hast du das kapiert?»

«Ja», sagte Selma nun mit fester Stimme. «Danke, ich muss und will zurück ins Leben.»

Haberer strich ihr über die Wange: «Braves Mädchen. Und kein Wort über Big Pharma. Zu niemandem. Auch nicht zu Märssu. Das ist alles geheim. Du fotografierst einfach eine Kräuterhexe, die einen Zaubertrank mixt.» Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht, um anzudeuten, dass diese Kräuterhexe nicht alle Tassen im Schrank hätte.

Selma nickte, ging mit Haberer zurück ins Restaurant und setzte sich wieder an ihren Platz zwischen Marcel und Lea. Marcel fragte: «Alles in Ordnung, Liebste?»

«Ich glaube schon. Wir fahren nächste Woche in die Ferien.»

Marcel nahm Selmas Hand und drückte sie fest. «Ich weiss. Jonas hat mich informiert, und ich konnte Ferien nehmen.» «Du hast das …»

«Ich habe gar nichts», sagte Marcel. «Also fast nichts. Ich habe Jonas lediglich gebeten, dir endlich Arbeit zu geben. Weil du aus diesem Loch herausmusst. Den Rest hat er gemacht.»

«War ich unerträglich?»

«Nein … aber … es war manchmal schwierig.»

«Also unerträglich.» Selma gab Marcel einen Kuss: «Sag es einfach, wie es ist, du lieber Klugscheisser.»

Marcel neigte sich vor und schaute zu Lea hinüber: «Deine Freundin ist übrigens auch nicht ganz unschuldig.»

Lea liess ihr Besteck fallen. Alle am Tisch und auch an den Nachbartischen verstummten. Lea weinte plötzlich. Dann wischte sie sich die Tränen ab und sagte: «Selma, weisst du eigentlich, dass wir uns alle seit Monaten Sorgen um dich machen? Du gehst nicht mehr in die Kletterhalle wie vor der Tour auf den Piz Bernina, du vernachlässigst unsere Fasnachtsclique. Dass dein Buch über die Wölfe erschienen ist und ein Erfolg wurde – nicht einmal das konnte dich aufmuntern. Und das Schlimmste», Lea wischte sich nochmals die Tränen ab, «du kommst kaum noch zu mir in den Salon.»

«Das stimmt nicht», wehrte sich Selma.

«Du kommst höchstens noch einmal im Monat, früher bist du jede Woche oder jeden Tag gekommen!» Alle am Tisch lachten. An den Nebentischen wurde gemurmelt. «Das ist doch nicht normal», fuhr Lea fort. «Süsse, wir mussten irgendwas tun. Und der, der dich bisher immer aus der …» Lea zögerte.

«Aus der Scheisse geholt hat», ergänzte Selma.

«Das war meistens Jonas. Selma …» Ihr Stimme wurde von Tränen erstickt.

Selma neigte sich zu ihr und umarmte sie.

Plötzlich klingelte jemand mit dem Messer an ein Glas. Es war Charlotte: «Darf ich diesen emotionalen Augenblick noch ein bisschen emotionaler machen? Ich habe dieses Familientreffen einberufen, weil ich euch etwas zu sagen habe.»

Alle schauten zu Charlotte.

«Nach dem Tod meines geliebten Mannes Dominic-Michel wurde mein Leben, wie soll ich sagen, schwierig? Ich wurde eine alte Frau.»

Gemurmel in der Runde.

«Doch, doch», fuhr Charlotte fort. «Ich habe zwei wunderbare Töchter», sie schaute zu Selma und Elin, «zwei wunderbare Enkel, eine wunderbare Familie und wunderbare Freunde.» Nun schaute sie zu Marcel, Lea und Jonas. «Aber die Lebensfreude fehlte mir. Ich dachte, ich nehme mein Geheimnis über Selmas Vater mit ins Grab. Aber die Dinge kamen anders. Ich habe meine damalige Liebe in Schweden wieder getroffen. Wir kamen uns näher. Und ich habe ihn in seiner Heimat besucht. Selma wollte mich leider nicht begleiten, was ich verstehen kann, nach allem, was im Engadin passiert ist. Jetzt möchte ich euch mitteilen, dass Arvid Bengt in die Schweiz kommt. Zu Mittsommer. Stellt euch vor: Ein Schwede verzichtet auf das Mittsommerfest in seinem Land. Nur, um bei uns zu sein.»

«Mama», sagte Selma. «Mittsommer? Arvid Bengt kommt ausgerechnet zu Mittsommer?»

«Ja. Es war die Mittsommernacht vor ein paar Jährchen, in der du entstanden bist, Selmeli.»

«Wow», sagte Selma. «Und wie lange bleibt mein Papa hier?»

Charlotte schaute jeden einzelnen am Tisch an. Es herrschte absolute Ruhe im Restaurant. Selbst die Servicemitarbeitenden unterbrachen ihre Arbeit und schauten zu Charlotte.

Charlotte lächelte bloss. Dann setzte sie sich und lächelte ungeniert weiter.

Nun stand Jonas Haberer auf: «Es war mir eine Ehre, bei diesem Festmahl dabei zu sein.» Er zog die Serviette aus dem Hemd, wischte sich zuerst den Mund ab, dann die Stirn und schliesslich seine Augen: «Mir kommen die Tränen.» Er schaute zu Charlotte: «Ich dachte, da ich schon bei Selmeli, ähm, Selma, keine Chance habe, könnte ich bei dir landen, Charlotte.» Alle lachten. «Nun denn», fuhr Haberer fort, «ich verlasse euch leider, ich muss zu einem Kumpel, mit dem ich schon einmal die Welt gerettet habe. Tja, was soll ich sagen? Ich bin zwar der grösste Reporter, aber dennoch …», er nahm die Menükarte und zeigte auf das Logo des Restaurants, einem Segelschiff, «…dennoch bin ich nur ein kleiner Matrose auf dieser Welt.»

Er winkte und verliess das Restaurant Schiff mit lauten Schritten. Klack – klack – klack.

4

Selma hätte nach dem Mittagessen gerne mit Marcel geredet. Aber er musste zum Dienst auf das 16er-Tram. Also wandte sich Selma an ihre Schwester Elin: «Machen wir einen Spaziergang?»

Elin war einverstanden und verabschiedete sich von Eric und ihren Söhnen Sven und Sören. Eric meinte, dass sie bestimmt einiges zu bereden hätten, da Charlottes Neuigkeit doch sehr viel Spielraum für Spekulationen lassen würde.

«Was soll das?», meinte Elin, als sie mit Selma unten am Rheinufer angekommen war.

«Mein leiblicher Vater Arvid Bengt besucht uns», erklärte Selma. «Oder was meinst du?»

«Ich frage mich, was zwischen den beiden läuft. Mama hat einmal mehr nur Andeutungen gemacht.»

Selma blieb stehen und schaute auf den Rhein: «Würde es dich stören, wenn etwas laufen würde? Wäre das für dich ein Verrat an unserem Vater Dominic-Michel? Ach, Elin, wir wissen doch längst, dass die beiden ein Paar sind. Ich freue mich für sie.»

Elin umarmte Selma von hinten und flüsterte in ihr Ohr: «Es ist alles gut, so wie es ist. Mama hat unseren Vater Dominic-Michel geliebt. Und wenn sie jetzt ihre alte Liebe zu Arvid Bengt, deinem Erzeuger, wiederentdeckt hat, dann ist das auch gut. Vielleicht bekomme ich wie du auch noch einmal einen Vater. Und Sven und Sören einen Grossvater.»

Selma drehte sich um und klammerte sich nun richtiggehend an Elin: «Das wäre so schön. Und wir werden nie vergessen, dass Dominic-Michel unser Vater ist. Auch wenn ich nicht seine Gene habe. Versprich mir, Schwesterherz, dass wir eine Familie bleiben.»

«Das verspreche ich dir gerne, grosse Schwester», sagte Elin. «Mama wirkt wirklich viel jünger.»

«Du wolltest sie schon ins Altersheim verfrachten», sagte Selma gespielt empört.

«Sie hat sich eine Zeit lang auch wie eine alte Tante angestellt. Aber dank Arvid Bengt lebt sie auf. Und er ist Schwede, wie ihr Vater und unser Grossvater, der grosse Forscher Hjalmar Hedlund.»

Die beiden Frauen spazierten dem Rheinbord entlang Richtung Totentanz und Mittlere Brücke.

«Gehen wir einmal alle zusammen schwimmen?», fragte Selma.

«Alle zusammen? Wen meinst du mit alle?»

«Die ganze Familie.»

«Na ja, wenn Arvid Bengt sich in den Rhein traut. Ohne Mama allerdings. Du weisst, Mama würde nie im Rhein schwimmen. Er ist und bleibt für sie eine Kloake.»

«Da wäre ich nicht so sicher. Wenn Arvid Bengt hineinspringt, kommt Mama vielleicht auch. Arvid Bengt ist immerhin Wikinger und kann segeln. Also wird er auch in Seenot geratene Damen retten können. Mama wird entzückt sein.»

Die beiden Schwestern lachten.

Nach einer Weile fragte Elin: «Was war das eigentlich mit Jonas? Was habt ihr draussen besprochen?»

«Es ging um einen etwas merkwürdigen Auftrag. Ich soll im Appenzellerland eine Kräuterhexe fotografieren, die aber eine seriöse Wissenschaftlerin ist und sich mit Genetik und solchen Sachen auskennt.»

«Sie sucht nicht zufällig nach der Medizin für das ewige Leben? Oder zumindest nach dem Zaubertrank, der das Leben verlängert?»

«Doch», sagte Selma erstaunt und blieb stehen. «Woher weisst du das?»

«Das ist in der Pharmabranche ein Riesenthema, weil es auch ein Milliardengeschäft sein wird. Die Alterung stoppen, für immer jung sein – Selma, stell dir das mal vor!»

«Möchtest du das?»

«Nein», sagte Elin und zog mit den Händen ihre Haut im Gesicht nach hinten um ihre ersten Fältchen zu glätten. «Also …»

«Hör auf», sagte Selma und lachte. «Ich wäre schon froh, es gäbe eine Anti-Grübchen-Pille!» Sie lächelte und zeigte auf ihr Grübchen in der rechten Wange.

«Die Menschen erforschen die Alterung schon lange», sagte jetzt Elin sehr sachlich. «Und Unsterblichkeit ist ein Menschheitstraum. Wo ist das Kraut zum ewigen Leben? Ich finde die Mischung Naturwissenschaftlerin und Hexe sehr originell. Und dann ausgerechnet im Appenzellerland.»

«Aha? Wie meinst du das?»

«Das Appenzellerland war schon immer bekannt für eine äusserst liberale Gesundheitspolitik. Deshalb gab es dort immer wieder viele Quacksalber und Scharlatane. Aber nichtsdestotrotz: Das Appenzellerland ist eine sagenumwobene und mystische Gegend. Ich könnte mir vorstellen, dass da übersinnliche Kräfte mit im Spiel sind.»

«Wow, Elin», sagte Selma erstaunt. «So kenne ich dich überhaupt nicht.»

«Wie kennst du mich nicht?» Elin schaute Selma erstaunt an und strich sich durch ihre kurzen Haare.

«Elin, du bist doch Wissenschaftlerin. Du glaubst nur das, was man beweisen kann.»

«Ich bin Apothekerin. Und durchaus mit der Homöopathie vertraut. Und mit den Kräften von Kräutern und Wurzeln und Steinen. Es ist ein grosses Gebiet. Und welches Medikament letztlich wie auf einen Menschen wirkt, ach, wer weiss das schon so exakt?»

«Hilfst du mir bei der Recherche? Darf ich dich fragen, wenn ich nicht mehr weiterweiss?»

«Natürlich. Ich werde mich in meine alten Studienbücher vertiefen und mich im Internet über die aktuellen Forschungen zur Unsterblichkeit schlau machen.»

«Das ist lieb, vielen Dank.»

«Und dir viel Glück, Liebes, beim Wiedereinstieg. Aber falle nicht gleich in den Reporterin-Modus zurück.»

«Bitte?»

«Na ja, in den Selma-ist-fixiert-auf-eine-Story-Modus.»

«Aha. Davon hat mir Lea schon berichtet.»

«Deine beste Freundin wird es wohl wissen. Marcel ebenso. Mama und ich kennen diese Selma natürlich auch. Nur noch Reporterin, keine Selma mehr.»

«So schlimm?»

«So schlimm.»

Selma sagte nichts dazu.

Die Schwestern gingen noch einige Schritte und schauten auf den Rhein. Das Wasser stand hoch, war braun und hatte mächtig Zug, weil es in den letzten Tag oft und reichlich geregnet hatte. Die Klingentalfähre legte gerade ab und liess sich zur Kleinbasler Seite treiben.

«Und die letzten Monate?», fragte Selma. «Seit dem Drama am Piz Bernina? Auch schlimm?»

«Ja, auch schlimm.»

«Wie schlimm?»

«Du hast deine Verletzungen auskuriert, Julias Tod verarbeitet, Haberers Fehltritt mit den Absturzbildern. Dann das Kennenlernen deines leiblichen Vaters. Da ist viel zusammengekommen.»

«War ich zickig?»

«Verletzlich, Selma, sensibel.»

Selma lachte laut heraus und sagte: «Jetzt klingst du wie Marcel!»

«Dein Psychologe, Partner und liebster Klugscheisser», sagte Elin und ergriff Selmas Hände: «Er war immer für dich da. Vergiss das nicht.»

Selma umarmte Elin und sagte: «Danke. Danke für alles. Ich liebe dich, Schwesterlein.»

«Ich dich auch. Und jetzt freue dich auf den Bodensee, das Appenzellerland und auf deine Ferien mit Marcel.»

«Wir könnten eigentlich den Rhein hinaufschwimmen», meinte Selma. «Dann kämen wir direkt zum Bodensee. Irgendwann in hundert Jahren. Oder wir können übernatürliche Kräfte mobilisieren.»

«Oha», kommentierte Elin, «ist die Abenteuerlust zurückgekehrt?»

«Wer weiss …»

Die Schwestern gingen Arm in Arm zum Totentanz. Dann verabschiedete sich Elin und ging zum 34er-Bus, der sie an ihren Wohnort in Riehen brachte.

Selma winkte ihr nach. Und sie empfand ein Gefühl, dass sie fast vergessen hatte: Glück.

5

Jonas Haberer hatte sich nicht lumpen lassen. Die Romantiksuite im Märchenschloss in Rorschacherberg erwies sich tatsächlich als romantisch: ein wunderbarer Ausblick auf den Bodensee, weisse bis auf den Boden reichende Vorhänge, Holzmöbel und rosarote Bettwäsche. Und Aquarelle mit Dornröschenmotiven an den Wänden. Denn Selma und Marcel hatten die Dornröschensuite bekommen. Alle Romantiksuiten hatten den Namen eines Märchens und waren mit entsprechenden Bildern ausgestattet. Es gab auch viele Blumen im Zimmer. Passend zu Dornröschen natürlich Rosen. Und es hatte ein Cheminée. Selma war begeistert. Dazu kam, dass das Hotel, wie Haberer versprochen hatte, viel Wert auf Nachhaltigkeit legte, vorwiegend Naturmaterialien verwendete und regionale und biologische Speisen anbot – alles ganz nach Selmas Gusto.

Kaum waren sie angekommen, plante Selma mit Marcel die nächsten drei Wochen. Diese bestanden aus einem Segelkurs auf dem Bodensee, vielen Wanderungen im Appenzellerland und ein wenig Wellness. Beide hatten sich in Basel bereits auf den Segelkurs vorbereitet, Marcel hatte mehrere Segelbücher mitgenommen. Selma hingegen viele Werke, Unterlagen und Schriften über Kräuter und Hexen, aber auch über Biologie, Biochemie und Biogerontologie, der Forschung über die Ursache des Alterns, Fabiennes Spezialgebiet.

Als sie beim Abendessen sassen, bekam Selma eine Nachricht von Jonas Haberer. «Kräuterhexe morgen 15 Uhr, am Hochhamm bei Urnäsch, siehe Karte.» In der zweiten Nachricht war eine Karte zu sehen, in der eine Hütte rot eingekreist war. In einer dritten Nachricht schrieb Haberer: «Alles geheim! Kannst Märssu mitnehmen. Aber kein Wort über BP.»

Selma musste kurz überlegen, was BP bedeuten mochte. Dann kam sie drauf: Big Pharma.

«Selma?», fragte Marcel. «Alles in Ordnung?»

«Haberers Auftrag. Die Kräuterhexe. Morgen 15 Uhr.»

« Perfekt.»

«Wie perfekt?»

«Du gehst dahin, machst eine tolle Reportage, und dann ist die Sache erledigt.»

«Stimmt, eigentlich ist es ganz einfach.»

«Siehst du», sagte Marcel, «und ich werde mir in deiner Abwesenheit eine Massage gönnen, schlafen, mir noch eine Massage gönnen, einen Apéro geniessen, meine neu erworbenen Segelbücher studieren, einen zweiten Apéro nehmen und mich auf dich freuen.»

«Willst du mich nicht begleiten?»

Marcel legte sein Besteck auf den Teller, wischte sich den Mund ab und sagte: «Nein, ich denke, du solltest alleine zur Kräuterhexe gehen. Es ist schliesslich ein Job. Du liebst doch deinen Beruf als Reporterin. Es ist an der Zeit, dass du ihn wieder ausübst.»

«Guter Plan, Liebster», sagte Selma, nahm seine Hand, streichelte sie und lächelte.

Selma fuhr am nächsten Morgen kurz nach 7 Uhr mit dem gemieteten E-Bike vom Hotel nach Rorschach, dann mit dem Zug via St. Gallen und Herisau nach Urnäsch im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Sie genoss die knapp einstündige Reise und freute sich immer mehr auf ihren Auftrag. Die hügelige und liebliche Landschaft des Appenzellerlands gefiel ihr. Der Himmel war wolkenlos. Es würde ein wundervoller Tag werden.

Sie fühlte sich gut. Sie fühlte sich stark. Vielleicht noch nicht ganz so wie früher. Aber sie würde es schaffen. Marcel, Elin, Lea, ihre Mutter – alle meinten es gut mit ihr. Selbst Jonas Haberer. Es war wirklich Zeit, wieder als Reporterin zu arbeiten.

Sie war froh, dass sie heute alleine unterwegs war. Marcel hatte recht, es ging um einen Job. Und sie wusste doch, dass sie eine gute Reporterin war. Obwohl sie verunsichert war – Selma war zuversichtlich, dass das Selbstvertrauen zurückkehren würde, sobald sie die Kamera vor ihrem Auge haben und die Kräuterhexe fotografieren würde.

Von Urnäsch stieg sie zügig den Wanderweg empor. Immer wieder blieb sie stehen, atmete durch, trank Wasser aus ihrer Flasche und spürte, wie ihre Zuversicht immer grösser wurde. Bei einer etwas längeren Rast kramte sie ihre kleine, aber sehr gute Kamera hervor und machte einige Landschaftsaufnahmen. Sie ging weiter, fotografierte Bäume, den Wald, Bauernhäuser, weidende Kühe, Blumen. Die Lust am Fotografieren wurde immer stärker. Sie entdeckte da und dort neue Motive, fotografierte, spielte mit der Technik, stellte verschiedene Belichtungszeiten und Blenden ein und vergass die Zeit.

Nur den Säntis, diesen mächtigen, schroffen Berg mitten in dieser schönen Landschaft mit den überall verstreuten Bauernhöfen, nein, ihn fotografierte sie nicht. Sie schaute ihn auch nie lange an. Sie fand ihn bedrohlich. Lag es daran, dass die fürchterlichen Ereignisse auf dem Piz Bernina noch präsent waren? Selma war sich nicht sicher.

Selma setzte sich ins Gras und ass einen Kraftriegel, trank den Milchkaffee aus der Thermosflasche, den sie sich im Hotel hatte einfüllen lassen. Sie blinzelte in die Sonne und fühlte sich immer besser. Lag es an der Natur? An der Magie dieser Landschaft? An den Kraftorten, von denen Haberer erzählt hatte? Oder einfach daran, dass sie endlich wieder einmal wanderte? Egal, es tat ihr gut.

Sie sah sich als Mädchen, wie sie und ihre Schwester Elin tapfer ihrem Vater Dominic-Michel auf den unzähligen Wanderungen hinterherstapften, nicht immer mit grosser Freude, aber nachträglich – nachträglich empfand sie diese Ausflüge als grosses Glück, als Familienglück. Vor allem, da sie jetzt wusste, dass Dominic-Michel nicht ihr leiblicher Vater war, er sie aber immer wie sein eigenes Kind behandelt hatte.

Und plötzlich machte sich ein Gedanke breit, der seit vielen Jahren nicht mehr präsent war, warum auch immer, vielleicht hatte sie ihn verdrängt oder einfach nicht wahrhaben wollen: Familie. Warum hatte sie keine Familie?

Selma war jetzt ganz aufgeregt. Natürlich hatte sie eine Familie. Sogar zwei, wenn sie die Familie ihres schwedischen Vaters dazuzählte. Aber eine eigene Familie? Kinder? Mit Marcel? Sie spürte, wie ihr Herz frohlockte.

Sie kramte das Smartphone aus dem Rucksack und rief Lea an. Sie musste diesen Gedanken unbedingt und sofort mit jemandem teilen. Und dafür kam nur Lea in Frage.

«Süsse», sagte diese, «ist alles gut? Ich bin gerade …»

«Lea, wir müssen reden», sagte Selma hastig. «Wir müssen unbedingt reden. Ich bin gerade auf einer Wanderung im Appenzellerland, alleine, und dabei kam mir ein Gedanke.»

«Ich hoffe, ein schöner Gedanke.»