Die Brandung – Nebelschwester - Karen Kliewe - E-Book

Die Brandung – Nebelschwester E-Book

Karen Kliewe

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Beschreibung

Ein Mord ohne Opfer. Eine stumme Zeugin. Am Strand unterhalb des Holnis Kliffs wird eine stumme junge Frau aufgefunden, blutverschmiert und nackt. Ohlsen und sein Team entdecken auf der einsamen Halbinsel eine geheime Kultstätte und jede Menge menschliches Blut, aber kein Opfer. Die Spur führt zu einer spirituellen Gruppe, die nach dem frühmittelalterlichen Völven-Kult lebt. Ohlsen holt sich Rat bei Archäologin Fria Svensson, die aber gerade eine andere Sorge umtreibt: Der nette neue Lebensgefährte von Mitbewohner Marten scheint ein gefährliches Doppelleben zu führen ...

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Seitenzahl: 477

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Der Strand unterhalb des Holnis-Kliffs. Eine Frau wird aufgefunden – blutverschmiert und nackt. Sie lebt, aber sie weigert sich zu sprechen. Kommissar Ohlsen und das Team der Flensburger Kripo entdecken auf der einsamen Halbinsel eine Art Kultstätte und jede Menge Blut, aber kein Opfer. Wurde hier womöglich ein Mensch geopfert? Als eine Gruppe von Spiritisten, die dem frühmittelalterlichen Völven-Kult anhängt, in Verdacht gerät, wächst Ohlsens Unmut. Mit Spiritualität hat er nichts am Hut. Hilfe erhofft er sich von Archäologin Fria Svensson, deren kriminalistischer Spürsinn sofort geweckt ist. Sie will undercover ermitteln. Dabei treibt sie noch eine ganz andere Sorge um: Poul, der neue Lebensgefährte von Mitbewohner Marten, ist offenbar nicht der nette, hilfsbereite Mann, für den ihn alle halten. Vielmehr scheint er ein gefährliches Doppelleben zu führen …

 

Von Karen Kliewe sind bei dtv außerdem lieferbar:

Moorengel

Leichenfischer

Karen Kliewe

Die Brandung

Nebelschwester

Ein Ostsee-Krimi

Prolog

Es war ein leises Rauschen.

Von Blut, das durch seinen Kopf floss.

Und ein dezentes Knacken, immer dann, wenn der Speichelfluss ihn zu einer Schluckbewegung nötigte. Hinzu kamen seine Atemzüge, jeder einzelne unüberhörbar.

Die Luft an- und die Spucke zurückzuhalten, brachte nichts, außer, dass der Puls mit jeder Sekunde ein klein wenig lauter gegen seine Schläfen pochte.

Es gab sie einfach nicht, die absolute Stille. Sie war eine verdammte Lüge. Und das, obwohl das tiefe Schwarz der Nacht alle Farben, Formen und Töne um ihn herum erstickt hatte. Jungfräulicher konnte ein Tag nicht sein.

Kein Lärmen. Kein Plappern. Kein nerviges Gelächter. Immerhin.

Er nahm einen tiefen Atemzug, pumpte seinen Brustkorb auf, bis er meinte, platzen zu müssen, und ließ die Luft abrupt wieder entweichen.

Intensive Gerüche. Nach muffiger Erde und modrigen Algen.

Bakterienfürze. Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht.

Den Hoodie im Nacken zusammengeknautscht, lehnte er an dem Baum und wartete. Sein Schlafsack raschelte leise.

Da, jetzt ging es los!

Angesäuert bemerkte er, wie der Morgen das Unvermeidliche einläutete und die Nacht verdrängte. Schon trieb die Sonne einen orangefarbenen Keil durch das Schwarz und trennte es in zwei ungleiche Teile.

Frühnebel hing über dem Kleinen Noor.

 

Dreißig Minuten später packte er seinen Kram zusammen und machte sich auf den Weg. Er ließ die verlandete Bucht rechts liegen und wanderte in Richtung Holnis-Kliff.

Auf der kurzen Holzbrücke, die den einzigen Durchlass zur Ostsee überspannte, blieb er stehen. Die Meeresoberfläche der Innenförde glänzte unwirklich, gegossen zu einem riesigen Spiegel. Schon aus Gewohnheit fuhren seine Finger über das rissige Holz des Geländers, bevor er sich löste und seinen Weg fortsetzte.

Wie oft war er diesen schmalen Trampelpfad schon gegangen? Ein großer Schritt über kniehohe Pflanzen, dann stand er inmitten der gelben und orangeroten Klinkersteine, der Überbleibsel der alten Ziegelei. Irgendjemand hatte zwei Dutzend von ihnen zu einer Fläche ausgelegt. Ihr geometrisches Muster wirkte falsch zwischen all den verworrenen Haufen abgestorbener Braunalgen, zwischen Federn, Feuersteinen, Granit und Vogelkot.

Rechts von ihm erhoben sich die steilen, sandigen Hänge des Kliffs. Der schmale Strand davor: leer.

Gut so.

Das Verbotsschild ignorierend ging er weiter. Sanftes Knirschen von zerbrechenden Muscheln begleitete jeden seiner Schritte. Dicke Treibholzstämme, der waagerecht wachsende Baum, der sich mit aller Kraft an den Hang zu klammern schien, die … Plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen, das dort nicht sein sollte. Menschliche Spuren im Sand. In einem Sperrgebiet, zu dem die Öffentlichkeit keinen Zutritt hatte. Wie alt die Abdrücke waren? Schwer zu sagen. Er selbst war schon seit Tagen nicht mehr hier unten gewesen.

Das Stöhnen floss einfach aus ihm heraus. Unbewusst rieb er sich die feuchte Nasenspitze. Was jetzt?

Nachsehen?

Ignorieren und abhauen?

Er gab sich einen Ruck und ging den aufgewühlten Sandstrand entlang bis zu einer Stelle, an dem der dichte Bewuchs der Klippe bis an die Wasserlinie reichte. Hier folgten die Abdrücke nicht, wie anzunehmen gewesen wäre, dem Küstenverlauf.

Natürlich tun sie das nicht.

Wie provozierend ihn die grüne Blätterwand anstarrte! Er wusste genau, was sich in ihrer Mitte versteckte. Und es brachte extrem zwiespältige Gefühle in ihm hervor.

Oft genug hatte er sich eingeredet, dass es nur ein paar blöde Kiffer waren, die sich an diesen seltsamen Ort verkrochen und sich die Birne zudröhnten.

Abgedrehte Spinner!

Er lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch. Ein Vogel schrie. Irgendwo schlugen Flügel. Weit entfernt tönte das Signalhorn eines Schiffes. Keine menschlichen Stimmen. Also traute er sich weiter. Unter umgestürzten, kahlen Bäumen und zwischen dichtem Buschwerk hindurch, auf einen Weg, der keiner war. Nur ein paar abgeknickte Äste und die schmale Spur von platt getretenem Gras ließen erahnen, dass die Richtung stimmte.

Nach zwei letzten Schritten öffnete sich die Vegetation und gab den Blick auf einen kleinen sandigen Platz frei. Und auf große Felssteine, angeordnet zu einem Kreis. So ausladend und schwer, dass sie nicht von Menschenhand dorthin gestellt worden sein konnten. Und doch wirkten sie wie ausgerichtet, wie bewusst platziert.

Mit mulmigem Gefühl blickte er auf zwei eng zusammenstehende Granitblöcke, von denen der hintere um einiges höher war als der vordere.

Der Stuhl.

Dort hatte sie gestanden, mit hochgereckten Armen, die Frau.

Die Hexe.

Mit dem wirren weißen Haar und Augen, denen die Pupillen fehlten.

Kranker Scheiß!

Er bekam jetzt noch Gänsehaut. Seit jener Nacht versuchte er, diese Stelle des Kliffs zu meiden. Er war nicht scharf darauf zu erfahren, was die Alte und ihre Anhänger dort trieben. Allein ihre skurrilen Gesänge! In einer Sprache, die er nicht verstand. Man konnte sie hören, unten am Strand.

Schaudernd wollte er sich abwenden, als ihm ein großer dunkler Fleck auffiel. Die Farbe des Sandes … rostrot. Mit hochgezogenen Schultern trat er näher. Sprenkel – auch auf den Felsen.

Steinkreis. Hexe. Opferkult. Sein Gehirn spuckte Bilder.

Das war doch nicht … Blut?

Verdammt viel Blut.

Hatten die Irren etwa eines der Tiere …? Angeekelt ging er in die Hocke, drehte suchend den Kopf. Fanden sich hier irgendwo die Reste eines Kadavers?

Er stockte. Rechts von ihm lag etwas. Es lugte hinter einem der Steinkolosse hervor.

Kein Kadaver!

Von einem auf den anderen Augenblick war er wie gelähmt, hielt instinktiv die Luft an.

Eine Hand. Scheiße, da liegt ’ne verdammte Hand!

Weg! Er sollte einfach nur abhauen, rennen, so schnell es ging. Doch sein Körper reagierte nicht.

Stattdessen fraß sich jedes einzelne Sandkorn, das die fremde Haut bedeckte, in sein Gedächtnis.

Einer der zugedröhnten Spinner, der seinen Rausch ausschläft?

Ja, so konnte es sein. Alles ganz harmlos.

Und das Blut?

Wie in Zeitlupe richtete er sich auf, seine Pupillen fixierten die Hand. Sie rührte sich nicht. Kein Zittern, kein Zucken. Mit angespannten Muskeln und wie fremdgesteuert stakste er geradewegs auf die leblos daliegenden Finger zu.

Die Finger einer Frau.

Jeder weitere Schritt, mit dem er den Felsblock umrundete, ließ ihn mehr von dem Körper erkennen, zu dem die Hand gehörte. Er lag auf dem Bauch. Ein Arm ausgestreckt. Lange, glatte Haare, die sich über den nackten Rücken ergossen. Ein schamlos entblößter Po, leicht angewinkelte Beine … Das stärkste Signal jedoch ging von der Haut aus.

Verdammte Scheiße, was ist mit ihrer Haut?

Die Schlussfolgerung, die sein Gehirn ihm anbot, entlockte ihm einen hysterischen Schrei. Plötzlich schwankte der Boden. Er torkelte weg von ihr. Warum war er hergekommen? Der falsche Ort. Verschwommene Bilder. Er hatte das Gefühl, in einem Meer aus Vaseline zu versinken. Dann machte irgendwer das Licht aus.

EINS

»Helt ærligt, das darf doch echt nicht wahr sein!« Fria Svensson warf sich auf die Seite und griff erneut nach ihrem Handy. Das Display leuchtete grell auf. Zehn vor fünf, genau sieben Minuten später als beim letzten Kontrollblick. Seit über einer Stunde wälzte sie sich in ihrem Bett herum, ohne wieder einschlafen zu können. Und weshalb? Wegen nichts! Ihre Arbeit im archäologischen Museum war nicht stressiger als sonst, sie hatte keine emotional belastende Aufgabe vor der Brust – Vollmond war auch nicht. Wobei, dafür war sie eh nicht empfänglich. Wozu also dieser unnütze Schlafentzug?

Sie war spät ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Keine drei Stunden danach war sie wach geworden. Einfach so. Seitdem flehte ihr Körper um Ruhe, während in ihrem Kopf die Party stieg. Genervt stopfte Fria das Kissen in Form. Für senile Bettflucht war sie ja wohl deutlich zu jung.

Ein zartes Schnaufen kroch die Bettkante hoch, dann vernahm sie das rhythmische, sich langsam entfernende Klackern von Hundekrallen auf Holzdielen. Bølle, ihr dreibeiniger Mischlingsrüde, hatte genug von ihrem nächtlichen Gezappel. Wahrscheinlich flüchtete er sich auf die Küchenbank, um in Ruhe schlafen zu können. Oder zu Marten.

Fria seufzte und starrte an die Zimmerdecke, die sich im spärlichen Licht der Morgendämmerung bereits abzuzeichnen begann. Marten.

Seit fünf Monaten war ihr Mitbewohner jetzt mit Poul zusammen, dem dänischen Hünen, der sein Geld im Flensburger Hafen verdiente. Ein netter Kerl. Äußerlich eine Augenweide, wenn man auf den Typ groß, muskulös und tätowiert stand. Ein echter Klischee-Wikinger, mit Bart und blonden Haaren. Und einem Herzen aus Gold. War das so? Fria musste wie so oft an das Foto denken, das Marten ihr vor ein paar Wochen gezeigt hatte. Ihr Mitbewohner hatte sich selbst dabei fotografiert, wie er sich heimlich durch Pouls Kleiderschrank probiert hatte. Herausgekommen war ein schmächtiger Kerl, der in den Klamotten eines Riesen versank. Zum Schreien komisch.

Wäre da nur nicht die Kutte mit dem Emblem.

Sie hatte an Martens schmalen Schultern gehangen wie ein Fremdkörper. Trotzdem war ER deutlich zu erkennen gewesen, der aufgenähte rot-schwarz-weiße Sticker. Und sofort war da dieser bittere Beigeschmack gewesen, der sich auch jetzt wieder einstellte. So ganz genau wusste Fria zwar nicht, wer oder was sich hinter dem Logo verbarg, aber ihr Bauchgefühl schlug bei jedem Gedanken daran aufs Neue Alarm. Das Ganze lief definitiv in die falsche Richtung. In eine gefährliche Richtung.

Natürlich hatte sie das Internet befragt. Konnte sie ihren Erinnerungen trauen, bestand das Emblem aus einer Othala-Rune, der letzten Rune des Futhark-Systems, und den Zahlen zwei und acht. Wenn sie ihren Erinnerungen trauen konnte. Überprüfen ließen die sich nicht mehr. Denn Marten hatte das Selfie von seinem Handy gelöscht. Er hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er ungefragt in Pouls persönlichen Sachen gestöbert hatte. Eindeutig ein Vertrauensbruch. Die Gefahr, dass seine große Liebe durch Zufall über dieses Foto stolperte, war ihm einfach zu groß gewesen, also gab es das Bild nicht mehr.

Und wenn ich mich irre? Wenn es einfach ein paar harmlose geometrische Formen waren, von irgendeinem Designer erdacht, um das Image eines harten Rockers zu transportieren?

Nein, die Raute mit den verlängerten Beinen, oder das X mit Dach, wie immer man die Othala-Rune auch beschreiben wollte, Fria war sich sicher, sie erkannt zu haben. Ebenso sicher war: Die Rune wurde gern und häufig in rechtsextremistischen Kreisen benutzt. Aber was sollte jemand wie Poul, ein toleranter, herzlicher und noch dazu homosexueller Mann, mit einer Nazigruppierung zu tun haben? Das war absurd. Eigentlich gab es auf dieses Rätsel nur eine Antwort: Poul wusste gar nicht, was er da im Schrank hängen hatte. Drängte sich die Frage auf, wie er an die Motorradweste gelangt war. So etwas fand man weder in Secondhandshops noch im öffentlichen Handel. Ihre Kutten waren den Gangmitgliedern heilig, so viel hatten Frias Recherchen offenbart.

Poul darauf anzusprechen, war nicht möglich. Nicht, ohne Marten auffliegen zu lassen, denn natürlich würde Poul sich zu Recht fragen, wie Fria von seiner Kutte wissen konnte.

Erneut hörte sie sich seufzen, sah auf das Handy – sechs Minuten vor fünf – und beschloss aufzustehen. Statt hier hellwach herumzuliegen, konnten Bølle und sie sich genauso gut auf ihre Morgenrunde begeben. Ganz allein, im ersten Licht des Tages, die Ostsee genießen … schöner konnte man einen Morgen schließlich nicht beginnen, oder?

*

Sinje Cassuben schielte immer wieder vorsichtig zu ihrem Chef hinüber. Ohlsen Ohlsen wirkte entspannt, ja, irgendwie zufrieden, wie er da in seinem Sitz lehnte und aus dem Seitenfenster auf die vorbeirauschende Landschaft blickte. Seit vier Tagen war der leitende Kommissar der Außenstelle Norgaard zurück im Dienst und hatte noch so gut wie nichts erzählt. Dabei lagen drei ganze Monate Weltreise hinter ihm und seiner Freundin.

Sinjes Blick tastete sich von seinen dunklen Haaren, die stets wirkten, als hätte sich der Nordwind an ihnen ausgetobt, weiter nach unten, bis zu seiner linken Hand, die ruhig auf seinem Oberschenkel lag. Dann glitt er suchend hoch zu den Fingern der rechten, die gedankenverloren über die Innenverkleidung der Autotür strichen. Auch heute: kein Ring. Bei ihrem Chef musste das nichts heißen. Gut möglich, dass Lies und er heimlich auf der Reise geheiratet hatten und Ohlsen es nicht wichtig erschien, den Ehering zu tragen oder auch nur irgendjemanden davon zu unterrichten.

Das würde dir ähnlichsehen.

Besonders ärgerlich, da sie Wetten laufen hatten. Die gesamte Polizeidienststelle Norgaard war beteiligt. Wettgegenstand war nicht nur, ob Ohlsen und Lies geheiratet hatten, sondern, wer von den beiden dem anderen die Frage aller Fragen gestellt hatte. Ebba Sigmundsen aus der Rechtsmedizin mutmaßte gar, Lies hätte Ohlsen nur aus einem Grund zu dieser Reise genötigt – um Nägel mit Köpfen zu machen.

»Du weißt schon, dass die Kollegen vor Neugier platzen?« Sinje folgte der Holnisser Noorstraße, vorbei an dem kleinen Maritimen Freilichtmuseum, ließ Kobbellück, das zum Leuchtturm von Schausende führte, links liegen und beschleunigte.

»Einen Diavortrag wollte ich euch eigentlich ersparen«, brummte Ohlsen.

Sinje verdrehte grinsend die Augen. Natürlich bezog er ihre Frage nicht auf den Stand seiner Beziehung zu Lies. »Zwischen Diavortrag und absolutem Stillschweigen gäbe es durchaus die eine oder andere Option.« Sie bog in den Ziegeleiweg ein.

»Aber dass es gut war, hatte ich doch schon … Du warst dabei, als Palle gefragt hat.«

Wie er sie ansah! Als wären alle weiteren Informationen nun wirklich zu viel des Guten.

»Gut – Chef, du bist zwölf Wochen unterwegs gewesen. Hast die spektakulärsten Naturschauspiele, die aufregendsten Metropolen der Welt gesehen. Da darf es ruhig etwas mehr sein als ein einsilbiges gut.«

»Milford Sound ist ganz schön.«

»Der riesige Fjord inmitten gigantischer Berge? Neuseelands Traumkulisse … ganz schön also? Was hat dich gestört? Die anderen Touristen?«

»Da waren keine. Es hat wie aus Kübeln geschüttet. Trotzdem schön da.«

Sinje wartete in der Hoffnung, mit ein paar weiteren Impressionen bedacht zu werden.

Doch Ohlsen schwieg.

Vor ihnen tauchte ein Rettungswagen auf. Sinje drosselte das Tempo und hielt sich möglichst weit rechts. Im nächsten Augenblick waren sie aneinander vorbeigefahren.

»Was wissen wir über Verletzungen?«, fragte Ohlsen.

»Noch nichts.« Sie nickte in Richtung Frontscheibe. Die Asphaltierung endete abrupt. An der Seite parkte das Dienstfahrzeug der Kollegen. Ein geschotterter Pfad führte von der Straße fort und verlor sich zwischen Büschen und Wiesen. »Wir müssen den Wagen stehen lassen, ab hier geht’s nur zu Fuß weiter.«

 

Es war seltsam still, als sie über den schmalen Strand auf das Kliff zugingen.

»Wo soll die Stelle sein?« Ohlsens Blick wanderte irritiert umher. Unter anderen Umständen hätte er sich einen Moment genommen und das Panorama der schimmernden Innenförde genossen. Ein wirklich schönes Fleckchen Erde.

»Da hinten.« Sinje wies auf einen Bereich, in dem das Grün die steilen Hänge hinabfloss und bis zur Wasserlinie reichte. »Der Kollege meinte, sie sei vom Ufer aus nicht zu erkennen. Da …!«

Eine uniformierte Person trat aus dem Dickicht und hob den Arm.

Sie schlossen zu ihr auf, folgten ihren Anweisungen und standen kurze Zeit später auf einer zirka acht Quadratmeter großen Lichtung. Mannshohe Findlinge ragten in den Himmel. Überall aufgewühlter Sand.

»Sieben. Es sind sieben Stück und sie bilden einen Kreis. Wie schräg ist das denn?« Sichtlich beeindruckt umrundete Sinje einen schwarz gesprenkelten Steinkoloss. »Wusstest du von der Lichtung?« Ihr kurzer rotbrauner Zopf wackelte schwungvoll. »Ohlsen, guck dir das an!«

Er folgte ihrer Stimme. In der Kreismitte fanden sich zwei weitere, gedrungenere Steine. Die einzigen beiden mit einer einigermaßen ebenen Fläche auf der Oberseite.

»Unfassbar! Die sehen aus wie ein überdimensionaler Stuhl aus Granit.«

Ohlsen verstand ihre Überraschung, widmete seine Aufmerksamkeit aber längst den beiden Personen, die hinter dem Steinkreis auszumachen waren.

Der junge Beamte in Uniform wirkte erleichtert, als er ihn entdeckte. »Kommissar Ohlsen? Hier drüben!«

»Moin! Was haben wir?« Er betrachtete die Stelle im Sand, an der ihr Körper gelegen haben musste, und runzelte die Stirn.

»Es tut mir leid. Es ging nicht anders, die Sanitäter haben darauf bestanden. Sie haben sie mitgenommen. Aufgrund der unklaren Lage. Es wäre zu gefährlich gewesen –«

Ohlsen hob beschwichtigend die Hand. Dann musterte er den Mann, der mit hängenden Schultern neben dem Polizisten stand. »Sie haben die Frau gefunden?«

»Ja, genau«, ereiferte sich an dessen Stelle der uniformierte Kollege. »Sein Name ist Raphael Meurer, neunundzwanzig, Mitarbeiter des NABU. Er ist heute Morgen –«

»Danke«, unterbrach Ohlsen und musterte den Zeugen. Der NABU-Mitarbeiter war ein großer, schlanker Mann mit hohem Haaransatz und grobporiger Haut. Zu seinen Füßen stand ein olivgrüner Rucksack. Daran befestigt: ein aufgerollter Schlafsack. »Herr Meurer, weshalb sind Sie hier?«

Ohlsen hörte, wie Sinje den verstummten Beamten weglotste.

»Haben Sie Fotos von der Frau, von der Auffindesituation machen können? Vielleicht wäre es gut, wenn wir den Bereich hier absperren würden …« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser.

Raphael Meurer war blass wie eine gekalkte Wand und fühlte sich sichtlich unwohl. »Ich sehe nach dem Rechten. Das ist mein Job.«

»Und dafür benötigen Sie einen Schlafsack?« Ohlsen deutete auf Meurers Sachen.

»Oft sitze ich stundenlang an einer Stelle. Vögel zählen oder beobachten. Morgens ist es nass, manchmal saukalt.«

Ohlsen nickte. »Heute auch?« Als er den verständnislosen Blick auffing, ergänzte er: »Vögel zählen?«

»Nein. Ich bin gern früh unterwegs. Dann, wenn noch keiner hier ist. Der Massentourismus ist nicht gut für Holnis.«

Wieder nickte Ohlsen. Auch er liebte die Einsamkeit in unberührter Natur.

»Wissen Sie, was hier gleich wieder los ist? Im Sommer? Bei gutem Wetter? Die Leute trampeln überall rum. Verbotsschilder? Interessieren die doch gar nicht. Unangeleinte Hunde, die den Vögeln hinterherjagen, Touristen, die für ein spektakuläres Foto bis in den letzten Winkel kraxeln und alles platt walzen«, schimpfte Meurer.

»Wann hat Ihre Schicht begonnen?«

Der Befragte senkte den Kopf, seine Erregung fiel in sich zusammen wie ein zerlöcherter Luftballon. »Sie beginnt um acht.«

»Ach, dann sind Sie privat hier?«

»Ich bin Naturschützer, da ist man nie privat. Aber ja, ich wollte noch mal durchatmen, bevor der Trubel losgeht.«

»Hm, und das machen Sie häufiger hier, zwischen diesen … Steinen?«

Jetzt kam wieder Leben in den NABU-Mann. »Was? Nein! Ich bin nie hier. Das ist … Ich will nicht … Der Blick über das Kleine Noor ist viel schöner.«

Irgendwas stimmt nicht mit dem. »Das müssen Sie mir erklären. Wie konnten Sie die Frau finden, wenn Sie nie hier sind? Was wollten Sie ausgerechnet heute Morgen an diesem versteckt gelegenen Platz?« Ohlsens Augen fixierten Meurer.

Der stöhnte. »Unten am Strand. Da sind Spuren. Also Fußabdrücke, wo keine sein sollten. Das hier ist nämlich Sperrgebiet.« Meurer holte tief Luft. »Ich bin ihnen nach. Sie führen direkt hierher.«

Sein Gesicht sprach Bände. Er wünschte sich, er hätte es nicht getan.

»Und dann?«

»War da dieser große dunkle Fleck.« Meurer wies mit der ausgestreckten Hand in den Steinkreis.

Ohlsen nickte. »Haben Sie den Fleck angefasst?«

Meurer schüttelte den Kopf.

»Sonst irgendwas berührt?«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Und dann?«

»Hab ich ihre Hand gesehen.« Der Naturschützer zog die Schultern hoch bis zu den Ohren, als ließe ihn die Erinnerung frieren.

Ohlsen wartete. An dieser Stelle redeten die meisten von ganz allein. Das Gesehene musste raus. Als könnte man die Erinnerung mit Worten aus dem Gedächtnis werfen.

»Sie war nackt. Lag da, ohne sich zu rühren. Tot, ganz klar. Das Blut, das sie überall … Ich mein, wer kommt denn da auf die Idee, dass sie noch … Ich schwöre, ich dachte, sie wär tot!«

»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Sie haben sie also nicht angefasst? Nicht mal, um zu überprüfen, ob sie noch lebt?«

Meurer wackelte wild mit dem Kopf. »Nein! Wie denn? Sie war beschmiert, überall. Überall Blut! Und dann die Fliegen.« Er würgte.

»Sie haben nicht mit ihr gesprochen?«

»Hören Sie mir überhaupt zu? Ich dachte, die wär tot!«

»Was, glauben Sie, ist passiert? Konnten Sie Verletzungen erkennen?«

»Weiß ich doch nicht. Ich hab mir die nicht genau angeguckt. Echt nicht.«

»Die Frau, kennen Sie sie? Haben Sie sie hier schon einmal gesehen?«

»Nein. Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Weiß ja nicht mal, wie sie aussieht.«

»Sie konnten ihr Gesicht nicht sehen?«

»Sie lag auf dem Bauch. Die langen Haare waren davor. Aber nein, ich kenn die nicht.«

»War außer Ihnen noch jemand hier?«

»Wie meinen Sie das?«

»Hatten Sie das Gefühl, nicht allein zu sein? Haben Sie, bevor sie den Platz betraten oder während Sie sich den Fleck ansahen, irgendetwas gehört? Etwas, das darauf schließen lässt, dass noch andere Leute in der Nähe waren?«

Meurers Augen weiteten sich ängstlich. »Andere?« Es wirkte hilflos, wie er den Blick über die Lichtung wandern ließ. »Nein.«

»Wären Sie so freundlich und würden das alles auf der Wache noch einmal zu Protokoll nehmen lassen?« Ohlsen winkte den Beamten heran. »Lassen Sie Herrn Meurer aufs Revier bringen! Wir brauchen seine schriftliche Aussage.«

»Aufs Revier? Wozu das? Ich hab alles gesagt.«

»Sie würden uns sehr helfen. Vor allem, was die zeitliche Zuordnung und die Abläufe im Naturschutzgebiet angeht. Sie kennen sich hier aus. Das kann für uns von Vorteil sein.«

»Aber ich muss diese dämlichen Führungen leiten!«

»Hatten Sie nicht eben Ihren Chef angerufen und sich für heute krankgemeldet?«, intervenierte der Schutzpolizist.

»Sehen Sie? Ich bin ganz durcheinander. Ich muss nach Hause, mich ausruhen«, bekräftigte Meurer.

»Es dauert auch nicht lange«, tröstete der Beamte und schob ihn sanft vor sich her.

»Kollege, eins noch!«, rief Ohlsen. »Habt ihr persönliche Gegenstände des Opfers gefunden? Ihre Kleidung? Ausweis, Führerschein … irgendwas?«

Der Beamte verneinte und Ohlsen ließ die beiden ziehen. Vorsichtig näherte er sich dem Ort, an dem die Frau gelegen hatte, immer darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören. Bis auf ein paar glatte Mulden, wahrscheinlich von Gliedmaßen und vom Rumpf des Opfers, und winzige dunkle Tropfen, die sich im Sand abzeichneten, gab es wenig zu sehen. Der Boden drum herum war bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt. Nur wenn man den Radius erweiterte, dort, wo der Sand feucht genug war, zeichneten sich definierte Abdrücke von Schuhsohlen ab. Ohlsen seufzte. Ein Albtraum für die Spusi. Erst war der NABU-Mann hier rumgerannt. Dann die Kollegen von der Schutzpolizei, die sich logischerweise um das Wohlergehen des Opfers bemüht hatten. Danach die Sanitäter, die es versorgen und abtransportieren mussten, und nun er selbst und Sinje …

»Schweben wär super«, murmelte Ohlsen, während er jeden Schritt bewusst setzte, um zu Sinje und dem rostroten Fleck zu gelangen.

»Wenn du mich fragst: Blut.« Sie kam aus der Hocke hoch und ging etwas umständlich um einen Steinkoloss herum. »Siehst du die dunklen Spritzer an den beiden Granitblöcken?«

Ohlsen musterte die in den Sand eingesickerte Flüssigkeit. »Ganz schön groß, die Stelle.«

»Kommt auf die Tiefe an. Wenn nur die Oberfläche benetzt ist, sieht es dramatischer aus, als es ist.«

»Wir fahren ins Krankenhaus und befragen das Opfer«, beschloss Ohlsen und machte kehrt.

»Falls das überhaupt möglich ist. Beim Abtransport war sie bewusstlos – sagt der Kollege.« Sinje folgte ihm, zog ihr Handy heraus, tippte ein paarmal auf den Bildschirm und hielt es ihm hin. »Die Fotos hat er vorher machen können.«

Ohlsen nahm es entgegen und zog den Ausschnitt größer. Das Bild zeigte das auf dem Bauch liegende Opfer. Die junge Frau war ungewöhnlich blass dafür, dass sie sich mitten im Sommer befanden. Zumindest an den Stellen, die nicht mit einer seltsamen rotbraunen Substanz beschmiert waren. Dünne blonde lange Haare. Ohlsen arbeitete sich durch die Fotos bis zu einem, auf dem die Sanitäter das Opfer auf die Seite gedreht hatten. »Ich kann keine Verletzung erkennen, schon gar keine, die den Blutfleck erklären würde. Der Sand unter ihr hat keine Verfärbungen.« Er wischte über den Monitor, besah sich die nächste Aufnahme.

»Das Blut könnte von einem Tier stammen«, mutmaßte die Kollegin.

Irritiert hob er den Kopf. »Von einem Tier?«

Sinje zog bedeutungsvoll die Brauen hoch. Ihre hellgrünen Augen leuchteten im harten Licht des Morgens. »Der Steinkreis? Der Stuhl – oder wollen wir ihn Thron nennen – in seiner Mitte?«

Worauf zum Geier will sie hinaus?

»Chef, bitte! Das schreit geradezu nach Okkultismus. Nach Séancen, in denen Opfer dargebracht werden. Nach mystischen Zusammenkünften, uralten Riten und düsteren Mächten.«

Nur das nicht! Verbrechen aus Habgier und Eifersucht reichten ihm vollkommen. »Warten wir ab, was das Opfer aussagt. Wahrscheinlich einfach ’ne Studentenparty, die aus dem Ruder gelaufen ist.« Er reichte Sinje ihr Handy und hob sein eigenes ans Ohr, um die Spusi anzufordern.

»Und die rote Flüssigkeit?« Sinje wollte sich mit seiner Erklärung offenbar nicht zufriedengeben.

»Lebensmittelfarbe. Was weiß ich …« Er gab ihr ein Zeichen, dass die Verbindung stand und er sich auf das Gespräch mit der Spurensicherung konzentrieren musste.

Sie traten aus dem Dickicht auf den Ufersaum, wo sie von einem der beiden Schutzpolizisten empfangen wurden.

»Der Bereich wird großräumiger abgesperrt! Niemand darf diesen Teil des Strandes betreten, bis die Spusi durch ist.« Ohlsen zog mit seinem ausgestreckten Arm einen großen Kreis und widmete sich dann wieder seinem Telefonat.

Der Beamte nickte.

*

»Good morning, everybody!« Fria Svensson hob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. Noch war das Gras unter ihren Füßen übersät mit feinen Tautropfen. Noch …

Ihr Grabungsleiter Leif Iversen schlug scheppernd zwei Spatenblätter gegeneinander. Das wirkte. Das aufgeregte Gemurmel erstarb.

»Tak.« Fria sandte Leif ein Lächeln und betrachtete die zusammengewürfelte Truppe aus neun dänischen und acht deutschen Studenten. »Welcome to the excavation, your home of pleasure for the next four weeks.«

»Na, ob das hier ein Vergnügen wird, liegt ganz an der Ausbeute, würde ich mal sagen«, hörte Fria jemanden auf Deutsch murmeln. Bevor sich die anderen zu einer Diskussion hinreißen ließen, fuhr sie fort.

»My name is Fria Svensson. Ich bin die Leiterin des Ørerup-Museums. Leif Iversen hier neben mir ist unser Grabungsleiter und für euch und die Ausgrabung verantwortlich. Ihr könnt ihn alles fragen – sobald er seinen ersten Kaffee intus hat. Vorher würde ich dringend davon abraten.«

Leif stand stoisch neben ihr und verzog keine Miene. Seine Ellenbogen ruhten auf den Stielenden der in den Boden gerammten Spaten.

»Woran sollen wir denn erkennen, ob er genug Koffein intus hat?«, rief jemand ausgelassen.

Einige der Kommilitonen johlten verhalten.

»Keine Sorge, das merkt ihr«, entgegnete Fria grinsend. »Alle, die auf Nummer sicher gehen wollen, wenden sich vertrauensvoll an unsere Grabungsassistentin Bruna Munch.« Fria wies auf eine braun gebrannte drahtige Frau mit schulterlangem brünettem Haar, die grüßend die Hand hob. Sie war kaum älter als die Studenten. »Sie wird euch zeigen, worauf ihr beim Planieren achten müsst. Wenn ihr glaubt, etwas gefunden zu haben, ruft sie zu euch, lasst sie einen Blick auf euren Fund werfen und besprecht die nächsten Schritte mit ihr.«

»Und was ist mit ihm? Ist das unser Grabungsmaskottchen?«, scherzte ein dänischer Student.

Die Gruppe belohnte seinen Vorstoß mit Gelächter.

Fria sah neben sich. Bølle, ihr dreibeiniger Mischlingsrüde, saß brav zu ihrer Rechten und blickte sie auffordernd an. Seine Rute wischte euphorisch Grashalme trocken. »Bølle. Für alle Nichtdänen, das bedeutet Rabauke. Und er heißt nicht ohne Grund so. Auch er findet Sachen, die in der Erde liegen, hochinteressant, besonders Knochen.«

Wieder lachten alle.

»Okay. Wie ihr seht, haben die Bagger den Mutterboden bereits abgezogen. Leif wird jetzt jedem von euch einen Quadratmeter zuweisen. Nachdem ihr den abgesteckt habt, könnt ihr mit dem Graben beginnen.« Fria schob sich eine Strähne ihres dunkelblonden Ponys hinter das Ohr.

»Warum graben wir ausgerechnet auf Broager Land, in der Nähe von Skelde?«, fragte eine zierliche Deutsche mit großer Brille und hartem englischem Akzent.

»Weil wir hier schon einige Grabhügel gefunden haben. Aus der Geschichte wissen wir, dass solche Stätten über viele Jahrhunderte weiter genutzt wurden. Der Langdolmen, eines der ersten Großsteingräber der Region, wurde vor fünftausendfünfhundert Jahren errichtet und zweitausendzweihundert Jahre später, in der frühen Bronzezeit, vergrößert, um wiederum als Grabstätte zu dienen. Die Chancen, dass wir weitere Körpergräber finden, stehen also nicht schlecht.« Fria sah in begeisterte Gesichter. »Und jetzt lasst euch eine Kelle geben und legt los!«

Schwatzend wandten sich die Studenten ab und hielten auf die Bullis zu.

»Noch was! Ich empfehle euch, Sonnencreme aufzutragen und ausreichend Wasser zu trinken. Es wird heiß. Und wie ihr seht, gibt es hier keinen Schatten. Sollte jemandem schwindelig oder schlecht werden, wäre es sicherlich gesünder, ab morgen mit einer Kopfbedeckung zu erscheinen.«

»And don’t worry about your hairdo«, fügte Fria hinzu, als sie sah, dass die ersten für ein Selfie posierten. Es wirkte nicht so, als würde ihr noch irgendjemand zuhören.

*

Der Leiter der Norgaarder Wache eilte den Krankenhausflur entlang. Nachdem man sie heute früh weggeschickt hatte, waren die Untersuchungen der Unbekannten vom Strand nun anscheinend abgeschlossen.

Ohlsen hatte die Kollegin Cassuben als Wachhund im Hospital gelassen, auch um sicherzustellen, dass Proben von der Substanz, die die Haut des Opfers bedeckte, genommen wurden. Und zwar sowohl ausreichend als auch auf eine professionelle Weise. Am liebsten hätte er Ebba Sigmundsen mit der Aufgabe betraut.

Wer weiß, vielleicht brauchen wir die Abstriche gar nicht. Er hoffte auf eine harmlose Erklärung und betrat nach kurzem Klopfen das Krankenzimmer. Es war für zwei Personen ausgelegt, nur ein Bett war belegt.

Sinje, die neben dem Krankenlager saß, blickte ihm lächelnd entgegen. »Sehen Sie? Da ist er schon. Mein Chef, Kriminalhauptkommissar Ohlsen.«

Die junge Frau, oder sollte er lieber sagen das Mädchen? Es triggerte sein Vaterherz, obwohl er nicht einmal Kinder hatte. Ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ohne eine Bewegung, allein durch seine Erscheinung, durch seinen Blick. Alles an ihm war sanft. Die hellbraunen Augen, die schmale Nase, das kurze Kinn, die etwas zu großen Ohren, der schlanke Hals und die fein geschwungenen Augenbrauen. Dazu das fließend lange, zu einem Mittelscheitel frisierte Haar.

Ohlsen hatte immer geglaubt, sich nicht viel aus Äußerlichkeiten zu machen. Er wusste nur zu gut, dass ein hübsches Gesicht nichts über den Charakter aussagte. Ihm war egal, ob er eine Schönheitskönigin oder die Hexe aus Grimms Märchen vor sich hatte, einen Obdachlosen oder Multimilliardär. Auf den Charakter und vor allem auf die Taten kam es an.

Aber dieses Mädchen dort, dessen blasse Haut sich kaum vom Weiß der Laken abhob, das brachte ihn tatsächlich aus dem Konzept. Er hörte sich räuspern.

Sinje erhob sich und kam ihm entgegen. »Sie spricht nicht«, flüsterte sie, als sie auf seiner Höhe angekommen war.

Ein letzter Blick, dann zog Ohlsen seine Kollegin mit auf den Flur und schloss die Tür. »Kann sie nicht oder will sie nicht?«

Sinje zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Sie wirkt eingeschüchtert, vielleicht hat sie Angst. Bislang konnte keine anatomische Ursache für ihr Schweigen gefunden werden. Ich hab kurz mit dem behandelnden Arzt sprechen können. Äußerlich keine Verletzungen. CT und MRT waren ebenfalls unauffällig.«

»Vergewaltigung?«

»Sie hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden Geschlechtsverkehr, das ja. Könnte aber auch einvernehmlich gewesen sein. Gewaltsame Spuren wurden keine gefunden. Ihr Blut ist noch im Labor. Sie testen auf die üblichen Dinge: Drogen, Alkohol, K.-o.-Tropfen, Medikamente …«

Ohlsen nickte. »Was ist mit der Probe von der Substanz auf ihrer Haut?«

»Ist bei Ebba im Labor.«

Ohlsens Blick folgte einer vorübereilenden Pflegefachkraft. »Was ist mit dem Klinikpersonal oder den Ärzten? Hat die Unbekannte sich ihnen gegenüber in irgendeiner Weise geäußert?«

»Nein. Ich habe die Untersuchungen, so weit es ging, begleitet.«

»Und wenn sie uns nicht versteht?«

»Ich hab sie auf Deutsch, Englisch und Dänisch angesprochen. Ehrlich gesagt glaube ich, sie weiß genau, was ich zu ihr gesagt habe.«

Ohlsen fuhr sich durch sein wirres, dichtes Haar. »Solange wir nicht wissen, was auf Holnis passiert ist und was es mit der Flüssigkeit auf sich hat, bleibt jemand bei ihr. Stellst du eine Kollegin ab?«

Sinje nickte.

»Und jetzt würde ich gern den zuständigen Arzt sprechen.«

*

Fria fühlte sich erstaunlich fit, als sie auf das Gelände des archäologischen Museums fuhr und auf dem angestammten Platz parkte. Sie drehte den kleinen Rückspiegel ihres R4 so, dass sie sich in die Augen sehen konnte. Für nicht mal drei Stunden Schlaf ganz okay.

Mit der alten glänzend-speckigen Ledertasche unterm Arm betrat sie den Bürotrakt des Ørerup-Museums. In gut zwei Monaten war die Eröffnung der Sonderausstellung. Bis dahin gab es noch jede Menge zu tun.

 

Als Erstes schob sie den Kopf durch Villads’ Tür. »Hej! Bin wieder da.«

Der Naturhistoriker löste den Blick vom Bildschirm seines Computers und bedachte sie mit einem angestrengt wirkenden Lächeln. »Und – ist mit denen was anzufangen?«

»Mit den Studenten? Klar. Mit dem einen mehr, mit dem anderen weniger. Wir werden sehen.« Typisch Villads! Er sprühte vor positiver Energie.

»Ich finde es unzumutbar, Leif und Bruna als Babysitter für unfähige und selbstgefällige Studenten abzustellen – und das wochenlang.«

»Wer sagt, dass sie unfähig oder selbstgefällig sind?« Fria spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Villads schaffte es doch immer wieder, sie gegen sich aufzubringen. Dazu brauchte es keine zehn Sekunden.

»Ich. Heutzutage gibt es keinen Sinn mehr für die Geheimnisse unserer Vergangenheit, für Wissenschaft und Forschung. Heute geht es darum, gut auszusehen, sich zu vermarkten und sich mit oberflächlichem, irrelevantem Unsinn hervorzutun. Die erkennen einen Sensationsfund doch nicht mal, wenn man sie mit der Nase drauf stößt.«

»Sagt der, der noch nie bei einem Uniprojekt mitgewirkt hat. Halt, stopp! Stimmt gar nicht, oder? Wie war das damals bei dir, während deiner Studienzeit? Ich könnte wetten, du warst Nutznießer solcher Projekte.«

Sein fusseliger Bart zitterte. »Das war was anderes. Wir hatten echtes Interesse. Uns ging es um Wissenschaft, nicht um Follower auf Social Media.«

Wie hart und abfällig er die englischen Worte ausspie!

»Studentische Kooperationsprojekte, wie das zwischen den Unis Kiel und Aarhus, sind in vielerlei Hinsicht wertvoll, das weißt du ganz genau. Wie und wo sollen denn deiner Meinung nach die angehenden Archäologen Erfahrungen sammeln?«

»Absolute Zeitverschwendung …« Der Rest seiner Mäkelei verkam zu einem unverständlichen Grummeln.

Fria überließ ihn sich selbst und schaute bei Alberte vorbei.

Kerzengerade saß sie an ihrem Rechner, das braune lange Haar zu dem gewohnten Dutt gedreht.

»Hej! Auf der Broager-Land-Grabung läuft alles nach Plan. Wie steht’s hier? Irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Die Kuratorin vom Københavns Museum hat zweimal angerufen.«

»Mathild Bang? Worum ging’s?«

»Um die Kogge.«

»Geht’s genauer?«

Alberte zuckte mit den Schultern.

»Okay, tak. Ich klär’ das. Können wir später über die Sicherheitsvitrinen sprechen?« Fria sah auf die Uhr. »Vielleicht so gegen zwei? Danach will ich noch mal raus nach Skelde, bevor Bruna und Leif ins Wochenende gehen.«

*

Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel. Sie blitzte durch die Ritzen der heruntergelassenen Rollos. In den Räumen der Norgaarder Wache ging es gemächlich zu. Ohlsen hoffte sehr, dass das auch so bleiben und der Fall der unbekannten Frau von Holnis sich als fehlgeschlagener Studentenscherz herausstellen würde. Die Nachrichten aus der Rechtsmedizin hätten zwar besser sein können, doch noch wollte er an der Möglichkeit einer harmlosen Erklärung festhalten.

Mit langen Schritten steuerte er auf das Großraumbüro zu. »Palle? Sinje? Oltm …« Er stockte, als er auf den leeren Bürostuhl des Kollegen Oltmann blickte. Verdammt schwer, sich daran zu gewöhnen. Die bestürzten Mienen der Kollegen machten es nicht leichter. »Besprechung in zehn Minuten!«

Ohlsen aktivierte den Beamer und präsentierte seinem Team Fotos der unbekannten Frau. Zunächst eines, das Sinje im Krankenhaus gemacht hatte. »Palle, wie weit bist du mit der Vermisstendatenbank?«

»Durch. Kein Treffer.« Nis Reepschläger, den alle nur Palle, den Kleinen, nannten, war kurz angebunden. Die sonst so lustigen Augen wirkten ernst. Dabei war er es, der sie normalerweise bei Laune hielt, egal, wie aussichtslos die Lage schien. Ihr plapperndes Nordlicht, ein Paradoxon für sich. Der Kobold der Wache – seit Wochen wirkte er schwermütig.

Ich hätte mich kümmern müssen. Stattdessen bin ich durch die Welt getingelt.

Ohlsen zwang sich gedanklich zurück in den Raum, zu diesem Fall, der hoffentlich keiner war. »Sie kann noch nicht lange dort gelegen haben. Warten wir die nächsten vierundzwanzig Stunden ab. Irgendjemand wird sie vermissen.« Er ließ Fotos des Fundorts aufleuchten. »Die Spurensicherung hat das Gelände um den Steinkreis abgesucht, konnte jedoch keine persönlichen Gegenstände wie etwa Kleidung finden.«

»Sie wird wohl kaum nackt bis Holnis gefahren sein«, brummte Palle.

»Apropos fahren. Was ist mit einem herrenlosen Fahrrad oder Auto? Irgendwie muss sie ja hingekommen sein.« Sinje hob die Arme über den Kopf und band sich den Zopf neu. Dabei blitzten die Tentakel ihres Oktopus-Tattoos auf, das sich den rechten Oberarm entlangschlängelte.

Ohlsen schüttelte den Kopf. »Negativ. Die Kollegen haben sich die Parkplätze und Zugänge angesehen. Nichts.«

»Heißt, es muss mindestens eine weitere Person mit ihr dort gewesen sein«, schlussfolgerte die Ermittlerin.

Ohlsen zoomte auf die Haut der Unbekannten. Der bräunliche Film war deutlich zu erkennen. »Richtig. Belegt wird das durch die Art, wie sie beschmiert war. Gleichmäßig. Den gesamten Rücken entlang. Das kriegst du selbst so nicht hin. Die Substanz ist identifiziert. Es handelt sich tatsächlich um Blut. Menschliches.«

»Ihres?« Sinje drehte konzentriert an ihrem silbernen Fingerring.

»Nein. Hat eine andere Blutgruppe.«

Palle atmete hörbar aus.

»Was für ’ne Schweinerei! Ich mein’, wer macht so was?«, entrüstete sich die Kollegin.

»Und warum?«, stimmte Palle ein.

»Gute Frage. Sinje, wir beide fahren noch mal zum Krankenhaus. Vielleicht kriegen wir doch noch was aus ihr raus.« Dann sah er Palle auffordernd an. »Wir brauchen die Schuhe von dem NABU-Mitarbeiter, den Kollegen, die als Erste am Fundort waren, und den Sanitätern. Die Sohlenabdrücke müssen archiviert werden, um sie von anderen auszuschließen. Wir …«

Ohlsens Handy klingelte. Die Rechtsmedizin. »Ebba, was gibt’s? Warte, ich stell dich auf Mithören!«

Ebba Sigmundsens Stimme hallte lauter als nötig durch den Raum. »Die eingesickerte Flüssigkeit aus dem Steinkreis, dabei handelt es sich um Blut. Höchstwahrscheinlich dasselbe Blut wie auf dem Körper der Frau, DNA-Test läuft. Und die im Sand gebundene Menge ist definitiv so groß … ich bezweifle, dass die Person, der es mal gehört hat, noch lebt.«

ZWEI

Zwanzig nach vier, gerade noch rechtzeitig. Der Handybildschirm auf dem Beifahrersitz erlosch. Fria Svensson zog an der Revolverschaltung, schob den Hebel nach links unten und fuhr ruckelnd über das holprige Grabungsgelände. Wie sich die Studenten wohl schlugen? Mit einem letzten Hopser kam sie zum Stehen, musste trotz Sonnenbrille blinzeln. Gleißendes Licht strömte über die Motorhaube, brachte die Luft sogar ein wenig zum Flimmern. Ausgetrockneter, steinharter Boden von unten, glühende Heizstrahlen von oben – die Arbeit auf der Fläche würde dem Team einiges abverlangen, die Strapazen den Blick für die Schönheit der Gegend verdrängen.

Dabei war Broager Land durchaus sehenswert. Eine sanfte, weite Ebene aus Feldern und Wiesen, betupft mit kleinen Wäldern, umgeben vom Meer. Seine Strände zeigten sich mal sandig, mal steinig, mal zugänglich und mal durch Steilklippen geschützt. Fria hatte schon oft hier gegraben. Ein geschichtsträchtiges Stückchen Erde.

Sie drückte die knarzende Autotür auf und atmete tief durch. Der leichte Wind tat gut, streichelte sanft ihre schweißbenetzte Haut.

’ne Klimaanlage wär super. Fria bedachte ihren R4 mit einem kritischen Blick und seufzte. Who cares? Sie würde sich eh nie von ihm trennen.

Die abgeschobenen Flächen waren menschenleer. Dass alle an einer Stelle zusammenstanden, konnte nur zwei Gründe haben. Entweder die Gruppe bekam gerade eine Lehrstunde in der Technik des Planierens oder …

Bruna entdeckte sie als Erste. »Du kommst genau richtig.«

Fria trat neben sie und blickte auf die zu einem Rahmen gelegten Steine zu ihren Füßen. »Respekt! Und das gleich am ersten Tag.« Um sie herum: rot verschwitzte Gesichter. Einige hätten sich definitiv besser vor der Sonne schützen müssen. Andere standen im Hohlkreuz und mit in den Rücken gestemmten Händen da oder dehnten unauffällig ihre Beine. Allen war die Anstrengung der letzten Stunden deutlich anzusehen. »Wer hat’s entdeckt?«

Die teils neidischen Blicke der Gruppe richteten sich auf einen jungen Mann in kurzer Hose, mit dreckigen Knien und durchgeschwitztem T-Shirt. Er lächelte stolz.

»Glückwunsch! Das sieht vielversprechend aus.« Sie sah ihren Grabungsleiter fragend an. »Hast du schon …?«

»Nej, wollte gerade loslegen. Es hat gedauert, bis die Herrschaften ihre müden Knochen zum Fund schleppen konnten. Sind ja nicht mehr die Jüngsten«, frotzelte Leif und erntete Protestgemurmel. »Also!« Er hob die Stimme. »Montag werden wir innerhalb des Steinrahmens abplanieren. Schicht für Schicht. Immer einer von euch dokumentiert, zwei andere planieren. Dann wird gewechselt. Gut möglich, dass wir auf Keramikbeigaben oder sogar Skelettspuren stoßen. Tammes, du darfst als Entdecker des Grabes die ganze Zeit dabeibleiben, wenn du willst. Die anderen arbeiten an ihren Flächen weiter.«

»Was? Wieso erst Montag?«, entrüstete sich ein deutscher Student.

»Weil wir jetzt Feierabend machen, es ist halb fünf. Im ersten Bulli findet ihr Planen. Das Grab muss geschützt und abgedeckt werden. Bruna zeigt euch, wie das geht.«

»Also los!«, rief diese und stapfte auf die Fahrzeugkolonne zu.

Während sich das Gros der Studenten fügte, blieben drei der vier deutschen widerwillig stehen. »Da ackern wir den ganzen Tag und jetzt, wo wir was gefunden haben, sollen wir einfach fahren und bis Montag warten?«

Leif klopfte dem Rebellen beruhigend auf die Schulter. »You’ll get over it! Das Zeug hat so lange im Boden gelegen, da kommt es auf die paar Tage nicht mehr an.«

»Und wenn’s was wirklich Wertvolles ist? Vergoldete Schmuckstücke oder Waffen?« Eine junge Frau mit großer Brille schien richtiggehend entsetzt über die Entscheidung des Grabungsleiters. »Ich fass’ das nicht! Seid ihr denn gar nicht neugierig?« Mit einem eindringlichen Blick bat sie Fria um Unterstützung.

Doch sie würde einen Teufel tun und sich in Leifs Grabungsabläufe einmischen.

»Montag wieder. Los, packt euren Kram zusammen!«, forderte der erneut und klatschte in die Hände.

Tammes und zwei seiner dänischen Mitstreiter von der Uni Aarhus kamen mit einer Plane in den Händen zurück.

»Und wenn wir alle freiwillig länger machen?», bettelte die Deutsche mit der großen Brille und nickte Tammes um Bestätigung heischend zu.

»Are you crazy? Mir reicht’s für heute. Ich brauch ’ne Dusche und einen Powernap, sonst ist das Wochenende gelaufen. Ich hab noch was anderes vor, als auf den Knien rumzurutschen und im Dreck zu wühlen.« Tammes grinste seine Kommilitonen vielsagend an und erhielt ein wissendes Nicken.

Sichtlich unzufrieden gaben sich die Kieler Studenten geschlagen und halfen, das Werkzeug in die Container zu schaffen.

»Und?« Fria sah der Gruppe hinterher.

»Ich werd zu alt für den Job, die machen einen fertig«, stöhnte Leif.

»So schlimm?«

»Jeder Stein ist ein Wunder, mit dem sie zu dir gerannt kommen. Dann sind sie tierisch gefrustet, wenn du ihnen sagst, dass es nur ein einfacher Stein ist.«

Fria lachte. »Lass mich raten! Und echte Funde, wie Scherben, werfen sie weg, weil sie sie nicht als solche erkennen, richtig?«

Er rieb sich mit beiden Händen über das tief gebräunte Gesicht. »Fluchen und Stöhnen klappt dafür echt super. Und Posen. Ständig sind sie am Handy und posten, wie hart sie arbeiten.«

Fria stupste ihn freundschaftlich von der Seite an. »Genieß das Wochenende!«

»Du auch.« Er machte sich auf den Weg zu den Bullis. Die letzten Studenten waren gerade dabei einzusteigen. »Hej!«, rief er, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.

Fria winkte Bruna nach. »Hej, hej.«

*

Während draußen auf Holnis mit Booten und zusätzlichen Einsatzkräften nach dem mutmaßlich ausgebluteten Opfer gesucht wurde, waren Ohlsen und Sinje zurück in der Klinik, um eine erneute Kontaktaufnahme mit der Unbekannten zu versuchen. Dem Pflegepersonal zufolge schwieg sie nach wie vor.

Es roch nach abgestandener Luft. Der kleine quadratische Tisch und die beiden Stühle vor der Fensterfront warteten vergeblich auf liebende Angehörige und tröstende Worte.

»Moin!« Ohlsen zog sich einen von ihnen heran und setzte sich neben das Bett, womit er das Blickfeld der jungen Frau kreuzte, die starr aus dem Fenster sah. Er musste zugeben, ihre Zerbrechlichkeit berührte ihn noch immer. »Mein Name ist Ohlsen. Ich komme von der Kripo Flensburg. Wir …«, er wies auf Sinje, die am Bettende stehen geblieben war, »meine Kollegin Frau Cassuben und ich, waren heute Morgen schon mal bei Ihnen. Erinnern Sie sich?«

Die blasse Unbekannte bewegte ihre Pupillen um wenige Millimeter, gerade so viel, dass sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Hellrosa entspannt aufeinanderliegende Lippen. Ein Brustkorb, der sich unmerklich hob und senkte. Reglos auf der Bettdecke ruhende Hände. Und trotzdem ging von dem Mädchen eine seltsame Anspannung aus. »Sie sind hier in Sicherheit. Vor der Tür sitzt eine Beamtin, die Tag und Nacht über Sie wacht.«

Keine Reaktion.

»Ich möchte Sie nicht bedrängen. Wenn Sie über das Erlebte nicht reden wollen, ist das vollkommen in Ordnung. Aber verraten Sie uns doch bitte Ihren Namen! Damit wir Ihren Angehörigen sagen können, wo Sie sind. Sie werden sich große Sorgen machen.«

Ein schwaches Zucken der Augenlider. Ihre Lippen jedoch erteilten seinen vertrauensbildenden Worten eine Absage.

Die Ermittler warteten. Schweigend.

»Wir wissen, dass Sie nicht allein waren. Wer war mit Ihnen am Holnis-Kliff?«, versuchte Ohlsen es erneut. Er suchte ihr Gesicht ab, als verberge sich dort die Antwort. Gleichzeitig riss etwas in ihm. Und er wusste auch, was. Die Überzeugung, das Richtige zu tun. An ihrem Bett zu sitzen, sie mit Fragen zu bedrängen, ohne zu wissen, welches Trauma gerade in ihr wütete, es fühlte sich falsch an.

Der Ton, den die Stuhlbeine von sich gaben, als er sie beim Aufstehen von sich schob, war genauso unangenehm wie die Stille, die er durchbrach. »Wir sind immer für Sie da. Sagen Sie nur der Kollegin draußen vor der Tür Bescheid. Oder jemandem vom Krankenhaus.«

Es klopfte. Fast zeitgleich betrat eine Frau den Raum. Sie trug den weißen Kittel offen und die grau-blonden Haare kurz.

»Ah, gut, dass ich Sie antreffe.« Ihr Lächeln war an Ohlsen gerichtet. Es reichte nicht bis zu ihren Augen. »Wir werden die Patientin in die Psychiatrie verlegen. Organisch besteht keine Notwendigkeit, sie weiter bei uns zu behalten. Gibt es neue Erkenntnisse zur Identität?« Die Ärztin umrundete Ohlsen und sprach die Unbekannte direkt an. »Dort sind Sie besser aufgehoben. Man wird sich gut um Sie kümmern.«

*

Ein verschenkter Freitagabend. Fria schlurfte lustlos durch ihre Altbauwohnung.

Beobachtet von Bølle, der vor der Küche lag, den Kopf auf der linken, seiner einzigen, Vorderpfote ruhend.

Da half nicht mal ein gut gekühlter Grauburgunder. Einen großen Schluck nahm sie trotzdem, ließ die Hand mit dem beschlagenen Weinglas sinken und trottete weiter. Die weit geöffneten Flügeltüren von Martens Atelier gähnten sie an. Er selbst war fort. Mit Poul zu einem Liebeswochenende in Hamburg.

Na toll! Ich fühle mich einsam, weil mein Mitbewohner nicht da ist. Es ist weit gekommen. Seit wann war das so? Seitdem all ihre Freunde in festen Beziehungen steckten und Kinder hatten? Seitdem sich ihre Lebensmittelpunkte und Gesprächsthemen von deckungsgleich zu divergent gewandelt hatten? Seitdem Rie weg ist! Die unvergleichliche, die Welt umarmende, tollpatschige Rie. Fria schüttelte lächelnd den Kopf. Wenn sie daran dachte, was sie alles angestellt hatten … Sie kamen aus demselben Ort, waren zur selben Schule, in dieselbe Klasse gegangen. Hatten nebeneinandergesessen, zusammengehalten wie ærtehalm, wie Erbsenstroh. Ries Eltern waren viel unterwegs gewesen. Und irgendwer musste ja auf das Sommerhaus aufpassen! Ganze Ferien hatten sie dort verbracht, mal mit der gesamten Clique, mal nur sie beide. Selbst als Rie nach Kopenhagen gezogen war, hatten sie engen Kontakt gehalten. Sie hatten sich besucht oder lange Telefonate geführt. Und dann hatte Rie Tomas kennengelernt, war mit ihm nach Nordschweden gezogen. Das war vor anderthalb Jahren gewesen. Seitdem war alles anders. Die Telefonate wurden seltener, die Chemie war einfach nicht mehr dieselbe. Dinge ändern sich.

Gelangweilt schnippte Fria eine Fluse von ihrer Hose, zog dann das Handy aus der Gesäßtasche.

»Lust auf ein Treffen am Wurstwagen?« Der Daumen ihrer linken Hand flog über die Tastatur.

»Sorry, Helle und ich sind eingeladen«, antwortete ihr Bruder Matthis.

Enttäuscht ließ sie das Telefon sinken. Troels, den ältesten ihrer drei Brüder, brauchte sie gar nicht anzuschreiben. Der war froh, Zeit mit seiner Familie verbringen zu können, mit Frau und Kindern. Und Jais, der Jüngste des Svensson-Clans, war auf einer Weiterbildung in Kopenhagen. Fria seufzte. Wo war die Familie, wenn man sie mal brauchte?

Eine Portion Mitleid für eine einsame, unternehmungslustige Archäologin!

Irgendwie hatten alle was Schönes vor. Nur sie nicht. Genervt stapfte sie durch den Flur und das Wohnzimmer bis auf den Balkon. Noch war die Luft warm und der Himmel blau. Doch das Weiß der Sonne bekam bereits einen verräterischen Stich.

Eierstich. Ein blasses Gelb. Damit fing es an. Schon bald würde ein fantastischer Sonnenuntergang folgen, der all seine Farben über den Horizont und die spiegelnde Meeresoberfläche ergießen und in einem nächtlichen Sternzauber enden würde.

Ergießen? Sternzauber? Bist du krank? Ein bisschen früh für ’ne Midlife-Crisis! Was ist los mit dir? Du hast doch sonst kein Problem mit dem Alleinsein. Los, hol das Laptop und arbeite ein bisschen!

Genug zu tun hatte sie definitiv. Wenn sie allein an das Gespräch mit der Kopenhagener Kuratorin dachte … Mathild Bang verlangte doch tatsächlich eine Polizeieskorte für den Transport der Kogge. Außerdem missfiel ihr der Aufbau der Transportkiste für den Lastsegler aus dem 10. Jahrhundert. Ihrer Meinung nach hätte das alte Schiff darin zu viel Spiel zwischen den Holzstützen. Dabei war Fria mit ihrem Team aus Experten dreimal in Kopenhagen gewesen und hatte die Kogge genau vermessen. Schließlich wollte sie selbst am allerwenigsten, dass die Leihgabe Schaden nahm.

Bølle hüpfte neben sie auf die Bank und ließ seinen Kopf auf ihren Schoß fallen.

»Ich hab keine Lust zu arbeiten, während alle anderen den tollen Abend genießen«, murmelte sie und streichelte seine weichen Öhrchen.

Bølles genüssliches Knurren gab ihr ein Gefühl von Zustimmung.

Sie schaute auf ihr Handy, scrollte durch das Adressbuch und blieb bei O hängen.

Ohlsen, er müsste längst wieder da sein. Wie es wohl war mit seiner Lies an den Traumstränden dieser Welt?

Drei Monate – über drei Monate Funkstille lagen hinter Fria und ihm. Warum sollte er sich auch melden? Wenn einer einen Grund hatte, es nicht zu tun, dann ja wohl er. Die Erlebnisse und Eindrücke waren sicherlich gewaltig. Jeder Gedanke an zu Hause Verschwendung.

Der Bildschirm erlosch.

Wenn er es überhaupt drei Monate ohne seine geliebte Förde ausgehalten hat. Wahrscheinlich hat er abgebrochen und Lies ist allein weitergezogen. Zuzutrauen wär’s ihr, nach allem, was man hört.

Fria nahm einen großen Schluck Wein und holte das Handy aus dem Ruhemodus. Kurz entschlossen schrieb sie ihm eine Nachricht.

Hej! Du schuldest mir eine Zusammenfassung deiner Weltreise. Hätte heute Abend Zeit. Bedste hilsner, Fria.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, drückte sie auf Senden.

*

Ohlsen warf seine aus alten Autoreifen gefertigte Umhängetasche auf den Küchentisch, zog den Kühlschrank auf und ein Flens heraus. Mit dem Zufallen der Tür kehrte die Dunkelheit in das alte Fischhus zurück. Der den Innenhof überspannende Walnussbaum, die kleinen Sprossenfenster und die hohe Umfriedung aus Stein verhinderten das Eindringen größerer Mengen Tageslicht. Friedlich. Die Welt in all ihrer Kompliziertheit blieb draußen. Hier drinnen gab es nur ihn und das Haus. Das Knacken der Balken, das Knistern des Ofens während der kalten Jahreszeit und das leise Pfeifen oder gar mächtige Heulen des Windes, der durch Ritzen fegte und sich an Stein und Metall rieb.

Ohlsen ignorierte den Wäscheberg, der ihn schon seit Tagen aus der alten Waschküche heraus anstarrte, und trat nach draußen. Statt hochsommerlicher Temperaturen begrüßte ihn ein lauer Sommerabend. Perfekt. Sein Blick glitt durch den lazy gepflegten Innenhofgarten, blieb am mächtigen Stamm der Walnuss hängen.

War er verschroben, weil er froh war, wieder allein zu sein? Weil er die Einsamkeit genoss?

Etwas umständlich ließ er sich in die Hängematte gleiten und blickte in den Blätterhimmel dieses, wie er fand, unvergleichlich schönen Baums. Irrlichtern nicht unähnlich tanzten gelbe Sonnenflecken über das Grün.

Lies war zurück in Hamburg und er wieder hier in Norgaard, in seinem winzigen Kapitänshaus. Alles wie gehabt.

Wirklich? Mach dir nichts vor!

Während kaltes Bier seine Kehle hinunterlief, hatte er Lies’ Lachen in den Ohren. Er spürte die Wärme ihrer Haut an seiner, sah ihre dunklen Haare, wie sie sie in hohem Bogen über die Schultern warf, immer dann, wenn die Energie aus ihr herausplatzte. Seine Superheldin. Seine furchtlose und wunderhübsche Lies.

Der dreimonatige Trip durch Neuseeland, Australien und Indonesien über Thailand und Indien nach Saudi-Arabien und schlussendlich Ägypten hatte ihnen ein paar unvergesslich schöne Erinnerungen geschenkt. So viele unterschiedliche Völker, Kulturen und Rechtssysteme. In jedem dieser Länder hätte man Wochen zubringen und reihenweise neue Dinge entdecken können. Die Natur … irre! Der Pazifik und der Indische Ozean waren etwas vollkommen anderes als die heimische Ostsee, als seine Förde. Noch immer stand Ohlsen unter dem Eindruck der gewaltigen Bilder.

Und doch war es, als hätte sein Gehirn Verstopfung, immer dann, wenn er auf die Reise angesprochen wurde. Er brachte einfach kein Wort heraus. Denn da war dieser eine Makel, vor dem er sich gefürchtet hatte. Dieser schwarze Fleck, der schon immer da gewesen war und sich nun zu einem Loch ausgewachsen hatte. Ein Loch, das sich nicht mehr einfach wegwischen ließ. Sie hatten es beide bemerkt. Lies, die sich ihm zuliebe zurückgenommen und auf einige ihrer Reise-Highlights verzichtet hatte, und er, der sich überwunden und sich ihretwegen in Situationen begeben hatte, die genauso unangenehm gewesen waren, wie er sie sich ausgemalt hatte.

Wir haben uns beide verbogen. Du dich für mich und ich mich für dich. Und – scheiße, ja – es hat sich falsch angefühlt.

Die Wahrheit war verdammt bitter. Bisher hatte er es sich nicht erlaubt, tiefer zu graben, darüber nachzudenken, was das in letzter Konsequenz für ihre Beziehung bedeutete. Fakt war: Er bremste Lies aus, konnte viele ihrer Leidenschaften nicht nachvollziehen. Und sie bekam in der Ruhe seines unspektakulären, kleinbürgerlichen Daseins keine Luft.

Als verlangte die Erkenntnis nach Alkohol, setzte Ohlsen die Flasche an seine Lippen und ließ den Gerstensaft laufen.

Liebte er sie deshalb weniger? Nein!

Doch die Frage, die er sich seit ihrem ersten Aufeinandertreffen stellte, hing nun noch unheilvoller über ihnen. Die Frage, ob sie eine gemeinsame Zukunft hatten. Wie immer, wenn er an diesem Punkt angekommen war, weigerte er sich, den Gedanken zu Ende zu denken.

Es wird sich alles fügen. So oder so.

Erneut nahm er einen großen Schluck und verschränkte den rechten Arm unter seinem Kopf. Irgendetwas Gefiedertes huschte durch die Baumkrone.

Fügen wird es sich hoffentlich auch im Holnis-Kliff-Fall.

Was war das für eine schräge Ermittlung! Bisher hatten die Suchtrupps weder eine Leiche, oder Teile einer solchen, noch Spuren eines Abtransports finden können. Sie hatten der Strömung entsprechend die Innenförde im Bereich Nehrung, Kliff und Salzwiese abgesucht und die Uferböschungen sowie sämtliche Zugangsmöglichkeiten durchforstet. Hätte sich also jemand schwer verletzt irgendwo hingeschleppt, hätten sie Spuren finden müssen. Aber da war nichts.

Zusammen mit Ebba Sigmundsen von der Rechtsmedizin war Ohlsen die Möglichkeiten am späten Nachmittag durchgegangen und zu zwei Schlussfolgerungen gekommen. Erstens: Dort, wo sie die eingesickerte Blutlache gefunden hatten, war nichts, mit dem man sich unbeabsichtigt derart schwere Verletzungen hätte zuziehen können. Selbst bei einem ungünstigen Zusammenprall mit einem der Granitblöcke wäre das Spurenmuster Ebba zufolge ein anderes gewesen. Ein Unfall würde auch nur schwerlich erklären, warum der Rücken des Mädchens im Krankenhaus mit dem Blut des unauffindbaren Opfers beschmiert worden war. Als hätte man sie mit Sonnencreme eingerieben. Blieb also – zweitens – nur Totschlag oder Mord. Eine oder mehrere Individuen hatten eine Person schwer verletzt oder gar getötet und sie danach weggeschafft. Das Fehlen von richtungsweisenden Schleif- oder Blutspuren ließ vermuten, dass der oder die Täter das Opfer in etwas eingewickelt und weggetragen hatten.

Oder sie haben es schlicht und ergreifend an Ort und Stelle ausbluten lassen.

Ohlsen warf die leere Bierflasche ins Gras und rieb sich die müden Augen. Die Einzige, die uns Antworten geben kann, ist das stumme Mädchen aus der Psychiatrie.

 

Ein paar Meter weiter, auf dem kleinen Küchentisch mit den gedrechselten Beinen, umhüllt vom Innenfutter der Umhängetasche, meldete sein Handy eine eintreffende Nachricht.

*

Am Ende hatte sie doch gearbeitet. Ausdrucke, Notizen, das aufgeklappte Laptop, eine leere Weinflasche. Fria kroch aus dem Bett und balancierte vorsichtig über das Chaos zu ihren Füßen. Im Vorbeigehen angelte sie sich ihr Handy. Keine Nachricht von Ohlsen. Ihre hatte er nicht einmal gesehen.

Heißt was?

Sie schob sich die strubbeligen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Dass er sie nicht gesehen hat. Mach kein Drama! Er wird sich schon melden.

Mit Schwung riss sie die hohen weiß lackierten Holzfenster auf und streckte sich gähnend. Noch war der Morgenhimmel mit dünnen Schleierwolken bedeckt. Sie atmete. Ein und aus. Unten, in einem der Vorgärten auf der gegenüberliegenden Seite, schnitt ihre Nachbarin an Rosensträuchern herum. Das tat sie in den Sommermonaten jeden Tag. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters.

»Sollte sie eines Tages nicht mehr im Garten stehen, heißt das nichts Gutes«, murmelte Fria und streichelte Bølle liebevoll über den Kopf. »Los, wir machen uns erst mal ’nen Kaffee!«

Während sie Pulver in die Filtertüte häufelte, blieb ihr schlaftrunkener Blick an einem Schlüsselbund hängen, der mitten auf der Arbeitsplatte lag. Zögerlich nahm sie ihn in die Hand und betrachtete den baumelnden silbernen Buchstaben. Ein P.

Das ist Pouls.

Den Schlüssel bei Marten zu lassen, machte durchaus Sinn. In Hamburg brauchte er ihn nicht. Und was man nicht dabeihatte, konnte man nicht verlieren.

Fria dachte an die Kutte, an das Emblem. Vor ihr lag die Chance, sich die Zeichen darauf genauer anzusehen.

»Wir könnten hinfahren und einen Blick in Pouls Kleiderschrank werfen.«

Bølles Rute zuckte euphorisch.

*

Im hinteren Trakt der Norgaarder Wache war es so still, dass man meinen konnte, der Einzige zu sein, der sich an einem Samstagmorgen hierher verirrt hatte.

»Moin!«, brummte Ohlsen und versuchte, nicht so verspannt auszusehen, wie er sich fühlte. War er doch tatsächlich gestern in der Hängematte eingeschlafen und erst mitten in der Nacht frierend aufgewacht! Lauer Abend hieß an der Förde eben nicht automatisch auch laue Nacht.

»Moin, Chef!« Palles Kopf schob sich hinter dem Monitor seines Rechners hervor.

Der Platz ihm gegenüber war leer. Sinje genoss hoffentlich ihr wohlverdientes Wochenende. Dahinter: Oltmanns verwaister Schreibtisch … Der Gedanke an den Kollegen löste immer dasselbe aus. Beklemmung. Schuldgefühle.

»Ich hab mir die beiden Sanitäter noch mal vorgenommen. Du weißt schon, die, die die Erstversorgung am Holnis-Kliff durchgeführt haben.« Palles Stimme schob Ohlsens düstere Gedanken Wort für Wort zur Seite.