DIE BRAUT TRUG SCHWARZ - Cornell Woolrich - E-Book

DIE BRAUT TRUG SCHWARZ E-Book

Cornell Woolrich

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Vier Männer sterben. Vier Männer, die nichts miteinander verbindet, außer, dass sie auf eigenartige Weise den Tod fanden – und zuvor eine junge, hübsche Frau kennengelernt haben.... Der Thriller-Klassiker Die Braut trug Schwarz von Cornell Woolrich – erstmals im Jahr 1940 veröffentlicht – ist ein düsteres Noir-Lesevergnügen von einem Meister der Suspense. Der Roman wurde 1968 von François Truffaut unter dem Titel La Mariée était en noir verfilmt – in den Hauptrollen: Jeanne Moreau, Michel Bouquet, Jean-Claude Brialy und Charles Denner.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CORNELL WOOLRICH

Die Braut trug Schwarz

Apex Crime, Band 18

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE BRAUT TRUG SCHWARZ 

Erster Teil: BLISS 

Zweiter Teil: MITCHELL 

Dritter Teil: MORAN 

Vierter Teil: FERGUSON 

Fünfter Teil: HOLMES 

 

 

Das Buch

Vier Männer sterben. Vier Männer, die nichts miteinander verbindet, außer, dass sie auf eigenartige Weise den Tod fanden – und zuvor eine junge, hübsche Frau kennengelernt haben....

Der Thriller-Klassiker Die Braut trug Schwarz von Cornell Woolrich – erstmals im Jahr 1940 veröffentlicht – ist ein düsteres Noir-Lesevergnügen von einem Meister der Suspense. Der Roman wurde 1968 von François Truffaut unter dem Titel La Mariée était en noir verfilmt – in den Hauptrollen: Jeanne Moreau, Michel Bouquet, Jean-Claude Brialy und Charles Denner.

DIE BRAUT TRUG SCHWARZ

  Erster Teil: BLISS

 

 

 

1. Die Frau

 

 

»Julie! Oh, mein Gott - Julie!«

Die eindringlich, verzweifelt geflüsterten Worte folgten der Frau, die eilig die Treppe hinunterging. Doch sie zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde. Nur ihr Gesicht war einen Hauch blasser, als sie aus dem Haus trat.

Das junge Mädchen, das auf der Straße neben dem Koffer gewartet hatte, starrte sie ungläubig an, so, als hätte es bis zum letzten Augenblick daran gezweifelt, dass diese Frau wirklich die Kraft haben würde, ihren Entschluss durchzuführen. Sie schien die Gedanken des jungen Mädchens zu erraten und beantwortete die unausgesprochene Frage. »Du kannst mir glauben, dass mir das Lebewohlsagen nicht leichter als Ihnen gefallen ist - der Unterschied ist nur, dass ich daran gewöhnt bin und Sie nicht. Für Sie war es neu, und ich habe in meinem Leben schon so oft Abschied nehmen müssen...« Sie räusperte sich. »Ich glaube, ich werde eine Taxe nehmen. Dort drüben steht gerade eine.« Sie winkte über die Straße.

Als die Taxe vorgefahren war, schaute das junge Mädchen die Frau fragend an.

»Wenn du magst, kannst du mich begleiten«, murmelte die Frau mit müdem Lächeln und wandte sich dann an den Fahrer. »Zum Bahnhof, bitte.«

Sie warf nicht einen einzigen Blick auf das Haus zurück, in dem sie gelebt hatte. Weil sie die vertrauten Straßen der Umgebung nicht mehr sehen wollte, hielt sie während der ganzen Fahrt den Kopf gesenkt.

Am Fahrkartenschalter mussten sie einen Augenblick warten. Das Mädchen ließ hilflos die Schultern hängen und schaute die Frau mit großen Augen an: »Wohin wollen Sie fahren?«

»Darüber habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht.« Sie klappte ihre Handtasche auf, zog ein zusammengerolltes Bündel Dollarnoten hervor und warf achtlos ein paar Scheine auf die Platte vor dem Schalter. »Wie weit komme ich damit?«

Der Fahrkartenverkäufer schaute sie gleichgültig an. »Bis Chicago - dann würden Sie noch neunzig Cents zurückbekommen.«

»Also - einmal Chicago.«

Die Frau warf dem jungen Mädchen einen raschen Seitenblick zu. »Wenn du nach Hause kommst, kannst du ihnen wenigstens das berichten.«

»Wenn Sie es nicht wollen, Julie, werde ich kein Wort sagen.«

»Es ist mir egal. Von mir aus können Sie ruhig den Namen der Stadt wissen - ich komme doch nicht wieder.«

»Komm her, Kleine, lass dich zum Abschied küssen«, sprach die Frau leise.

»Was soll ich nur sagen, Julie?« stammelte das Mädchen.

»Nichts weiter als Lebewohl. Das muss man irgendwann im Leben zu jedem Menschen einmal sagen.«

»Ich hoffe so sehr, Julie, dass ich Sie bald wiedersehe.«

»Du wirst mich nie Wiedersehen.«

Das junge Mädchen entfernte sich zögernd, mit schleppenden Schritten.

Allmählich füllte sich der Bahnsteig. Der Zug fuhr mit quietschenden Bremsen in die Bahnhofshalle ein. Ehe er zum Halten kam, quäkte eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Fünf'n'zwanzigste Straße.« Türen wurden aufgerissen, und die Reisenden stolperten lärmend mit ihrem Gepäck die hohen Stufen der Wagen hinunter.

Die Frau, die einen Schlussstrich gezogen hatte und für immer gegangen war, hob ihren Koffer auf und begab sich mit dem Schwarm der Ausgestiegenen auf die Sperre zu, so, als sei sie am Ende ihrer Reise und nicht am Anfang.

Während sie langsam die Stufen zur Bahnhofshalle hinunterging, fuhr der Zug donnernd weiter. Sie kaufte sich am Kiosk eine Tageszeitung. Als sie die Seiten mit den Anzeigen aufgeklappt hatte, fuhr ihr Zeigefinger suchend über die Spalten, bis sie zu den möblierten Zimmern gekommen war.

Sie machte sich nicht die Mühe, die Angebote zu lesen; bei einer x-beliebigen Annonce grub sich ihr Fingernagel in das weiche Papier. Dann ergriff sie, die aufgeklappte Zeitung unterm Arm, ihren Koffer und winkte vor dem Bahnhofsgebäude einem Taxi.

»Fahren Sie mich dorthin«, sagte sie und tippte auf die Annonce.

 

Die Wirtin, die das möblierte Zimmer zu vermieten hatte, stand abwartend da. Die Frau drehte sich nach einem flüchtigen Rundblick zu ihr um.

»Ja, das gefällt mir recht gut. Ich werde es nehmen.« Sie öffnete ihre Handtasche. »Hier - die Miete für die ersten vierzehn Tage.«

Die Wirtin zählte das Geld nach und kritzelte eine Quittung. »Wie war doch Ihr Name?«, fragte sie und schaute auf.

Die Augen der Frau flackerten unmerklich. Ihr Blick huschte über die abgenutzten Initialen JB auf ihrem Koffer. »Josephine Bailey«, murmelte sie.

»Hier ist Ihre Quittung, Miss Bailey. Ich hoffe, dass Sie sich bei mir wohlfühlen. Das Badezimmer ist nur zwei Türen...«

»Vielen Dank, vielen Dank, ich werde schon alles finden.« Die Frau schloss hastig die Tür und verriegelte sie von innen. Sie zog den Mantel aus, warf den Hut aufs Bett und klappte den Koffer auf, den sie erst vor einer knappen Stunde gepackt hatte und mit dem sie ganze fünfzig Häuserblocks weit gereist war.

Als sie sich suchend umschaute, fiel ihr Blick auf das alte Badezimmerschränkchen über dem Waschbecken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Welch ein Glück, im obersten Fach lag eine verrostete Rasierklinge, die wohl von einem männlichen Zimmermieter stammte.

Damit entfernte sie die Initialen von ihrem Koffer. Sie tat es sehr gründlich. Danach trennte sie diese beiden Buchstaben, die einmal die Anfangsbuchstaben ihres Namens gewesen waren, auch aus einigen Wäschestücken, einem Morgenrock und einer Bluse.

Nachdem sie die Kennzeichen ihrer Vergangenheit ausgelöscht hatte, warf sie die Rasierklinge in den Papierkorb und wischte sich die Fingerspitzen ab.

Aus dem Fach auf der Innenseite des Kofferdeckels zog sie ein Bild. Sie betrachtete es lange. Es zeigte einen jungen Mann, der weder besonders hübsch noch besonders intelligent aussah. Nichts Außergewöhnliches ging von ihm aus. Augen, Mund und Nase - ein Dutzendgesicht. Sie schaute das Bild sehr lange an.

Dann entnahm sie ihrer Handtasche eine Schachtel Streichhölzer und hielt das Foto übers Waschbecken. Ein Streichholz flammte auf.

»Auf Wiedersehen«, murmelte sie.

Sie drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis der letzte Rest Asche hinuntergespült war. Dann ging sie zum Koffer zurück. In der Innentasche waren noch fünf Zettel, auf die Namen gekritzelt waren; Namen, die sie mühsam zusammengesammelt hatte.

Sie holte die Zettel hervor, mischte sie wie Spielkarten. Als sie sie mit den unbeschriebenen Seiten nach oben aufs Bett legte, umspielte ein eigentümliches Lächeln ihre Lippen. Tastend fuhr sie mit den Fingern über die verschiedenen Zettel. Plötzlich hob sie einen Zettel hoch und schaute auf die Rückseite. Danach raffte sie alle zusammen und verbrannte sie ebenfalls im Waschbecken.

Sodann trat sie ans Fenster, öffnete es ruckartig. Sie schaute hinaus und stützte dabei ihre Hände auf die äußersten Enden des Fensterbretts. Ihre Schultern strafften sich, sie schien der Stadt, die zu ihren Füßen lag, den Kampf anzusagen. Als sie sich weit vorlehnte, waren ihre Lippen schmal, und in ihren zusammengekniffenen Augen leuchtete wilde Entschlusskraft.

 

 

 

2. Bliss

 

 

Das Taxi hielt derart ruckartig vor dem Eingang des Apartmenthauses, dass Bliss auf seinem Sitz nach vorne rutschte. Der Alkohol in seinem Magen rebellierte. Nicht dass er zu viel getrunken hätte, aber er hatte die letzten Drinks erst vor wenigen Minuten in sich hineingeschüttet.

Als er sich aufrichtete, um aus dem Taxi zu steigen, stieß er mit dem Kopf gegen die Tür. Brummend rückte er seinen Hut zurecht. Dann durchwühlte er sämtliche Taschen nach Kleingeld, wobei einige Münzen auf den Bürgersteig kollerten. Trotzdem - er war nicht total betrunken. Das passierte ihm nie. Er wusste immer genau, was man zu ihm sagte, und er wusste auch, was er selber sagte. Ihm war nicht eigentlich übel - das heißt, ein bisschen schon. Er dachte intensiv an Marge. Das half für gewöhnlich. Es half auch jetzt.

Als er endlich den Taxifahrer entlohnen konnte, kam Charlie, der Nachtportier, aus der Tür gestürzt. Charlie entledigte sich seiner Pflichten nicht gerade am schnellsten; aber das war verständlich, wenn man wusste, dass er die meiste Zeit seines Nachtdienstes damit verbrachte, in der Halle auf einer Bank zu hocken und über einem todsicheren Lotto-System zu brüten. Außerdem war es jetzt schon halb drei Uhr morgens - und, du lieber Gott, kein Mensch ist perfekt!

Bliss drehte mit einiger Anstrengung den Kopf zur Seite und nuschelte: »Servus, Charlie.«

»Guten Morgen, Mr. Bliss«, antwortete Charlie und riss die Eingangstür auf. Er folgte Bliss ins Haus, erfüllt von dem Gefühl, seine Pflichten mehr oder minder zufriedenstellend erfüllt zu haben. Er gähnte herzhaft. Woraufhin Bliss, der sein Gähnen gewiss nicht hatte sehen können, ebenfalls den Mund weit aufriss - eine Tatsache, die, so belanglos sie auch erscheinen mag, einen Seelenforscher zu tiefschürfenden Überlegungen veranlassen dürfte.

Bliss konnte nie an dem Spiegel in der Halle Vorbeigehen, ohne sich eingehend zu betrachten. Auch jetzt blieb er leicht schwankend vor dem Spiegel stehen. Bliss hatte zwei verschiedene Gesichter: das forsche Was-kostet-die-Welt-Gesicht, wenn er das Haus verließ, und das Gott-geht's-mir-schlecht-endlich-bin-ich-wieder-zu-Hause-Gesicht, wenn er zurückkam.

Aus dem Spiegel schaute ihn ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren an. Seine Haare waren so kurzgeschoren, dass sie an den Schläfen silbern schimmerten. Dieser Mann hatte braune Augen, war schlank und mittelgroß und wusste alles über ihn - über Bliss. Nein, er war nicht gerade schön. Aber wer wollte heutzutage noch einen schönen Mann? Selbst Marge Elliot war es egal, ob er hübsch war oder nicht. Sie hatte es mit den Worten formuliert: »...solange du der Ken Bliss bist, den ich liebe.«

Er seufzte und gab der welken weißen Nelke, die traurig im Knopfloch baumelte, einen Klaps. Sie löste sich daraufhin in ihre Bestandteile auf.

Dann holte Bliss eine zerknitterte Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche und fummelte eine Zigarette heraus. Als er vermittels tiefsinnigem Blick in die Packung feststellte, dass sich in einer Ecke doch noch eine Zigarette befand, bot er sie Charlie an. »Geteilte Freude ist doppelte Freude«, murmelte er.

Charlie nahm sie mit dankbarem Lächeln an. Ein besseres Trinkgeld würde er in dieser Nacht wahrscheinlich nicht mehr bekommen. Seine Spezialität war es zwar nicht, die ganze Halle auf Hochglanz zu polieren - es reichte ihm, wenn die Eingangstür und der Weg durch die Halle zum Fahrstuhl vor Sauberkeit blitzten -, aber er verstand es besonders gut, mit Betrunkenen umzugehen. Er war hier schon Nachtportier gewesen, als Bliss einzog. Bliss mochte ihn. Und Charlie mochte Bliss. Bliss hatte ihm zu Weihnachten zwei Dollar geschenkt und hatte ihm während des Jahres zwei weitere Dollar nach und nach zukommen lassen. Aber darum ging es gar nicht. Charlie mochte Bliss einfach.

Als die Zigaretten brannten und Bliss mit leicht schwankenden Schritten auf den Fahrstuhl zuging, hörte er Charlies Stimme: »Das hätte ich fast vergessen, Mr. Bliss. Heute Abend war eine junge Dame da, die Sie sehen wollte.«

»Sooo? Wie hieß sie denn?« Seine Stimme klang ziemlich gleichgültig. Da es nicht Marge gewesen sein konnte, interessierte es ihn nicht sonderlich - nicht mehr. Er blieb stehen und drehte sich nur halb um, um die Antwort zu hören.

»Das weiß ich nicht«, brummte Charlie. »Sie hat ihren Namen nicht genannt. Ich habe sie zwei- oder dreimal danach gefragt, aber...« Er zuckte die Achseln. »Sie wollte ihn offensichtlich nicht sagen.«

»Ist auch egal«, murmelte Bliss. Und es war ihm wirklich egal.

»Ich glaube, sie wäre am liebsten in Ihre Wohnung gegangen und hätte oben auf Sie gewartet«, fügte Charlie hinzu.

»Oh, nein, oh, nein!« Bliss wurde etwas lebhafter. »Die Zeiten sind vorbei! Lassen Sie keine Frau mehr in meine Wohnung!«

»Ich weiß! Nein, das würde ich nie mehr tun! Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Bliss«, schmetterte Charlie mit treuherzigem Blick. Mit einem Kopfschütteln fügte er hinzu: »Sie hat auch bestimmt nichts Gutes im Schilde geführt.«

Bliss, der inzwischen seinen Weg zum Fahrstuhl fortgesetzt hatte, blieb ruckartig stehen. Etwas in Charlies Stimme zwang ihn, sich umzudrehen und ihm voll ins Gesicht zu sehen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Na ja...«, begann Charlie zögernd. »Sie stand dicht neben mir, als ich vergeblich zu Ihnen hinaufgerufen hatte, und fragte: Kann ich oben auf ihn warten? 

Ich sagte: Tja, Fräulein, ich weiß nicht recht. Das darf ich eigentlich nicht. Wissen Sie, so in der Art, um ihr einen guten Abgang zu verschaffen. Aber sie ging nicht, sondern klappte ihre große Handtasche auf und wühlte darin herum, als suchte sie ihren Lippenstift. Aber ganz obenauf lag ein Hundertdollarschein und starrte mich an. Vielleicht glauben Sie mir das nicht, Mr. Bliss, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen...«

Bliss lächelte gutmütig. »Und Sie haben gedacht, dass diese Dame Sie damit bestechen will, nicht wahr? - Charlie, kommen Sie wieder zu sich!« Er knuffte den anderen kameradschaftlich in die Seite.

Doch Charlie ließ sich nicht beirren. »Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, Mr. Bliss, die Art, wie sie mich den Geldschein sehen ließ, war absolut eindeutig. Während sie in der Tasche herumwühlte, war sie bemüht, die Lage der Hundertdollarnote nicht zu verändern. Sosehr sie auch den Inhalt der Tasche durchstöberte, der Schein blieb immer sichtbar. Schließlich hob sie den Blick zu mir. Dann starrte sie sekundenlang auf den Geldschein und dann wieder auf mich. Es war mir völlig klar, was sie meinte. Glauben Sie mir, Mr. Bliss, ich bin wirklich lange genug im Geschäft, um alle Tricks zu kennen!«

Bliss fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und Sie sind ganz sicher, Charlie, dass es nicht zehn Dollar waren?«

Charlies Stimme überschlug sich fast vor Eifer. »Mr. Bliss, Sie werden mir doch glauben, dass ich einen Zehndollarschein von einem Hundertdollarschein unterscheiden kann!«

»Verdammt«, brummte Bliss und biss sich auf die Lippen. Er schaute Charlie scharf an. Er musste erfahren, was das alles zu bedeuten hatte.

Charlie schien dafür vollstes Verständnis zu haben. »Ich bin gleich wieder da, Mr. Bliss«, sagte er und trabte hinaus, weil er gehört hatte, dass ein Wagen vorgefahren war. Kurz darauf riss er dienstbeflissen die Tür auf und geleitete einen Mann und eine Frau in die Halle. Die Frau hatte ein Abendkleid an, das um halb neun noch die wahre Pracht gewesen sein musste. Jetzt schlotterte es zerknittert und leicht verschmutzt um ihren Körper.

Das Paar nickte Bliss im Vorübergehen flüchtig zu, und Bliss nickte flüchtig zurück. Man lächelte sich mit der eiskalten Herzlichkeit an, die Nachbarn in einer Großstadt eigen ist. Dann stieg das Paar in den Fahrstuhl und schwebte nach oben.

Sobald der schwachbeleuchtete Käfig, der sich großspurig Fahrstuhl nannte, ihren Blicken entschwunden war, setzten die beiden ihr Gespräch fort. »Wie sah sie denn aus?«, fragte Bliss. »Haben Sie sie vorher schon einmal gesehen? Sie müssten eigentlich die Mitglieder der weiblichen Truppe, die bei mir ein und ausgegangen sind, recht gut kennen...«

»Das kann man wohl sagen«, nickte Charlie. »Aber die Frau bringe ich nirgends unter. Ich bin ganz sicher, dass ich sie noch nie gesehen hab'. Die wäre mir bestimmt aufgefallen, denn, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, das war ein besonders feines Dämchen.«

»So, so...«, murmelte Bliss. »Und wie sah dieses Dämchen aus?«

»Tja...« - in Charlies Augen trat ein verklärter Ausdruck - »...sie war blond. Wissen Sie - so echt blond. Nicht das verwaschene Platinblond mit den Silberstreifen, mit dem sie jetzt alle herumlaufen. Ihre Haare glänzten wie - wie frischer Honig.«

»So, so, frischer Honig«, meinte Bliss geduldig.

»Und sie hatte blaue Augen«, fuhr Charlie schwärmerisch fort. »Wissen Sie, solche Augen... Und sie war...« - er hielt seine Hand in Schulterhöhe - »...ungefähr so groß. Dicklich war sie nicht, weiß Gott nicht, aber alles andere als knochig. Sie wissen schon, was ich meine. Genau das, was man gern im Arm hält...«

Bliss starrte während dieser Beschreibung unverwandt zur Decke und schüttelte hin und wieder den Kopf. »Nein, nein«, murmelte er sinnend. Und als er im Geist die Liste seiner Verflossenen durchgegangen war, schüttelte er noch energischer den Kopf. »Nein. Ich wüsste wirklich nicht. Die Beschreibung könnte höchstens auf Helen Raymond zutreffen, aber...«

Charlie hob die Hände. »Oh, nein! Ich kann mich noch gut an Miss Raymond erinnern. Wie oft habe ich für sie nachts ein Taxi bestellen müssen! Sie war es bestimmt nicht. Die Dame von heute Abend kennen Sie nicht!«

Bliss hob die Augenbrauen. Aber ehe er eine Frage stellen konnte, redete Charlie weiter. »Sie wollen wissen, wie ich darauf komme, nicht wahr? Sie werden lachen, es ist ganz einfach: Die Dame kennt Sie nämlich auch nicht!«

Bliss lachte nicht. »Was? Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr! Warum wollte sie mich dann, zum Teufel, heute unbedingt sehen und in meiner Wohnung auf mich warten?«

Charlie genoss sichtlich die Abwechslung in seinem Nachtportier-Dasein. »Sie können Gift darauf nehmen, dass die Dame Sie überhaupt nicht kennt«, fuhr er in feierlich ernstem Tonfall fort. »Ich habe sie auf dem Weg nach oben aufs Glatteis geführt...«

»Auf dem Weg nach oben!«, schnaufte Bliss. »Sie wollten sie also doch in meine Wohnung lassen! Jetzt fange ich an zu glauben, dass es wirklich hundert Dollar waren!«

Als Charlie erkannte, welchen Fehler er da gemacht hatte, räusperte er sich vernehmlich. »Aber, nein, Mr. Bliss, nein«, beteuerte er und schaute treuherzig zu. »Sie sollten mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich so etwas niemals tun würde. Ich bin mit der Dame im Fahrstuhl nach oben gefahren, um so zu tun, als würde ich sie in Ihre Wohnung einlassen. Ich glaubte, der rascheste Weg, sie wieder loszuwerden, sei, scheinbar auf ihre Wünsche einzugehen, um dann im letzten Moment...«

»Ja, ich verstehe«, meinte Bliss.

»Also«, fuhr Charlie gedehnt fort, »wir stiegen in den Fahrstuhl, um zum vierten Stock hinaufzufahren. Auf dem Weg nach oben fiel mir auf einmal der Raubüberfall ein, den wir hier im Haus im letzten Jahr hatten - Sie werden sich gewiss noch daran erinnern. Kurzum, ich beschloss, kein Risiko einzugehen. Deshalb stelle ich die Frau auf die Probe und gab eine völlig falsche Beschreibung von Ihnen. Ich sagte: »Ich bin erst seit kurzem hier und kenne die einzelnen Mieter noch nicht so genau. Aber Mr. Bliss ist doch der lange Bursche - so an die einsneunzig - mit den roten Haaren, nicht wahr?« Und sie fiel auch prompt drauf rein. Gewiss, gewiss, sagte sie kurz angebunden, so, als hätte sie Angst, ich könnte weitere Fragen stellen...«

»Mein Gott, ist das spannend«, murmelte Bliss und gähnte verstohlen. »Es muss mir bis jetzt entgangen sein, dass ich eine interessante Persönlichkeit bin.«

»Scheint so«, nickte Charlie und grinste, um dann mit entrüsteter Stimme fortzufahren: »Das hat mir natürlich gereicht! Als ich das gehört hatte, habe ich mir gesagt: Lass die Finger davon, Charlie, das kann leicht ins Auge gehen! Der Frau gegenüber hab' ich mir natürlich nichts anmerken lassen. Außerdem - sie war so nett - und so gut angezogen, wissen Sie. Sie war einfach nicht der Typ, mit dem man einen Riesenkrach anfängt. Ich hielt die weiche Welle für angebrachter. Deshalb hab' ich mit einem falschen Schlüssel versucht, Ihre Wohnungstür aufzuschließen, und als das nicht ging, hab' ich bedauernd gesagt, dass ich keinen anderen Schlüssel hätte und sie deshalb nicht in die Wohnung lassen könnte. Es schien ihr nicht sonderlich viel auszumachen. Sie zuckte nur die Achseln. Und als wir wieder unten waren, lächelte sie und meinte leichthin: Dann eben ein andermal. Daraufhin verließ sie das Haus. Ich schaute ihr nach, wie sie langsam die Straße entlangging, und habe mich gewundert, dass sie, so wie sie gekleidet war, kein Auto vor der Tür stehen hatte. Sie machte auch keine Anstalten, einem Taxi zu winken. Sie schlenderte ganz einfach die Straße entlang, als wäre es zehn Uhr morgens und nicht mitten in der Nacht. Selbst O'Connor, der Polizist, drehte sich nach ihr um, als sie an ihm vorbeiging. Ich glaube, ihn hat nur seine Uniform davon abgehalten, einen anerkennenden Pfiff auszustoßen. Dann bog die Frau um die nächste Ecke und war verschwunden.«

»Wie ein Schiff, das in dunkler Nacht an einem Leuchtturm vorüberzieht«, meinte Bliss ironisch. »Ich verstehe bloß eins nicht: Wenn ich sie nicht kenne - nach Ihrer Beschreibung bin ich da ziemlich sicher - und sie mich nicht kennt, was wollte sie dann um Himmels willen von mir? Vielleicht hat sie mich nur ganz einfach mit jemandem verwechselt.«

»Das glaube ich nicht, denn sie hat beim Hereinkommen Ihren vollen Namen gesagt.«

Bliss strich sich mit der Hand nachdenklich übers Kinn. »Und Sie sagen, sie ist auch nicht mit dem Auto vorgefahren?«

»Nein. Sie schien irgendwie aus dem Nichts zu kommen und auch wieder im Nichts zu verschwinden. Das war schon sehr seltsam.«

Die beiden redeten noch eine Weile über den Zwischenfall. Wie Männer über so etwas reden. Aber schon auf der Fahrt nach oben hatte Bliss die fremde Besucherin vergessen. Er dachte an nichts weiter als an Marjorie.

 

Als Corey um halb neun Uhr abends bei Bliss aufkreuzte, um ihn zur Verlobungsfeier, die in Marjories Elternhaus stattfinden sollte, abzuholen, war Bliss noch längst nicht fertig. »Verdammt, so früh«, grunzte Bliss in einem Ton, den man nur guten Freunden gegenüber anschlägt. »Ich bin gerade erst vom Essen zurückgekommen, ich bin noch nicht mal rasiert!«

»Ich habe um halb fünf bei dir im Büro angerufen. Wo hast du denn, zum Teufel, die ganze Zeit gesteckt?«, bellte Corey im selben burschikosen Ton zurück.

Corey ließ sich in den nächsten Sessel fallen und schwang ein Bein über die Armlehne. Er schleuderte seinen Hut auf das Fensterbrett zu, aber der Hut verfehlte sein Ziel und landete auf einem Bücherregal.

Corey war von einer Hässlichkeit, die anziehend wirkte. Er war größer und schlanker als Bliss. Er hatte dunkelbraune Haare und buschige Brauen. Er versuchte, wie ein Snob zu wirken, und kleidete sich dementsprechend. Aber wer ihn näher kannte, wusste, dass das nur äußerlich war. In der feinen Schale steckte ein wilder Kern. Wenn er einmal den Schleier lüftete, glaubte man, in einen Dschungel zu sehen und Urwaldtrommeln zu hören. Nun, ob er ein echter Snob war oder nicht, er arbeitete jedenfalls hart an diesem Ruf. Man konnte zu jeder Party kommen, Corey war da. Er lehnte an irgendeinem Türpfosten und wärmte ein Glas in den Händen. Jedes Mädchen, das man traf, kannte ihn - oder sie hatte zumindest eine Freundin, die ihn kannte. Sein Verschleiß an Frauen war beachtlich, und seine Technik glich einer Art Blitzkrieg. Er hatte auch in den unwahrscheinlichsten Fällen Erfolg. So manche Unnahbare müsste in den Erdboden versinken, wenn die Wahrheit ans Tageslicht käme.

Jetzt rieb er sich schadenfroh die Hände. »Fabelhaft, heute Abend wirst du festgenagelt und bekommst ein Brandzeichen aufgedrückt. Wie fühlst du dich bei dem Gedanken? Ich sehe, dass du ganz blass bist, mein lieber Freund. Du hast immer noch Zeit, dich aus dem Staub zu machen.«

»Glaubst du, dass ich bin wie du?«

»Also, wo hast du dich heute Nachmittag herumgetrieben? Ich wollte mit dir zum Essen gehen.«

»Was meinst du wohl? Ich habe den Verlobungsring gekauft!« Bliss holte aus einer Schublade eine kleine Schachtel und ließ den Deckel aufspringen. »Wie gefällt dir der Brillant?«

Corey stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Donnerwetter, das ist ja fast schon ein Felsbrocken!«

»Ich bin auch völlig pleite!« Bliss legte die Schachtel mit gespielter Gleichgültigkeit in die Schublade zurück und streifte die Hosenträger von den Schultern. »Ich werde jetzt unter die Dusche gehen. Du weißt ja, wo der Scotch steht.«

Nach etwa zwanzig Minuten kam er eilig aus dem Badezimmer zurück. Corey blickte von seiner Zeitung auf und fragte träge: »Wer war die Dame?«

»Welche Dame?«

»Während du im Bad warst, hat eine Dame angerufen und nach dir gefragt. Aus der Art, wie sie redete, möchte ich schließen, dass es keine deiner früheren Spielgefährtinnen war. Kann ich Mr. Kenneth Bliss unter dieser Nummer erreichen? hat sie gefragt. Ich habe ihr erklärt, dass du gerade beschäftigt seist, und sie gefragt, ob ich etwas ausrichten könne. Daraufhin hat sie ohne ein weiteres Wort aufgelegt.«

»Eigenartig.«

Corey drehte das Glas in den Händen. »Vielleicht war es eine Reporterin, die für die Gesellschaftsseite noch ein paar Angaben über die Verlobung haben wollte.«

»Nein, die wenden sich meist an die weibliche Hälfte. Außerdem haben Marjories Leute sowieso schon den ganzen Tag Schmus an die Zeitungen gegeben. Ich frage mich, ob es sie war«, meinte Bliss nachdenklich.

»Was für eine Sie?«

Bliss grinste. »Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, aber ich scheine eine heimliche Verehrerin zu haben. Es ist etwas Komisches passiert. Als ich neulich abends nicht zu Hause war, hat ein schönes Mädchen alles versucht, um in meine Wohnung zu kommen. Der Nachtportier hat es mir erzählt, als ich heimkam. Sie wollte ihren Namen nicht nennen. Du weißt, wie das so mit den Portiers ist; er kennt eigentlich alle Mädchen, mit denen ich gegangen bin, und er schwor Stein und Bein, dass er sie vorher noch nie gesehen hatte. Er sagte, dass sie ausnehmend gut gekleidet war und dass sie Geld haben musste. Aber seltsamerweise ist sie nicht mit dem Auto gekommen, sondern ganz einfach die Straße entlangspaziert und nachher wie im Nichts verschwunden.

Der Portier hat mir dann noch erzählt, dass sie ihre Handtasche aufmachte und so tat, als suche sie ihren Lippenstift oder so. Dabei ließ sie ihn wie beiläufig einen Hundertdollarschein sehen. Die Art, wie sie es machte, war für Charlie eindeutig. Es war ihm völlig klar, dass ihm der Schein gehören würde, wenn er sie in meine Wohnung ließe.«

In Coreys Augen trat ein skeptischer Zug. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich ein Portier die Chance, so leicht hundert Dollar zu verdienen, entgehen lässt. Wenn du mich fragst - er hat dir einen Bären aufgebunden!«

»Das glaube ich nicht. Die Summe ist für ein Trinkgeld so phantastisch, dass die Geschichte schon wieder stimmen könnte. Wenn es ihm darum gegangen wäre, mir etwas vorzuflunkern, dann hätte er wahrscheinlich von zehn, bestenfalls von zwanzig Dollar geredet.«

»Hm. Und was hat der gute Mann dann gemacht? Hat er sie in die Wohnung gelassen?«

»Ich habe das Gefühl, dass ihn die hundert Dollar so beeindruckten, dass er fast der Versuchung erlegen wäre. Aber dann muss ihm das Ganze doch reichlich verdächtig vorgekommen sein, denn er hielt es für besser, sie ein wenig auszufragen, ehe er sie in meine Wohnung ließ. Um festzustellen, ob sie mich wirklich kennt, gab er ihr eine völlig falsche Beschreibung von mir. Und sie fiel auch prompt drauf rein und sagte, ja, das sei genau der Mann, zu dem sie wollte. Da war es Charlie klar, dass sie mich noch nie im Leben gesehen hatte.

Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt, denn er hatte keine Lust, sich in die Nesseln zu setzen. Er gab vor, nicht den passenden Wohnungsschlüssel zu haben, und komplimentierte sie so taktvoll wie möglich hinaus. Denn sie hatte auf ihn einen so damenhaften Eindruck gemacht, dass er es nicht fertigbrachte, sie anzuschnauzen. Als sie sah, dass sie so nicht weiterkam, zuckte sie nur lächelnd die Achseln, verließ das Haus und schlenderte die Straße hinunter.«

Corey saß vorgebeugt da und hörte interessiert zu. »Und du bist nach seiner Beschreibung wirklich sicher, dass du sie nicht kennst?«

»Todsicher! Wie ich schon sagte: sie kennt mich ebenfalls nicht.«

»Dann möchte ich wissen, was sie im Schilde geführt hat!«

»Ich auch - denn es ist völlig klar, dass sie nicht im Sinn gehabt hat, meine Wohnung auszuräumen. Sie war immerhin bereit gewesen, hundert Dollar für den Einlass zu zahlen. Und wer es fertigbringt, aus meiner Wohnung Sachen im Werte von auch nur annähernd hundert Dollar hinauszutragen, ist ein Zauberkünstler.«

Diesem Argument konnte sich Corey nicht verschließen. Er nickte verständnisvoll.

Bliss hatte sich inzwischen angezogen. »Wir wollen gehen«, sagte er und lächelte nervös. »Das einzige, was ich gegen eine Heirat einzuwenden habe, sind die Vorbereitungen und das ganze Tamtam - wie zum Beispiel der heutige Abend.«

»Das würde mir noch am besten gefallen«, meinte Corey. »Solange du nicht vor dem Altar stehst, bist du immer noch ein freier Mann.«