Die Briefe aus Eden - Josefine Rothe - E-Book

Die Briefe aus Eden E-Book

Josefine Rothe

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Beschreibung

2003 in Eden (Maryland, USA): Nach dem Tod ihrer berühmten Mutter kehrt Rita Redwood in ihr Elternhaus zurück. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Anwesen auszuräumen und zu verkaufen. Doch inmitten ihrer Trauer holt Rita das Vermächtnis ihrer Mutter ein: Bonnie Eve Beverley hat eine Kiste mit Briefen hinterlassen. Sie sind an all jene Menschen gerichtet, die sie aus ganzem Herzen liebte. Für Rita beginnt ein Frühling voller Trauer, Zweifel, Heilung und Hoffnungen. Sie liest jene Briefe Bonnies, die Einblicke in ihre Vergangenheit bieten, und versucht, sie den Empfängern zu übergeben. Rita lernt ihre Mutter auf eine Weise kennen, die ihr zu Lebzeiten wegen ihrer schwierigen Beziehung verwehrt war – doch ein letzter Zweifel bleibt: Wartet am Boden der Kiste auch ein Brief für Rita?

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Seitenzahl: 611

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Briefe aus Eden

Roman

Josefine Rothe

Copyright © 2025

by Josefine Rothe

c/o Autorenglück #78010

Albert-Einstein-Str. 47

02977 Hoyerswerda

www.autorin-josefine-rothe.de

Cover: Marietta Rothe

Grafikgestaltung: Enrico Rothe

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 1

Die Die­len der Ver­an­da jau­chzten un­ter ih­rem Ge­wicht.

In ih­ren Nes­tern un­ter­bra­chen die neu­ge­bo­re­nen Spat­zen ihr Zwit­schern, ver­schreckt von dem knar­ren­den Will­kom­mens­gruß. Ri­ta ver­such­te, so lei­se wie mög­lich zu sein, doch die Lack­schu­he von der Trau­er­fei­er er­schwer­ten die­ses Vor­ha­ben. Der Schlüs­sel­bund klirr­te nicht min­der lauts­tark, als sie ihn aus der Ta­sche zog. Sie warf ei­nen mit­lei­di­gen Blick in den blü­hen­den Vor­gar­ten, be­vor sie sich nach vorn wand­te.

Ri­ta at­me­te ein­mal tief ein, dann schob sie die Tür ei­nen win­zi­gen Spalt auf; nur so weit, dass sie hin­durch­tre­ten konn­te.

Auf der Schwel­le wur­de sie von ei­nem honig­sü­ßen, kaffee­bit­te­ren Ge­fühl heim­ge­sucht. Zäh­flüs­sig press­te sich die Ver­gan­gen­heit in ih­re Lun­ge wie ei­ne chro­ni­sche, all­um­fas­sen­de Krank­heit.

Nos­tal­gie. Sie hing so schwer­mü­tig in der Luft, dass sie Ri­ta den Atem nahm.

Nach so vielen Jah­ren. Nach so vielen Jah­ren war sie zurück. Zurück zu Hau­se.

Die herr­schaft­li­che vik­to­ria­ni­sche Ein­gangs­hal­le glänz­te in je­nem dämm­ri­gen Abend­licht, das nur in der hal­ben Stun­de nach Son­nen­un­ter­gang ent­stand. Die­se Art von Licht war nicht an­ge­nehm für die Augen; be­son­ders nicht für sol­che, die so schlecht waren wie Ri­tas. Sie hob ei­ne Hand, setz­te ih­re Bril­le ab, rieb sich mit ei­nem Seuf­zen über die Li­der, blin­zel­te und setz­te die Bril­le wie­der auf.

Sie at­me­te ein zwei­tes Mal zit­trig ein. In der Ein­gangs­hal­le roch es nach Pfir­si­chen und Sei­fe und – tat­säch­lich! – ei­nem Hauch von ita­lie­ni­schem Espres­so. Ri­ta schloss die Augen und schnup­per­te. Ei­ne Ah­nung von Mutters Par­füm lag noch in der Luft. Seit Ri­ta den­ken konn­te, trug sie das­sel­be – Berg­amot­te, San­del­holz, Jas­min und weite­re Aro­men, die sie nicht be­nen­nen konn­te. Selbst ihr Sarg hat­te da­nach ge­duf­tet.

Ri­ta spür­te, wie Wär­me in ih­re Wan­gen stieg, als sie da­rüber nach­dach­te, wie sie vor vielen Jah­ren in ei­ner Par­fü­me­rie ge­stan­den hat­te, auf der Su­che nach eben je­nem Duft. Als der Ver­käu­fer sie ge­fragt hat­te, wo­nach er denn roch, war ih­re ein­zi­ge Ant­wort »nach Frank­reich im Som­mer« ge­we­sen. Der Ver­käu­fer hat­te nicht ver­stan­den, wie konn­te er auch? Sie war im Ge­schäft ge­we­sen, um die Nä­he ih­rer Mutter zu su­chen.

Jetzt war sie tot. Bon­nie Eve Be­ver­ley war tot und Ri­ta war zurück zu Hau­se. Bon­nie war tot, sie wür­de nie wie­der zurück­keh­ren, doch Ri­ta war ge­zwun­gen, ih­re Augen zu öff­nen, aus­zu­at­men, ih­ren Kof­fer ab­zu­stel­len, ein­zu­at­men, nicht dem Im­puls nach­zu­ge­ben, auf den Mar­mor­flie­sen zu­sam­men­zu­bre­chen – die si­cher noch so hart waren wie in ih­ren Kin­der­ta­gen –, und weiter zu at­men, weiter­zu­ma­chen. Weiter und weiter und weiter, als wüss­te Ri­ta, wo­hin, wie es Bon­nie immer ge­tan hat­te. Weiter und weiter und weiter, als wä­re Ri­ta nicht immer noch ein ver­lo­re­nes Kind in ei­ner ver­lo­re­nen Welt, das sich auf den kal­ten Mar­mor leg­te, um der wü­ten­den Som­mer­hit­ze zu ent­flie­hen.

»Ri­ta«, sag­te sie zu sich selbst und er­laub­te dem Zit­tern ih­res Körpers nicht, ih­re Stim­me zu er­obern, »Ri­ta, reiß dich zu­sam­men.«

Sie hob den Kof­fer an und durch­quer­te die Ein­gangs­hal­le, schritt über das run­de Mo­saik im Schoß des Trep­pen­ab­sat­zes. Sie be­tä­tig­te den Licht­schal­ter und der perl­weiß glit­zern­de Kron­leuch­ter über ih­rem Kopf er­wach­te zum Le­ben. Einst war er wohl mit ech­ten Ker­zen be­trie­ben wor­den, hat­te die Haus­häl­te­rin Al­ma ge­sagt, doch ir­gend­wann hat­ten sie das Wachs mit Glüh­bir­nen aus­ge­wech­selt, nach­dem bei ei­ner Par­ty bei­nahe das Haus ab­ge­fa­ckelt war. Das muss­te ir­gend­wann in den spä­ten 60ern ge­we­sen sein.

Ri­ta schüt­tel­te den Kopf. Das ging ent­schie­den zu weit. Sie konn­te nicht mi­nu­ten­lang wort­los in der Hal­le ste­hen und we­gen ei­nes ver­damm­ten Kron­leuch­ters oder ei­nes Sprit­zers von Par­füm in Er­in­ne­run­gen schwel­gen. Sie war nicht hier, um sich frei­wil­lig in das Ge­fäng­nis der Ver­gan­gen­heit zu be­ge­ben – Ri­ta be­fürch­te­te, dort saß man lebens­lang –, son­dern um das Haus aus­zu­räu­men und schlus­send­lich zu ver­kau­fen.

Ri­ta press­te die Lip­pen zu­sam­men und wand­te sich nach links, wo sich der Ein­gang zur Kü­che so­wie den Dienst­quar­tie­ren der An­ge­stell­ten be­fand. Bis vor drei Wo­chen hat­ten sechs Leu­te für Bon­nie ge­ar­bei­tet, da­von vier, die Ri­ta aus ih­rer Kind­heit kann­te. Sie hat­te sie alle mit ei­nem Ent­schä­di­gungs­ge­halt ent­las­sen, dass sie min­des­tens zwei Jah­re be­quem über die Run­den brin­gen wür­de. Ge­nug Zeit, um ei­nen neu­en Job zu fin­den. Al­ma hat­te Ri­ta heu­te nach der Trau­er­fei­er die Schlüs­sel über­reicht.

Die Kü­che war noch ge­nau­so schön, wie Ri­ta sie in Er­in­ne­rung hat­te: Grü­ne Ka­bi­net­te, drei Öfen, in der Mit­te ei­ne The­ke, hin­ter de­ren glä­ser­nen Tür­chen sich das fei­ne Ge­schirr von Bon­nies Eltern ver­steck­te. Die Pflan­zen auf den er­höh­ten Fens­ter­sim­sen – auf­grund der Hang­la­ge des Hau­ses be­fand sich die Kü­che zu zwei Drit­teln un­ter der Er­de – zeig­ten noch grü­ne Fri­sche. Doch im Ge­gen­satz zu dem bei­nahe un­heim­lich rei­nen Kor­ri­dor flo­gen hier im Däm­mer­licht klei­ne Staub­wölk­chen durch die Luft, be­reit, sich auf den Ka­bi­net­ten wie Schnee­kris­tal­le auf Herbst­wie­sen ab­zu­set­zen. Als Ri­ta das gelb­li­che Licht an­schal­te­te, ver­schwand der Staub, ein stil­ler Zeu­ge der ver­steck­ten Un­voll­kom­men­heit des Hau­ses.

Ri­ta ging zur Kaffee­ma­schi­ne und be­rei­te­te ei­nen Espres­so zu. Es war erst März, nicht ein­ge­heizt, und die Käl­te und Mü­dig­keit stie­gen ihr zu Kopf. Sie brauch­te un­be­dingt ei­nen Kaffee.

Von der Kü­che mach­te sie ei­nen Ab­ste­cher in die Quar­tie­re der Be­dienst­eten – schma­le, schlich­te Räu­me, hübsch mö­bliert, mit klei­nen Fens­tern Rich­tung Gar­ten – und sah nach, ob je­mand et­was ver­ges­sen hat­te. Das hat­ten sie nicht. Alle Schrän­ke und Rega­le waren leer, die Bet­ten ab­ge­zo­gen. Nur in Al­mas Zim­mer hing noch ein Bild an der Wand, doch es war kei­ne per­sön­li­che Foto­gra­fie, nur ein Bild vom Strand auf As­sa­tea­gue Is­land. Ri­ta er­kann­te die In­sel we­gen der Wild­pfer­de, die zwi­schen den Dü­nen gras­ten.

Ri­ta ließ das Bild, wo es war, und ging zurück in die Kü­che. Sie nahm ih­ren Kof­fer und be­trat durch den schma­len Durch­gang, eigent­lich für die Kö­chin vor­ge­se­hen, das for­mel­le Ess­zim­mer. Es zeig­te nach Nor­den, da­her war das Licht hier grau wie das fal­ti­ge Ge­sicht ei­ner al­ten Frau im Win­ter. Ganz oh­ne den jugend­li­chen, oran­ge­far­be­nen Schim­mer, der zwar in den Augen weh­tat, doch an den Mund­win­keln zupf­te. Auch hier gab es ei­nen Kron­leuch­ter. An­ders als je­ner in der Ein­gangs­hal­le war er schon immer elek­trisch be­trie­ben ge­we­sen.

Ri­ta stemm­te die Hän­de in die Hüf­ten und sah sich im Ess­zim­mer um. Sie hat­te die­sen Raum noch nie ge­mocht. Da war ein ova­ler Tisch aus Ma­ha­go­ni, ge­nau zwölf Stüh­le, die Wän­de waren be­deckt von Vi­tri­nen mit Glas­fi­gu­ren und ge­stick­ten Wand­bil­dern. Es wirk­te sta­tisch, auf­ge­setzt ?– un­na­tür­lich.

Von hier gin­gen vier Türen ab; die als Ta­pe­te ge­tarn­te schloss sich hin­ter Ri­ta, die an­de­ren drei führ­ten je­weils in das Ar­beits­zim­mer ih­rer Mutter, den Win­ter­gar­ten und das Wohn­zim­mer. Ri­ta wähl­te die letz­te Tür.

Das Wohn­zim­mer ent­lock­te ihr ei­nen klei­nen Laut der Über­ra­schung. Es sah an­ders aus als bei ih­rem letz­ten Be­such. Selbst­ver­ständ­lich war da immer noch der gro­ße Ka­min mit den drei Ses­seln, der aus­la­den­de wei­ße Flü­gel ei­ne Stu­fe über dem Par­kett und die gro­ßen Bogen­fens­ter mit dem Aus­blick über die be­wald­eten Hügel rund um Eden. Der Ort hat­te in Ri­tas Augen den Na­men des Pa­ra­die­ses ver­dient.

Doch die ita­lie­ni­sche Sitz­gar­ni­tur, die fran­zö­si­sche Ot­to­ma­ne und die deut­schen Mö­bel waren ver­schwun­den. An­stel­le der eu­ro­päi­schen Ein­zel­stü­cke stand ein Zwei­sit­zer-So­fa von Ma­cy’s. An­statt ei­ner Vi­tri­ne ge­füllt mit Kost­bar­kei­ten von Bon­nies Rei­sen prä­sen­tier­te sich ein brei­ter Sam­sung-Fern­se­her.

Ri­ta leg­te ih­ren Kof­fer auf das So­fa. Auf dem Kis­sen thron­te ei­ne hand­ge­schrie­be­ne Notiz. Sie setz­te sich, um sie zu le­sen. In ih­rem Herz klopf­te va­ge Auf­re­gung – hat­te ih­re Mutter die­sen Zet­tel hin­ter­las­sen?

Ein Blick auf die Un­ter­schrift des Ver­fass­ers ließ Ri­tas Hoff­nun­gen er­lö­schen. Es war ei­ne Nach­richt von Al­ma:

Liebs­te Ri­ta,

die Ein­rich­tung des Wohn­zim­mers wird dich si­cher ein we­nig be­frem­den. Die An­ge­le­gen­heit schien mir zu un­be­deu­tend, um sie in den Ge­sprä­chen mit dir nach dem Tod dei­ner Mutter zu er­wäh­nen, und doch zu wich­tig, um ei­ne Er­klä­rung zu ver­lan­gen. Die Neu­ein­rich­tung des Wohn­zim­mers kommt da­her, dass Bon­nie vor ih­rem Tod ei­ni­ge Mona­te bett­lä­ge­rig war. Im Raum stand ein gro­ßes Pfle­ge­bett, für den Fall, dass sie nicht oben im Schlaf­zim­mer ih­re Zeit ver­brach­te, die an­de­ren Mö­bel muss­ten weichen. Sie be­fin­den sich auf dem Dach­boden, wir ha­ben sie selbst­re­dend nicht weg­ge­wor­fen. Der Fern­se­her ge­hört Mr. Har­per. Viel­leicht kommt er mal vor­bei, um ihn ab­zu­ho­len. Sieh das als ei­ne Vor­war­nung.

Hoch­ach­tungs­voll,

Dei­ne Freun­din Al­ma May.

PS: Mel­de dich, falls du ir­gend­et­was brauchst.

Ein lei­ses Glu­cksen ent­fuhr Ri­ta. Al­ma, die lie­be, gu­te Al­ma. Sie war ein wun­der­vol­ler Mensch, da­ran gab es kei­nen Zwei­fel. Ri­ta nahm sich vor, ihr bald zu schrei­ben oder sie an­zu­ru­fen, wenn das Haus aus­ge­räumt war, da­mit sie es sich an­schau­en konn­te. Oder sie wür­de ihr ein­fach ein Stück Kuchen vor­bei­brin­gen; ih­re Adres­se und Tele­fon­num­mer stan­den auf der Rück­sei­te des Zet­tels.

Ein dump­fes Kli­cken hall­te durch die Wän­de. Ri­ta leg­te den Zet­tel auf den Kof­fer und ging zurück in die Kü­che. Kaffee mit ita­lie­ni­schen Boh­nen – Espres­so, oh­ne Milch, oh­ne Zu­cker. Sie ba­lan­cier­te die fili­gra­ne Tas­se zurück in das Wohn­zim­mer, die wei­ten We­ge fühl­ten sich all­mäh­lich wie­der ver­traut an. Nach ein paar Schlu­cken fand sie die Kraft, sich um­zu­zie­hen: Sie schlüpf­te aus ih­rem schwar­zen Kleid und dem grau­en Ja­ckett und zog sich statt­des­sen ei­ne Leg­gins und ein wei­tes Ober­teil über. Sie pack­te ei­ne Schach­tel Kek­se aus ih­rem Kof­fer aus und dann schal­te­te sie den Fern­se­her an. Sie hat­te zwar ei­ne Pa­ckung Spag­het­ti mit­ge­nom­men, doch sie hat­te kei­nen Hun­ger und kei­ne Kraft, um heu­te noch zu ko­chen.

Der er­ste Sen­der zeig­te ei­nen Box­kampf. Da­mit konn­te Ri­ta über­haupt nichts an­fan­gen. Der zwei­te Sen­der strahl­te ei­ne Natur­do­ku aus – Ri­ta sah ei­ne Wei­le zu und klick­te schließ­lich weiter. Der drit­te Sen­der zeig­te ir­gend­ei­ne Rea­li­ty-TV-Show, doch das woll­te sie sich auch nicht ge­ben. Der vier­te Sen­der schließ­lich bot ei­ne zweit­klas­si­ge Back­sen­dung an, die Ri­tas Auf­merk­sam­keit kurz­zei­tig für sich ge­win­nen konn­te. Ri­ta nahm je­de Ab­len­kung, die sie be­kom­men konn­te; an­der­en­falls wä­re sie wohl in der Trau­er und dem weichen, aus­ge­ses­se­nen So­fa ver­sun­ken.

Nach­dem die Back­sen­dung vor­bei war – die Kon­di­to­rin mit der kit­schigs­ten Tor­te hat­te ge­won­nen –, stieg Ri­ta die gro­ße Trep­pe hin­auf in das Ober­ge­schoss.

Wenn man die An­ge­stell­ten nicht mit­zähl­te, hat­ten im An­we­sen nie mehr als vier Men­schen zu­gleich ge­lebt, den­noch gab es sechs Schlaf­zim­mer, alles­amt mit ein­ge­bau­tem Bad. Die Tür zu Bon­nies Schlaf­zim­mer stand ei­nen Spalt of­fen. Im war­men Licht der De­cken­lam­pen wirk­ten die lau­ern­den Schat­ten da­hin­ter wie Ruß­spu­ren, wie Asche, wie die Schat­ten ei­nes ver­blass­ten Feu­ers.

Für ei­nen Mo­ment über­leg­te Ri­ta, in das Schlaf­zim­mer ih­rer Mutter zu ge­hen, doch sie fühl­te sich noch nicht be­reit da­zu. Auch von ih­rem ehe­ma­li­gen Kin­der­zim­mer hielt sie Ab­stand und von Geor­ge Har­pers Raum so­wie­so. Ih­re Wahl fiel auf das klein­ste Gäs­te­zim­mer, in dem ein­mal ihr Vater sein Ar­beits­zim­mer ge­habt hat­te. Das war lang her, und der qua­dra­ti­sche Raum mit der flie­der­far­be­nen Ta­pe­te kam dem be­schei­de­nen Büro, an das sie sich er­in­nern konn­te, in kei­nem Fall na­he.

Ri­ta hol­te das Bett­zeug aus ei­nem der ver­steck­ten Ein­bau­schrän­ke im Flur und be­zog das Bett. Die Wä­sche roch nach La­ven­del; der Ge­ruch stör­te sie so sehr, dass sie das Fens­ter sperr­an­gel­weit öff­ne­te und den Raum trotz des küh­len Win­des durch­lüf­te­te. Der La­ven­del ver­schwand nicht vol­lends. Seuf­zend ging Ri­ta ins Bad und nahm ei­ne Du­sche. Als sie in ein Hand­tuch ge­wi­ckelt in das Zim­mer zurück­kehr­te, war der Raum er­füllt von pa­cken­der Käl­te. Gän­se­haut er­fass­te sie, ih­re nas­sen Fü­ße hin­ter­lie­ßen feuch­te Spu­ren auf dem Par­kett. Sie schloss das Fens­ter und sah hin­aus.

Der Gar­ten lag in nächt­li­cher Stil­le. Die Blät­ter des gro­ßen Ap­fel­bau­mes schim­mer­ten über­ir­disch im Licht des zu­neh­men­den Mon­des. Es waren ein paar ein­sa­me Wol­ken­fet­zen zu se­hen, doch im Grun­de war die Nacht ster­nen­klar. Der Kirsch­baum im Os­ten stand noch nicht in der Blü­te, die pral­len Knos­pen glänz­ten je­doch schon knall­grün, selbst bei Nacht.

»Na ja, es ist erst März«, sag­te Ri­ta zu sich selbst, dann er­schrak sie an dem Ge­dan­ken, dass sie allein in ei­nem so gro­ßen Haus viel­leicht den Ver­stand ver­lie­ren könn­te.

Es sind nur ein paar Wo­chen, sag­te sie sich, dies­mal stumm, bald kannst du nach Hau­se zurück. Bald wird alles wie­der, wie es war.

Nur oh­ne Mom.

Ri­ta schüt­tel­te den Kopf, um die­se lau­ten Ge­dan­ken zu ver­trei­ben, trock­ne­te ihr Haar und wi­ckel­te sich in war­me De­cken, bis die Käl­te aus ih­ren Adern ver­schwand und Platz für Schläf­rig­keit mach­te. Sie las ein we­nig in ei­ner hüb­schen Aus­ga­be von Die Aben­teu­er des Tom Sa­wy­er, die vol­ler Ris­se und Esels­oh­ren war und in wel­cher der Na­me ih­res Vaters stand. Dann lösch­te Ri­ta das Licht und ging schla­fen.

Sie er­wach­te in der Stil­le.

Drau­ßen san­gen die Spat­zen und der Wind weh­te, doch im Haus war es so ge­spens­tisch ru­hig, dass Ri­ta beim Auf­wachen für ei­nen ver­wirr­ten Mo­ment glaub­te, im Schlaf ge­stor­ben zu sein. Die­se Stil­le war so end­gül­tig wie sonst nur der Tod.

Ri­ta stand auf und ging ins Bad. Sie wusch ihr Ge­sicht und sah im Spiegel zu, wie die un­zäh­li­gen Was­ser­trop­fen ih­ren Weg über Stirn, Wan­gen und Kinn fan­den. Ri­ta fand, sie sah äl­ter aus als noch vor drei Wo­chen. Ir­gend­wie schien die Zeit noch schnel­ler zu ver­ge­hen, seit ih­re Mutter ge­stor­ben war. Ri­tas Lip­pen waren rau, egal, wie sehr sie sie be­feuch­te­te, und ihr Augen waren trau­rig, egal, wie sehr sie sich an ei­nem Lä­cheln ver­such­te.

»Schluss da­mit«, sag­te sie schließ­lich, zog sich um und ver­ließ ihr Zim­mer.

Es war, als wür­de sie aus ei­nem klei­nen Bun­ker ans Tages­licht tre­ten. Der Raum war über Nacht schlei­chend und un­merk­lich zu ei­ner Zu­flucht ge­wor­den. Er war un­per­sön­lich ge­nug, um sich wie ein Hotel­zim­mer an­zu­füh­len. Hier er­in­ner­te sie sich nicht an ih­re Mutter, höch­stens an ih­ren Dad, und die­se Er­in­ne­run­gen waren alle glü­ckli­cher Natur. Das Zim­mer war klein – schlicht, nicht prunk­voll. Es war be­grenzt durch vier si­che­re Wän­de. Das Fens­ter zeig­te hin­aus auf ein traum­haf­tes Stück Natur, ihr Pa­ra­dies. Im Zim­mer fühl­te sie sich wohl; es ließ sie ver­ges­sen, wo sie sich be­fand. Das Zim­mer war wie ih­re eige­ne Ka­jü­te auf der Ti­ta­nic, die sich nicht mit Was­ser füll­te, nie­mals un­ter­ging, so­lang Ri­ta nur da­rin blieb und die Tür ge­schlos­sen hielt.

Doch sie hat­te die Tür ge­öff­net. Sie hat­te die Tür ge­öff­net und auf die Flut­wel­len der Er­in­ne­run­gen folg­te der Sturm der Stil­le. Ri­ta war allein in Bon­nies An­we­sen, in die­sem gi­gan­ti­schen Haus, das nie ein­sam ge­we­sen war, nicht vor Bon­nies Tod.

Ri­ta ver­stand, dass es die Stil­le ei­ne neue Be­wohn­erin des An­we­sens war. Nicht an ei­nen Tag in ih­rer Kind­heit oder Jugend konn­te sie sich er­in­nern, an dem das In­ne­re die­ses Hau­ses nicht von Wor­ten, La­chen und Wär­me er­füllt ge­we­sen war. Man moch­te über Bon­nies prot­zi­ge Lebens­füh­rung sa­gen, was man woll­te, doch die­ses Haus war immer ein Zu­hau­se ge­we­sen. Immer le­ben­dig. Nie­mals still.

Trä­nen stie­gen in Ri­tas Augen. Sie woll­te zurück in ihr Zim­mer ge­hen, zurück in ih­re Zu­flucht. Sie woll­te sich in das Bett le­gen und in Dads al­ten Bü­chern le­sen und sich in war­me De­cken wi­ckeln, bis sie ver­gaß, wo sie war, bis die Welt ver­gaß, dass Ri­ta Red­wood je­mals exis­tiert hat­te. Sie woll­te mit dem Zim­mer ver­schmel­zen; sie woll­te eins wer­den mit die­sem be­lang­lo­sen Raum, der sich nach Schutz und Lie­be und Dad an­fühl­te.

Doch ei­ne Ka­jü­te auf der Ti­ta­nic füll­te sich ir­gend­wann mit Was­ser. Egal, ob man die Tür ge­schlos­sen hielt oder nicht. Ir­gend­wann wur­den die Wän­de ge­sprengt; ir­gend­wann nahm sich der Ozean zurück, was ihm ver­spro­chen wor­den war. Ir­gend­wann zog die Stil­le in je­des Zu­hau­se ein.

Ei­ne Zu­flucht, er­kann­te Ri­ta, war auch immer ei­ne Il­lu­sion. Nichts hat­te die Macht, sie vor dem Schmerz der Welt zu be­schüt­zen, denn nichts konn­te sie voll­stän­dig und für alle Zeiten fest­hal­ten. Ri­tas Frei­heit war ihr Fluch. Alle le­ben­den Din­ge waren der Ver­gäng­lich­keit un­ter­wor­fen.

Mit ei­nem lei­sen Schluch­zen trat Ri­ta über die Schwel­le.

Auf dem Weg nach un­ten summ­te sie ein Lied, um die Stil­le zu ver­trei­ben. In den Wo­chen, in de­nen sie blei­ben wür­de, um dem Haus alles zu rau­ben, was es zu ei­nem Zu­hau­se ge­macht hat­te, woll­te sie ir­gend­ei­ne Musik fin­den, die ihr Trost schenk­te. Sie woll­te nicht allein Ab­schied von all die­sen Geis­tern neh­men.

Nach ei­ner Wo­che har­ter Ar­beit war sich Ri­ta si­cher: Die­ses Haus war der End­geg­ner. Wie war sie nur auf die Idee ge­kom­men, ein rie­si­ges An­we­sen allein aus­mis­ten zu wol­len? Da waren so viele Räu­me, doch nicht nur das: Über­all gab es klei­ne Ni­schen und Ecken und Gän­ge, die Ri­ta glau­ben lie­ßen, dass die Ar­chi­tek­ten ei­ne Hand­voll Kin­der ge­we­sen waren, die sich ei­nen per­fek­ten Ort zum Ver­steck­spiel er­träum­ten. Es moch­te sein, dass das Haus un­ter der Ob­hut von Al­ma und den an­de­ren An­ge­stell­ten ge­die­hen war – es je­doch auf­zu­räu­men war ein Alb­traum.

Die ver­win­kel­te Bau­wei­se allein wä­re ein ak­zep­ta­bles Hin­der­nis ge­we­sen. Ri­ta be­haup­te­te von sich, dass sie sich har­ter Ar­beit nicht zu scha­de war. Immer­hin stand sie da­heim je­den Mor­gen um zwei Uhr auf und buk ih­re Bro­te und Bröt­chen, um sie an­schlie­ßend zu ver­kau­fen und sich erst am Nach­mit­tag hin­zu­le­gen, wenn Ju­de den Laden über­nahm. Ar­beit war ihr All­tag.

Doch all die­ses Cha­os war un­er­träg­lich. Es schien nichts zu ge­ben, was Bon­nie nicht be­ses­sen hat­te. Ge­brauchs­ge­gen­stän­de wie Ge­schirr und Bü­cher und Kis­sen, dann Pres­ti­geob­jek­te wie ih­re Film­pla­ka­te, die Schall­plat­ten, ih­re Trop­hä­en und nicht zu­letzt ih­ren Flü­gel mit den gol­de­nen Un­ter­schrif­ten vieler Künst­ler, die heu­te als Le­gen­den gal­ten.

Und dann waren da all die­se üb­ri­gen Din­ge, de­ren Sinn Ri­ta ver­bor­gen blieb. Ei­ne Samm­lung von auf­ge­spieß­ten Schmet­ter­lin­gen – die Ri­ta von Her­zen leid­ta­ten –, ein gan­zes Regal vol­ler rus­si­scher Ma­trjosch­kas, nicht zu­letzt die Aus­stat­tung des Dach­bodens, die Ri­ta ei­nen Ner­ven­zu­sam­men­bruch be­scher­te. Ei­ni­ge Ge­gen­stän­de ver­scher­bel­te sie im In­ter­net und pack­te sie in Kar­tons ein, um sie zu ver­schi­cken. An­de­re Sa­chen, wie zum Bei­spiel die ein­tausend Kra­wat­ten, die sie im Schrank ei­nes Gäs­te­zim­mers fand, gab sie ei­ner lo­ka­len Klei­der­spen­de. Be­züg­lich des Flü­gels frag­te sie bei ei­ni­gen Kon­zert­hal­len und Mu­seen an, ob sie In­te­res­se da­ran hät­ten, doch nie­mand hat­te bis­her ge­ant­wor­tet – sie glaub­ten wahr­schein­lich, dass es nur ein Scherz sei. Die meis­ten Din­ge warf Ri­ta weg. Aller zwei Ta­ge fuhr sie von Eden nach Prin­cess An­ne, um sie zu ent­sor­gen. Sie gab ei­ni­ge al­te Mö­bel an ein Pfle­ge­heim, de­ren Be­woh­ner sich sehr da­rüber freu­ten.

Schon jetzt, nach der er­sten Wo­che, wuss­te Ri­ta, dass ein knap­per Monat nicht aus­rei­chen wür­de, um das Haus aus­zu­räu­men. Sie bräuch­te min­des­tens die dop­pel­te Zeit, wenn nicht drei­fach so lang.

Na­tür­lich hät­te Ri­ta ei­ne Räu­mungs­fir­ma be­auf­tra­gen kön­nen. Ge­nug Geld ge­erbt hat­te sie zwei­fel­soh­ne. Doch ir­gend­et­was an dem Ge­dan­ken wi­ders­treb­te ihr. Sie woll­te nicht, dass Frem­de das An­we­sen be­tra­ten. Sie sag­te sich, es lie­ge da­ran, dass sie selbst ent­schei­den woll­te, was mit be­sag­ten Din­gen ge­schah. Wenn sie je­doch ehr­lich war, lag es we­ni­ger an den Din­gen, als an dem Ge­bäu­de selbst.

Nun, da ih­re Mutter tot war, spür­te Ri­ta ein merk­wür­di­ges Pflicht­be­wusst­sein ih­rem Ver­mächt­nis ge­gen­über. In der Welt, die Bon­nie ge­liebt und ge­hasst und ge­braucht und aus­ge­nutzt und um­schwärmt und weg­ge­stoßen hat­te, war die­ses An­we­sen ihr Rück­zugs­ort ge­we­sen, ihr Heimat­hafen. Das An­we­sen hat­te für Ri­ta et­was Ma­gi­sches an sich, et­was Hei­li­ges. Sie muss­te die Zu­flucht Bon­nies vor dem Sog des Ver­ges­sens be­schüt­zen. Auch wenn ih­re Mutter nicht mehr da war, die See­le die­ses Zu­hau­ses leb­te weiter in die­sen al­ten Ta­pe­ten, in den Mo­sai­ken und Fens­tern und Kron­leuch­tern. Als Bon­nies Tochter war es Ri­tas Auf­ga­be, das An­we­sen zu be­schüt­zen, zu pfle­gen und zu trös­ten. Denn mit der wei­nen­den Ver­an­da und dem kal­ten Mar­mor und der ewi­gen Stil­le schien es eben­so um Bon­nie zu trau­ern, wie Ri­ta es tat.

Es war acht Ta­ge nach Ri­tas An­kunft im An­we­sen und ge­nau ei­nen Monat nach Bon­nies Tod, als sie die Kis­te fand.

Ri­ta hat­te lang ge­zö­gert, das al­te Schlaf­zim­mer ih­rer Mutter zu be­tre­ten. In ih­ren letz­ten Wo­chen hat­te Bon­nie im Wohn­zim­mer auf dem Pfle­ge­bett ge­schla­fen. Hier war sie nicht ge­stor­ben, hier hat­te sie nur in all den Jah­ren die Näch­te ver­bracht. Doch Ri­ta … Ri­ta wuss­te nicht, wes­halb, doch sie fürch­te­te sich vor die­sem Raum.

So stand sie auf der Schwel­le und pfiff vor sich hin, um die Stil­le zu be­sie­gen und ih­ren Mut zu­sam­men­zu­rau­fen. Ein Schlaf­lied geis­ter­te in ih­rem Kopf. Ih­re Mutter hat­te es ihr immer vor­ge­sun­gen, als sie klein ge­we­sen war.

»My litt­le, litt­le, litt­le star. Sleep, soft sleep, your dre­ams aren’t far. If the dark is sca­ring you, just call. My litt­le, litt­le, litt­le star. Mom­my’s al­ways he­re to call, ne­ver far.«

Sie stieß die Tür auf. Von allen Räu­men des Hau­ses war das Mo­bi­li­ar in Bon­nies Schlaf­zim­mer das äl­tes­te. Da waren Bil­der­rah­men an den ver­blüm­ten Ta­pe­ten­wän­den; da waren klei­ne Bei­stell­tisch­chen mit fle­cki­gen Spiegeln, vor­neh­men Pu­der­schach­teln und Schmuck­käst­chen. Der Tep­pich­boden war ab­ge­tre­ten von den Tanz­schrit­ten des Lebens. Die schwe­ren Vor­hän­ge zo­gen all das Licht in ih­re Um­ar­mung und lie­ßen nur ei­nen klei­nen Schim­mer ent­flie­hen. Hier drin­nen roch es so un­end­lich sehr nach Bon­nies Par­füm, dass Ri­ta je­den an­de­ren Ge­ruch auf der Welt ver­gaß. Doch nir­gends stand ein Fläsch­chen mit dem Duft. Selbst­ver­ständ­lich nahm das al­tro­sa­far­be­ne Bett den ge­sam­ten Raum ein. Ri­ta ver­such­te, es nicht an­zu­se­hen. Auf dem Bei­stell­tisch stand ei­ne Va­se mit ver­trock­ne­ten Rosen.

Lang­sam trat sie nä­her.

»My litt­le, litt­le, litt­le star …«, sang sie, mit je­dem Wort ver­sag­te ih­re Stim­me weiter.

Die Er­in­ne­rung war kein rau­schen­der Blitz ei­ner Ka­me­ra, die ei­nen la­chen­den Mo­ment in re­gen­bogen­far­be­ner Ewig­keit ein­fing. Nein, sie schlich sich lei­se an, mit der aus­klin­gen­den Me­lo­die des Schlaf­lie­des, dem En­de ei­ner Fa­mi­lie. Zu­erst waren es Sche­men, dann Schat­ten, dann detail­lier­te Ge­stal­ten, dann Fi­gu­ren – und schließ­lich stand Ri­ta wie an­ge­wur­zelt da. Auf dem Bett um­arm­te ei­ne Mutter ih­re Tochter. Un­ter weichen De­cken hielt ei­ne jun­ge Bon­nie ei­ne win­zi­ge Ri­ta an sich ge­drückt.

»Mom­my’s al­ways he­re to call, ne­ver far«, sang Bon­nie, strich über die Stirn der klei­nen, schla­fen­den Ri­ta. Sie sah auf und lä­chel­te ih­re er­wachs­ene Tochter an.

Mit ei­nem schnap­pen­den Ein­at­men riss sich Ri­ta selbst in die Rea­li­tät zurück. Sie stol­per­te ei­ni­ge Schrit­te nach hin­ten.

Oh Gott, das hat­te sich so echt an­ge­fühlt. Was, wenn sie wahn­sin­nig wur­de? War das ei­ne Hal­lu­zi­na­tion ge­we­sen oder nur ei­ne Blitz­lich­ter­in­ne­rung? Hat­te sie Wahn­vor­stel­lun­gen? Ver­lor Ri­ta ih­ren Ver­stand?

Für ei­ne Wei­le stand sie schwer at­mend in der Mit­te des Rau­mes. Sie war un­sag­bar an­ge­spannt. Doch das Bett war nur ein Bett, nie­mand lag da­rin, die De­cke lag fein säu­ber­lich auf der Ma­trat­ze, die Kis­sen waren dra­piert wie schon vor zwan­zig Jah­ren.

Mit schnel­len Schrit­ten ging Ri­ta zum Fens­ter und schob die Vor­hän­ge zur Sei­te, riss es auf.

Licht. Wah­res, rei­nes Son­nen­licht. Früh­lings­duft. Ein sach­ter Wind, der das Par­füm ih­rer Mutter mit sich nahm. Vogel­ge­zwit­scher. Die Spat­zen hüpf­ten im Kas­ta­nien­baum vor dem Fens­ter. Ri­ta lehn­te sich hin­aus, blick­te auf den Gar­ten he­rab: Auf den al­gen­ge­plag­ten, von Immer­grün il­lu­mi­nier­ten Teich, die Rosen­bü­sche in der Far­be von sü­ßen Küs­sen, den Win­ter­gar­ten mit sei­nen zar­ten, zier­li­chen Fens­tern.

Sie dreh­te sich um. Bei Tages­licht wirk­te das Ro­sa des Zim­mers ge­dämpf­ter. Die Ta­pe­te hat­te die Far­be von Pfir­sich, der Tep­pich je­ne von fri­schen Erd­bee­ren im Juni.

Es war ein Raum. Ein Raum oh­ne Be­wohn­erin, oh­ne Geis­ter. Ein to­ter Raum. Ein Raum wie die an­de­ren, die sie aus­räu­men und dann ver­kau­fen wür­de, da­mit er sich ein­mal mehr mit neu­em Le­ben füll­te.

Ri­ta zog die wei­ße Strick­ja­cke en­ger um sich. Sie ging zum Bett und leg­te ei­ne Hand auf die be­stick­te Tages­de­cke. Plötz­lich frag­te sie sich ver­zwei­felt, ob ih­re Mutter vor ih­rem Tod glü­cklich ge­we­sen war.

Da hin­gen zwei Fotos über dem Bett. Ein Mann mit ih­rer Mutter, als sie jung waren, er im An­zug, Bon­nie im Braut­kleid. Es war nicht ihr Vater; es war je­mand an­de­res. Doch Ri­ta kann­te nicht ein­mal sei­nen Na­men. Das an­de­re Foto zeig­te ih­re Mutter ne­ben Ma­ri­lyn Mon­roe, bei­de lach­ten fei­xend, wie man es nur von Foto­gra­fien aus den 50ern kann­te. Ri­ta wuss­te nichts von den Um­stän­den um die Ent­ste­hung des Bil­des. Bon­nie hat­te nie von Ma­ri­lyn Mon­roe er­zählt. Wer er­zähl­te nicht von be­rühmt­en Leu­ten, die er kann­te? Ih­re Mutter. Nicht ein Wort über ih­ren Be­ruf hat­te sie je ge­gen­über Ri­ta ver­lo­ren. Alles, was sie über das Le­ben ih­rer Mutter wuss­te, stamm­te aus Ra­dio­sen­dun­gen, Fern­seh­in­ter­views und Ma­ga­zi­nen. Viel­leicht noch von ih­rem Vater, aber nichts weiter. Nichts von ihr. Nichts von Bon­nie selbst.

Die Wut kam wie ein Tsu­na­mi. Oh­ne Vor­war­nung krach­te sie in Ri­tas Körper, ließ sie vor­nü­ber­beu­gend nach Luft schnap­pen. Blin­der Zorn fraß sich wie Säu­re in ih­ren Ozean der Trau­er.

Ri­ta trat mit dem Fuß ge­gen den Bett­pfos­ten. Hart. Es tat weh, so weh, doch das war egal – das al­te Bett wa­ckel­te, ein schwe­rer Ge­gen­stand rutsch­te über den Boden, und Ri­tas Wut ver­puff­te.

Sie pack­te den Bett­pfos­ten und hielt ihn fest, strich da­rüber, wie um sich zu ent­schul­di­gen.

»Nichts pas­siert«, sag­te sie, »nichts pas­siert …«

Er­schöpft schlepp­te sich Ri­ta zur Tür. Sie wür­de sich des Schlaf­zim­mers mor­gen an­neh­men. Es gab ge­nug Ar­beit im Rest des Hau­ses.

Als sie die Tür schlie­ßen woll­te, dreh­te sie sich ein letz­tes Mal zum Zim­mer um.

Ei­ne schwe­re Holz­kis­te lug­te un­ter dem Bett ih­rer Mutter her­vor. Ri­ta spür­te, wie ihr Herz­schlag wie­der an­sprang; als sei das wich­tigs­te Or­gan ih­res Körpers nur ein strei­ken­der Motor, der im Win­ter ge­gen den Frost zu kämp­fen hat­te.

Mit schwe­ren Schrit­ten nä­her­te sie sich dem Bett und hielt sich er­neut am Bett­pfos­ten fest, beug­te sich nach un­ten.

Die Kis­te war aus dunk­lem Holz ge­fer­tigt. Sie war nicht ver­schlos­sen, so­dass sie den schwe­ren De­ckel ein­fach an­he­ben konn­te.

Ihr Herz und die Zeit schie­nen ste­hen zu blei­ben, als sie den In­halt der Kis­te er­blick­te: Ein di­cker Sta­pel von Brie­fen, zu­sam­men­ge­bun­den von ei­ner Schnur, und oben­auf ei­ne Notiz. Ein grü­nes Papier, da­rauf in som­mer­blau­er Tin­te ei­ne Schrift, die Ri­ta ver­traut war.

Ein Stich er­fass­te ih­re Lun­gen. Sie ver­gaß, zu at­men.

In der Schrift ih­rer Mutter stand auf dem Papier:

Brie­fe an alle, die ich je­mals lieb­te.

– B.E. Be­ver­ley, Fe­bru­ar 2003.

Kapitel 2

Ri­ta ver­such­te, nicht die Kon­trol­le zu ver­lie­ren.

Sie nahm die Kis­te. Sie trug die Kis­te nach un­ten und stell­te sie auf dem Tisch im Wohn­zim­mer ab. Sie sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr abends; Zeit fürs Abend­es­sen. Sie koch­te sich Reis und Man­go-Cur­ry. Ein Re­zept, dass sie sich auf ei­ner Rei­se nach Süd­ost­asien an­ge­eig­net hat­te. Sie nahm die Schüs­sel mit nach drau­ßen in den Win­ter­gar­ten.

Ri­ta setz­te sich auf ei­nen der wei­ßen, zer­brech­li­chen Stüh­le und aß, wäh­rend die Son­ne un­ter­ging und sich die Spat­zen in ih­re Nes­ter ver­zo­gen. Das Gold ver­blass­te, dann leuch­te­te das Vio­lett, und schließ­lich blieb nur das Blau ei­nes ver­weh­ten Tages.

Dann ging sie wie­der nach drin­nen. Sie setz­te sich auf das So­fa. Sie sah die Kis­te an, sie las noch ein­mal die Notiz. Sie lös­te die Schnur und sah sich den er­sten Brief an.

Für Eve Ka­rin Be­ver­ley, mei­ne ge­lieb­te Mutter, stand da­rauf. Das Papier war schwer. Sie dreh­te den Brief. Er war ver­sie­gelt.

Der näch­ste Brief war an Mr. Den­vers ge­rich­tet, wer auch immer das war. Viel­leicht ein Lieb­ha­ber?

Da war ein Sta­pel vol­ler Brie­fe. Sie waren adres­siert an ver­schie­de­ne Men­schen. Doch Ri­ta sah sie nicht durch. Nein, sie las kei­ne wei­te­ren Na­men. Sie öff­ne­te kei­ne Sie­gel. Sie leg­te die Brie­fe wie­der zurück in die Kis­te.

Nir­gends stand ei­ne Nach­richt ih­rer Mutter, von we­gen, dass die Brie­fe ge­heim seien. Sie hat­te sie höch­stwahr­schein­lich ge­schrie­ben, da­mit sie ge­le­sen wur­den. Doch nicht von Ri­ta. Nicht von Ri­ta – von die­sen an­de­ren Men­schen. Sie könn­te die Kis­te durch­su­chen nach ei­nem Brief, der an sie adres­siert war – doch als sie ih­re Hän­de aus­streck­te, zit­ter­ten sie wie Espen­laub. Ri­ta schien an ih­rem ei­ge­nen Atem zu er­sti­cken.

Was, wenn da kein Brief für sie war? Was, wenn dort nur Brie­fe an an­de­re Leu­te waren, an­de­re Leu­te, die Bon­nie ge­liebt hat­te? Ver­dammt, ih­re Mutter hat­te ihr ge­sagt, dass sie Ri­ta lieb­te, frü­her, als sie klein ge­we­sen war. Oder war das nur ei­ne fal­sche Er­in­ne­rung, ein ver­zwei­fel­ter Wunsch?

Nein. Die meis­ten Eltern lieb­ten ih­re Kin­der, oder nicht? Ein Brief für sie soll­te da­bei sein. Doch was, wenn nicht? Was, wenn Ri­ta tat­säch­lich nichts über Bon­nie wuss­te, noch nicht ein­mal, ob sie sie ge­liebt hat­te?

Ri­ta lehn­te sich zurück in das So­fa, ih­re Hän­de so schweiß­nass, dass sie die­se an ih­rer Blu­se ab­wi­schen muss­te. Nein, das war zu viel. Die­se Kis­te … Sie war ei­ne ge­mei­ne Wen­dung des Schick­sals. Wenn Ri­ta nur wüss­te, was zu tun wä­re! Wenn nur Bon­nie hier wä­re, um alles zu er­klä­ren!

Ri­ta lehn­te sich nach vorn. Dann band sie die Schnur wie­der um die Brie­fe und steck­te sie zurück in die Kis­te. Sie stell­te sie un­ter den Tisch. Aus den Augen, aus dem Sinn. Mach­te man das nicht so?

Sie schal­te­te den Fern­se­her an, such­te nicht ein­mal nach ei­nem in­te­res­san­ten Ka­nal. Statt­des­sen sah sie sich ei­nen stum­pfsin­ni­gen Box­kampf an, bis ei­ner der Män­ner be­wusst­los am Boden lag und die an­de­ren fei­er­ten.

Ri­ta saß auf dem So­fa, um­arm­te ein Kis­sen und wünsch­te sich nichts als ei­nen ein­zi­gen wei­te­ren Mo­ment mit ih­rer Mutter.

Ri­ta hielt es ei­nen Tag aus, dann hol­te sie die Kis­te wie­der her­vor.

Es war spä­ter Nach­mit­tag. Das papier­far­be­ne Son­nen­licht mal­te die weichen Schat­ten der Bäu­me an die ge­gen­über­lie­gen­de Wand des Tanz­saals.

Ri­ta hat­te ei­ne Stun­de da­mit ver­bracht, das Par­kett zu schrub­ben. Der Saal war der größ­te Raum in Eden und den­noch je­ner, der ihr am we­nigs­ten Ar­beit mach­te. Den rie­si­gen Kron­leuch­ter und die Di­sco­kugel da­ne­ben wür­de sie ver­kau­fen; die Musik­in­stru­men­te auf der klei­nen Büh­ne wür­de am näch­sten Frei­tag ein Musik­stu­dio aus Bal­ti­mo­re ab­ho­len. An­sons­ten war der Saal leer; die Wän­de waren von Säulen und Spiegeln ge­schmückt, die De­cke zeig­te ein ro­man­ti­sches Ge­mäl­de vol­ler En­gel und Frau­en in bun­ten Ge­wän­dern. Der Saal war das Herz­stück von Bon­nies be­rüch­tig­ten Fei­ern ge­we­sen.

Der Saal be­fand sich nicht im An­we­sen, son­dern in ei­nem an­de­ren Ge­bäu­de. Wäh­rend das An­we­sen selbst im Vik­to­ria­ni­schen Stil er­baut wor­den war, deu­te­te der Saal klar auf Klas­si­zis­mus hin. Die Fass­ade drau­ßen war weiß und der Ein­gang war von an­ti­ken Säulen ge­tra­gen. Durch die ho­hen Fens­ter hat­te man ei­nen Blick hin­aus auf den See und das An­we­sen. Ri­ta konn­te so­gar das Fens­ter ih­res aus­ge­wähl­ten Gäs­te­zim­mers er­ken­nen, nicht un­weit vom Schlaf­zim­mer ih­rer Mutter.

Ri­ta sah sich im Tanz­saal um. Der Boden glänz­te wie die glas­kla­re Ober­flä­che ei­nes Tei­ches, in dem man Ster­ne an­geln konn­te.

Sie hat­te die Kis­te durch den Gar­ten hier­her ge­tra­gen und sie in die Mit­te des Saa­les ge­stellt. Zu­erst war sie mit der Kis­te auf dem Weg zu den Müll­ton­nen ab­seits des Grund­stü­ckes ge­we­sen, und dann war sie ab­ge­bogen, da sie es nicht über das Herz brach­te.

Nun stand die Kis­te auf dem strah­len­den Par­kett. Ri­ta spür­te ei­nen Fun­ken von Angst in ih­rem Her­zen. Was, wenn sie sie öff­ne­te und sie leer war? Was, wenn sie ein­mal die Chan­ce ge­habt hat­te, die Brie­fe zu le­sen, sie nicht er­grif­fen hat­te – und für immer ver­lo­ren hat­te?

Ri­ta wuss­te, dass die­se Ge­dan­ken ir­ra­tio­nal waren. Viel­leicht wä­re es alles leich­ter, wenn Brie­fe ein­fach so ver­schwin­den konn­ten. Sie be­fand sich in ei­ner ech­ten Zwick­müh­le. Wenn ih­re Mutter nicht ge­wollt hat­te, dass sie ge­le­sen wur­den, wes­halb hät­te sie die Brie­fe ge­schrie­ben und auf­be­wahrt? Gleich­zei­tig waren es nicht Ri­tas Augen, für die sie be­stimmt waren. Doch der er­ste Brief war an Eve ge­rich­tet. Sie war seit vier­zig Jah­ren tot. Je­mand soll­te ihn le­sen. Je­mand soll­te ihn den­noch le­sen. Oder nicht? Ri­ta woll­te ihn le­sen. Sie woll­te wis­sen, wel­che Wor­te ih­re Mom für ih­re Groß­mutter ge­habt hat­te.

Doch war es das Rich­ti­ge? Hin­ter­ging sie nicht Bon­nie, wenn sie die­ses Sie­gel brach?

Ri­ta ent­schied sich, den Wisch­mopp und das dre­cki­ge Was­ser zu­erst aus dem Saal zu brin­gen. Sie brach­te den Wisch­mopp zurück in das An­we­sen. Das dre­cki­ge Was­ser kipp­te sie im Ab­fluss der Kü­che aus. Sie zog sich um; beim Put­zen hat­te sie ge­schwitzt. Dann ging sie zurück zum Tanz­saal, stieg acht Stufen hin­auf zu dem Ein­gang und kehr­te zu der Kis­te zurück.

Fast hät­te sie ge­glaubt, dass sie ver­schwun­den war. Doch die Kis­te stand da. Und nie­mand war hier, um sie auf­zu­hal­ten.

Sie zog den er­sten Brief her­aus. Für Eve Ka­rin Be­ver­ley, mei­ne ge­lieb­te Mutter.

Sie lös­te das Sie­gel und ließ sich auf dem Boden nie­der. Das Par­kett war nicht so kalt wie der Mar­mor in der Ein­gangs­hal­le. Das war­me Licht fiel durch die Fens­ter. Durch die of­fe­ne Tür klang Vogel­ge­zwit­scher.

Für ei­nen Mo­ment schloss sie die Augen und ließ zu, dass der Frie­den der Natur sie be­ru­hig­te. Dann öff­ne­te sie ih­re Augen wie­der, die Auf­re­gung et­was ab­ge­schwächt.

Ri­ta zog das Papier aus dem Brief­um­schlag und be­gann zu le­sen.

* * *

Eden, 20. August 2002

Lie­be Mutter,

an dei­nem ein­und­drei­ßigs­ten To­des­tag ha­be ich Rosen auf dein Grab ge­legt. Es hat mich gro­ße Über­win­dung ge­kos­tet, dich nach so lan­ger Zeit wie­der zu be­su­chen.

Wie du weißt, ha­be ich mich vor Fried­hö­fen immer ge­gru­selt. Viel­leicht aus dem Grund, dass wir frü­her so oft auf Be­er­di­gun­gen waren. Ich ha­be es immer noch im Kopf: Die dunk­le Klei­dung, die Ge­dächt­nis­re­de des Rab­bi­ners, die Kria am Grab. Wir ha­ben un­se­re Ge­wän­der ein­ge­ris­sen, um un­se­re Trau­er aus­zu­drü­cken. Dann ha­ben wir ge­mein­sam das Grab zu­ge­schüt­tet. Dann ha­ben wir das Kad­disch ge­spro­chen und nach dem Trost­spa­lier ha­ben wir den Fried­hof ver­las­sen. Immer auf ei­nem an­de­ren We­ge als je­nem, auf dem wir zum Grab ge­kom­men sind. Wir ha­ben un­se­re Hän­de ge­wa­schen und sind end­lich nach Hau­se ge­gan­gen. Es gab et­was zu es­sen. Und dann ha­ben wir ge­trau­ert. Es war immer das­sel­be: Und es ge­schah so häu­fig. Ir­gend­wie mach­te es mir Angst.

Auf ei­ne Wei­se ha­be ich die­se jü­di­schen Be­stat­tun­gen den­noch ge­liebt. Da ist et­was Tröst­li­ches in die­ser Ord­nung, die­ser Struk­tur, die­sem Rhyth­mus, der für alle gleich ist, egal, wer sie in ih­rem Le­ben waren. Alle an­de­ren Be­er­di­gun­gen, auf de­nen ich war, je­ne der an­de­ren Kon­fes­sio­nen und der Kon­fes­sions­lo­sen, schie­nen un­voll­kom­men oh­ne je­ne Ge­be­te, die mir na­he sind. Ich weiß nicht, wie du Vaters Be­er­di­gung ge­fun­den hast. Sie war wohl we­ni­ger tra­di­tio­nell, eben­so wie eu­re Hoch­zeit vier Jah­re vor­her. Immer­hin war er nie so gläu­big wie du. Eigent­lich war er über­haupt nicht jü­disch. Ich glau­be, das hat der Ge­mein­de nicht ge­fal­len; aber immer­hin war ich erst drei, als er starb. Ich kann es al­so nicht wis­sen. Und es war 1940: Das jü­di­sche Volk hat­te an­de­re Sor­gen als ei­ne Mi­sche­he ir­gend­wo im Hin­ter­land von Was­hing­ton D. C.. Un­se­re Brü­der und Schwes­tern in Euro­pa ha­ben zur sel­ben Zeit den Ho­lo­caust er­lebt. Ich war zu jung, um zu ver­ste­hen, doch du hast es ver­stan­den. Es tut mir leid, dass du bei dem Völ­ker­mord in dei­ner al­ten Heimat hil­flos zu­se­hen muss­test.

Eigent­lich woll­te ich dir von den Rosen und dei­nem Grab er­zäh­len. Die Rosen waren rot und oran­ge, ich ha­be drei Sträu­ße ge­kauft. Ich bin schon früh mor­gens von Eden nach Was­hing­ton ge­fah­ren. Ich glau­be, ich bin alt ge­wor­den. Der gan­ze Ver­kehr hat mich so er­schöpft. Als ich auf dem Park­platz stand, hät­te ich am liebs­ten ein­fach ein Ni­cker­chen im Auto ge­macht. Doch ich war nicht den ge­sam­ten Weg ge­fah­ren, um zu schla­fen. Al­so bin ich aus­ge­stie­gen, ha­be die Rosen mit­ge­nom­men und bin auf den Fried­hof ge­gan­gen.

Es war ein hei­ßer Tag. Es war ein hei­ßer Monat ge­we­sen – das Gras war gelb ge­brannt und der Himmel war so blass, als wür­de er auf ei­ne be­son­ders hüb­sche Frau her­ab­se­hen, die ihm den Atem nahm. Nun, das war wohl nicht ich. In letz­ter Zeit schei­ne ich je­den Mor­gen mit ei­ner neu­en Fal­te auf­zu­wachen, immer wie­der fin­de ich neue Alters­fle­cken auf mei­nen Hän­den. Die Adern ste­chen her­aus, die Augen wer­den schwä­cher. Ich bin jetzt ein Jahr äl­ter, als du es ge­wor­den bist. Wä­re der Un­fall nicht ge­we­sen, hät­test du si­cher noch lan­ge Zeit weiter­ge­lebt.

Viel­leicht wärst du noch immer an mei­ner Sei­te.

Je­den­falls weiß ich, ich bin nicht die schöns­te Frau un­ter dem Himmel. Nicht mehr. Ich zog das Tuch en­ger über mein Haar, um mich vor der Son­ne zu schüt­zen, und setz­te die Son­nen­bril­le aus Re­spekt ab. Sie ha­ben viele Kie­fern dort, die die schma­len We­ge säu­men, lei­der spen­den sie we­nig Schat­ten. Aber sie ge­ben der Welt Grün, selbst im Win­ter. Die an­de­ren be­schwe­ren sich über die Hit­ze oder die Tro­cken­heit, doch ich bin dank­bar für je­den Som­mer, den ich er­le­ben darf. Dein frü­her Tod, Mutter, hat mich Ach­tung vor dem Le­ben ge­lehrt.

Ich fürch­te mich vor Fried­hö­fen, das ist wahr. Doch das heißt nicht, dass ich ih­re Schön­heit nicht er­ken­nen kann. An die­sem Tag, in der brü­ten­den Mit­tags­hit­ze, war ich auf dem he­bräi­schen Fried­hof in D.C. allein. Doch es war hell. Die­se sanf­ten Hügel mit den un­glei­chen Grab­stei­nen füh­len sich ver­traut an. Es ist gut, dass du mich da­mals auf die Be­er­di­gun­gen mit­ge­nom­men hast. Schon als Kind ha­be ich ge­lernt, die Angst vor dem Tod ab­zu­le­gen.

Nur das Ster­ben, Mom. Vor dem Ster­ben ha­be ich Angst.

Ich ha­be nie ge­dacht, dass ich ein­mal hier sit­zen wer­de, in mei­nem Gar­ten, der mein Pa­ra­dies ist, den ich selbst er­schaf­fen ha­be – und ei­nen Brief schrei­ben wer­de. Es ist ein Ab­schieds­brief, auf ei­ne Wei­se. Auch wenn du vor so lan­ger Zeit ge­gan­gen bist und ich nun eigent­lich nichts an­de­res tue, als dir zu fol­gen. Ich will es dir er­klä­ren. Du kannst dies nicht mehr le­sen. Aber ich möch­te es den­noch er­klä­ren, in der Hoff­nung, dass du es ir­gend­wie er­fährst: An dem Tag, an dem mein Le­ben zu­sam­men­brach, ha­be ich nur an dich ge­dacht.

Als ich auf dem Fried­hof war, Mom, leg­te ich die Rosen auf das Grab. Ich ha­be mit dir ge­spro­chen und ge­be­tet. Dann bin ich in die Syn­ago­ge ge­gan­gen, die am an­de­ren En­de der Stadt liegt. Die Fahrt hat lang ge­dau­ert, mei­ne Augen konn­ten nicht of­fen­blei­ben, doch ich ha­be es nicht be­reut. Es hat sich wie ein Stück zu Hau­se an­ge­fühlt, auch nach all die­ser Zeit. Du hast mir das Ge­schenk dei­nes Glau­bens ge­macht; ich ha­be mein Le­ben lang da­mit ver­bracht, es ab­zu­leh­nen, doch in die­sem Mo­ment war ich zu schwach, um ab­zu­wei­sen, was mir der größ­te Trost war.

Es war dort in der Syn­ago­ge, Mom. Der Rab­bi­ner hat­te ge­ra­de den Got­tes­dienst be­en­det. Ich ha­be mich auf­ge­rich­tet, bin auf­ge­stan­den von der gnä­di­gen Bank – und dann war alles schwarz.

So oft ha­be ich in Fil­men mit­ge­spielt, in de­nen ich ohn­mäch­tig zu­sam­men­sank. In den Fil­men bin ich dann nach ei­ner Wei­le immer wie­der hys­te­risch in den Ar­men ei­nes gut aus­se­hen­den Gent­le­mans zu mir ge­kom­men. Das ist mir lei­der in der Rea­li­tät nicht pas­siert. Ich war erst wie­der wach im Kran­ken­haus, wo sie mir sag­ten, dass ich ei­nen Tu­mor im Ge­hirn ha­be. Er sei in­ope­ra­bel. Er wu­cher­te; und sie ga­ben mir ge­nau ein Jahr.

Ein Jahr, Mom. Ein Jahr, und ich bin erst 65 Jah­re alt. Es fühlt sich falsch an, so falsch. Ich weiß, das Le­ben ist nicht ge­recht. Jün­ge­re und bes­se­re Seelen ha­ben schon mehr ge­lit­ten als ich. Ich weiß, ich ha­be ei­ni­ge Feh­ler ge­macht, für die Gott mich be­stra­fen soll­te. Doch ich ha­be ein gu­tes Herz. Ja, das den­ke ich wirk­lich. Ich ha­be nie je­man­den ab­sicht­lich Schaden zu­ge­fügt. Ich ha­be nie ver­sucht, auf un­ehr­li­che Wei­se an Geld oder Be­rühmt­heit zu ge­lan­gen. Ich den­ke, ich ha­be mein Le­ben gut ge­lebt, wenn auch immer in der selbst­be­wuss­ten Ge­wiss­heit, dass ein Teil von mir ewig sein wür­de, nur we­gen des Er­fol­ges.

Jetzt weiß ich es bes­ser. Nie­mand kann der Ver­ges­sen­heit ent­kom­men, selbst Ster­ne in den Sei­ten der Ge­schichts­bü­cher nicht. Ich war ar­ro­gant zu glau­ben, dass sich je­mand an mich er­in­nern wird.

Ich schrei­be dir nicht, weil ich den­ke, dass du dies le­sen wirst. Ich den­ke, du bist tot, und wir wer­den tot sein bis zum Tag der Auf­er­ste­hung, wenn wir alle ge­mein­sam im gol­de­nen Licht nach Is­ra­el wan­dern. Falls das ge­sche­hen wird, mit Si­cher­heit kann ich es nicht sa­gen. Ich schrei­be dir, weil du die Quel­le mei­nes Tros­tes warst und immer sein wirst. Siehst du die ver­schwom­me­ne Tin­te auf die­sen Sei­ten? Ich wei­ne, und dann kommt der Re­gen. Ich flie­he in mei­nen Win­ter­gar­ten. Mit­ten im Som­mer.

Der Som­mer­re­gen ist so kurz. Ei­ne Er­fri­schung nach all den hei­ßen Stra­pa­zen.

Ich weiß, ich soll­te trau­ern, um das Le­ben, dass ich auf­ge­ben muss we­gen ei­ner tra­gi­schen Wen­dung des Schick­sals. Und wäh­rend ich trau­rig bin, füh­le ich mich nicht wie ei­ne Ster­ben­de. Ja, ich ha­be Angst, schre­ckli­che Angst – des­halb muss ich dir schrei­ben, Mom, des­halb brau­che ich eigent­lich dei­ne Hand, die mei­ne hält –, doch ich ha­be das Le­ben nicht auf­ge­ge­ben. Ich wer­de es nie auf­ge­ben.

Ich möch­te im Re­gen tan­zen wie ein Kind. Ich füh­le mich frei in die­sem Som­mer, Mom. Ich füh­le mich so frei und un­be­schwert. Noch geht es mir gut. Manch­mal bin ich mü­de, so mü­de, und dann le­ge ich mich auf den Lie­ge­stuhl in den Gar­ten und drif­te in ei­nen Schlaf, in dem ich Angst ha­be, zu ster­ben. Doch wenn ich auf­wa­che, füh­le ich mich er­holt. Wie der Himmel nach ei­nem Wol­ken­bruch. Die Son­ne kehrt immer zurück.

Jetzt muss ich an die Ta­ge den­ken, die vielen un­ge­zähl­ten Ta­ge, die schöns­ten Blüten auf dem Blu­men­beet mei­ner Er­in­ne­run­gen. Ich bin in ei­ner schlim­men Zeit ge­bo­ren, ich weiß, doch du hast mir ei­ne schö­ne Kind­heit ge­schenkt. Ich weiß noch, wie wir ge­mein­sam am Wo­che­nen­de Pfir­si­che pflü­cken gin­gen. Erst am Ana­cos­tia Ri­ver, als wir je­des Wo­che­nen­de in Was­hing­ton ver­brach­ten, und dann in un­se­rem ei­ge­nen Gar­ten, als wir Eden fan­den.

Du hast mir Eden ge­ge­ben, Mom. Ich wer­de für immer dank­bar sein für den Tag, als du mich, die­se stoi­sche 16-Jäh­ri­ge, in die­ses An­we­sen ge­führt hast. Ich muss nicht er­wäh­nen, dass ich ver­zau­bert war. Du hast es ge­se­hen.

Es ist mein Zu­hau­se ge­wor­den. Ich ver­mis­se die Ta­ge, in de­nen du noch hier leb­test, bei mir. Spä­ter auch mit Gi­ron in den bei­den west­li­chen Zim­mern. Weißt du, ich ha­be ihn immer sehr ge­mocht. Er hat­te ei­nen ru­hi­gen Cha­rak­ter. Manch­mal ha­be ich mir vor­ge­stellt, dass er mein Vater wä­re. Es war nicht schwer, wenn ich euch drau­ßen im Gar­ten ar­bei­ten ge­se­hen ha­be. Un­ter brei­ten Hü­ten habt ihr al­te Schau­feln in die Er­de ge­stemmt. Mit sei­ner runz­li­gen Na­se und den net­ten Augen ha­be ich Gi­ron auch von Wei­tem immer gut er­kannt. Manch­mal ha­be ich ihm zu­ge­wun­ken, wenn ich mit den Mäd­chen am Teich Tee ge­trun­ken ha­be oder mit mei­nen Gäs­ten oben in den Zim­mern zu­sam­men­saß. Er hat mich immer an­ge­lä­chelt.

Wenn ich auf mein Le­ben zurück­se­he, gibt es vieles, über das ich sehr glü­cklich bin. Doch es gibt auch ei­ni­ge Schmer­zen, die noch immer an­hal­ten. Als das Schiff 1968 un­ter­ge­gan­gen ist, mit dir und Gi­ron und zwei Dut­zend Frem­den, hat es mir das Herz ge­bro­chen. Ich weiß nicht, ob du weißt, wie sehr mich dein Tod ver­än­dert hat. Sie ha­ben mir die Ge­wän­der bis zum Herz ein­ge­ris­sen, und ich ha­be mir die Hän­de län­ger ge­wa­schen, als ich soll­te, und wenn ich an Be­er­di­gun­gen den­ke, dann weiß ich, dass dei­ne die schöns­te und die schre­cklich­ste war. Gi­ron war im Ge­gen­satz zu Dad gläu­bi­ger Ju­de. Sie ha­ben dich aber ne­ben Dad be­er­digt, weil Gi­ron und du nie ver­hei­ra­tet ge­we­sen seid. Aber kei­ne Sor­ge, Gi­ron ist auf dem­sel­ben Fried­hof, in der Nä­he. Ich ha­be ihn an die­sen Tag auch be­sucht. Die ro­ten Rosen waren für dich und Dad, die oran­ge­far­be­nen für ihn.

Dir hät­te die Ze­re­mo­nie ge­fal­len. Der Rab­bi­ner hat ei­ni­ge schö­ne Wor­te ge­sagt, und die Leu­te ha­ben ge­be­tet. Sie ha­ben nicht nur so ge­tan, wie sie es zu oft auf Be­er­di­gun­gen tun, son­dern sie ha­ben rich­tig ge­be­tet. Es war ein wun­der­schö­ner Som­mer­tag. Der Wind hat die Hit­ze ge­nom­men, die Wol­ken ha­ben die Sai­ten des Son­nen­lichts in allen Far­ben ge­spielt. Es war, als wä­re Gott da ge­we­sen, ich weiß es noch ge­nau. Auf ei­ne Wei­se war es wun­der­schön.

Ich ha­be dich mein hal­bes Le­ben lang ge­habt und mein hal­bes Le­ben lang ver­misst. Viel­leicht ist das die­se Art von Ge­rech­tig­keit, die die Leu­te nicht ver­ste­hen. Sie glau­ben an kei­nen Gott, weil er ih­nen alles Ge­lieb­te nimmt. Sie ver­ges­sen, dass alles Ge­lieb­te nur exis­tiert, weil er es uns schenkt.

Es ist ein Ge­schenk, dei­ne Tochter zu sein. Du bist tot, doch ich bin noch immer dei­ne Tochter, ge­nau­so, wie du noch immer mei­ne Mutter ge­we­sen wärst, wä­re ich eher ge­stor­ben. Ir­gend­wann kommt der Tag, an dem sich nie­mand mehr an uns bei­de er­in­nert. Doch ich sit­ze hier in mei­nem Gar­ten, in mei­nem Eden, und ich den­ke an dich. Kannst du glau­ben, dass ich es all die Jah­re ge­schafft ha­be, dei­ne Stim­me und dei­ne Um­ar­mun­gen und dein La­chen nicht zu ver­ges­sen? Ich ha­be mich ein­fach je­den Tag da­ran er­in­nert, ha­be die Bil­der an­ge­se­hen. Egal, wie sehr es weh­tut, du bist es immer wert, die Ver­gan­gen­heit zu er­hal­ten. Du bist die schöns­te Er­in­ne­rung, die ich be­sit­ze.

Ich hof­fe, ich bin mei­ner ei­ge­nen Tochter we­nigs­tens ei­ne halb so gu­te Mutter ge­we­sen wie du mir ge­we­sen bist. Ri­ta scheint so weit weg, vor al­lem jetzt, da sie in Lon­don lebt. Sie ist Bä­cke­rin, sie hat ih­re eige­ne Bä­cke­rei. Sie ar­bei­tet sehr hart, Mom, du soll­test sie se­hen. Ich bin stolz auf sie und doch schmerzt es mich so un­end­lich sehr, sie so weit weg von mir zu wis­sen. (Aber sind wir ehr­lich: Eng­land hat gu­tes Es­sen bit­ter nö­tig. Es ist gut, dass sie dort ist.)

Als ich ihr von dem Tu­mor er­zähl­te, war sie erst sehr still, und dann hat sie mich ge­fragt, ob ich will, dass sie hier her fliegt. Ich ha­be Nein ge­sagt, ich ha­be ge­lacht und ihr er­klärt, wes­halb sie es nicht tun soll­te. Dann hat sie be­gon­nen, zu wei­nen und hat sich ent­schul­digt, und ich weiß immer noch nicht ge­nau, wo­für.

Sie stand vor ein paar Ta­gen vor mei­ner Tür. Mit ro­ten Rosen in der Hand und ei­nem Lä­cheln vol­ler Trä­nen. Sie blieb fünf Ta­ge und dann schick­te ich sie nach Hau­se. Ich um­arm­te sie. Es ist wohl das letz­te Mal, dass ich sie ge­se­hen ha­be, doch ich be­reue nicht, sie zurück in ihr ei­ge­nes Le­ben ge­las­sen zu ha­ben. Es ist nicht ge­recht, sie fest­zu­hal­ten, wenn ich weiß, dass ich nur zu bald los­las­sen muss.

Ih­re Rosen ver­wel­ken in mei­ner Va­se, doch ich klam­me­re mich an je­des Blüten­blatt.

Es gibt so viel zu sa­gen. Doch ich bin mü­de, Mom. Ich wer­de zu Bett ge­hen. Ich weiß nie, wenn ich schla­fe, ob es die Nacht sein wird, in der es so weit ist. Des­halb stel­le ich si­cher, nie­mals trau­rig ein­zu­schla­fen. Ich ha­be ei­nen glü­ckli­chen Ge­dan­ken, ei­nen ein­zi­gen, der mir immer ein Lä­cheln auf das Ge­sicht zau­bert. Ich den­ke, du weißt, was ich mei­ne.

Dan­ke für all die Lie­be, die du mir ge­ge­ben hast. Ich ste­he in dei­ner Schuld. Dei­ne Zu­nei­gung für mich hat alles über­stie­gen, was ich je kann­te. Ich kann nichts an­de­res, als ver­su­chen, sie so gut wie mög­lich zurück­zu­ge­ben.

An Aben­den wie die­sen spü­re ich dei­ne Lie­be, wie sie sich so eng an mein Herz schmiegt und mich für immer in Si­cher­heit wiegt. Ich hof­fe, du spürst mei­ne Lie­be eben­so. Wo auch immer du bist, bit­te war­te auf mich.

In Lie­be,

Bon­nie Eve.

* * *

Ri­ta stürz­te in Bon­nies Schlaf­zim­mer.

Der Brief lag noch in ih­ren Hän­den. Sie hielt die vier Sei­ten, vorn und hin­ten be­schrie­ben, eng an ih­re Brust ge­drückt. Auf ei­ne Wei­se war der Brief ge­nau der Trost ge­we­sen, den sie ge­braucht hat­te.

Den­noch be­fand sich Ri­ta in hel­ler Auf­re­gung. Ih­re Mutter hat­te von Rosen ge­schrie­ben, ver­welk­ten Rosen – und sie stan­den hier auf ih­rem Nacht­tisch.

Ri­ta be­rühr­te den her­un­ter­hän­gen­den Blüten­kopf der größ­ten Ro­se. Die Blüten­blät­ter, die einst ro­sa­rot ge­we­sen waren, zeig­ten sich nun in ei­nem tie­fen Vio­lett, an den Rän­dern schwarz ge­färbt. Sie war auf ei­nen Bruch­teil ih­rer ein­sti­gen Grö­ße ge­schrumpft. Die grü­nen Blät­ter waren braun ge­wor­den. Als sie die Ro­se be­rühr­te, lös­ten sich ei­ni­ge Blüten­blät­ter und schweb­ten zu Boden.

Ri­ta konn­te sich gut an den Tag er­in­nern, an dem sie ih­rer Mutter die Rosen ge­ge­ben hat­te. Sie war von Lon­don nach Was­hing­ton D.C. ge­flo­gen, nach­dem sie die Nach­richt von Bon­nies Krank­heit be­kom­men hat­te. Sie hat­te die Blu­men in Sa­lis­bu­ry auf dem Weg ge­kauft. Sie hat­te nicht ge­wusst, was sie tun soll­te. Blu­men schie­nen ihr wie ein ver­zwei­fel­ter Aus­weg, ein Er­satz für ei­ne wirk­lich be­deut­sa­me Ge­ste: Mit ih­nen fei­er­te man das Le­ben und die Lie­be und be­trau­er­te den Tod und Ab­schie­de. Sie sag­ten, was man un­ge­sagt ließ.

Als sie die ver­blüh­ten Rosen an­sah, spür­te Ri­ta Dank­bar­keit. Sie hat­te nicht über die Rosen nach­ge­dacht, nur über ih­re Mutter. Doch ihr hat­ten die Blu­men et­was be­deu­tet.

Und, oh Gott, Ri­ta hat­te ihr et­was be­deu­tet. Mit Trä­nen in den Augen sah sie he­rab auf den Brief, auf den Ab­schnitt, in dem Bon­nie ge­schrie­ben hat­te: Sie ar­bei­tet sehr hart, Mom, du soll­test sie se­hen. Ich bin stolz auf sie und doch schmerzt es mich so un­end­lich sehr, sie so weit weg von mir zu wis­sen.

Die Trau­er stach so über­wäl­ti­gend in Ri­tas Herz, dass sie sich auf dem Bett ab­stüt­zen muss­te, um nicht zu­sam­men­zu­bre­chen. War dies der Be­weis, nach dem sie ge­sucht hat­te? Ge­nüg­te die­ser Brief?

Ri­ta wisch­te sich ve­he­ment über die Augen. Der Brief hat­te sie be­rührt, doch er hat­te ihr auch ei­nen tie­fen Stich ver­setzt. Bon­nie und ih­re Mutter schie­nen ei­ne per­fek­te Be­zie­hung ge­habt zu ha­ben. Sie waren glü­cklich ge­we­sen. Bon­nie hat­te ge­sagt: Dei­ne Zu­nei­gung für mich hat alles über­stie­gen, was ich je kann­te.

Hat­te Eve Bon­nie mehr ge­liebt als Bon­nie Ri­ta?

Ri­ta klam­mer­te sich an die Kis­sen, als sie wein­te, und erst nach ei­ner sehr lan­gen Zeit ging sie in den Gar­ten, um die Va­se mit den Rosen in den Teich zu schüt­ten. Die ver­welk­ten Blüten­köp­fe schwam­men auf der grü­nen Was­ser­ober­flä­che. Ei­ne miss­lun­ge­ne Ko­pie von See­rosen.

Abends lag Ri­ta in ih­rem Bett, der Brief auf ih­rem Kopf­kis­sen, und über­leg­te, was Bon­nies glü­cklich­ster Ge­dan­ke ge­we­sen sein könn­te.

Kapitel 3

Die Nacht ließ Ri­ta schwit­zend und schlaf­los vor ih­ren Träu­men flie­hend zurück.

Es war zwei Uhr. Zu früh für die Vögel, um ih­re Lie­der zu sin­gen, und zu früh für das Licht, um den Ho­ri­zont zu küs­sen. Ri­ta hat­te sich in ei­nen Ba­de­man­tel ge­wi­ckelt und streif­te durch das tau­nas­se Gras im Gar­ten.

Die gro­ße Ein­gangs­tür ver­ur­sach­te kei­nen ein­zi­gen Laut, als Ri­ta sie auf­drück­te. Mond­licht ström­te durch die ho­hen Fens­ter des Saa­les. Nacht­wind wa­ber­te zwi­schen den ne­bel­wei­ßen Vor­hän­gen. Es war, als wür­den Geis­ter über die Wän­de tan­zen.

Die Kis­te stand in der Mit­te des Rau­mes.

Mit zit­tri­gen Schrit­ten lief sie da­rauf zu. Sie hol­te den näch­sten Brief her­aus und zö­ger­te.

Sie war mü­de, so mü­de, sie soll­te ein­fach wie­der ins Bett ge­hen. Die­se ver­fluch­ten Brie­fe. Die­se wun­der­ba­ren Ge­schen­ke, die so weh­ta­ten. Sie soll­te ein­fach wie­der ins Bett ge­hen. Sie soll­te kei­nen Brief le­sen, der nicht an sie ge­rich­tet war.

Schlech­tes Ge­wis­sen nag­te an ihr, als sie auf­stand, um ei­ne klei­ne Lam­pe im Tanz­saal an­zu­schal­ten. Der Licht­ke­gel war weit ge­nug, um es ihr zu er­mög­li­chen, den Brief zu le­sen.

Er war et­was leich­ter als je­ner an ih­re Groß­mutter. Bon­nie hat­te ein an­de­res Papier ver­wen­det. Das Sie­gel war das­sel­be: blut­rot, oh­ne Wap­pen, nur mit ei­nem ein­gra­vier­ten B. Wie immer thea­tra­lisch.

Mit zit­tern­den Hän­den ent­fal­te­te Ri­ta den Brief. Dann schloss sie ih­re Augen.

Was tat sie nur? Der Brief war an ei­nen Mr. Den­vers adres­siert. Sie wuss­te nicht, wer Mr. Den­vers war. Noch schlim­mer: Sie wuss­te nicht, ob er noch leb­te. Es war das ei­ne, Brie­fe an To­te zu le­sen, mit de­nen man ver­wandt war. Es war das an­de­re, Brie­fe an wahr­schein­lich le­ben­di­ge Frem­de zu le­sen.

Und doch …

Ri­ta konn­te sich nicht be­herr­schen. Sie öff­ne­te die Augen und be­gann, zu le­sen.

* * *

New York Ci­ty, 30. August 2002

Mr. Den­vers –

die Leu­te ken­nen mich. Aber sie ken­nen Sie nicht und sie wis­sen nicht, dass ich Sie kann­te.

Es ist trau­rig, denn Sie sind schon so lang tot, und ich hat­te nie die Chan­ce, Ih­nen zu sa­gen, was Sie mir be­deu­te­ten. Ich hat­te nie Zeit, mich ernst­haft bei Ih­nen zu be­dan­ken. Da ich nun selbst kaum Zeit mehr üb­rig ha­be, möch­te ich es nach­ho­len.

Ich weiß nicht, wes­halb ich be­gon­nen ha­be, Brie­fe an to­te Men­schen zu schrei­ben. Es ist nicht so, als ob ich kei­ne gu­te le­ben­de Ge­sell­schaft hät­te. Nein – ich ha­be Al­ma um mich und na­tür­lich Geor­ge, außer­dem mei­ne an­de­ren treu­en Freun­de, die mich oft und gern be­su­chen. Ich ha­be den Brief an mei­ne Mutter nicht ge­schrie­ben, weil ich ein­sam bin. Das­sel­be gilt für den Brief an Sie, Mr. Den­vers.

Ich schrei­be die­sen Brief, weil ich Sie ver­mis­se. Sie ha­ben mir viel be­deu­tet, und weil ich bald nicht mehr auf der Welt sein wer­de, um mich an Sie zu er­in­nern, regt sich der ver­zwei­fel­te Wunsch in mir, mei­ne Er­in­ne­rung an Sie auf Papier fest­zu­hal­ten. Viel­leicht wird nie­mand je­mals die­se Wor­te le­sen, doch – bit­te er­lau­ben Sie mir die Ge­fühls­du­se­lei – ich wünsch­te, die ge­sam­te Welt könn­te sie le­sen.

Alle soll­ten ei­nes über Sie wis­sen: Sie sind ein Held.

Der Grund, wes­halb ich Ih­nen schrei­be, ist New York Ci­ty. Ich bin hier, um ei­ni­ge letz­te An­ge­le­gen­hei­ten für die Ar­beit zu klä­ren. Ich ha­be das Glück, ein we­nig Zeit vor mei­nem Tod zu ha­ben. Ich möch­te mei­ne ge­schäft­li­chen und pri­va­ten Be­zie­hun­gen nicht ab­rupt be­en­den. Ich ha­be die Chan­ce, Ab­schied zu neh­men, al­so nut­ze ich sie.

Ge­stern bin ich zum Gold­lö­wen ge­gan­gen. Die Bar hat sich nicht ver­än­dert, in all den Jah­ren kein biss­chen. Immer noch sind die Ti­sche mit wei­ßen Tü­chern be­deckt, immer noch ist das Ge­wöl­be mit ro­tem Samt ka­schiert. Die Ge­trän­ke schme­cken wie frü­her. Das Es­sen ist noch immer un­ge­nieß­bar. Auf der Büh­ne ruht noch das­sel­be Par­kett. Ich ha­be die Ker­be wie­der­ge­fun­den, in der Elea­nors Cel­lo immer stand. Es war merk­wür­dig, nach ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert an den Ort zurück­zu­keh­ren, an dem alles be­gon­nen hat.

Im Gold­lö­wen scheint die Zeit ste­hen ge­blie­ben zu sein. Kön­nen Sie glau­ben, Mr. Den­vers, dass selbst die Damen an der Bar immer noch die­sel­ben Be­ehi­ve-Fri­su­ren tra­gen? (Ich tue es nicht mehr, falls Sie sich wun­dern.) Sie schei­nen ge­nau die­sel­ben Frau­en zu sein; um kei­nen Tag sind sie ge­al­tert.

Wie immer, wenn ich den Gold­lö­wen auf­su­che, fühl­te ich mich bei mei­nem letz­ten Be­such zurück­ver­setzt in die Zeit, in der Sie mich, ei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge Kell­ne­rin, ei­nes Abends ein­fach auf die Büh­ne ge­holt ha­ben.

»Sin­gen Sie«, sag­ten Sie mit Ih­rer hei­se­ren Ba­ri­ton­stim­me. »Sin­gen Sie, wie Sie es beim Glä­ser­put­zen um Mit­ter­nacht tun.«

Ich war schre­cklich pein­lich be­rührt. Sie hat­ten mich ge­hört! Und er­wähn­ten es vor dem ge­sam­ten Pu­bli­kum! Doch die Her­ren und Damen in der Bar sa­hen mich mit er­war­tungs­vol­len, freund­li­chen Augen an; ir­gend­wo im Saal pfiff ein Mann, was mich so­wohl be­schäm­te, als auch be­stärk­te; und Ih­re Hand, Mr. Den­vers, lag auf mei­ner Schul­ter.

»Trau dich«, flüs­ter­ten Sie.

Oh, wenn Sie wüss­ten, wie weit mich die­ser Satz in mei­nem Le­ben be­glei­tet hat! In allen spä­te­ren Jah­ren, wenn mei­ne Wan­gen brann­ten vor Lam­pen­fie­ber, ha­be ich immer Ih­re Stim­me ge­hört, in die­sem Mo­ment, als Sie hin­ter mir stan­den und mich da­zu dräng­ten, mei­nen Träu­men zu fol­gen.

Ich ha­be ge­sun­gen. Im Gold­lö­wen ha­be ich zum er­sten Mal vor ei­nem Pu­bli­kum ge­sun­gen. »Cry« von John­nie Ray. Ich er­in­ne­re mich noch an ih­re Ge­sich­ter, als wä­re es erst ge­stern ge­we­sen. Zu­erst mil­des In­te­res­se, wenn nicht so­gar Be­lus­ti­gung. Dann Über­ra­schung und Ge­nuss. Und schließ­lich Er­grif­fen­heit.

Ich be­rühr­te sie; ich be­rühr­te sie zu­tiefst. Am En­de wein­ten tat­säch­lich ei­ni­ge der Damen. Die Her­ren war­fen die Blu­men aus den Va­sen auf die Büh­ne, die ich erst Stun­den da­vor auf­ge­füllt hat­te. Ich stand da in mei­ner Schür­ze, mit mei­nem schüch­ter­nen Lä­cheln. Und am Ran­de der Büh­ne war­te­ten Sie: Und ich sa­ge Ih­nen, ich hat­te in mei­nem Le­ben bis da­hin noch nie ei­nen sol­chen Stolz auf dem Ge­sicht ei­nes Er­wachs­enen ge­se­hen. Mei­ne Mutter war immer un­ter­stüt­zend ge­we­sen, doch sie war auch streng, ih­re Er­war­tun­gen schein­bar un­er­reich­bar hoch. Es war ein gu­tes Ge­fühl, Sie ap­plau­die­ren zu se­hen, Mr. Den­vers. Ich dan­ke Ih­nen da­für.

In den fol­gen­den Mo­na­ten lie­ßen Sie mich immer wie­der auf­tre­ten. Ich ge­wann an Selbst­ver­trauen; das Sin­gen mach­te mir ent­schie­den mehr Freu­de als das Kell­nern. Mei­ne Kol­le­gin­nen be­wun­der­ten mich auf eifer­süch­ti­ge Art und Wei­se, wie es nur Mäd­chen im Jugend­al­ter kön­nen. Mei­ne Mutter, die an­fangs gar nicht wuss­te, dass ich in Ih­rer Bar ar­beit­ete (das ist ei­ne an­de­re Ge­schich­te; Sie ken­nen sie ge­nau), fand es gar nicht gut, als Sie ei­nes Tages vor un­se­rer Haus­tür stan­den und ihr an­bo­ten, mich mit ei­nem Pro­du­zen­ten zu­sam­men­zu­füh­ren, der ein Al­bum mit mir ma­chen könn­te. Mom war miss­trau­isch, ängst­lich und zor­nig und wur­de ein we­nig aus­fäl­lig – Sie blie­ben ru­hig und be­ant­wort­eten all ih­re Fra­gen ge­dul­dig.

Sie sind oh­ne Fra­ge der Grund, wes­halb ich be­rühmt ge­wor­den bin.

Zu Be­ginn des Brie­fes ha­be ich ge­sagt, dass nie­mand weiß, dass ich Sie kann­te. Wäh­rend ich mei­nen Weg ins Ram­pen­licht an­trat, blie­ben Sie im Schat­ten der Ku­lis­sen. Sie ha­ben sich nie als Königs­ma­cher in­sze­niert. Sie wur­den noch nicht ein­mal mein Ma­na­ger. An­ders als alle an­de­ren Män­ner im Musik­ge­schäft zu die­ser Zeit waren Sie nicht auf Geld und Be­rühmt­heit aus. Sie waren zu­frie­den mit ih­rem klei­nen Gold­lö­wen, Sie lehn­ten alles Il­le­ga­le ab und lie­ßen sich nie et­was zu Schul­den kom­men. In ganz New York Ci­ty gab es da­mals kei­nen an­stän­di­ge­ren Ge­schäfts­mann.

Sie ha­ben mich zur Musik ge­bracht. Sie ha­ben mir die­je­ni­gen vor­ge­stellt, oh­ne die ich mei­ne Kar­rie­re nicht hät­te be­gin­nen kön­nen. Außer­dem ha­ben Sie mir Selbst­ver­trauen ge­ge­ben. Sie waren wie ein Men­tor; Sie ha­ben mir ge­hol­fen, als ich aus Un­si­cher­heit fast auf­ge­ge­ben hät­te. Sie waren mein Vor­bild.

All das ist nicht der Grund, wes­halb Sie ein Held für mich sind. Und hier sind wir bei ei­ner Sa­che, die nie­mand über Sie und mich weiß: Sie ha­ben mir das Le­ben ge­ret­tet.

Es war 1962. Zehn Jah­re nach mei­nem er­sten Auf­tritt in Ih­rer Bar. Ich war über die Lan­des­gren­zen her­aus be­rühmt, doch Sie waren der­sel­be, mit ein paar mehr Fal­ten und ein paar we­ni­ger Haaren. Wir hat­ten nicht mehr viel Kon­takt.

Mit ei­ni­gen Freun­den ging ich nach NYC. Wir zo­gen durch die Bars und Clubs. Ich tanz­te, bis ich nicht mehr klar se­hen konn­te, und wir nah­men Ta­blet­ten und tran­ken, küm­mer­ten uns nicht um die Welt da drau­ßen, küm­mer­ten uns nur um den Rausch. Ver­ges­sen­heit in Eu­pho­rie. Mein Le­ben in Eks­ta­se.

Ir­gend­wann lan­de­ten wir im Gold­lö­wen. Mei­ne Freun­de gröl­ten, hier sei ih­nen zu we­nig los. Als ich ih­nen ver­si­cher­te, dass Jazz gu­te Musik sei, murr­ten sie noch mehr und zo­gen alle ab in den näch­sten Club, in dem es Tanz­musik gab. Al­so war ich allein, und ich trank Cham­pa­gner, denn er pri­ckel­te so schön auf mei­ner ge­lös­ten Zun­ge.

Und dann war dort die­ser Typ. Er hat­te ein strah­len­des Lä­cheln, das kann ich ihm nicht neh­men, doch da war et­was Wöl­fi­sches da­rin.

Der Mann frag­te, ob er sich ne­ben mich set­zen kön­ne, und ich mach­te Platz, denn in der Bar war es voll, ich woll­te zu­vor­kom­mend sein.

»Bist du nicht die­se Sän­ge­rin?«, frag­te er.

»Ja!«, sag­te ich. »Mein Na­me ist Bon­nie. Ich lie­be Musik! Und bald bin ich auch Schau­spie­le­rin. Ich ha­be ei­nen Ver­trag mit die­sem Film­stu­dio.«

»Schön, schön«, sag­te der Mann und lehn­te sich zu mir. Sein Atem prall­te ge­gen mei­nen Hals. »Ich fin­de Sän­ger­in­nen heiß. Be­son­ders, wenn sie schrei­en.«

Da­mals war ich zu weg­ge­tre­ten, um die Ge­fahr der Si­tua­tion zu be­grei­fen; heu­te ist mir schlecht bei dem Ge­dan­ken, was hät­te ge­sche­hen kön­nen.

»Kein In­te­res­se«, sag­te ich, doch der Al­ko­hol ließ mich trotz­dem lä­cheln.

Dann tauch­ten sei­ne Freun­de auf. Vier gro­ße, brei­te, eben­so wöl­fisch grin­sen­de Ty­pen. Ein Ru­del. Sie alle hat­ten die­sel­ben Kom­men­ta­re auf ih­ren Lip­pen und Hän­de, die über­all zu sein schie­nen. Das Adre­na­lin über­stieg kurz­zei­tig den Al­ko­hol in mei­nem Blut: Ich rap­pel­te mich auf, riss mich los und ver­ließ die Bar so schnell, wie ich konn­te.

Ich hat­te nicht da­mit ge­rech­net, dass sie mir folg­ten. Ich lie­be Ih­re Bar, Mr. Den­vers, aber die La­ge ist nicht ideal. Der Haupt­ein­gang zeigt in ei­ne schma­le Gas­se her­aus. Das war nicht das Pro­blem; denn hier stand der schläf­ri­ge Tür­ste­her, hier knutsch­ten ei­ni­ge Paa­re und rauch­ten ein paar Leu­te. Mein Feh­ler war, in die Ne­ben­gas­se ab­zu­bie­gen und nicht ein­fach dort bei den an­de­ren zu war­ten. Die Ne­ben­gas­se war leer. Ich hat­te ver­ges­sen, dass der Hin­ter­ein­gang der Bar hier her­aus zeigt – die Grup­pe der Män­ner tauch­te wie­der auf.

Ich stol­per­te, konn­te nicht klar se­hen, nicht klar den­ken. Die Män­ner nä­her­ten sich la­chend, ich war auf der Stel­le fest­ge­fro­ren. Es war ei­ne der Jag­den, vor de­nen ich mich immer ge­fürch­tet hat­te.

Dann war der Rä­dels­füh­rer bei mir und drück­te mich ge­gen die Wand, be­tatsch­te mei­ne Brust.

»Schön, schön«, spuck­te er aus.

Mein In­stinkt über­nahm die Kon­trol­le über mei­nen Körper: Ich trat ihm in den Schritt. Fest ge­nug, dass er jaul­te und kurz­zei­tig los­ließ.

Und dann war da plötz­lich ein Mes­ser in mei­nem Ge­sicht.