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2003 in Eden (Maryland, USA): Nach dem Tod ihrer berühmten Mutter kehrt Rita Redwood in ihr Elternhaus zurück. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Anwesen auszuräumen und zu verkaufen. Doch inmitten ihrer Trauer holt Rita das Vermächtnis ihrer Mutter ein: Bonnie Eve Beverley hat eine Kiste mit Briefen hinterlassen. Sie sind an all jene Menschen gerichtet, die sie aus ganzem Herzen liebte. Für Rita beginnt ein Frühling voller Trauer, Zweifel, Heilung und Hoffnungen. Sie liest jene Briefe Bonnies, die Einblicke in ihre Vergangenheit bieten, und versucht, sie den Empfängern zu übergeben. Rita lernt ihre Mutter auf eine Weise kennen, die ihr zu Lebzeiten wegen ihrer schwierigen Beziehung verwehrt war – doch ein letzter Zweifel bleibt: Wartet am Boden der Kiste auch ein Brief für Rita?
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Briefe aus Eden
Roman
Josefine Rothe
Copyright © 2025
by Josefine Rothe
c/o Autorenglück #78010
Albert-Einstein-Str. 47
02977 Hoyerswerda
www.autorin-josefine-rothe.de
Cover: Marietta Rothe
Grafikgestaltung: Enrico Rothe
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Die Dielen der Veranda jauchzten unter ihrem Gewicht.
In ihren Nestern unterbrachen die neugeborenen Spatzen ihr Zwitschern, verschreckt von dem knarrenden Willkommensgruß. Rita versuchte, so leise wie möglich zu sein, doch die Lackschuhe von der Trauerfeier erschwerten dieses Vorhaben. Der Schlüsselbund klirrte nicht minder lautstark, als sie ihn aus der Tasche zog. Sie warf einen mitleidigen Blick in den blühenden Vorgarten, bevor sie sich nach vorn wandte.
Rita atmete einmal tief ein, dann schob sie die Tür einen winzigen Spalt auf; nur so weit, dass sie hindurchtreten konnte.
Auf der Schwelle wurde sie von einem honigsüßen, kaffeebitteren Gefühl heimgesucht. Zähflüssig presste sich die Vergangenheit in ihre Lunge wie eine chronische, allumfassende Krankheit.
Nostalgie. Sie hing so schwermütig in der Luft, dass sie Rita den Atem nahm.
Nach so vielen Jahren. Nach so vielen Jahren war sie zurück. Zurück zu Hause.
Die herrschaftliche viktorianische Eingangshalle glänzte in jenem dämmrigen Abendlicht, das nur in der halben Stunde nach Sonnenuntergang entstand. Diese Art von Licht war nicht angenehm für die Augen; besonders nicht für solche, die so schlecht waren wie Ritas. Sie hob eine Hand, setzte ihre Brille ab, rieb sich mit einem Seufzen über die Lider, blinzelte und setzte die Brille wieder auf.
Sie atmete ein zweites Mal zittrig ein. In der Eingangshalle roch es nach Pfirsichen und Seife und – tatsächlich! – einem Hauch von italienischem Espresso. Rita schloss die Augen und schnupperte. Eine Ahnung von Mutters Parfüm lag noch in der Luft. Seit Rita denken konnte, trug sie dasselbe – Bergamotte, Sandelholz, Jasmin und weitere Aromen, die sie nicht benennen konnte. Selbst ihr Sarg hatte danach geduftet.
Rita spürte, wie Wärme in ihre Wangen stieg, als sie darüber nachdachte, wie sie vor vielen Jahren in einer Parfümerie gestanden hatte, auf der Suche nach eben jenem Duft. Als der Verkäufer sie gefragt hatte, wonach er denn roch, war ihre einzige Antwort »nach Frankreich im Sommer« gewesen. Der Verkäufer hatte nicht verstanden, wie konnte er auch? Sie war im Geschäft gewesen, um die Nähe ihrer Mutter zu suchen.
Jetzt war sie tot. Bonnie Eve Beverley war tot und Rita war zurück zu Hause. Bonnie war tot, sie würde nie wieder zurückkehren, doch Rita war gezwungen, ihre Augen zu öffnen, auszuatmen, ihren Koffer abzustellen, einzuatmen, nicht dem Impuls nachzugeben, auf den Marmorfliesen zusammenzubrechen – die sicher noch so hart waren wie in ihren Kindertagen –, und weiter zu atmen, weiterzumachen. Weiter und weiter und weiter, als wüsste Rita, wohin, wie es Bonnie immer getan hatte. Weiter und weiter und weiter, als wäre Rita nicht immer noch ein verlorenes Kind in einer verlorenen Welt, das sich auf den kalten Marmor legte, um der wütenden Sommerhitze zu entfliehen.
»Rita«, sagte sie zu sich selbst und erlaubte dem Zittern ihres Körpers nicht, ihre Stimme zu erobern, »Rita, reiß dich zusammen.«
Sie hob den Koffer an und durchquerte die Eingangshalle, schritt über das runde Mosaik im Schoß des Treppenabsatzes. Sie betätigte den Lichtschalter und der perlweiß glitzernde Kronleuchter über ihrem Kopf erwachte zum Leben. Einst war er wohl mit echten Kerzen betrieben worden, hatte die Haushälterin Alma gesagt, doch irgendwann hatten sie das Wachs mit Glühbirnen ausgewechselt, nachdem bei einer Party beinahe das Haus abgefackelt war. Das musste irgendwann in den späten 60ern gewesen sein.
Rita schüttelte den Kopf. Das ging entschieden zu weit. Sie konnte nicht minutenlang wortlos in der Halle stehen und wegen eines verdammten Kronleuchters oder eines Spritzers von Parfüm in Erinnerungen schwelgen. Sie war nicht hier, um sich freiwillig in das Gefängnis der Vergangenheit zu begeben – Rita befürchtete, dort saß man lebenslang –, sondern um das Haus auszuräumen und schlussendlich zu verkaufen.
Rita presste die Lippen zusammen und wandte sich nach links, wo sich der Eingang zur Küche sowie den Dienstquartieren der Angestellten befand. Bis vor drei Wochen hatten sechs Leute für Bonnie gearbeitet, davon vier, die Rita aus ihrer Kindheit kannte. Sie hatte sie alle mit einem Entschädigungsgehalt entlassen, dass sie mindestens zwei Jahre bequem über die Runden bringen würde. Genug Zeit, um einen neuen Job zu finden. Alma hatte Rita heute nach der Trauerfeier die Schlüssel überreicht.
Die Küche war noch genauso schön, wie Rita sie in Erinnerung hatte: Grüne Kabinette, drei Öfen, in der Mitte eine Theke, hinter deren gläsernen Türchen sich das feine Geschirr von Bonnies Eltern versteckte. Die Pflanzen auf den erhöhten Fenstersimsen – aufgrund der Hanglage des Hauses befand sich die Küche zu zwei Dritteln unter der Erde – zeigten noch grüne Frische. Doch im Gegensatz zu dem beinahe unheimlich reinen Korridor flogen hier im Dämmerlicht kleine Staubwölkchen durch die Luft, bereit, sich auf den Kabinetten wie Schneekristalle auf Herbstwiesen abzusetzen. Als Rita das gelbliche Licht anschaltete, verschwand der Staub, ein stiller Zeuge der versteckten Unvollkommenheit des Hauses.
Rita ging zur Kaffeemaschine und bereitete einen Espresso zu. Es war erst März, nicht eingeheizt, und die Kälte und Müdigkeit stiegen ihr zu Kopf. Sie brauchte unbedingt einen Kaffee.
Von der Küche machte sie einen Abstecher in die Quartiere der Bediensteten – schmale, schlichte Räume, hübsch möbliert, mit kleinen Fenstern Richtung Garten – und sah nach, ob jemand etwas vergessen hatte. Das hatten sie nicht. Alle Schränke und Regale waren leer, die Betten abgezogen. Nur in Almas Zimmer hing noch ein Bild an der Wand, doch es war keine persönliche Fotografie, nur ein Bild vom Strand auf Assateague Island. Rita erkannte die Insel wegen der Wildpferde, die zwischen den Dünen grasten.
Rita ließ das Bild, wo es war, und ging zurück in die Küche. Sie nahm ihren Koffer und betrat durch den schmalen Durchgang, eigentlich für die Köchin vorgesehen, das formelle Esszimmer. Es zeigte nach Norden, daher war das Licht hier grau wie das faltige Gesicht einer alten Frau im Winter. Ganz ohne den jugendlichen, orangefarbenen Schimmer, der zwar in den Augen wehtat, doch an den Mundwinkeln zupfte. Auch hier gab es einen Kronleuchter. Anders als jener in der Eingangshalle war er schon immer elektrisch betrieben gewesen.
Rita stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Esszimmer um. Sie hatte diesen Raum noch nie gemocht. Da war ein ovaler Tisch aus Mahagoni, genau zwölf Stühle, die Wände waren bedeckt von Vitrinen mit Glasfiguren und gestickten Wandbildern. Es wirkte statisch, aufgesetzt ?– unnatürlich.
Von hier gingen vier Türen ab; die als Tapete getarnte schloss sich hinter Rita, die anderen drei führten jeweils in das Arbeitszimmer ihrer Mutter, den Wintergarten und das Wohnzimmer. Rita wählte die letzte Tür.
Das Wohnzimmer entlockte ihr einen kleinen Laut der Überraschung. Es sah anders aus als bei ihrem letzten Besuch. Selbstverständlich war da immer noch der große Kamin mit den drei Sesseln, der ausladende weiße Flügel eine Stufe über dem Parkett und die großen Bogenfenster mit dem Ausblick über die bewaldeten Hügel rund um Eden. Der Ort hatte in Ritas Augen den Namen des Paradieses verdient.
Doch die italienische Sitzgarnitur, die französische Ottomane und die deutschen Möbel waren verschwunden. Anstelle der europäischen Einzelstücke stand ein Zweisitzer-Sofa von Macy’s. Anstatt einer Vitrine gefüllt mit Kostbarkeiten von Bonnies Reisen präsentierte sich ein breiter Samsung-Fernseher.
Rita legte ihren Koffer auf das Sofa. Auf dem Kissen thronte eine handgeschriebene Notiz. Sie setzte sich, um sie zu lesen. In ihrem Herz klopfte vage Aufregung – hatte ihre Mutter diesen Zettel hinterlassen?
Ein Blick auf die Unterschrift des Verfassers ließ Ritas Hoffnungen erlöschen. Es war eine Nachricht von Alma:
Liebste Rita,
die Einrichtung des Wohnzimmers wird dich sicher ein wenig befremden. Die Angelegenheit schien mir zu unbedeutend, um sie in den Gesprächen mit dir nach dem Tod deiner Mutter zu erwähnen, und doch zu wichtig, um eine Erklärung zu verlangen. Die Neueinrichtung des Wohnzimmers kommt daher, dass Bonnie vor ihrem Tod einige Monate bettlägerig war. Im Raum stand ein großes Pflegebett, für den Fall, dass sie nicht oben im Schlafzimmer ihre Zeit verbrachte, die anderen Möbel mussten weichen. Sie befinden sich auf dem Dachboden, wir haben sie selbstredend nicht weggeworfen. Der Fernseher gehört Mr. Harper. Vielleicht kommt er mal vorbei, um ihn abzuholen. Sieh das als eine Vorwarnung.
Hochachtungsvoll,
Deine Freundin Alma May.
PS: Melde dich, falls du irgendetwas brauchst.
Ein leises Glucksen entfuhr Rita. Alma, die liebe, gute Alma. Sie war ein wundervoller Mensch, daran gab es keinen Zweifel. Rita nahm sich vor, ihr bald zu schreiben oder sie anzurufen, wenn das Haus ausgeräumt war, damit sie es sich anschauen konnte. Oder sie würde ihr einfach ein Stück Kuchen vorbeibringen; ihre Adresse und Telefonnummer standen auf der Rückseite des Zettels.
Ein dumpfes Klicken hallte durch die Wände. Rita legte den Zettel auf den Koffer und ging zurück in die Küche. Kaffee mit italienischen Bohnen – Espresso, ohne Milch, ohne Zucker. Sie balancierte die filigrane Tasse zurück in das Wohnzimmer, die weiten Wege fühlten sich allmählich wieder vertraut an. Nach ein paar Schlucken fand sie die Kraft, sich umzuziehen: Sie schlüpfte aus ihrem schwarzen Kleid und dem grauen Jackett und zog sich stattdessen eine Leggins und ein weites Oberteil über. Sie packte eine Schachtel Kekse aus ihrem Koffer aus und dann schaltete sie den Fernseher an. Sie hatte zwar eine Packung Spaghetti mitgenommen, doch sie hatte keinen Hunger und keine Kraft, um heute noch zu kochen.
Der erste Sender zeigte einen Boxkampf. Damit konnte Rita überhaupt nichts anfangen. Der zweite Sender strahlte eine Naturdoku aus – Rita sah eine Weile zu und klickte schließlich weiter. Der dritte Sender zeigte irgendeine Reality-TV-Show, doch das wollte sie sich auch nicht geben. Der vierte Sender schließlich bot eine zweitklassige Backsendung an, die Ritas Aufmerksamkeit kurzzeitig für sich gewinnen konnte. Rita nahm jede Ablenkung, die sie bekommen konnte; anderenfalls wäre sie wohl in der Trauer und dem weichen, ausgesessenen Sofa versunken.
Nachdem die Backsendung vorbei war – die Konditorin mit der kitschigsten Torte hatte gewonnen –, stieg Rita die große Treppe hinauf in das Obergeschoss.
Wenn man die Angestellten nicht mitzählte, hatten im Anwesen nie mehr als vier Menschen zugleich gelebt, dennoch gab es sechs Schlafzimmer, allesamt mit eingebautem Bad. Die Tür zu Bonnies Schlafzimmer stand einen Spalt offen. Im warmen Licht der Deckenlampen wirkten die lauernden Schatten dahinter wie Rußspuren, wie Asche, wie die Schatten eines verblassten Feuers.
Für einen Moment überlegte Rita, in das Schlafzimmer ihrer Mutter zu gehen, doch sie fühlte sich noch nicht bereit dazu. Auch von ihrem ehemaligen Kinderzimmer hielt sie Abstand und von George Harpers Raum sowieso. Ihre Wahl fiel auf das kleinste Gästezimmer, in dem einmal ihr Vater sein Arbeitszimmer gehabt hatte. Das war lang her, und der quadratische Raum mit der fliederfarbenen Tapete kam dem bescheidenen Büro, an das sie sich erinnern konnte, in keinem Fall nahe.
Rita holte das Bettzeug aus einem der versteckten Einbauschränke im Flur und bezog das Bett. Die Wäsche roch nach Lavendel; der Geruch störte sie so sehr, dass sie das Fenster sperrangelweit öffnete und den Raum trotz des kühlen Windes durchlüftete. Der Lavendel verschwand nicht vollends. Seufzend ging Rita ins Bad und nahm eine Dusche. Als sie in ein Handtuch gewickelt in das Zimmer zurückkehrte, war der Raum erfüllt von packender Kälte. Gänsehaut erfasste sie, ihre nassen Füße hinterließen feuchte Spuren auf dem Parkett. Sie schloss das Fenster und sah hinaus.
Der Garten lag in nächtlicher Stille. Die Blätter des großen Apfelbaumes schimmerten überirdisch im Licht des zunehmenden Mondes. Es waren ein paar einsame Wolkenfetzen zu sehen, doch im Grunde war die Nacht sternenklar. Der Kirschbaum im Osten stand noch nicht in der Blüte, die prallen Knospen glänzten jedoch schon knallgrün, selbst bei Nacht.
»Na ja, es ist erst März«, sagte Rita zu sich selbst, dann erschrak sie an dem Gedanken, dass sie allein in einem so großen Haus vielleicht den Verstand verlieren könnte.
Es sind nur ein paar Wochen, sagte sie sich, diesmal stumm, bald kannst du nach Hause zurück. Bald wird alles wieder, wie es war.
Nur ohne Mom.
Rita schüttelte den Kopf, um diese lauten Gedanken zu vertreiben, trocknete ihr Haar und wickelte sich in warme Decken, bis die Kälte aus ihren Adern verschwand und Platz für Schläfrigkeit machte. Sie las ein wenig in einer hübschen Ausgabe von Die Abenteuer des Tom Sawyer, die voller Risse und Eselsohren war und in welcher der Name ihres Vaters stand. Dann löschte Rita das Licht und ging schlafen.
Sie erwachte in der Stille.
Draußen sangen die Spatzen und der Wind wehte, doch im Haus war es so gespenstisch ruhig, dass Rita beim Aufwachen für einen verwirrten Moment glaubte, im Schlaf gestorben zu sein. Diese Stille war so endgültig wie sonst nur der Tod.
Rita stand auf und ging ins Bad. Sie wusch ihr Gesicht und sah im Spiegel zu, wie die unzähligen Wassertropfen ihren Weg über Stirn, Wangen und Kinn fanden. Rita fand, sie sah älter aus als noch vor drei Wochen. Irgendwie schien die Zeit noch schneller zu vergehen, seit ihre Mutter gestorben war. Ritas Lippen waren rau, egal, wie sehr sie sie befeuchtete, und ihr Augen waren traurig, egal, wie sehr sie sich an einem Lächeln versuchte.
»Schluss damit«, sagte sie schließlich, zog sich um und verließ ihr Zimmer.
Es war, als würde sie aus einem kleinen Bunker ans Tageslicht treten. Der Raum war über Nacht schleichend und unmerklich zu einer Zuflucht geworden. Er war unpersönlich genug, um sich wie ein Hotelzimmer anzufühlen. Hier erinnerte sie sich nicht an ihre Mutter, höchstens an ihren Dad, und diese Erinnerungen waren alle glücklicher Natur. Das Zimmer war klein – schlicht, nicht prunkvoll. Es war begrenzt durch vier sichere Wände. Das Fenster zeigte hinaus auf ein traumhaftes Stück Natur, ihr Paradies. Im Zimmer fühlte sie sich wohl; es ließ sie vergessen, wo sie sich befand. Das Zimmer war wie ihre eigene Kajüte auf der Titanic, die sich nicht mit Wasser füllte, niemals unterging, solang Rita nur darin blieb und die Tür geschlossen hielt.
Doch sie hatte die Tür geöffnet. Sie hatte die Tür geöffnet und auf die Flutwellen der Erinnerungen folgte der Sturm der Stille. Rita war allein in Bonnies Anwesen, in diesem gigantischen Haus, das nie einsam gewesen war, nicht vor Bonnies Tod.
Rita verstand, dass es die Stille eine neue Bewohnerin des Anwesens war. Nicht an einen Tag in ihrer Kindheit oder Jugend konnte sie sich erinnern, an dem das Innere dieses Hauses nicht von Worten, Lachen und Wärme erfüllt gewesen war. Man mochte über Bonnies protzige Lebensführung sagen, was man wollte, doch dieses Haus war immer ein Zuhause gewesen. Immer lebendig. Niemals still.
Tränen stiegen in Ritas Augen. Sie wollte zurück in ihr Zimmer gehen, zurück in ihre Zuflucht. Sie wollte sich in das Bett legen und in Dads alten Büchern lesen und sich in warme Decken wickeln, bis sie vergaß, wo sie war, bis die Welt vergaß, dass Rita Redwood jemals existiert hatte. Sie wollte mit dem Zimmer verschmelzen; sie wollte eins werden mit diesem belanglosen Raum, der sich nach Schutz und Liebe und Dad anfühlte.
Doch eine Kajüte auf der Titanic füllte sich irgendwann mit Wasser. Egal, ob man die Tür geschlossen hielt oder nicht. Irgendwann wurden die Wände gesprengt; irgendwann nahm sich der Ozean zurück, was ihm versprochen worden war. Irgendwann zog die Stille in jedes Zuhause ein.
Eine Zuflucht, erkannte Rita, war auch immer eine Illusion. Nichts hatte die Macht, sie vor dem Schmerz der Welt zu beschützen, denn nichts konnte sie vollständig und für alle Zeiten festhalten. Ritas Freiheit war ihr Fluch. Alle lebenden Dinge waren der Vergänglichkeit unterworfen.
Mit einem leisen Schluchzen trat Rita über die Schwelle.
Auf dem Weg nach unten summte sie ein Lied, um die Stille zu vertreiben. In den Wochen, in denen sie bleiben würde, um dem Haus alles zu rauben, was es zu einem Zuhause gemacht hatte, wollte sie irgendeine Musik finden, die ihr Trost schenkte. Sie wollte nicht allein Abschied von all diesen Geistern nehmen.
Nach einer Woche harter Arbeit war sich Rita sicher: Dieses Haus war der Endgegner. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ein riesiges Anwesen allein ausmisten zu wollen? Da waren so viele Räume, doch nicht nur das: Überall gab es kleine Nischen und Ecken und Gänge, die Rita glauben ließen, dass die Architekten eine Handvoll Kinder gewesen waren, die sich einen perfekten Ort zum Versteckspiel erträumten. Es mochte sein, dass das Haus unter der Obhut von Alma und den anderen Angestellten gediehen war – es jedoch aufzuräumen war ein Albtraum.
Die verwinkelte Bauweise allein wäre ein akzeptables Hindernis gewesen. Rita behauptete von sich, dass sie sich harter Arbeit nicht zu schade war. Immerhin stand sie daheim jeden Morgen um zwei Uhr auf und buk ihre Brote und Brötchen, um sie anschließend zu verkaufen und sich erst am Nachmittag hinzulegen, wenn Jude den Laden übernahm. Arbeit war ihr Alltag.
Doch all dieses Chaos war unerträglich. Es schien nichts zu geben, was Bonnie nicht besessen hatte. Gebrauchsgegenstände wie Geschirr und Bücher und Kissen, dann Prestigeobjekte wie ihre Filmplakate, die Schallplatten, ihre Trophäen und nicht zuletzt ihren Flügel mit den goldenen Unterschriften vieler Künstler, die heute als Legenden galten.
Und dann waren da all diese übrigen Dinge, deren Sinn Rita verborgen blieb. Eine Sammlung von aufgespießten Schmetterlingen – die Rita von Herzen leidtaten –, ein ganzes Regal voller russischer Matrjoschkas, nicht zuletzt die Ausstattung des Dachbodens, die Rita einen Nervenzusammenbruch bescherte. Einige Gegenstände verscherbelte sie im Internet und packte sie in Kartons ein, um sie zu verschicken. Andere Sachen, wie zum Beispiel die eintausend Krawatten, die sie im Schrank eines Gästezimmers fand, gab sie einer lokalen Kleiderspende. Bezüglich des Flügels fragte sie bei einigen Konzerthallen und Museen an, ob sie Interesse daran hätten, doch niemand hatte bisher geantwortet – sie glaubten wahrscheinlich, dass es nur ein Scherz sei. Die meisten Dinge warf Rita weg. Aller zwei Tage fuhr sie von Eden nach Princess Anne, um sie zu entsorgen. Sie gab einige alte Möbel an ein Pflegeheim, deren Bewohner sich sehr darüber freuten.
Schon jetzt, nach der ersten Woche, wusste Rita, dass ein knapper Monat nicht ausreichen würde, um das Haus auszuräumen. Sie bräuchte mindestens die doppelte Zeit, wenn nicht dreifach so lang.
Natürlich hätte Rita eine Räumungsfirma beauftragen können. Genug Geld geerbt hatte sie zweifelsohne. Doch irgendetwas an dem Gedanken widerstrebte ihr. Sie wollte nicht, dass Fremde das Anwesen betraten. Sie sagte sich, es liege daran, dass sie selbst entscheiden wollte, was mit besagten Dingen geschah. Wenn sie jedoch ehrlich war, lag es weniger an den Dingen, als an dem Gebäude selbst.
Nun, da ihre Mutter tot war, spürte Rita ein merkwürdiges Pflichtbewusstsein ihrem Vermächtnis gegenüber. In der Welt, die Bonnie geliebt und gehasst und gebraucht und ausgenutzt und umschwärmt und weggestoßen hatte, war dieses Anwesen ihr Rückzugsort gewesen, ihr Heimathafen. Das Anwesen hatte für Rita etwas Magisches an sich, etwas Heiliges. Sie musste die Zuflucht Bonnies vor dem Sog des Vergessens beschützen. Auch wenn ihre Mutter nicht mehr da war, die Seele dieses Zuhauses lebte weiter in diesen alten Tapeten, in den Mosaiken und Fenstern und Kronleuchtern. Als Bonnies Tochter war es Ritas Aufgabe, das Anwesen zu beschützen, zu pflegen und zu trösten. Denn mit der weinenden Veranda und dem kalten Marmor und der ewigen Stille schien es ebenso um Bonnie zu trauern, wie Rita es tat.
Es war acht Tage nach Ritas Ankunft im Anwesen und genau einen Monat nach Bonnies Tod, als sie die Kiste fand.
Rita hatte lang gezögert, das alte Schlafzimmer ihrer Mutter zu betreten. In ihren letzten Wochen hatte Bonnie im Wohnzimmer auf dem Pflegebett geschlafen. Hier war sie nicht gestorben, hier hatte sie nur in all den Jahren die Nächte verbracht. Doch Rita … Rita wusste nicht, weshalb, doch sie fürchtete sich vor diesem Raum.
So stand sie auf der Schwelle und pfiff vor sich hin, um die Stille zu besiegen und ihren Mut zusammenzuraufen. Ein Schlaflied geisterte in ihrem Kopf. Ihre Mutter hatte es ihr immer vorgesungen, als sie klein gewesen war.
»My little, little, little star. Sleep, soft sleep, your dreams aren’t far. If the dark is scaring you, just call. My little, little, little star. Mommy’s always here to call, never far.«
Sie stieß die Tür auf. Von allen Räumen des Hauses war das Mobiliar in Bonnies Schlafzimmer das älteste. Da waren Bilderrahmen an den verblümten Tapetenwänden; da waren kleine Beistelltischchen mit fleckigen Spiegeln, vornehmen Puderschachteln und Schmuckkästchen. Der Teppichboden war abgetreten von den Tanzschritten des Lebens. Die schweren Vorhänge zogen all das Licht in ihre Umarmung und ließen nur einen kleinen Schimmer entfliehen. Hier drinnen roch es so unendlich sehr nach Bonnies Parfüm, dass Rita jeden anderen Geruch auf der Welt vergaß. Doch nirgends stand ein Fläschchen mit dem Duft. Selbstverständlich nahm das altrosafarbene Bett den gesamten Raum ein. Rita versuchte, es nicht anzusehen. Auf dem Beistelltisch stand eine Vase mit vertrockneten Rosen.
Langsam trat sie näher.
»My little, little, little star …«, sang sie, mit jedem Wort versagte ihre Stimme weiter.
Die Erinnerung war kein rauschender Blitz einer Kamera, die einen lachenden Moment in regenbogenfarbener Ewigkeit einfing. Nein, sie schlich sich leise an, mit der ausklingenden Melodie des Schlafliedes, dem Ende einer Familie. Zuerst waren es Schemen, dann Schatten, dann detaillierte Gestalten, dann Figuren – und schließlich stand Rita wie angewurzelt da. Auf dem Bett umarmte eine Mutter ihre Tochter. Unter weichen Decken hielt eine junge Bonnie eine winzige Rita an sich gedrückt.
»Mommy’s always here to call, never far«, sang Bonnie, strich über die Stirn der kleinen, schlafenden Rita. Sie sah auf und lächelte ihre erwachsene Tochter an.
Mit einem schnappenden Einatmen riss sich Rita selbst in die Realität zurück. Sie stolperte einige Schritte nach hinten.
Oh Gott, das hatte sich so echt angefühlt. Was, wenn sie wahnsinnig wurde? War das eine Halluzination gewesen oder nur eine Blitzlichterinnerung? Hatte sie Wahnvorstellungen? Verlor Rita ihren Verstand?
Für eine Weile stand sie schwer atmend in der Mitte des Raumes. Sie war unsagbar angespannt. Doch das Bett war nur ein Bett, niemand lag darin, die Decke lag fein säuberlich auf der Matratze, die Kissen waren drapiert wie schon vor zwanzig Jahren.
Mit schnellen Schritten ging Rita zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite, riss es auf.
Licht. Wahres, reines Sonnenlicht. Frühlingsduft. Ein sachter Wind, der das Parfüm ihrer Mutter mit sich nahm. Vogelgezwitscher. Die Spatzen hüpften im Kastanienbaum vor dem Fenster. Rita lehnte sich hinaus, blickte auf den Garten herab: Auf den algengeplagten, von Immergrün illuminierten Teich, die Rosenbüsche in der Farbe von süßen Küssen, den Wintergarten mit seinen zarten, zierlichen Fenstern.
Sie drehte sich um. Bei Tageslicht wirkte das Rosa des Zimmers gedämpfter. Die Tapete hatte die Farbe von Pfirsich, der Teppich jene von frischen Erdbeeren im Juni.
Es war ein Raum. Ein Raum ohne Bewohnerin, ohne Geister. Ein toter Raum. Ein Raum wie die anderen, die sie ausräumen und dann verkaufen würde, damit er sich einmal mehr mit neuem Leben füllte.
Rita zog die weiße Strickjacke enger um sich. Sie ging zum Bett und legte eine Hand auf die bestickte Tagesdecke. Plötzlich fragte sie sich verzweifelt, ob ihre Mutter vor ihrem Tod glücklich gewesen war.
Da hingen zwei Fotos über dem Bett. Ein Mann mit ihrer Mutter, als sie jung waren, er im Anzug, Bonnie im Brautkleid. Es war nicht ihr Vater; es war jemand anderes. Doch Rita kannte nicht einmal seinen Namen. Das andere Foto zeigte ihre Mutter neben Marilyn Monroe, beide lachten feixend, wie man es nur von Fotografien aus den 50ern kannte. Rita wusste nichts von den Umständen um die Entstehung des Bildes. Bonnie hatte nie von Marilyn Monroe erzählt. Wer erzählte nicht von berühmten Leuten, die er kannte? Ihre Mutter. Nicht ein Wort über ihren Beruf hatte sie je gegenüber Rita verloren. Alles, was sie über das Leben ihrer Mutter wusste, stammte aus Radiosendungen, Fernsehinterviews und Magazinen. Vielleicht noch von ihrem Vater, aber nichts weiter. Nichts von ihr. Nichts von Bonnie selbst.
Die Wut kam wie ein Tsunami. Ohne Vorwarnung krachte sie in Ritas Körper, ließ sie vornüberbeugend nach Luft schnappen. Blinder Zorn fraß sich wie Säure in ihren Ozean der Trauer.
Rita trat mit dem Fuß gegen den Bettpfosten. Hart. Es tat weh, so weh, doch das war egal – das alte Bett wackelte, ein schwerer Gegenstand rutschte über den Boden, und Ritas Wut verpuffte.
Sie packte den Bettpfosten und hielt ihn fest, strich darüber, wie um sich zu entschuldigen.
»Nichts passiert«, sagte sie, »nichts passiert …«
Erschöpft schleppte sich Rita zur Tür. Sie würde sich des Schlafzimmers morgen annehmen. Es gab genug Arbeit im Rest des Hauses.
Als sie die Tür schließen wollte, drehte sie sich ein letztes Mal zum Zimmer um.
Eine schwere Holzkiste lugte unter dem Bett ihrer Mutter hervor. Rita spürte, wie ihr Herzschlag wieder ansprang; als sei das wichtigste Organ ihres Körpers nur ein streikender Motor, der im Winter gegen den Frost zu kämpfen hatte.
Mit schweren Schritten näherte sie sich dem Bett und hielt sich erneut am Bettpfosten fest, beugte sich nach unten.
Die Kiste war aus dunklem Holz gefertigt. Sie war nicht verschlossen, sodass sie den schweren Deckel einfach anheben konnte.
Ihr Herz und die Zeit schienen stehen zu bleiben, als sie den Inhalt der Kiste erblickte: Ein dicker Stapel von Briefen, zusammengebunden von einer Schnur, und obenauf eine Notiz. Ein grünes Papier, darauf in sommerblauer Tinte eine Schrift, die Rita vertraut war.
Ein Stich erfasste ihre Lungen. Sie vergaß, zu atmen.
In der Schrift ihrer Mutter stand auf dem Papier:
Briefe an alle, die ich jemals liebte.
– B.E. Beverley, Februar 2003.
Rita versuchte, nicht die Kontrolle zu verlieren.
Sie nahm die Kiste. Sie trug die Kiste nach unten und stellte sie auf dem Tisch im Wohnzimmer ab. Sie sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr abends; Zeit fürs Abendessen. Sie kochte sich Reis und Mango-Curry. Ein Rezept, dass sie sich auf einer Reise nach Südostasien angeeignet hatte. Sie nahm die Schüssel mit nach draußen in den Wintergarten.
Rita setzte sich auf einen der weißen, zerbrechlichen Stühle und aß, während die Sonne unterging und sich die Spatzen in ihre Nester verzogen. Das Gold verblasste, dann leuchtete das Violett, und schließlich blieb nur das Blau eines verwehten Tages.
Dann ging sie wieder nach drinnen. Sie setzte sich auf das Sofa. Sie sah die Kiste an, sie las noch einmal die Notiz. Sie löste die Schnur und sah sich den ersten Brief an.
Für Eve Karin Beverley, meine geliebte Mutter, stand darauf. Das Papier war schwer. Sie drehte den Brief. Er war versiegelt.
Der nächste Brief war an Mr. Denvers gerichtet, wer auch immer das war. Vielleicht ein Liebhaber?
Da war ein Stapel voller Briefe. Sie waren adressiert an verschiedene Menschen. Doch Rita sah sie nicht durch. Nein, sie las keine weiteren Namen. Sie öffnete keine Siegel. Sie legte die Briefe wieder zurück in die Kiste.
Nirgends stand eine Nachricht ihrer Mutter, von wegen, dass die Briefe geheim seien. Sie hatte sie höchstwahrscheinlich geschrieben, damit sie gelesen wurden. Doch nicht von Rita. Nicht von Rita – von diesen anderen Menschen. Sie könnte die Kiste durchsuchen nach einem Brief, der an sie adressiert war – doch als sie ihre Hände ausstreckte, zitterten sie wie Espenlaub. Rita schien an ihrem eigenen Atem zu ersticken.
Was, wenn da kein Brief für sie war? Was, wenn dort nur Briefe an andere Leute waren, andere Leute, die Bonnie geliebt hatte? Verdammt, ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass sie Rita liebte, früher, als sie klein gewesen war. Oder war das nur eine falsche Erinnerung, ein verzweifelter Wunsch?
Nein. Die meisten Eltern liebten ihre Kinder, oder nicht? Ein Brief für sie sollte dabei sein. Doch was, wenn nicht? Was, wenn Rita tatsächlich nichts über Bonnie wusste, noch nicht einmal, ob sie sie geliebt hatte?
Rita lehnte sich zurück in das Sofa, ihre Hände so schweißnass, dass sie diese an ihrer Bluse abwischen musste. Nein, das war zu viel. Diese Kiste … Sie war eine gemeine Wendung des Schicksals. Wenn Rita nur wüsste, was zu tun wäre! Wenn nur Bonnie hier wäre, um alles zu erklären!
Rita lehnte sich nach vorn. Dann band sie die Schnur wieder um die Briefe und steckte sie zurück in die Kiste. Sie stellte sie unter den Tisch. Aus den Augen, aus dem Sinn. Machte man das nicht so?
Sie schaltete den Fernseher an, suchte nicht einmal nach einem interessanten Kanal. Stattdessen sah sie sich einen stumpfsinnigen Boxkampf an, bis einer der Männer bewusstlos am Boden lag und die anderen feierten.
Rita saß auf dem Sofa, umarmte ein Kissen und wünschte sich nichts als einen einzigen weiteren Moment mit ihrer Mutter.
Rita hielt es einen Tag aus, dann holte sie die Kiste wieder hervor.
Es war später Nachmittag. Das papierfarbene Sonnenlicht malte die weichen Schatten der Bäume an die gegenüberliegende Wand des Tanzsaals.
Rita hatte eine Stunde damit verbracht, das Parkett zu schrubben. Der Saal war der größte Raum in Eden und dennoch jener, der ihr am wenigsten Arbeit machte. Den riesigen Kronleuchter und die Discokugel daneben würde sie verkaufen; die Musikinstrumente auf der kleinen Bühne würde am nächsten Freitag ein Musikstudio aus Baltimore abholen. Ansonsten war der Saal leer; die Wände waren von Säulen und Spiegeln geschmückt, die Decke zeigte ein romantisches Gemälde voller Engel und Frauen in bunten Gewändern. Der Saal war das Herzstück von Bonnies berüchtigten Feiern gewesen.
Der Saal befand sich nicht im Anwesen, sondern in einem anderen Gebäude. Während das Anwesen selbst im Viktorianischen Stil erbaut worden war, deutete der Saal klar auf Klassizismus hin. Die Fassade draußen war weiß und der Eingang war von antiken Säulen getragen. Durch die hohen Fenster hatte man einen Blick hinaus auf den See und das Anwesen. Rita konnte sogar das Fenster ihres ausgewählten Gästezimmers erkennen, nicht unweit vom Schlafzimmer ihrer Mutter.
Rita sah sich im Tanzsaal um. Der Boden glänzte wie die glasklare Oberfläche eines Teiches, in dem man Sterne angeln konnte.
Sie hatte die Kiste durch den Garten hierher getragen und sie in die Mitte des Saales gestellt. Zuerst war sie mit der Kiste auf dem Weg zu den Mülltonnen abseits des Grundstückes gewesen, und dann war sie abgebogen, da sie es nicht über das Herz brachte.
Nun stand die Kiste auf dem strahlenden Parkett. Rita spürte einen Funken von Angst in ihrem Herzen. Was, wenn sie sie öffnete und sie leer war? Was, wenn sie einmal die Chance gehabt hatte, die Briefe zu lesen, sie nicht ergriffen hatte – und für immer verloren hatte?
Rita wusste, dass diese Gedanken irrational waren. Vielleicht wäre es alles leichter, wenn Briefe einfach so verschwinden konnten. Sie befand sich in einer echten Zwickmühle. Wenn ihre Mutter nicht gewollt hatte, dass sie gelesen wurden, weshalb hätte sie die Briefe geschrieben und aufbewahrt? Gleichzeitig waren es nicht Ritas Augen, für die sie bestimmt waren. Doch der erste Brief war an Eve gerichtet. Sie war seit vierzig Jahren tot. Jemand sollte ihn lesen. Jemand sollte ihn dennoch lesen. Oder nicht? Rita wollte ihn lesen. Sie wollte wissen, welche Worte ihre Mom für ihre Großmutter gehabt hatte.
Doch war es das Richtige? Hinterging sie nicht Bonnie, wenn sie dieses Siegel brach?
Rita entschied sich, den Wischmopp und das dreckige Wasser zuerst aus dem Saal zu bringen. Sie brachte den Wischmopp zurück in das Anwesen. Das dreckige Wasser kippte sie im Abfluss der Küche aus. Sie zog sich um; beim Putzen hatte sie geschwitzt. Dann ging sie zurück zum Tanzsaal, stieg acht Stufen hinauf zu dem Eingang und kehrte zu der Kiste zurück.
Fast hätte sie geglaubt, dass sie verschwunden war. Doch die Kiste stand da. Und niemand war hier, um sie aufzuhalten.
Sie zog den ersten Brief heraus. Für Eve Karin Beverley, meine geliebte Mutter.
Sie löste das Siegel und ließ sich auf dem Boden nieder. Das Parkett war nicht so kalt wie der Marmor in der Eingangshalle. Das warme Licht fiel durch die Fenster. Durch die offene Tür klang Vogelgezwitscher.
Für einen Moment schloss sie die Augen und ließ zu, dass der Frieden der Natur sie beruhigte. Dann öffnete sie ihre Augen wieder, die Aufregung etwas abgeschwächt.
Rita zog das Papier aus dem Briefumschlag und begann zu lesen.
* * *
Eden, 20. August 2002
Liebe Mutter,
an deinem einunddreißigsten Todestag habe ich Rosen auf dein Grab gelegt. Es hat mich große Überwindung gekostet, dich nach so langer Zeit wieder zu besuchen.
Wie du weißt, habe ich mich vor Friedhöfen immer gegruselt. Vielleicht aus dem Grund, dass wir früher so oft auf Beerdigungen waren. Ich habe es immer noch im Kopf: Die dunkle Kleidung, die Gedächtnisrede des Rabbiners, die Kria am Grab. Wir haben unsere Gewänder eingerissen, um unsere Trauer auszudrücken. Dann haben wir gemeinsam das Grab zugeschüttet. Dann haben wir das Kaddisch gesprochen und nach dem Trostspalier haben wir den Friedhof verlassen. Immer auf einem anderen Wege als jenem, auf dem wir zum Grab gekommen sind. Wir haben unsere Hände gewaschen und sind endlich nach Hause gegangen. Es gab etwas zu essen. Und dann haben wir getrauert. Es war immer dasselbe: Und es geschah so häufig. Irgendwie machte es mir Angst.
Auf eine Weise habe ich diese jüdischen Bestattungen dennoch geliebt. Da ist etwas Tröstliches in dieser Ordnung, dieser Struktur, diesem Rhythmus, der für alle gleich ist, egal, wer sie in ihrem Leben waren. Alle anderen Beerdigungen, auf denen ich war, jene der anderen Konfessionen und der Konfessionslosen, schienen unvollkommen ohne jene Gebete, die mir nahe sind. Ich weiß nicht, wie du Vaters Beerdigung gefunden hast. Sie war wohl weniger traditionell, ebenso wie eure Hochzeit vier Jahre vorher. Immerhin war er nie so gläubig wie du. Eigentlich war er überhaupt nicht jüdisch. Ich glaube, das hat der Gemeinde nicht gefallen; aber immerhin war ich erst drei, als er starb. Ich kann es also nicht wissen. Und es war 1940: Das jüdische Volk hatte andere Sorgen als eine Mischehe irgendwo im Hinterland von Washington D. C.. Unsere Brüder und Schwestern in Europa haben zur selben Zeit den Holocaust erlebt. Ich war zu jung, um zu verstehen, doch du hast es verstanden. Es tut mir leid, dass du bei dem Völkermord in deiner alten Heimat hilflos zusehen musstest.
Eigentlich wollte ich dir von den Rosen und deinem Grab erzählen. Die Rosen waren rot und orange, ich habe drei Sträuße gekauft. Ich bin schon früh morgens von Eden nach Washington gefahren. Ich glaube, ich bin alt geworden. Der ganze Verkehr hat mich so erschöpft. Als ich auf dem Parkplatz stand, hätte ich am liebsten einfach ein Nickerchen im Auto gemacht. Doch ich war nicht den gesamten Weg gefahren, um zu schlafen. Also bin ich ausgestiegen, habe die Rosen mitgenommen und bin auf den Friedhof gegangen.
Es war ein heißer Tag. Es war ein heißer Monat gewesen – das Gras war gelb gebrannt und der Himmel war so blass, als würde er auf eine besonders hübsche Frau herabsehen, die ihm den Atem nahm. Nun, das war wohl nicht ich. In letzter Zeit scheine ich jeden Morgen mit einer neuen Falte aufzuwachen, immer wieder finde ich neue Altersflecken auf meinen Händen. Die Adern stechen heraus, die Augen werden schwächer. Ich bin jetzt ein Jahr älter, als du es geworden bist. Wäre der Unfall nicht gewesen, hättest du sicher noch lange Zeit weitergelebt.
Vielleicht wärst du noch immer an meiner Seite.
Jedenfalls weiß ich, ich bin nicht die schönste Frau unter dem Himmel. Nicht mehr. Ich zog das Tuch enger über mein Haar, um mich vor der Sonne zu schützen, und setzte die Sonnenbrille aus Respekt ab. Sie haben viele Kiefern dort, die die schmalen Wege säumen, leider spenden sie wenig Schatten. Aber sie geben der Welt Grün, selbst im Winter. Die anderen beschweren sich über die Hitze oder die Trockenheit, doch ich bin dankbar für jeden Sommer, den ich erleben darf. Dein früher Tod, Mutter, hat mich Achtung vor dem Leben gelehrt.
Ich fürchte mich vor Friedhöfen, das ist wahr. Doch das heißt nicht, dass ich ihre Schönheit nicht erkennen kann. An diesem Tag, in der brütenden Mittagshitze, war ich auf dem hebräischen Friedhof in D.C. allein. Doch es war hell. Diese sanften Hügel mit den ungleichen Grabsteinen fühlen sich vertraut an. Es ist gut, dass du mich damals auf die Beerdigungen mitgenommen hast. Schon als Kind habe ich gelernt, die Angst vor dem Tod abzulegen.
Nur das Sterben, Mom. Vor dem Sterben habe ich Angst.
Ich habe nie gedacht, dass ich einmal hier sitzen werde, in meinem Garten, der mein Paradies ist, den ich selbst erschaffen habe – und einen Brief schreiben werde. Es ist ein Abschiedsbrief, auf eine Weise. Auch wenn du vor so langer Zeit gegangen bist und ich nun eigentlich nichts anderes tue, als dir zu folgen. Ich will es dir erklären. Du kannst dies nicht mehr lesen. Aber ich möchte es dennoch erklären, in der Hoffnung, dass du es irgendwie erfährst: An dem Tag, an dem mein Leben zusammenbrach, habe ich nur an dich gedacht.
Als ich auf dem Friedhof war, Mom, legte ich die Rosen auf das Grab. Ich habe mit dir gesprochen und gebetet. Dann bin ich in die Synagoge gegangen, die am anderen Ende der Stadt liegt. Die Fahrt hat lang gedauert, meine Augen konnten nicht offenbleiben, doch ich habe es nicht bereut. Es hat sich wie ein Stück zu Hause angefühlt, auch nach all dieser Zeit. Du hast mir das Geschenk deines Glaubens gemacht; ich habe mein Leben lang damit verbracht, es abzulehnen, doch in diesem Moment war ich zu schwach, um abzuweisen, was mir der größte Trost war.
Es war dort in der Synagoge, Mom. Der Rabbiner hatte gerade den Gottesdienst beendet. Ich habe mich aufgerichtet, bin aufgestanden von der gnädigen Bank – und dann war alles schwarz.
So oft habe ich in Filmen mitgespielt, in denen ich ohnmächtig zusammensank. In den Filmen bin ich dann nach einer Weile immer wieder hysterisch in den Armen eines gut aussehenden Gentlemans zu mir gekommen. Das ist mir leider in der Realität nicht passiert. Ich war erst wieder wach im Krankenhaus, wo sie mir sagten, dass ich einen Tumor im Gehirn habe. Er sei inoperabel. Er wucherte; und sie gaben mir genau ein Jahr.
Ein Jahr, Mom. Ein Jahr, und ich bin erst 65 Jahre alt. Es fühlt sich falsch an, so falsch. Ich weiß, das Leben ist nicht gerecht. Jüngere und bessere Seelen haben schon mehr gelitten als ich. Ich weiß, ich habe einige Fehler gemacht, für die Gott mich bestrafen sollte. Doch ich habe ein gutes Herz. Ja, das denke ich wirklich. Ich habe nie jemanden absichtlich Schaden zugefügt. Ich habe nie versucht, auf unehrliche Weise an Geld oder Berühmtheit zu gelangen. Ich denke, ich habe mein Leben gut gelebt, wenn auch immer in der selbstbewussten Gewissheit, dass ein Teil von mir ewig sein würde, nur wegen des Erfolges.
Jetzt weiß ich es besser. Niemand kann der Vergessenheit entkommen, selbst Sterne in den Seiten der Geschichtsbücher nicht. Ich war arrogant zu glauben, dass sich jemand an mich erinnern wird.
Ich schreibe dir nicht, weil ich denke, dass du dies lesen wirst. Ich denke, du bist tot, und wir werden tot sein bis zum Tag der Auferstehung, wenn wir alle gemeinsam im goldenen Licht nach Israel wandern. Falls das geschehen wird, mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Ich schreibe dir, weil du die Quelle meines Trostes warst und immer sein wirst. Siehst du die verschwommene Tinte auf diesen Seiten? Ich weine, und dann kommt der Regen. Ich fliehe in meinen Wintergarten. Mitten im Sommer.
Der Sommerregen ist so kurz. Eine Erfrischung nach all den heißen Strapazen.
Ich weiß, ich sollte trauern, um das Leben, dass ich aufgeben muss wegen einer tragischen Wendung des Schicksals. Und während ich traurig bin, fühle ich mich nicht wie eine Sterbende. Ja, ich habe Angst, schreckliche Angst – deshalb muss ich dir schreiben, Mom, deshalb brauche ich eigentlich deine Hand, die meine hält –, doch ich habe das Leben nicht aufgegeben. Ich werde es nie aufgeben.
Ich möchte im Regen tanzen wie ein Kind. Ich fühle mich frei in diesem Sommer, Mom. Ich fühle mich so frei und unbeschwert. Noch geht es mir gut. Manchmal bin ich müde, so müde, und dann lege ich mich auf den Liegestuhl in den Garten und drifte in einen Schlaf, in dem ich Angst habe, zu sterben. Doch wenn ich aufwache, fühle ich mich erholt. Wie der Himmel nach einem Wolkenbruch. Die Sonne kehrt immer zurück.
Jetzt muss ich an die Tage denken, die vielen ungezählten Tage, die schönsten Blüten auf dem Blumenbeet meiner Erinnerungen. Ich bin in einer schlimmen Zeit geboren, ich weiß, doch du hast mir eine schöne Kindheit geschenkt. Ich weiß noch, wie wir gemeinsam am Wochenende Pfirsiche pflücken gingen. Erst am Anacostia River, als wir jedes Wochenende in Washington verbrachten, und dann in unserem eigenen Garten, als wir Eden fanden.
Du hast mir Eden gegeben, Mom. Ich werde für immer dankbar sein für den Tag, als du mich, diese stoische 16-Jährige, in dieses Anwesen geführt hast. Ich muss nicht erwähnen, dass ich verzaubert war. Du hast es gesehen.
Es ist mein Zuhause geworden. Ich vermisse die Tage, in denen du noch hier lebtest, bei mir. Später auch mit Giron in den beiden westlichen Zimmern. Weißt du, ich habe ihn immer sehr gemocht. Er hatte einen ruhigen Charakter. Manchmal habe ich mir vorgestellt, dass er mein Vater wäre. Es war nicht schwer, wenn ich euch draußen im Garten arbeiten gesehen habe. Unter breiten Hüten habt ihr alte Schaufeln in die Erde gestemmt. Mit seiner runzligen Nase und den netten Augen habe ich Giron auch von Weitem immer gut erkannt. Manchmal habe ich ihm zugewunken, wenn ich mit den Mädchen am Teich Tee getrunken habe oder mit meinen Gästen oben in den Zimmern zusammensaß. Er hat mich immer angelächelt.
Wenn ich auf mein Leben zurücksehe, gibt es vieles, über das ich sehr glücklich bin. Doch es gibt auch einige Schmerzen, die noch immer anhalten. Als das Schiff 1968 untergegangen ist, mit dir und Giron und zwei Dutzend Fremden, hat es mir das Herz gebrochen. Ich weiß nicht, ob du weißt, wie sehr mich dein Tod verändert hat. Sie haben mir die Gewänder bis zum Herz eingerissen, und ich habe mir die Hände länger gewaschen, als ich sollte, und wenn ich an Beerdigungen denke, dann weiß ich, dass deine die schönste und die schrecklichste war. Giron war im Gegensatz zu Dad gläubiger Jude. Sie haben dich aber neben Dad beerdigt, weil Giron und du nie verheiratet gewesen seid. Aber keine Sorge, Giron ist auf demselben Friedhof, in der Nähe. Ich habe ihn an diesen Tag auch besucht. Die roten Rosen waren für dich und Dad, die orangefarbenen für ihn.
Dir hätte die Zeremonie gefallen. Der Rabbiner hat einige schöne Worte gesagt, und die Leute haben gebetet. Sie haben nicht nur so getan, wie sie es zu oft auf Beerdigungen tun, sondern sie haben richtig gebetet. Es war ein wunderschöner Sommertag. Der Wind hat die Hitze genommen, die Wolken haben die Saiten des Sonnenlichts in allen Farben gespielt. Es war, als wäre Gott da gewesen, ich weiß es noch genau. Auf eine Weise war es wunderschön.
Ich habe dich mein halbes Leben lang gehabt und mein halbes Leben lang vermisst. Vielleicht ist das diese Art von Gerechtigkeit, die die Leute nicht verstehen. Sie glauben an keinen Gott, weil er ihnen alles Geliebte nimmt. Sie vergessen, dass alles Geliebte nur existiert, weil er es uns schenkt.
Es ist ein Geschenk, deine Tochter zu sein. Du bist tot, doch ich bin noch immer deine Tochter, genauso, wie du noch immer meine Mutter gewesen wärst, wäre ich eher gestorben. Irgendwann kommt der Tag, an dem sich niemand mehr an uns beide erinnert. Doch ich sitze hier in meinem Garten, in meinem Eden, und ich denke an dich. Kannst du glauben, dass ich es all die Jahre geschafft habe, deine Stimme und deine Umarmungen und dein Lachen nicht zu vergessen? Ich habe mich einfach jeden Tag daran erinnert, habe die Bilder angesehen. Egal, wie sehr es wehtut, du bist es immer wert, die Vergangenheit zu erhalten. Du bist die schönste Erinnerung, die ich besitze.
Ich hoffe, ich bin meiner eigenen Tochter wenigstens eine halb so gute Mutter gewesen wie du mir gewesen bist. Rita scheint so weit weg, vor allem jetzt, da sie in London lebt. Sie ist Bäckerin, sie hat ihre eigene Bäckerei. Sie arbeitet sehr hart, Mom, du solltest sie sehen. Ich bin stolz auf sie und doch schmerzt es mich so unendlich sehr, sie so weit weg von mir zu wissen. (Aber sind wir ehrlich: England hat gutes Essen bitter nötig. Es ist gut, dass sie dort ist.)
Als ich ihr von dem Tumor erzählte, war sie erst sehr still, und dann hat sie mich gefragt, ob ich will, dass sie hier her fliegt. Ich habe Nein gesagt, ich habe gelacht und ihr erklärt, weshalb sie es nicht tun sollte. Dann hat sie begonnen, zu weinen und hat sich entschuldigt, und ich weiß immer noch nicht genau, wofür.
Sie stand vor ein paar Tagen vor meiner Tür. Mit roten Rosen in der Hand und einem Lächeln voller Tränen. Sie blieb fünf Tage und dann schickte ich sie nach Hause. Ich umarmte sie. Es ist wohl das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, doch ich bereue nicht, sie zurück in ihr eigenes Leben gelassen zu haben. Es ist nicht gerecht, sie festzuhalten, wenn ich weiß, dass ich nur zu bald loslassen muss.
Ihre Rosen verwelken in meiner Vase, doch ich klammere mich an jedes Blütenblatt.
Es gibt so viel zu sagen. Doch ich bin müde, Mom. Ich werde zu Bett gehen. Ich weiß nie, wenn ich schlafe, ob es die Nacht sein wird, in der es so weit ist. Deshalb stelle ich sicher, niemals traurig einzuschlafen. Ich habe einen glücklichen Gedanken, einen einzigen, der mir immer ein Lächeln auf das Gesicht zaubert. Ich denke, du weißt, was ich meine.
Danke für all die Liebe, die du mir gegeben hast. Ich stehe in deiner Schuld. Deine Zuneigung für mich hat alles überstiegen, was ich je kannte. Ich kann nichts anderes, als versuchen, sie so gut wie möglich zurückzugeben.
An Abenden wie diesen spüre ich deine Liebe, wie sie sich so eng an mein Herz schmiegt und mich für immer in Sicherheit wiegt. Ich hoffe, du spürst meine Liebe ebenso. Wo auch immer du bist, bitte warte auf mich.
In Liebe,
Bonnie Eve.
* * *
Rita stürzte in Bonnies Schlafzimmer.
Der Brief lag noch in ihren Händen. Sie hielt die vier Seiten, vorn und hinten beschrieben, eng an ihre Brust gedrückt. Auf eine Weise war der Brief genau der Trost gewesen, den sie gebraucht hatte.
Dennoch befand sich Rita in heller Aufregung. Ihre Mutter hatte von Rosen geschrieben, verwelkten Rosen – und sie standen hier auf ihrem Nachttisch.
Rita berührte den herunterhängenden Blütenkopf der größten Rose. Die Blütenblätter, die einst rosarot gewesen waren, zeigten sich nun in einem tiefen Violett, an den Rändern schwarz gefärbt. Sie war auf einen Bruchteil ihrer einstigen Größe geschrumpft. Die grünen Blätter waren braun geworden. Als sie die Rose berührte, lösten sich einige Blütenblätter und schwebten zu Boden.
Rita konnte sich gut an den Tag erinnern, an dem sie ihrer Mutter die Rosen gegeben hatte. Sie war von London nach Washington D.C. geflogen, nachdem sie die Nachricht von Bonnies Krankheit bekommen hatte. Sie hatte die Blumen in Salisbury auf dem Weg gekauft. Sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Blumen schienen ihr wie ein verzweifelter Ausweg, ein Ersatz für eine wirklich bedeutsame Geste: Mit ihnen feierte man das Leben und die Liebe und betrauerte den Tod und Abschiede. Sie sagten, was man ungesagt ließ.
Als sie die verblühten Rosen ansah, spürte Rita Dankbarkeit. Sie hatte nicht über die Rosen nachgedacht, nur über ihre Mutter. Doch ihr hatten die Blumen etwas bedeutet.
Und, oh Gott, Rita hatte ihr etwas bedeutet. Mit Tränen in den Augen sah sie herab auf den Brief, auf den Abschnitt, in dem Bonnie geschrieben hatte: Sie arbeitet sehr hart, Mom, du solltest sie sehen. Ich bin stolz auf sie und doch schmerzt es mich so unendlich sehr, sie so weit weg von mir zu wissen.
Die Trauer stach so überwältigend in Ritas Herz, dass sie sich auf dem Bett abstützen musste, um nicht zusammenzubrechen. War dies der Beweis, nach dem sie gesucht hatte? Genügte dieser Brief?
Rita wischte sich vehement über die Augen. Der Brief hatte sie berührt, doch er hatte ihr auch einen tiefen Stich versetzt. Bonnie und ihre Mutter schienen eine perfekte Beziehung gehabt zu haben. Sie waren glücklich gewesen. Bonnie hatte gesagt: Deine Zuneigung für mich hat alles überstiegen, was ich je kannte.
Hatte Eve Bonnie mehr geliebt als Bonnie Rita?
Rita klammerte sich an die Kissen, als sie weinte, und erst nach einer sehr langen Zeit ging sie in den Garten, um die Vase mit den Rosen in den Teich zu schütten. Die verwelkten Blütenköpfe schwammen auf der grünen Wasseroberfläche. Eine misslungene Kopie von Seerosen.
Abends lag Rita in ihrem Bett, der Brief auf ihrem Kopfkissen, und überlegte, was Bonnies glücklichster Gedanke gewesen sein könnte.
Die Nacht ließ Rita schwitzend und schlaflos vor ihren Träumen fliehend zurück.
Es war zwei Uhr. Zu früh für die Vögel, um ihre Lieder zu singen, und zu früh für das Licht, um den Horizont zu küssen. Rita hatte sich in einen Bademantel gewickelt und streifte durch das taunasse Gras im Garten.
Die große Eingangstür verursachte keinen einzigen Laut, als Rita sie aufdrückte. Mondlicht strömte durch die hohen Fenster des Saales. Nachtwind waberte zwischen den nebelweißen Vorhängen. Es war, als würden Geister über die Wände tanzen.
Die Kiste stand in der Mitte des Raumes.
Mit zittrigen Schritten lief sie darauf zu. Sie holte den nächsten Brief heraus und zögerte.
Sie war müde, so müde, sie sollte einfach wieder ins Bett gehen. Diese verfluchten Briefe. Diese wunderbaren Geschenke, die so wehtaten. Sie sollte einfach wieder ins Bett gehen. Sie sollte keinen Brief lesen, der nicht an sie gerichtet war.
Schlechtes Gewissen nagte an ihr, als sie aufstand, um eine kleine Lampe im Tanzsaal anzuschalten. Der Lichtkegel war weit genug, um es ihr zu ermöglichen, den Brief zu lesen.
Er war etwas leichter als jener an ihre Großmutter. Bonnie hatte ein anderes Papier verwendet. Das Siegel war dasselbe: blutrot, ohne Wappen, nur mit einem eingravierten B. Wie immer theatralisch.
Mit zitternden Händen entfaltete Rita den Brief. Dann schloss sie ihre Augen.
Was tat sie nur? Der Brief war an einen Mr. Denvers adressiert. Sie wusste nicht, wer Mr. Denvers war. Noch schlimmer: Sie wusste nicht, ob er noch lebte. Es war das eine, Briefe an Tote zu lesen, mit denen man verwandt war. Es war das andere, Briefe an wahrscheinlich lebendige Fremde zu lesen.
Und doch …
Rita konnte sich nicht beherrschen. Sie öffnete die Augen und begann, zu lesen.
* * *
New York City, 30. August 2002
Mr. Denvers –
die Leute kennen mich. Aber sie kennen Sie nicht und sie wissen nicht, dass ich Sie kannte.
Es ist traurig, denn Sie sind schon so lang tot, und ich hatte nie die Chance, Ihnen zu sagen, was Sie mir bedeuteten. Ich hatte nie Zeit, mich ernsthaft bei Ihnen zu bedanken. Da ich nun selbst kaum Zeit mehr übrig habe, möchte ich es nachholen.
Ich weiß nicht, weshalb ich begonnen habe, Briefe an tote Menschen zu schreiben. Es ist nicht so, als ob ich keine gute lebende Gesellschaft hätte. Nein – ich habe Alma um mich und natürlich George, außerdem meine anderen treuen Freunde, die mich oft und gern besuchen. Ich habe den Brief an meine Mutter nicht geschrieben, weil ich einsam bin. Dasselbe gilt für den Brief an Sie, Mr. Denvers.
Ich schreibe diesen Brief, weil ich Sie vermisse. Sie haben mir viel bedeutet, und weil ich bald nicht mehr auf der Welt sein werde, um mich an Sie zu erinnern, regt sich der verzweifelte Wunsch in mir, meine Erinnerung an Sie auf Papier festzuhalten. Vielleicht wird niemand jemals diese Worte lesen, doch – bitte erlauben Sie mir die Gefühlsduselei – ich wünschte, die gesamte Welt könnte sie lesen.
Alle sollten eines über Sie wissen: Sie sind ein Held.
Der Grund, weshalb ich Ihnen schreibe, ist New York City. Ich bin hier, um einige letzte Angelegenheiten für die Arbeit zu klären. Ich habe das Glück, ein wenig Zeit vor meinem Tod zu haben. Ich möchte meine geschäftlichen und privaten Beziehungen nicht abrupt beenden. Ich habe die Chance, Abschied zu nehmen, also nutze ich sie.
Gestern bin ich zum Goldlöwen gegangen. Die Bar hat sich nicht verändert, in all den Jahren kein bisschen. Immer noch sind die Tische mit weißen Tüchern bedeckt, immer noch ist das Gewölbe mit rotem Samt kaschiert. Die Getränke schmecken wie früher. Das Essen ist noch immer ungenießbar. Auf der Bühne ruht noch dasselbe Parkett. Ich habe die Kerbe wiedergefunden, in der Eleanors Cello immer stand. Es war merkwürdig, nach einem halben Jahrhundert an den Ort zurückzukehren, an dem alles begonnen hat.
Im Goldlöwen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Können Sie glauben, Mr. Denvers, dass selbst die Damen an der Bar immer noch dieselben Beehive-Frisuren tragen? (Ich tue es nicht mehr, falls Sie sich wundern.) Sie scheinen genau dieselben Frauen zu sein; um keinen Tag sind sie gealtert.
Wie immer, wenn ich den Goldlöwen aufsuche, fühlte ich mich bei meinem letzten Besuch zurückversetzt in die Zeit, in der Sie mich, eine fünfzehnjährige Kellnerin, eines Abends einfach auf die Bühne geholt haben.
»Singen Sie«, sagten Sie mit Ihrer heiseren Baritonstimme. »Singen Sie, wie Sie es beim Gläserputzen um Mitternacht tun.«
Ich war schrecklich peinlich berührt. Sie hatten mich gehört! Und erwähnten es vor dem gesamten Publikum! Doch die Herren und Damen in der Bar sahen mich mit erwartungsvollen, freundlichen Augen an; irgendwo im Saal pfiff ein Mann, was mich sowohl beschämte, als auch bestärkte; und Ihre Hand, Mr. Denvers, lag auf meiner Schulter.
»Trau dich«, flüsterten Sie.
Oh, wenn Sie wüssten, wie weit mich dieser Satz in meinem Leben begleitet hat! In allen späteren Jahren, wenn meine Wangen brannten vor Lampenfieber, habe ich immer Ihre Stimme gehört, in diesem Moment, als Sie hinter mir standen und mich dazu drängten, meinen Träumen zu folgen.
Ich habe gesungen. Im Goldlöwen habe ich zum ersten Mal vor einem Publikum gesungen. »Cry« von Johnnie Ray. Ich erinnere mich noch an ihre Gesichter, als wäre es erst gestern gewesen. Zuerst mildes Interesse, wenn nicht sogar Belustigung. Dann Überraschung und Genuss. Und schließlich Ergriffenheit.
Ich berührte sie; ich berührte sie zutiefst. Am Ende weinten tatsächlich einige der Damen. Die Herren warfen die Blumen aus den Vasen auf die Bühne, die ich erst Stunden davor aufgefüllt hatte. Ich stand da in meiner Schürze, mit meinem schüchternen Lächeln. Und am Rande der Bühne warteten Sie: Und ich sage Ihnen, ich hatte in meinem Leben bis dahin noch nie einen solchen Stolz auf dem Gesicht eines Erwachsenen gesehen. Meine Mutter war immer unterstützend gewesen, doch sie war auch streng, ihre Erwartungen scheinbar unerreichbar hoch. Es war ein gutes Gefühl, Sie applaudieren zu sehen, Mr. Denvers. Ich danke Ihnen dafür.
In den folgenden Monaten ließen Sie mich immer wieder auftreten. Ich gewann an Selbstvertrauen; das Singen machte mir entschieden mehr Freude als das Kellnern. Meine Kolleginnen bewunderten mich auf eifersüchtige Art und Weise, wie es nur Mädchen im Jugendalter können. Meine Mutter, die anfangs gar nicht wusste, dass ich in Ihrer Bar arbeitete (das ist eine andere Geschichte; Sie kennen sie genau), fand es gar nicht gut, als Sie eines Tages vor unserer Haustür standen und ihr anboten, mich mit einem Produzenten zusammenzuführen, der ein Album mit mir machen könnte. Mom war misstrauisch, ängstlich und zornig und wurde ein wenig ausfällig – Sie blieben ruhig und beantworteten all ihre Fragen geduldig.
Sie sind ohne Frage der Grund, weshalb ich berühmt geworden bin.
Zu Beginn des Briefes habe ich gesagt, dass niemand weiß, dass ich Sie kannte. Während ich meinen Weg ins Rampenlicht antrat, blieben Sie im Schatten der Kulissen. Sie haben sich nie als Königsmacher inszeniert. Sie wurden noch nicht einmal mein Manager. Anders als alle anderen Männer im Musikgeschäft zu dieser Zeit waren Sie nicht auf Geld und Berühmtheit aus. Sie waren zufrieden mit ihrem kleinen Goldlöwen, Sie lehnten alles Illegale ab und ließen sich nie etwas zu Schulden kommen. In ganz New York City gab es damals keinen anständigeren Geschäftsmann.
Sie haben mich zur Musik gebracht. Sie haben mir diejenigen vorgestellt, ohne die ich meine Karriere nicht hätte beginnen können. Außerdem haben Sie mir Selbstvertrauen gegeben. Sie waren wie ein Mentor; Sie haben mir geholfen, als ich aus Unsicherheit fast aufgegeben hätte. Sie waren mein Vorbild.
All das ist nicht der Grund, weshalb Sie ein Held für mich sind. Und hier sind wir bei einer Sache, die niemand über Sie und mich weiß: Sie haben mir das Leben gerettet.
Es war 1962. Zehn Jahre nach meinem ersten Auftritt in Ihrer Bar. Ich war über die Landesgrenzen heraus berühmt, doch Sie waren derselbe, mit ein paar mehr Falten und ein paar weniger Haaren. Wir hatten nicht mehr viel Kontakt.
Mit einigen Freunden ging ich nach NYC. Wir zogen durch die Bars und Clubs. Ich tanzte, bis ich nicht mehr klar sehen konnte, und wir nahmen Tabletten und tranken, kümmerten uns nicht um die Welt da draußen, kümmerten uns nur um den Rausch. Vergessenheit in Euphorie. Mein Leben in Ekstase.
Irgendwann landeten wir im Goldlöwen. Meine Freunde grölten, hier sei ihnen zu wenig los. Als ich ihnen versicherte, dass Jazz gute Musik sei, murrten sie noch mehr und zogen alle ab in den nächsten Club, in dem es Tanzmusik gab. Also war ich allein, und ich trank Champagner, denn er prickelte so schön auf meiner gelösten Zunge.
Und dann war dort dieser Typ. Er hatte ein strahlendes Lächeln, das kann ich ihm nicht nehmen, doch da war etwas Wölfisches darin.
Der Mann fragte, ob er sich neben mich setzen könne, und ich machte Platz, denn in der Bar war es voll, ich wollte zuvorkommend sein.
»Bist du nicht diese Sängerin?«, fragte er.
»Ja!«, sagte ich. »Mein Name ist Bonnie. Ich liebe Musik! Und bald bin ich auch Schauspielerin. Ich habe einen Vertrag mit diesem Filmstudio.«
»Schön, schön«, sagte der Mann und lehnte sich zu mir. Sein Atem prallte gegen meinen Hals. »Ich finde Sängerinnen heiß. Besonders, wenn sie schreien.«
Damals war ich zu weggetreten, um die Gefahr der Situation zu begreifen; heute ist mir schlecht bei dem Gedanken, was hätte geschehen können.
»Kein Interesse«, sagte ich, doch der Alkohol ließ mich trotzdem lächeln.
Dann tauchten seine Freunde auf. Vier große, breite, ebenso wölfisch grinsende Typen. Ein Rudel. Sie alle hatten dieselben Kommentare auf ihren Lippen und Hände, die überall zu sein schienen. Das Adrenalin überstieg kurzzeitig den Alkohol in meinem Blut: Ich rappelte mich auf, riss mich los und verließ die Bar so schnell, wie ich konnte.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mir folgten. Ich liebe Ihre Bar, Mr. Denvers, aber die Lage ist nicht ideal. Der Haupteingang zeigt in eine schmale Gasse heraus. Das war nicht das Problem; denn hier stand der schläfrige Türsteher, hier knutschten einige Paare und rauchten ein paar Leute. Mein Fehler war, in die Nebengasse abzubiegen und nicht einfach dort bei den anderen zu warten. Die Nebengasse war leer. Ich hatte vergessen, dass der Hintereingang der Bar hier heraus zeigt – die Gruppe der Männer tauchte wieder auf.
Ich stolperte, konnte nicht klar sehen, nicht klar denken. Die Männer näherten sich lachend, ich war auf der Stelle festgefroren. Es war eine der Jagden, vor denen ich mich immer gefürchtet hatte.
Dann war der Rädelsführer bei mir und drückte mich gegen die Wand, betatschte meine Brust.
»Schön, schön«, spuckte er aus.
Mein Instinkt übernahm die Kontrolle über meinen Körper: Ich trat ihm in den Schritt. Fest genug, dass er jaulte und kurzzeitig losließ.
Und dann war da plötzlich ein Messer in meinem Gesicht.
