Die Briefe des Ikarus (Goethe und Schiller ermitteln) - Stefan Lehnberg - E-Book

Die Briefe des Ikarus (Goethe und Schiller ermitteln) E-Book

Stefan Lehnberg

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Während sich ganz Weimar auf die anstehende Hochzeit des Fürstensohnes vorbereitet, verschwinden Siegel und Briefpapier aus dem fürstlichen Schreibzimmer. Können Goethe und Schiller einen Scandal verhindern und den Dieb stellen? Eine abenteuerliche Verfolgungsjagd durch halb Europa beginnt … Am Weimarer Fürstenhof herrscht große Aufregung. Bevor die Hochzeit zwischen der Schwester des russischen Zaren und dem Sohn des Weimarer Fürsten Carl August stattfinden kann, muss der Fürstenhof dem kritischen Blick einer russischen Delegation standhalten. Zunächst läuft alles nach Plan, doch dann werden ein Briefentwurf und das fürstliche Siegel aus dem Schreibzimmer Carl Augusts entwendet. Goethe und Schiller erkennen die Gefahr sofort: Der Dieb ist nun in der Lage, gefälschte Briefe auf den Weg zu bringen und die anstehende Hochzeit zu gefährden. Umgehend machen sie sich zur Abreise bereit: Sie müssen den raffinierten Dieb schnappen, bevor dieser Schaden anrichten kann. Ein gnadenloser Wettlauf nimmt seinen Anfang...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 292

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STEFAN LEHNBERG

Die Briefe des Ikarus

Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe

Aufgezeichnet von seinem Freunde FRIEDRICH VON SCHILLER

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

© 2019 by Stefan Lehnberg

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta-Design

Unter Verwendung mehrerer Illustrationen von © akg-images und © FinePic

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

E-Book: ISBN 978-3-608-11570-3

Die größten Schwierigkeiten liegen da, wo wir sie nicht suchen.

G.

Vorwort

Ich muss gestehen, als ich das erste Mal in Weimar eintraf – erfüllt von den höchsten Erwartungen, ja durchaus mit einiger Ehrfurcht vor diesem deutschen Athen, dem legendären Musenhof, der Wirkungsstätte von Geistesheroen wie Herder, Wieland und Goethe – war ich nicht wenig enttäuscht, denn keineswegs wandelte ich dort selig auf dem Olymp einher, sondern stapfte fluchend durch die kotbesudelten Gassen einer überaus ärmlichen Kleinstadt mit gerade 6000 Seelen – ein besseres Kuhdorf – welche nicht im Entferntesten den Anschein zu erwecken vermochte, ein Hort von Geist und Kultur zu sein. Ein Anschein, der, wie ich heute weiß, täuschte, denn das eine lässt keine Rückschlüsse auf das andere zu. Wollte man Michelangelos David in einen Schweinestall stellen, wäre man zweyfelsohne verwundert, ihn dort anzutreffen, gleichwohl bliebe es doch immer das selbe göttliche Kunstwerk.

Mochte also Weimar beim ersten Blicke – und etlichen weiteren Blicken – ein garstiges Äußeres darbieten, so ging es doch hinter verschlossenen Thüren gänzlich anders zu. Hier wurden Gespräche von sprühendem Intellekt geführt, Kunstwerke von Weltgeltung erschaffen, man erging sich in geistvollen Ausgelassenheiten und leistete sich ein Hoftheater, welches künstlerisch einen der vorderen Plätze im Lande einnahm. Die ländliche Biederkeit der Stadt ließ das brillante Geistesleben nur noch deutlicher funkeln und hatte einen wohltuenden Einfluss auf die, angesichts des Übermaßes an geistiger Inspiration, überreizten Sinne. Das friedliche Fürstentum, in dem man lebte, schien eine Insel der Glückseligkeit zu sein, und die zahlreichen honorigen Besucher, welche beinahe täglich aus aller Welt herbeipilgerten, nicht zuletzt um selbst einen ehrfürchtigen Blick auf den berühmten Olympier zu werfen oder gar – Höhepunkt manches Lebensweges – auf ein halbes Stündchen von ihm empfangen zu werden, zeugten von dem segensreichen Einfluss, der von diesem kleinen Elysium der Poesie und Gelehrsamkeit weit über alle Grenzen ausging.

Eines Abends jedoch – im April des Jahres 1804 – trat eine Veränderung ein. Eine kleine nur – ein Tropfen Siegellack, der sich dort befand, wo er sich nicht hätte befinden dürfen – eine Nichtigkeit eigentlich, gleichwohl war es dieses unbedeutende Ereignis (von dem noch die Rede sein wird), welches eine Entwicklung in Gang setzte; erst nur ein wenig, beinahe unmerklich, bald jedoch mehr und mehr, gleich einer Lawine, die ihren Ausgang nimmt, indem einige Kiesel den Berg hinunterkullern, diese dann jedoch – obgleich selbst nur von geringer Größe – durch die geborgte Macht der Schwerkraft gleichsam ermutigt – Anstoß für größere Steine geben, diese wiederum für noch größere und immer so fort und fort, bis schließlich der gesamte Hang unaufhaltsam ins Rutschen gerät und mit einer urgewaltigen rasenden Macht alles, was er zu fassen vermag, in die Tiefe reißt und die am Ende für eine Reihe von Menschen – schuldige wie unschuldige – den Untergang bedeutete.

Friedrich von Schiller, Weimar im Januar 1805

ERSTES BUCH DIE RUSSISCHE DELEGATION

Erstes Kapitel Das Prunkstück

»Ich wünschte, ich wäre dümmer!«

Mit diesen Worten und einer von quälendem Verdruss zerfurchten Miene betrat Goethe eines Abends im April des Jahres 1804 das Arbeitszimmer meines Hauses auf der Weimarer Esplanade und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.

Und so seltsam diese Bemerkung auch klingen mochte, nur zu gut verstand ich, was mein Freund damit sagen wollte: Die vergangenen Monate waren über die Maßen ereignisreich und beschwerlich gewesen. Nicht allein für ihn und mich, nein für viele, ja man kann sagen: für die ganze Stadt. Ich selbst hatte nicht nur die Inszenierung meiner Jungfrau von Orleans am Weimarer Hoftheater besorgt und meine Arbeit an Die Braut von Messina abgeschlossen, sondern auch Picards Komödie Der Neffe als Onkel ins Deutsche übertragen und überdies das Stück Die zwei Familien unter meinem Namen herausgebracht, um dem eigentlichen Dichter (einer Weimarer Dame, welche das Stück begreiflicherweise nicht unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen konnte) gefällig zu sein. Auch hatte ich mit diversen gesundheitlichen Übeln zu kämpfen und litt immer noch nicht wenig an einem schmerzhaften Rheumatismus. Goethe hingegen hatte zu seinem Kummer und nach unendlich viel Mühen entdecken müssen, dass sich unter seinen zahllosen Talenten nicht das der Landwirtschaft befand, und hatte sein Landgut in Oberroßla, welches er erst einige Jahre zuvor mit den schönsten Hoffnungen auf reiche Erträge erworben hatte, schweren Herzens wieder verkauft. Im August war dann die herzogliche Familie in den nun fertig gestellten Ostflügel des Weimarer Schlosses übersiedelt, nachdem sie in Folge des Brandes des alten Schlosses im Jahre 1774 sich dreißig Jahre lang notdürftig mit dem weitaus kleineren Schlosse, dem so genannten Fürstenhause, auf der anderen Seite des Platzes hatte behelfen müssen. Natürlich war ob dieses gewichtigen Ereignisses die ganze Stadt aus dem Häuschen. Überall legte man letzte Hand an, und insbesondere mein Freund kannte kaum noch einen müßigen Augenblick, denn wie auch in beinahe allen anderen Dingen legte Herzog Carl August in Fragen der Architektur und der künstlerischen Ausgestaltung – bis in die kleinsten Details – allergrößten Wert auf dessen Expertise. Wenn auch nicht immer, um sich dann auch an Goethes minutiös durchdachte Pläne zu halten. Das herrliche Römische Haus beispielsweise, das einige Jahre zuvor unter Goethens Federführung für den Herzog im Ilmpark als idyllischer Platz des Rückzugs und der Erbauung errichtete wurde, ließ dieser im Nachhinein durch eine seitlich angefügte monströse Treppe verschandeln, welche, wie mein verärgerter Freund es treffend formulierte, sich dort ausnahm wie ein irdener Bierhenkel an einem Weinglase.

Am Heiligen Abend erschien dann jene berühmte Madame de Staël in Weimar, die uns zunächst alle mit ihrem sprühenden Esprit verzauberte. Schon bald jedoch fand ich mich unter den nicht wenigen, welche sich des unermüdlichen Sprühens von früh bis spät nicht mehr gewachsen fühlten und sich von der Dame zurückzogen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Einladungen ihrerseits wusste ich mit ausgesucht höflichen Briefen abzuwehren, welche zu verfassen mich zwar durchaus nicht wenig Zeit kosteten, aber – getreu meines Mottos »Lieber zehn Briefe schreiben, als einmal hingehen« – meine überreizten Nerven schonten. Goethe hingegen hatte zu lange damit gewartet, die Flucht zu ergreifen und war nun – als einzig verbliebenes Opfer – um so mehr diesem geistigen Wirbelsturm ausgesetzt. Als die de Staël im Januar endlich abreiste, stöhnte Goethe, es sey, als wäre er von einer schweren Krankheit genesen. Er war seit Monaten nicht mehr zum Schreiben gekommen und hoffte, nun endlich wieder Luft dafür zu haben. Allein, seine Hoffnung wurde enttäuscht, denn es traten Umstände ein, von deren Vorgeschichte ich an dieser Stelle kurz berichten muss:

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hatten seit dem Sommer 1799 hinter den Kulissen umfangreiche Vorbereitungen stattgefunden, um die Position des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach nicht nur politisch abzusichern, sondern auch die notorisch heikle Finanzlage auf Dauer zu heilen. Es handelte sich um die Verheiratung von Carl Augusts ältestem Sohn, Carl Friedrich, mit Maria Pawlowna Romanowa, welche keine Geringere ist, als die jüngere Schwester des regierenden russischen Zaren, Alexander I.

Fürwahr ein diplomatischer Schachzug ersten Ranges, so er sich denn nach nunmehr fast fünf Jahre andauernden zähen Verhandlungen mit dem russischen Zarenhofe als durchführbar erweisen sollte.

Bereits drei Mal hatte der Kammerrat des Herzogs, Wilhelm von Wolzogen – dessen Schwager zu sein ich, nebenbey gesagt, die Ehre habe – die beschwerliche Reise nach Sankt Petersburg auf sich genommen, um dort in jeweils monatelangem Werben zunächst Zar Paul I. und nach dessen Ermordung im Jahre 1801 seinem Sohn Zar Alexander I. die Vorteile dieser Verbindung darzulegen und hatte es dabey offenbar verstanden, so geschickt zu agieren, dass man dort nicht nur mit einigem Wohlwollen darauf zu blicken geruhte, sondern überdies auch gewillt war, die Braut mit einer Mitgift von nicht weniger als einer Million Rubel und darüber hinaus jährlichen Zuwendungen in Höhe von 50.000 Rubeln auszustatten. Auch wenn es eigentlich nicht hierher gehört, möchte ich doch erwähnen, dass mir mein Schwager nach seiner ersten Reise die gute Kunde überbrachte, dass man meine Dramen auch in Russland kannte, und dass die Kaiserin selbst ein Exemplar meiner Braut von Messina erbäte. Leider befand sich das Stück noch im Druck, als Wolzogen erneut nach Sankt Petersburg abreiste, und so gab ich ihm stattdessen den Don Carlos mit, was eine Reaktion der Kaiserin nach sich zog, mit der ich nicht gerechnet hatte, doch davon später mehr, ich will zum Eigentlichen zurückkommen:

Seit über einem halben Jahre weilte nun auch Carl Friedrich selbst am Hofe von Sankt Petersburg, und am 1. Januar war dortselbst Verlobung gefeiert worden. Zwei Tage später folgte den beiden zu Ehren ein Maskenball, an dem 13000 Menschen teilnahmen. Ungeachtet aller Versprechen und Garantien überraschte es nicht, dass man am russischen Hofe, bey allem freundlichen Entgegenkommen, am Ende doch nicht gewillt war, die Katze im Sack zu kaufen, und so hatte im Märzen dieses Jahres eine russische Delegation in Weimar Einzug gehalten. Diese hatte aus nicht weniger als siebzig Personen bestanden – Herren wie Damen – und wiewohl man in Weimar vom Kommen der Delegation unterrichtet gewesen war, hatte ihre Größe doch ein wenig Überraschung ausgelöst, um nicht zu sagen, blankes Entsetzen. War man doch keineswegs darauf eingerichtet, so viele Leute von Stand gleichzeitig angemessen unterzubringen. Der einzig bewohnbare Ostflügel des eigentlich dreiflügeligen Schlosses war nun – kaum fertig gestellt – bereits zu klein, was dazu führte, dass die herzogliche Familie – mit der Aussicht auf die goldenen Zeiten, welche nun zum Greifen nahe waren und inständig darauf bedacht, es den Gästen an nichts mangeln zu lassen – zahlreiche private Räumlichkeiten den Gästen überließ und es sich mehr schlecht als recht in den einfacheren Bereichen des Schlosses unbequem machte. Gleichwohl war man bestrebt, sich den illustren Besuchern von seiner glanzvollsten Seite zu zeigen. Die ganze Stadt war vor dem Eintreffen herausgeputzt worden, einige besonders schäbige Häuser nahe des Marktes hatte Carl August kurzer Hand niederreißen lassen, die Mistgasse war in Mostgasse umbenannt worden, und zwei stadtbekannte Trunkenbolde hatte man vor die Wahl gestellt, die Zeit während des hochherrschaftlichen Besuchs außerhalb der Stadt oder innerhalb des Kerkers zu verbringen. Seitdem war nun eine unablässige Folge von Diners, Landpartien, Concerten, Parforcejagden, Theatervorstellungen, Empfängen, Bällen und Lustbarkeiten an der Tagesordnung gewesen, und stets hatte Goethe anwesend zu sein, gewissermaßen als lebendes Prunkstück des Geistes, welches alleweil zu glänzen hatte, um noch das letzte Mitglied der Delegation davon zu überzeugen, dass der Hof von Weimar es mit dem Hof des Kaisers an Kultur und Verstand durchaus aufnehmen könne. Und überdies musste er es – da die meisten der Russen kein Deutsch verstanden und niemand am Weimarer Hofe Russisch – stets auf Französisch.

Erneut stöhnte Goethe.

Ja, in der Tat, in den vergangenen Monaten war Goethes Genius diesem mehr Fluch als Segen gewesen, und ich muss gestehen, er tat mir leid.

Noch ahnte ich nicht, dass sein überragender Verstand ihm, und auch mir, sehr bald schon weitaus größere Unannehmlichkeiten bescheren sollte.

Zweites Kapitel Nächtlicher Besuch

Es war bereits weit nach Mitternacht, als ich endlich zu Bette ging. Ich hatte einige der 30 Bouteillen Malaga aus dem Keller holen lassen, die mir von meinem – und auch Goethens – Verleger Cotta erst kürzlich gesendet worden waren, und während wir mit Hilfe des süffigen Tropfens Bacchus ausgiebig huldigten, entwölkte sich die Stirne meines Freundes zusehends, und es wurde ein köstlich verschwelgter Abend. Goethe unterhielt mich aufs Vortrefflichste, indem er mir die Mitglieder der russischen Delegation äußerst komisch in all ihren Eigenarten nachäffte; insbesondere ihr ranghöchstes Mitglied, den Fürsten Schirjajew, welcher, wenn er einer anderen Person zuhörte, stets ein Gesicht zog, als stünde er unmittelbar davor, auf das Heftigste niesen zu müssen, was mich höchlich erheiterte.

Auch berichtete er mir unter stetigem Kichern davon, dass der Herzog für seine Gäste gar ein Feuerwerk hatte veranstalten lassen, allerdings - gegen Goethens nachdrücklichen Rat - am helllichten Tage, so, dass man kaum etwas davon zu sehen vermochte.

Schließlich hatte sich Goethe in bester Stimmung verabschiedet, woraufhin ich meinen Diener Rudolph rief, auf dass dieser ihm die zweihundert Schritte zu seinem Hause heimleuchtete. Todmüde fiel ich ins Bett, jedoch kaum befand ich mich in tiefem Schlafe – so wollte es mir zumindest scheinen – hörte ich, noch halb im Traume, meinen Namen rufen. Erst leiser, dann lauter und schließlich packte mich jemand an der Schulter und rüttelte mich, bis ich die Augen aufschlug. Im fahlen Mondlicht, welches durch das Fenster fiel, erblickte ich meinen Diener Rudolph, welcher ein unglückliches Gesicht zog, und neben ihm einen weiteren Mann, dessen Uniform die Farben des Herzogs aufwies. Dieser forderte mich höflich, aber bestimmt auf, ihm unverzüglich zum Schlosse zu folgen. Heftig auf den Herzog schimpfend – zumindest innerlich – stieg ich in meine Kleider, vollbrachte es, unter den antreibenden Worten des Uniformierten, mich nothdürftig zu frisieren und schlich sodann auf Zehenspitzen – um niemanden im Hause zu wecken – die Stiege hinunter. Im Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick auf die Standuhr. Es war zwanzig nach drei. Leise traten wir aus dem Hause. Es war kalt und die feuchte Nachtluft kroch mir augenblicklich unters Hemd. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Eiligen Schrittes machten wir uns auf den Weg zum Schlosse.

Drittes Kapitel Die Uhr des Großonkels

Nach wenigen Minuten erreichten wir unser Ziel. Das Schloss stand stumm und dunkel vor uns. Nur aus einem Fenster im oberen Stockwerk drang das Flackern schwachen Kerzenschimmers. Ich wurde durch einen Seiteneingang geführt, dann einige Treppen nach oben und hierauf in einen Musiksalon, in welchem ein Flügel stand und wo man mich warten hieß. Ich trat vor einen Spiegel, richtete eilig meine Kleidung und Haare und machte mich innerlich bereit, dass man mich zum Herzoge rufen ließe. Aber nichts geschah.

Zwanzig Minuten vergingen, dann dreißig. Ein schwacher Duft von Pfeifentabak hing in der Luft. Ich blickte aus dem Fenster, draußen war es immer noch dunkel. Schließlich hörte ich eilige Schritte näherkommen, und die Thüre, durch die ich selbst den Salon betreten hatte, wurde geöffnet. Zu meiner Überraschung blickte ich auf das müde Antlitz Goethens, welcher im Gegensatze zu mir jedoch frisch rasiert war. Er sah mich an, als erwarte er, von mir eine Erklärung erhalten zu können, aber ich zuckte nur ratlos mit den Schultern. Ihm folgte ein Diener des Herzogs, welcher nun den Saal durchquerte und hinter einer weiteren Thüre verschwand. Gleich darauf erschien er erneut, ließ uns mit einer eilig ausgeführten Geste wissen, dass wir nunmehr erwartet wurden. Während wir eintraten, fiel mir auf, dass das Thürschloss halb herausgebrochen war, aber es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon entfernte sich der Bediente, und die Thüre wurde hinter uns geschlossen.

Das erste, was ich erblickte, war ein großer Eichentisch, auf welchem sich diverse Bücher, Papiere und Schreibzeug befanden und ein einzelnes Wachslicht brannte. Offenbar das Arbeitszimmer des Herzogs. Die Luft war grau von Tabakrauch. Zu meiner nicht geringen Überraschung waren wir allein. Zumindest hatte ich das im ersten Moment angenommen, gleich darauf jedoch bemerkte ich einen großen Schatten, der sich vom Ofen her aus der dunklen Ecke auf uns zubewegte, eingehüllt in eine dicke Wolke Pfeifenrauchs, welche ihm gleich dem Höllenhunde Zerberus aus Mund und Nase strömte: Herzog Carl August.

Goethe verbeugte sich – mir war bekannt, dass er dies nur tat, wenn weitere Personen anwesend waren und dass er seinen herzöglichen Freund unter vier Augen gar duzte, und ich fragte mich, während ich mich nun ebenfalls verbeugte, ob der Herzog wohl wusste, dass ich dies wusste. Im gegenwärtigen Augenblick jedoch schien er keinen Wert auf Förmlichkeiten zu legen. Er war vor uns stehen geblieben und blickte erst Goethe und dann mich an, wobey mir war, als blickte er gleichsam durch uns hindurch. Offenkundig war sein Geist mit etwas anderem beschäftigt, und eine schwere innere Unruhe hatte sich in seine Gesichtszüge eingegraben. Dann, plötzlich, schien er aus seiner Abwesenheit zu erwachen; mit einer fahrigen Geste in Richtung der Stühle, welche vis à vis seinem Tische standen, forderte er uns auf, uns zu setzen, während er selbst den Tisch umrundete, jedoch dann hinter seinem Stuhl stehen blieb, weshalb wir uns ebenfalls nicht setzten. Er sog heftig an seiner Pfeife. Offenbar suchte er nach Worten. Irrte ich oder konnte ich in seinen Augen so etwas wie Angst flackern sehen?

»Ich – jemand hat –« Er stockte, schien sich innerlich zur Ordnung zu rufen, dann setzte er sich auf seinen Stuhl. Wir setzten uns ebenfalls. Carl August lehnte sich zurück und blickte zur Decke. Ich spürte, wie er alle Kraft zusammennahm, um sich zu beherrschen, bevor er erneut zu sprechen anhub:

»Ich brauche Euren Rat, doch zuvor will ich Euch ganz nüchtern die wenigen Umstände berichten, die mir in diesem Moment bekannt sind und meine eigenen Gedanken und Vermutungen zunächst ganz für mich behalten.«

Mein Freund und ich nickten respektvoll.

»Ich bin bestohlen worden.« Er blickte zu Goethe und deutete dann auf die rechte Ecke seines Tisches. »Du wirst Dich zweyfellos der großen goldenen Uhr entsinnen, welche hier stets gestanden hat.«

Goethe nickte erneut.

»Nicht nur ist diese von hohem Wert, überdies ist sie ein persönliches Geschenk vom Onkel meiner Mutter anlässlich meiner Hochzeit und daher auch von einiger persönlicher Bedeutung für mich.«

Die Erwähnung des Onkels ließ einen säuerlichen Schatten über Goethens Gesicht huschen. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich gewahr wurde, dass es sich bei besagtem Onkel um Friedrich II. von Preußen handelte, der von vielen auch »der Große« genannt wurde, für Goethe jedoch hauptsächlich jener Monarch war, welcher seinen Götz von Berlichingen öffentlich als »verabscheuungswürdige Nachahmung abgeschmackter englischer Plattitüden« bezeichnet hatte.

Goethe warf mir einen kurzen Blick zu, und ich fragte mich, ob er wohl das Selbe dachte wie ich: Was zum Henker muss man uns deswegen in tiefster Nacht aus den Betten reißen?

Goethe sah wieder zum Herzog hinüber. »Wann ist das geschehen?«

Der Herzog kniff die Augen zusammen. »Vor fünf Stunden etwa, ich war gerade im Begriffe, einen Brief zu schreiben –« Er legte die flache Hand auf einen Stapel Papiere und sah auf das oberste Blatt. Für einen Augenblick schien ihn etwas zu irritieren, dann fuhr er fort. »Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Uhr noch an ihrem Platze. Dann verlangte man nach mir, und ich musste mich eine Weile unseren Gästen widmen. Als ich dann nach etwa zwei Stunden hierher zurückkehrte, fand ich die Thüre zum Arbeitszimmer, welche in meiner Abwesenheit stets verschlossen ist, aufgebrochen, und die Uhr war verschwunden. Es steht außer Frage, dass –«

»Nur die Uhr. Sonst nichts«, unterbrach Goethe. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Nicht, dass ich wüsste«, der Herzog sah sich ratlos im Zimmer um. »Abgesehen von der Uhr befindet sich hier auch nichts von besonderem Werte.«

Goethe legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. »Ich habe eine Vermutung, vielmehr eine Befürchtung, und hege den Verdacht, dass Ihr die nämliche Befürchtung habt.«

Der Herzog sog heftig an seiner Pfeife. »Das möchte wohl sein, aber zuerst will ich es von Dir hören.«

Goethe lehnte sich zurück, er schien seine Worte genau zu wägen. »Die Dienerschaft ist seit vielen Jahren in Euren Diensten und Euch treu ergeben. Dass auf einmal einer von ihnen zum Dieb wird, ist unwahrscheinlich. – Unwahrscheinlich –«, Goethe hatte die Stimme gehoben, »jedoch nicht ausgeschlossen; vielleicht benötigt jemand aus irgendeinem Grunde dringend Geld. Allerdings würde diese Person dann wohl kaum einen so großen, schweren und unübersehbaren Gegenstand stehlen, der sich auch nur unter erheblichen Schwierigkeiten verkaufen ließe und dessen Fehlen überdies sofort bemerkt würde, sondern etwas Kleineres, Unauffälligeres, wovon es hier im Schlosse Unzähliges gibt. Es wäre dazu auch völlig unnötig, ein Zimmer aufzubrechen.«

Der Herzog biss sich auf die Lippen, offenbar sprach Goethe genau das aus, was er auch selbst dachte.

»Es ist beinahe so«, fuhr Goethe fort, sichtlich verwundert über seinen eigenen Gedanken, »als sollte der Diebstahl entdeckt werden.«

»Weiter!« Der Herzog vermochte seine Erregung kaum noch zu unterdrücken.

»Niemand von außen kann das Schloss unbemerkt betreten, somit scheiden alle Fremden ebenfalls aus, und es bleibt zuletzt nur jene Möglichkeit, welche wir offenbar beide befürchten.«

Der Herzog öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, unterließ es dann jedoch. Auch Goethe schwieg. Keiner von beiden brachte es über sich, das Nämliche auszusprechen, was nun offen zu Tage lag.

Bei der Person, welche die Uhr gestohlen hatte, handelte es sich um ein Mitglied der russischen Delegation.

Viertes Kapitel Die drei Möglichkeiten

Während draußen langsam die Morgendämmerung einsetzte, war drinnen die Stimmung um so düsterer geworden.

»Was soll ich nun tun?«, fragte der Herzog, wobey unklar blieb, ob er mit uns oder zu sich selbst gesprochen hatte. Dann fuhr er in der gleichen unbestimmten Art fort: »Ein Scandal muss unter allen Umständen vermieden werden.«

Ich stutzte innerlich. Scandal? Vielleicht war ich einfach zu müde, aber wie aus dieser Angelegenheit, ohne das Zutun des Herzogs ein Scandal entstehen könnte, war mir vollständig rätselhaft. Goethe war ans Fenster getreten. Mit hinter dem Rücken ineinander gelegten Händen blickte er nachdenklich nach draußen. Der Herzog hatte sich auf seinem Stuhle umgedreht und betrachtete ihn mit banger Hoffnung, wobey er heftig an seiner Pfeife zog, ohne des Umstandes gewahr zu werden, dass diese bereits vor einiger Zeit erloschen war. Volle fünf Minuten lang sagte niemand ein Wort. Im Raum herrschte Totenstille. Nur das Ticken der Uhr – hätte man vernommen, wenn sie noch dagewesen wäre. Schließlich wandte sich Goethe wieder zu uns um. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Die Hand an die Stirne gelegt, sprach er mit äußerster Konzentration: »Die Sache ist in der Tat überaus vertrackt. Zunächst gilt es, sich zu fragen, zu welchem Zwecke der Dieb – oder vielleicht sollte ich einstweilen besser sagen: die Person – die Uhr an sich genommen hat. Ich sehe in diesem Moment drei Möglichkeiten: Die Erste: Ein Schabernack. Womöglich ein russischer Brauch, um den Gastgeber zu foppen, auf dass dieser das ganze Schloss absuche, bis das fehlende Stück dann an einem gänzlich unerwarteten Orte zur Erheiterung aller plötzlich wieder auftaucht. Das wäre das Günstigste. Allerdings äußerst unwahrscheinlich, fürchte ich.« Der Herzog nickte, während er sich mit einem Schnupftuch die Stirne abtupfte.

»Die zweite Möglichkeit«, fuhr Goethe fort, »wäre, dass einer Eurer Gäste großen Gefallen an dieser Uhr gefunden hat und sie nun unbedingt besitzen will. Sollte es sich so verhalten, verbietet es sich selbstredend, nach der Uhr zu suchen. Denn möglicherweise würde man sie finden, und wer weiß, bei wem. Je höher diese Person gestellt wäre, desto größer der Scandal. Wahrscheinlich würde diese alles abstreiten, ein Riesengeschrei machen, eine üble Intrige des Hofes unterstellen und der Himmel weiß, was sonst noch alles. Auch darf man nicht außer Acht lassen, dass jemand, der so etwas tut, möglicherweise gar nicht bey klarem Verstande ist. Die Folgen wären also überhaupt nicht abzusehen, und die Aussichten auf eine Heirat mit der Schwester des Zaren würden dadurch stark in Frage gestellt, wenn nicht gar gänzlich vernichtet.«

Goethe schien sich einen Augenblick zu sammeln. Ich sah zum Herzog hinüber, der mit einer Art bittrer Genugtuung auf Goethe blickte. Offenbar sprach dieser aus, was er auch selber dachte. Sodann ergriff mein Freund erneut das Wort: »Trotz allem wäre diese Situation beherrschbar. Wenn Ihr den Diebstahl einfach ignoriertet, wäre bis auf den, ohne Frage sehr bedauerlichen, jedoch verschmerzbaren, Verlust der Uhr kein weiterer Schaden entstanden. Ich halte es durchaus für möglich, dass es sich so –«

»Weiter! Die dritte Möglichkeit!« Des Herzogs Stimme klang heiser. Goethe räusperte sich. »Diese ist ohne Frage die heikelste: Man stellt Euch auf die Probe. Möglicherweise gar auf persönlichen Befehl des Zaren. Wie verhaltet Ihr Euch in einer solch unübersichtlichen Situation? Seid Ihr ein Mann voller Tatkraft, der ohne zu zögern rücksichtslos alles Nötige unternimmt, um das gestohlene Objekt zurückzuerlangen und den Übeltäter streng zu strafen, oder seid Ihr zu furchtsam, um der Sache nachzugehen? Oder andererseits: Habt Ihr das Taktgefühl, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, oder seid Ihr ein tumber Bauerntrampel, welcher sich auf diplomatischem Parkett nicht zu bewegen weiß? Was ist zu tun? Was ist die richtige Lösung? Gibt es womöglich gar keine, und man will auf diese Weise ergründen, aus was für einem Holze Ihr geschnitzt seid? Ich gebe zu, sollte es sich tatsächlich so verhalten, wäre dies überaus fatal, denn einerlei, was Ihr unternähmt, oder auch nicht unternähmt, es könnte sich ebenso gut als völlig richtig wie auch als absolut falsch erweisen.«

Aus dem Gesicht des Herzogs war jegliche Farbe gewichen. Mit einer Art verzweyfelter Hoffnung wandte er sich an mich. »Und Ihr? Was sagt Ihr?« Ich zuckte innerlich zusammen. Dem, was mein Freund so schlüssig vorgetragen hatte, konnte ich nur beystimmen. Die Lage war meiner Einschätzung nach geradezu aussichtslos, und so sehr ich auch wünschte, dem Herzog etwas Ermutigendes sagen zu können, mir wollte nichts dergleichen einfallen. So äußerte ich den einzigen Gedanken, der bis dahin anscheinend nur mir gekommen war: »Ich frage mich, wie der Dieb die Uhr hier wegtragen konnte.«

Der Herzog sah mich verblüfft an. »Das ist wohl wahr. Die Uhr ist nicht gerade klein, man kann sie unmöglich unter dem Rocke verbergen.«

Vorsichtig fuhr ich fort: »Der Dieb musste also mit der schweren Uhr mehrere Räume und Gänge durchqueren und sodann gleich mehrere Treppen hinuntersteigen, bis er in die Wohnräume der Gäste gelangte und dies alles zu einer Tageszeit, als noch weit über hundert Personen auf den Beinen waren. Wer geht ein solches Wagnis ein?«

Zu meiner freudigen Überraschung hellte sich die Miene des Herzogs auf. Er sah zu Goethe hinüber. »Ganz wie Du schon sagtest, ein Mann, der nicht bey klarem Verstande ist. Die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung ist viel zu hoch. Nur ein Tollhäusler würde so handeln.«

Goethe wiegte nachdenklich den Kopf. »Wie wahr! In diesem Falle frage ich mich allerdings: Wenn die Entdeckung so überaus wahrscheinlich ist – warum hat ihn dann niemand entdeckt?«

»Glück! Einfach nur Glück!« Die Stimme des Herzogs hallte beinahe schrill durch den Raum. Er schien nicht gewillt, diesen Strohhalm der Hoffnung wieder fahrenzulassen und begann sogleich, uns einige Beispiele von Ereignissen aufzuzählen, deren Eintreffen rein mathematisch noch sehr viel unwahrscheinlicher gewesen war. Fast tat er mir leid in seinem hoffnungsvollen Eifer, und unwillkürlich musste ich an einen Satz Goethens denken, welchen er ursprünglich auf sich selbst gemünzt hatte, der jedoch auch jetzt überaus passend erschien: »Der Scharfsinn verlässt geistreiche Männer am wenigsten, wenn sie Unrecht haben.«

Mein Freund schüttelte denn auch mit unbehaglicher Miene den Kopf. »Und wenn nun –« Er verfiel in tiefes Nachdenken.

»Wenn nun ­– was? So red’ er doch!« Der Herzog blickte äußerst unwirsch drein.

»Ich frage mich –« Goethe sah sich im Zimmer um. Er deutete auf die Thüre, durch welche wir eingetreten waren. »Dies ist der einzige Zugang zum Arbeitszimmer? Es existieren keinerley Geheimthüren?«

Der Herzog schüttelte ungeduldig den Kopf, immer noch voller Unruhe auf Goethes Antwort wartend. Doch dieser begann nun, im Zimmer umherzugehen, sah hinter die Vorhänge, öffnete alle Schubladen einer Kommode und untersuchte ihren Inhalt. Erneut sah er sich um.

Der Herzog hatte begonnen, hinter Goethe herzuwandern. »Teufel noch mal! Was soll das helfen?«

Goethe ging zum Fenster und öffnete es. Kalte Morgenluft strömte hinein. Er beugte sich weit nach draußen und blickte aufmerksam nach unten auf die Rasenfläche. Ein oder zwei Minuten verharrte er so. Dann richtete er sich wieder auf und schloss das Fenster. Er schien angestrengt über etwas nachzudenken. Der Herzog sah hilfesuchend zu mir hinüber, als wolle er sich vergewissern, dass ich Goethens Verhalten ebenso verrückt fände, wie er selbst. Mein Freund war indes offenbar zu einem Ergebnis gekommen. Erneut öffnete er das Fenster, sodann durchmaß er rasch das Zimmer, riss die Thüre auf und im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Fünftes Kapitel Ein winziger Tropfen

Die hierauf folgenden Minuten, in welchen der Herzog und ich allein im Raume standen, zählen zu den längsten und peinvollsten meines Lebens. Waren wir doch beide von tiefster Ratlosigkeit erfüllt. Nun ist es für einen Dichter nichts Schlimmes, ratlos zu sein. In diesem Zustand befinden wir uns immer, wenn wir an einem neuen Werk arbeiten. Vor jedem Satz, welchen wir schließlich zu Papiere bringen, sind wir zunächst vollständig ratlos. Dann – nach einigem Nachdenken, Grübeln und Erwägen – finden wir schließlich eine Lösung, welche wir niederschreiben, nur um gleich darauf in die nächste Ratlosigkeit zu verfallen und immer so fort. Ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu dürfen, dass der Zustand der Ratlosigkeit neun Zehntel des Dichtens ausmacht. Hochgestellte Persönlichkeiten hingegen – Herzöge beispielsweise – vermögen diesem Zustande recht wenig abzugewinnen, insbesondere dann, wenn diese Ratlosigkeit vor den Augen von Untertanen stattfindet, so wie es in diesem Moment der Fall war. Niemand von uns sagte etwas, es gab nichts zu sagen. Der Herzog litt sichtlich daran, von Goethe wie ein dummer Junge stehen gelassen worden zu sein, und ich litt, weil ich durch meine Anwesenheit seine Demütigung noch vergrößerte und er mich zweyfellos dafür hasste. Die Stille war furchtbar. Mir kam der Gedanke, ein wenig zu husten, also hustete ich ein wenig, aber nach nicht mal einer viertel Minute war ich damit fertig und nun erschien mir die Stille im Raum gar noch stiller als zuvor. Liebend gern hätte ich mich aus dem Fenster gestürzt, welches Goethe ja bereits – wenn vielleicht auch nicht zu diesem Zwecke – geöffnet hatte.

Nachdem wir eine kleine Ewigkeit wie die Hornochsen im Zimmer herumgestanden hatten, wandte sich der Herzog, irgendetwas Unverständliches brummend, ab und zündete äußerst umständlich seine Pfeife an, während ich mich darein rettete, das aufgebrochene Thürschloss zu untersuchen. Ich betrachtet es genau von beiden Seiten, aber das einzige, was mir auffiel, war, dass es aufgebrochen war. Ich trat ans Fenster. Vielleicht würde ich entdecken können, wonach Goethe Ausschau gehalten hatte. Zu meiner Überraschung war das, was ich entdeckte, Goethe selbst, welcher langsam, nach vorne gebeugt wie ein lebendiger rechter Winkel, unter dem Fenster auf und ab ging; offenbar auf der Suche nach etwas. Alle Augenblicke schien er etwas aufzuheben, doch ich war zu weit entfernt, um erkennen zu können, worum es sich handelte. Ich machte den Herzog auf Goethens Tun aufmerksam, aber just als dieser ans Fenster trat, beendete Goethe sein Suchen und strebte nun eiligen Schrittes wieder dem Schlosstore zu. Bald darauf trat er etwas außer Atem zu uns ins Zimmer. »Das fand ich direkt unter dem Fenster im Gras.« Mit ausgestrecktem Arme hielt er uns seine offene Hand hin, in welcher sich etwas Glitzerndes befand. Wir traten näher, um es genauer in Augenschein zu nehmen, und erblickten eine Anzahl kleiner Splitter aus sehr dünnem Glase sowie einen fein ziselierten flachen Gegenstand aus Gold. Erst auf den zweiten Blick wurde ich gewahr, um was es sich handelte, es war ein Uhrzeiger.

»Da soll mich doch der Teufel holen!« Mit dem Ausdruck unerhörter Verwirrung blickte der Herzog zu Goethe auf.

»Unten ist ein Loch in der Grasnarbe, verdeckt mit einigen Blättern, die zweyfellos eilig von einem Busche abgerissen worden sind. Offenbar hat der Eindringling die Uhr hier aus dem Fenster geworfen und dann unten im Schutze der Dunkelheit fortgeschafft.«

»Warum? Warum denn nur?!« Der Herzog ließ sich auf seinen Stuhl sinken – ein Bild des Jammers. Fassungslos schüttelte er den Kopf: »Die Uhr muss vollständig zerstört worden sein, sie ist keinen Heller mehr wert. Und selbst wenn man berücksichtigt, dass sie zum Teil aus Gold ist – wir haben bereits festgestellt, dass es im Schlosse genug anderes von Wert gibt, das ungleich einfacher zu stehlen wäre. Ist das ein übler Scherz? Welchem Schuft würde denn so etwas einfallen?«

Sich einen solchen Teufel in Menschengestalt vorzustellen, schien weit über die Grenzen der Phantasie des Herzogs hinaus zu gehen.

Ich selbst hingegen fand dies weit weniger schwierig, kannte ich doch gleich mehrere Personen, die zumindest in jüngeren Jahren zu solchen und weit übleren Scherzen fähig gewesen waren, und just in diesem Augenblicke befand ich mich in ihrer Gesellschaft. Unvergessen die von hinten beleuchteten hölzernen Teufelsfratzen auf langen Stangen, mit welchen die beiden »Schrecken des Philisterpacks«, wie sie sich in jenen Tagen selbst nannten, des nachts von draußen an Bürgerhausfenstern im ersten Stock klopften, auf dass die aufgescheuchten Bewohner vor Entsetzen fast der Schlag rührte oder auch ihr Besuch auf einer Hochzeit, wo die beiden es für angeraten hielten, die kostbaren Seidentapeten des Bräutigams von den Wänden zu reißen, bis diesen nicht nur beinahe, sondern tatsächlich der Schlag traf. Zumindest im Gegensatz zu dem letztgenannten Scherze, schien mir doch der Streich mit der Uhr geradezu von erlesenstem Esprit zu sein. Eine Meinung, die ich wohlweislich für mich behielt, stattdessen seufzte ich mitfühlend.

Goethe trat mit kühler Miene an den Tisch heran. »Ich fürchte, die Sache ist sogar noch ernster, als wir bis jetzt befürchteten. Es handelt sich weder um einen Ulk noch um einen Test und schon gar nicht um einen Diebstahl. Es geht auch nicht im mindesten um die Uhr, ja, ich würde mich keineswegs wundern, wenn diese schon vor Stunden in der Ilm versunken wäre.«

»Was, wie –?« Der Herzog war blass geworden, bemühte sich aber um Haltung.

»Die Ilm ist gerade mal fünfzig Schritte entfernt, und eine Spur im Gras führt zumindest in diese Richtung«, erklärte Goethe ungeduldig, verärgert darüber, in seinem Gedankengang unterbrochen worden zu sein. »Nein, die Uhr wurde aus einem völlig anderen Grunde gestohlen, oder genauer gesagt: entfernt.«

»Aus welchem? Nun red’ er doch endlich!« Der Herzog schien nun endgültig seine Beherrschung zu verlieren.

Goethe sammelte sich erneut, dann fuhr er mit größter Ruhe fort. »Nun, um eine nachvollziehbare Erklärung dafür zu schaffen, warum die Thüre zum Arbeitszimmer aufgebrochen wurde. Offenbar hat der Eindringling hier etwas ganz anderes gewollt. Und da Ihr ja bereits sagtet, dass in diesem Raume sonst keine Gegenstände von Wert waren, stellt sich uns nun die überaus interessante Frage: was mag dieses andere gewesen sein?«

Der Herzog sah zu mir hinüber, sein verwirrter Gesichtsausdruck entsprach sehr genau dem Gefühl in meinem Kopfe.

»Was mag das gewesen sein?«, wiederholte er hilflos.

»Bitte seht Euch genau im Zimmer um. Irgendetwas fehlt. Oder ist zumindest verändert worden.«

Goethe hatte sich lauernd wie ein Geier zum Herzog hinuntergebeugt. In seinen Augen sah ich die Flammen des Wissensdurstes auflodern, wie stets, wenn ihn der Forschungsdrang gepackt hatte.