Die Brüder von Solferino - Kathrin Steinberger - E-Book

Die Brüder von Solferino E-Book

Kathrin Steinberger

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Beschreibung

Ein fesselnder historischer Roman über Henri Dunant, dessen zutiefst humanitäre Haltung dem Rot-Kreuz-Gedanken zugrunde liegt. Im April 1859 erklärt Österreich unter Franz Joseph I. dem Königreich Piemont den Krieg. Der 18-jährige Tiroler Bauernsohn Karl meldet sich freiwillig zur Armee. In Castiglione in der Lombardei trauert der 15-jährige Ricardo um seinen Bruder Giovanni, der im Kampf bei Magenta gefallen ist. Henri Dunant, ein Schweizer Geschäftsmann, gerät durch widrige Umstände mitten ins Kriegsgebiet. In Castiglione empfängt ihn ein Bild des Schreckens. Nach der Schlacht von Solferino überschwemmen Verletzte die Stadt. Dunant ist entsetzt über die schlechte Organisation und greift ein. Er versorgt alle Soldaten, egal, welcher Herkunft, und wird zum Vorbild für das gesamte Dorf. Auch Ricardo lernt von Dunant und nimmt sich des Österreichers Karl an, dem ein Bajonett ein Auge zerstört hat. Es ist nur ein Tag, den Karl, Ricardo und Henri Dunant zusammen verbringen, aber an dessen Ende haben alle erkannt, dass auch zwischen Feinden im Krieg noch Menschlichkeit bestehen muss. Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis

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Seitenzahl: 323

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Kathrin Steinberger

Die Brüder von Solferino

Kathrin Steinberger

wurde 1982 in der Steiermark geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaft.

Ihre Texte, für die sie mehrere Nachwuchsförderpreise erhielt, wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. „Die Brüder von Solferino“ ist ihr erster Jugendroman. Sie arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Wien.

EPUB ISBN 978-3-7026-5886-1

2. Auflage 2010

Einbandgestaltung: Christian Hochmeister

Einbandabbildung: Heeresgeschichtliches Museum, Wien

© Copyright 2010 by Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Kathrin Steinberger

Die Brüder von Solferino

Inhalt

Der alte Mann und der Kaiser

Der Jäger des Kaisers

Nach Turin

Heikle Geschäfte

Briefe

Von Kampf zu Kampf

Verzögerungen

In die Schlacht!

Vom Hass

Der Spion von Italien

Kutschfahrt mit Regen

Die Schlacht der drei Herrscher

Zuflucht im Keller

Im Gefecht

Am Ziel und am Anfang

Zwei Seiten von Freiheit

Die Welt steht still

Die große Kirche

Der Mann in Weiß

Geschäfte mit Menschlichkeit

Der Jäger

Die letzte Etappe

Der Herzog von Magenta

Alle sind Brüder

Nachwort

Glossar

Danksagung

Die Provinzgrenzen zwischen der Lombardei und Venetien zeigen nicht den historischen Verlauf, sondern den gegenwärtigen.

Zum 100. Todestag von Henri Dunant, der bei der Schlacht von Solferino Zivilcourage gezeigt und später das Rote Kreuz als weltweite Hilfsorganisation gegründet hat.

Inter Arma Caritas

„inmitten der Waffen Menschlichkeit“

ist das Motto des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

„Ich nehme mich besonders einer der Kirchen von Castiglione an, die auf einer Höhe liegt und die, wenn ich mich nicht täusche, Chiesa Maggiore heißt. Ungefähr fünfhundert Soldaten hat man hier in drückender Enge untergebracht. Und mindestens noch weitere hundert liegen vor der Kirche auf Stroh unter Tüchern, welche man ausgespannt hat, um sie vor der Sonne zu schützen. Die Frauen gehen im Kirchenschiff von einem zum anderen mit Krügen und Eimern voll klaren Wassers, um Durst zu löschen und Wunden zu befeuchten.

Was bedeutet der Einzelne inmitten dieser allgemeinen Zerstörung? Gewiss sehr wenig. Sie leiden, ohne sich zu beklagen, sie sterben bescheiden, ohne Aufsehen zu erregen.

Einer von ihnen, ein Neunzehnjähriger, ist mit vierzig Landsleuten in dem äußersten Winkel der Kirche untergebracht und hat seit drei Tagen keine Nahrung erhalten. Er hat ein Auge verloren, das Fieber schüttelt ihn, er kann nicht mehr sprechen; kaum hat er noch die Kraft, ein wenig Fleischbrühe zu sich zu nehmen. Durch unsere Pflege erholt er sich wieder, und als wir ihn vierundzwanzig Stunden später nach Brescia senden können, verlässt er uns mit Bedauern, fast mit schmerzlicher Rührung. Sein gesundes Auge, das ein wundervolles Blau zeigt, drückt lebhafte und tiefe Dankbarkeit aus. Er presst seine Lippen auf die Hände der barmherzigen Frauen von Castiglione.

Die Frauen von Castiglione erkennen bald, dass es für mich keinen Unterschied der Nationalität gibt, und so folgen sie meinem Beispiel und lassen allen Soldaten, die ihnen völlig fremd sind, das gleiche Wohlwollen zuteil werden. ‚Tutti fratelli‘, wiederholen sie gerührt immer wieder.“

Henri Dunant: Eine Erinnerung an Solferino, gekürzt

Der alte Mann und der Kaiser

Eigentlich hatte der Alte ein wenig lesen wollen, doch nach einigen Seiten nickte er schon ein. Draußen erinnerte ein kurzer Regenschauer daran, dass es trotz der sonnigen letzten Tage erst April war. Das Mädchen hatte das Feuer kräftig geschürt, denn seit dem Winter konnte der Alte eine hartnäckige Erkältung nicht abschütteln.

Auch der Lärm der Kutschen, der vom Rennweg heraufdrang, konnte nicht verhindern, dass das Klopfen des Regens an den Scheiben und die behagliche Wärme des Kamins die Augen schwer machten. Als das Mädchen nach einer Stunde das Zimmer betrat, fand es Graf Metternich schlafend vor.

Behutsam berührte es ihn am Arm. Der Alte blickte auf.

„Herr Graf, ein Bote vom Hof. Er bittet, eine Einladung des Kaisers anzunehmen. Aber wenn Ihr Euch entschuldigen wollt –“

„Nicht doch“, unterbrach Metternich, „ein Gespräch mit Seiner Majestät rettet den sonst verlorenen Nachmittag. Sag dem Boten, ich komme. Ferdinand soll anspannen. Mein Anzug liegt bereit?“

Die junge Frau nickte und verließ den Raum, um dem Boten die Nachricht ihres Herrn auszurichten. Auf der Suche nach dem Hausdiener Ferdinand blickte sie sorgenvoll aus dem Fenster.

Dass der Kaiser den alten Herrn bei diesem Wetter zu sich bestellte … Ihrer Meinung nach verließ Seine Majestät sich viel zu oft auf den Rat des Grafen. In der Hofburg müsste es doch genügend andere Berater geben, sodass man einem Sechsundachtzigjährigen auch seinen Ruhestand gönnen könnte. Dieser Winter hatte ihm sehr zugesetzt, er hatte Gewicht verloren. Die Furchen im Gesicht ließen die charakteristische Nase noch deutlicher hervortreten, die weißen Haare waren schütterer geworden.

Der Alte quälte sich in seinen Anzug. Das feuchte Wetter fuhr ihm in die Knochen, aber so weit, dass Ferdinand ihm beim Ankleiden behilflich sein musste, sollte es nicht kommen.

Was der Kaiser wohl diesmal von ihm wollte?

Kurz darauf saß Graf Metternich in seiner geschlossenen Kutsche und ließ sich von Ferdinand zum Hof bringen. Der Regen hatte aufgehört und die Luft war angenehm frisch.

Auf den Straßen herrschte reges Treiben, mehrere Kutschen waren unterwegs. Frauen mit Körben unter dem Arm und Männer mit geschäftiger Miene eilten umher. An einer Ecke baute ein Blumenhändler gerade seine Waren auf. Man konnte erkennen, was für prächtige Narzissen er anbot. Fast bedauerte es Graf Metternich, als die Kutsche Richtung Hofburg abbog, es hätte ihn unterhalten, einfach nur den Menschen zuzusehen.

Ferdinand übergab die Zügel einem Burschen, der die Kutsche während ihres Aufenthalts versorgen sollte, und half dem Grafen die Treppe hinauf. Dass der alte Herr sich so offen stützen ließ, verriet dem Diener, dass ihn die Glieder schmerzten.

Der Name Metternich und das bekannte Gesicht des Grafen öffneten jede Tür und bald standen sie vor dem Arbeitszimmer des Kaisers. Hier ließ Ferdinand den Arm seines Herrn los, denn er wusste aus Erfahrung, dass Treffen zwischen Seiner Majestät und dem Grafen immer von höchster Privatheit waren.

Franz Joseph eilte Metternich entgegen, um ihn zu einem Stuhl zu geleiten. Bei anderen blieb er hinter seinem Schreibtisch stehen, da er als Kaiser eigentlich das Entgegenkommen des Gastes erwarten konnte.

Der Graf deutete eine Verbeugung an und ließ sich auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Er musterte den jungen Regenten kurz. Die Metternich so vertrauten Gesichtszüge, die leicht gekrümmte Nase, der buschige Backenbart, die hohe Stirn, wirkten anders als sonst. Der Alte hatte wässrige Augen, aber die Unruhe im Wesen des Kaisers war heute nicht zu übersehen.

„Nehmt Platz, Wertester“, forderte Franz Joseph ihn auf und goss aus einer Kanne Punsch in eine Tasse vor Metternichs Platz, ehe er sich setzte. Metternich war einer der wenigen, vielleicht der Einzige, der sich in Gegenwart des Kaisers zuerst setzen durfte. Der Respekt des Herrschers vor dem ehemaligen Außenminister und Staatskanzler war enorm.

„Ich dachte, bei diesem Wetter tut etwas Warmes gut“, erklärte Franz Joseph und griff zu seiner Tasse, um dem Gast dasselbe zu ermöglichen. Nach den Regeln der Etikette musste jeder andere warten, dass der Kaiser zuerst trank.

Metternich brummte zustimmend und nahm einen Schluck von dem warmen, süßlichen Getränk. Er beeilte sich nicht, den Kaiser nach dem Grund dieses Treffens zu fragen. Er wusste aus Erfahrung, dass Franz Joseph ohnehin rasch zur Sache kommen würde.

Tatsächlich brachte Franz Joseph gleich sein Anliegen vor: „Ihr wisst, der Konflikt mit Italien war drängend in der letzten Zeit. Eure Einschätzung meiner schwierigen Lage ist mir in diesem Moment unerlässlich.“

Metternich kannte das Problem, auf das Franz Joseph anspielte. Schon lange hatte es Schwierigkeiten gegeben mit revolutionären Ideen in den italienischen Provinzen. Seit Jahrzehnten konnten die Bewohner der Lombardei und Venetiens nicht begreifen, dass sie nicht zu Unrecht von Österreich beherrscht wurden.

In den letzten Jahren hatte Viktor Emanuel, König des benachbarten Piemont, diese liberalen Ideen auch noch unterstützt, eindeutig nur, um die beiden Gebiete in seinen eigenen Machtbereich einzugliedern. Er und sein hinterlistiger Ministerpräsident Camillo Cavour riefen die Menschen von Turin aus offen zum Widerstand gegen die Habsburger auf. Über zweitausend Rebellen aus den eigenen Provinzen hatten sich bereits der piemontesischen Armee angeschlossen. Die Idee eines vereinigten Landes Italien, einfach absurd.

Metternich schnaubte leise und deutete dem Kaiser mit einer Handbewegung an, fortzufahren.

„Mit der diplomatischen Hilfe unserer Freunde aus England und Preußen gelang es immer wieder, eine Entgleisung dieser Provokationen zu verhindern“, sagte Franz Joseph. „Dennoch erscheint es mir noch unklar, ob Frankreich wirklich auf unserer Seite steht.“

Metternich trank von seinem Punsch und nickte wieder. Es war schwierig mit dem französischen Kaiser, denn Napoleon III. hegte deutliche Sympathien für die italienische Sache. Er hatte sogar seinen Cousin mit der Tochter des Piemontesen verheiratet. Metternich war als Diplomat tätig gewesen und kannte natürlich den Grund: Napoleon musste darauf bedacht sein, dass sein Land gegenüber einer britisch-preußisch-österreichischen Allianz1 nicht ins Hintertreffen geriet.

„Ich hörte doch, Baron Hübners Treffen mit dem Kaiser in Paris verlief erfreulich?“, warf Metternich ein.

Franz Joseph war aufgestanden und lief nun, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, hinter seinem Schreibtisch auf und ab. Metternich war erstaunt. Der Kaiser schien sich in größerer Erregung zu befinden als vermutet.

„Doch, doch, man konnte Napoleon mit vereinten Kräften davon überzeugen, dass eine mögliche Unterstützung der Aggressionen Piemonts ernste Folgen für ihn hätte. Viktor Emanuel wurde aufgefordert, zur Abrüstung seiner Armee überzugehen.“

„Gab es eine solche Aufforderung auch an Euch?“, fragte Metternich, denn es schien ihm wahrscheinlich, dass man auch von Österreich, das seine Armeecorps in der Lombardei massiv verstärkt hatte, Ähnliches fordern würde.

„Es war die Rede davon“, erklärte Franz Joseph. „Aber es scheint mir überzogen, solche radikalen Schritte von uns zu fordern. Hat uns doch erst die Aufrüstung der Italiener gezwungen, das 2. und das 3. Corps dorthin zu schicken, um für einen eventuellen Überfall gerüstet zu sein. Buol und Grünne unterstützen mich in dieser Haltung.“

Metternich seufzte leise. Karl-Ferdinand Graf von Buol-Schauenstein und Karl Ludwig Graf Grünne, die beiden Berater des Kaisers, waren eitle Gockel. Ihnen fehlte jedes Gefühl für diplomatischen Takt. Aber sie waren Günstlinge der Mutter des Kaisers, und Franz Joseph, obgleich schon das elfte Jahr im Amt, hielt immer noch große Stücke auf ihre Meinung.

„Nun, Ihr werdet Euch gewiss bewusst sein, dass es ein großer diplomatischer Erfolg ist, dass Napoleon sich so deutlich von Piemont abkehren musste?“, fragte Metternich vorsichtig.

Noch immer war ihm nicht klar, worauf der Kaiser hinauswollte. Alle weiteren Bemühungen der Italiener, Österreich in den Krieg zu zwingen, waren fürs Erste vergeblich. Wozu hatte man ihn rufen lassen?

„Es beunruhigt mich, dass Napoleon seine im März veröffentlichte Erklärung, er würde Piemont gegen jede österreichische Aggression unterstützen, nicht öffentlich zurückgenommen hat“, setzte Franz Joseph fort. „Auch wenn die Piemontesen der Abrüstung zugestimmt haben.“

„Habt Ihr vor, gegen Turin aggressiv zu werden?“, fragte Metternich und goss sich Punsch nach.

„Ich möchte nicht gegen Piemont die Waffen erheben“, antwortete Franz Joseph, „aber ich sehe keine Veranlassung, unsere Truppenstärke zu verringern. Ich möchte eine Bestätigung von Viktor Emanuel haben, dass er es vor uns tut.“

Metternich runzelte die Stirn. „Ihr sagtet doch, er habe der Aufforderung durch Napoleon zugestimmt?“

Der Kaiser nickte. „Aber ist es nicht legitim, dass auch Österreich selbst ihn noch einmal dazu auffordert?“, sagte er. „Schließlich galt seine Provokation uns, nicht den Franzosen. Uns sollte Viktor Emanuel zusichern, dass die Armee aufgelöst wird.“

Metternich seufzte leise. Es fehlte dem Regenten immer noch an Augenmaß dafür, was er persönlich zu nehmen hatte und was nicht. Franz Joseph war in dem Grundsatz erzogen worden, dass er als Kaiser ein Recht auf absolute Herrschaft hatte. Er war der Mittelpunkt des Staates, seine Person verdiente Achtung vor allem anderen.

Diese Auffassung war ganz in Metternichs Sinn, der nichts von Verfassungen oder gar von Abgeordnetenhäusern hielt, wie der Piemontese eines hatte.

Es war allerdings offensichtlich, dass diese Einstellung Franz Joseph manchmal daran hinderte, diplomatische Verwicklungen mit kühler Vernunft hinzunehmen. Es störte den Kaiser, dass Viktor Emanuel sich den vereinigten Kräften von Europa unterwerfen musste; er wollte, dass der gegnerische König zuerst dem österreichischen Herrscher Abbitte leistete.

Metternich verstand die Gefühle hinter diesem Wunsch. Er wusste aber auch, dass es die Aufgabe eines Beraters war, dem Kaiser die Vorteile einer sachlichen Lösung nahezulegen. Leider waren weder Buol noch Grünne solche Berater. Sie hatten Franz Joseph wohl erst zu derartigen Überlegungen gebracht.

„Ihr solltet bedenken, dass Euer Sieg zwar den Umweg über den französischen Kaiser gegangen ist, dass es aber dennoch Euer Sieg bleibt“, sagte Metternich. „Wenn Napoleon jetzt Piemont in einem Krieg unterstützen würde, hätten wir England und Preußen auf unserer Seite. Das wird er nicht riskieren. Ihr könnt zufrieden sein.“

Franz Joseph, der während Metternichs Worten auf und ab gelaufen war, blieb abrupt stehen und sah den Grafen an. Ein Flackern in seinen Augen beunruhigte den Alten.

„Nun.“ Die Stimme des Kaisers schwankte wieder, aber diesmal nicht vor Erregung. Es kam Metternich fast so vor, als wäre Franz Joseph verunsichert, eine Schwäche, die der Kaiser auch ihm noch nie offen gezeigt hatte. „Graf Buol schlug vor, man könne dem Recht Österreichs, die piemontesische Abrüstung sofort zu verlangen, durch eine briefliche Nachricht an den Hof in Turin Nachdruck verleihen.“

Metternich stellte seine Tasse ab, dass das Porzellan klirrte. Hatte er richtig gehört? Dieser Esel wollte den Kaiser dazu überreden, wieder mit den Säbeln zu rasseln, statt den gewonnenen Frieden mit Bedacht zu halten? Jeder andere, inklusive dem französischen Kaiser, würde das als deutliche Provokation auffassen.

„Um Himmels Willen, schickt kein Ultimatum an Italien!“, rief er. „Ihr riskiert, unseren Vorteil zu verspielen.“

Noch nie hatte er eine so deutliche Aufforderung an den Kaiser gerichtet. Aber da die Probleme, die so eine Nachricht auslösen würde, enorm wären, erschien es ihm angebracht.

Franz Joseph hielt Metternich ein Papier hin. Die Hand, die es überreichte, zitterte ebenso wie die, die es annahm.

Metternich las den Text. Die übertrieben komplizierten Formulierungen und der arrogante Ton ließen ihn annehmen, dass ein Gutteil aus Buols Feder stammte. Er forderte den italienischen König im Namen Franz Josephs dazu auf, die piemontesische Armee komplett abzurüsten und die aus den anderen Provinzen übergelaufenen Rebellen zu entlassen.

Der letzte Absatz lautete: „Der Überbringer dieses Briefes, an den Seine Exzellenz bitte Seine Antwort richten wird, hat die Anweisung, sich zu diesem Zweck für drei Tage zur Verfügung zu halten. Wenn er am Ende dieser Zeit keine Antwort erhalten hat, oder wenn diese Antwort nicht ausreichend zufriedenstellend ist, wird die Verantwortung für die gravierenden Konsequenzen, die dieser Weigerung folgen, vollständig bei Seiner Sardinischen Majestät liegen. Nach vergeblichen Versuchen, Seinem Volk durch jedes versöhnliche Mittel den weiteren Frieden zu garantieren, wird Seine Majestät zu Seinem großen Bedauern gezwungen sein, auf Waffengewalt zurückzugreifen, um ihn zu erreichen.“

Metternich legte das Papier zurück auf den Schreibtisch. Gut, dass der Kaiser nach ihm gerufen hatte. In schwierigen Fällen hatte Franz Joseph immer auf ihn gehört.

„Ihr dürft dieses Dokument auf keinen Fall nach Turin schicken. Ihr habt durch das Geschick der Diplomatie einen Frieden gewonnen, den in den nächsten Monaten die kleinste Provokation in Krieg verwandeln könnte.“

Franz Joseph setzte sich. Er sah Metternich an und blickte dann hinunter auf das Papier.

„Baron Kellersberg ist gestern damit abgereist“, sagte er leise. „Er muss Piemont heute erreichen.“

Lange blieb es still im Arbeitszimmer des Kaisers. Jetzt erst hörte man am Fenster, dass es wieder zu regnen begonnen hatte.

In Metternichs Kopf rasten die Gedanken. Viktor Emanuel und der gerissene Cavour würden dieses Dokument als genau das erkennen, was es war: Eine Kriegserklärung. Sie würden Napoleon benachrichtigen, und dieser könnte sein Bündnis mit Piemont wieder aktivieren. Großbritannien oder Preußen würden nicht widersprechen. Nur eine aggressive Provokation Österreichs konnte einen gemeinsamen Krieg von Piemont und Frankreich rechtfertigen, und dieses Ultimatum war eine solche.

„Was soll ich tun?“, fragte der Kaiser.

Sein Gesicht verriet, dass er begriff, was er angerichtet hatte.

„Er hat es wohl geahnt“, dachte Metternich, „sonst hätte er nicht nach mir schicken lassen.“

„Es ist zu spät, um Kellersberg aufzuhalten“, meinte der Graf.

Franz Joseph nickte, doch er starrte ins Leere, als hätte er eine andere Einschätzung erhofft.

„Ihr könntet versuchen, Eure Unterstützer weiter auf Eurer Seite zu halten. Bei Großbritannien sehe ich wenig Hoffnung, aber Preußen könnte sich dennoch auf Österreichs Seite stellen. Ihr solltet das aber nicht Buol oder Grünne überlassen.“

Wieder nickte Franz Joseph. „Und die Mobilisierung?“, fragte er.

Metternich überlegte. Nun hatte Viktor Emanuel jeden Grund, seine Armee weiter zu vergrößern. Österreich hatte über hunderttausend Soldaten in der Lombardei und in Venetien stehen, mehr als das Doppelte, als Viktor Emanuel momentan aufweisen konnte. Innerhalb von ein bis zwei Wochen könnte man diese Zahl um noch einmal hunderttausend erhöhen. Leider schätzte Metternich auch die Fähigkeiten des österreichischen Befehlshabers, Graf Gyulai, nicht besonders hoch ein. Aber allein die zahlenmäßige Überlegenheit des eigenen Heeres sollte reichen, um den Konflikt schnell zu beenden.

„Napoleon wird Piemont unterstützen“, meinte er, „aber er braucht einige Wochen, um genügend Truppen nach Italien zu bringen. Momentan ist die Zeit auf unserer Seite. Befehlt den sofortigen Angriff. Nehmt Piemont ein, ehe Napoleons Männer italienischen Boden erreichen. Der französische Kaiser wird keine Kämpfe riskieren, wenn sein Bündnispartner nicht mehr existiert. Wenn dann die Preußen bei den Verhandlungen auf Eurer Seite stehen, habt Ihr die Stabilität in den Provinzen zurück.“

„Und zugleich den ärgsten Widersacher vertrieben“, beendete Franz Joseph den Gedankengang. „Meint Ihr, das kann gelingen?“

Metternich blieb ehrlich: „Ich weiß es nicht. Es wird schwierig, Preußen als Freund zu halten. An Kampfhandlungen kommt Ihr nicht vorbei, und so etwas hinterlässt selten Ruhe. Die guten Beziehungen zu Frankreich werden ebenfalls gestört bleiben. Ihr könnt gewinnen, aber auch viel verlieren.“

Franz Joseph nickte. Die ernsten Worte Metternichs waren gerechtfertigt.

„Nun, ich danke Euch, mein lieber Graf“, sagte Franz Joseph, „Ihr habt mir viel weitergeholfen in dieser schwierigen Lage.“

„In die Ihr Euch habt drängen lassen“, dachte Metternich, wagte aber nicht, den Gedanken laut auszusprechen.

Aber er hatte verstanden. Er war entlassen, die weitere Vorgangsweise in dieser Sache würde Franz Joseph mit seinen Beratern absprechen. Er stand auf, verbeugte sich und ging zur Tür. Diesmal blieb der Kaiser an seinem Schreibtisch sitzen, in Gedanken bereits bei den nächsten Plänen.

Metternich spürte die Last des Alters plötzlich so stark wie noch nie. Die hohen Mauern der Hofburg, die er jahrzehntelang sein eigentliches Zuhause genannt hatte, schienen ihn zu erdrücken. Er sehnte sich nach der Abgeschiedenheit seines Studierzimmers. Er hatte genug davon, an politischen Fäden zu ziehen. Dieses Ultimatum an Piemont, da war er plötzlich sicher, war nur der Anfang vom Ende seiner Welt, und er war es leid, ihr beim Untergang zuzusehen.

Ehe er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal an den Kaiser: „Vergesst nicht, dass man nicht nur durch einen von außen aufgezwungenen Krieg alles verlieren kann. Manchmal ist man sich selbst der gefährlichste Gegner.“

Franz Joseph blickte ihn erstaunt an, doch ehe der Kaiser etwas erwidern konnte, hatte der Alte die Tür geschlossen.

Ferdinand erschrak, als er den Gesichtsausdruck seines Herrn sah. Der Graf nahm bereitwillig den angebotenen Arm und ließ sich schweigend zur Kutsche führen, nach Hause fahren und zu Bett bringen, denn es war wieder kühl geworden, und er war erschöpft.

Franz Joseph nahm das Gespräch mit seinem alten Ratgeber ernst. Als wenige Tage später erwartungsgemäß die Ablehnung des Ultimatums eintraf, befahl er Graf Gyulai, sofort auf Turin loszumarschieren und die piemontesische Hauptstadt einzunehmen. Er entließ Graf Buol, um den Eindruck zu erwecken, dieser habe mit dem Ultimatum voreilig gehandelt.

Napoleon III. hingegen setzte von Paris aus über einhunderttausend Mann in Bewegung. Er selbst wollte den Oberbefehl ausüben.

Der alte Metternich sollte recht behalten. Ganz Europa akzeptierte, dass Piemont und Frankreich gegen Österreich mobilisierten, obwohl weder Viktor Emanuel noch Napoleon Franz Joseph den Krieg erklärt hatten. Franz Joseph hatte sich selbst den Krieg erklärt.

1Worterklärungen findet man im Glossar ab Seite 217

Der Jäger des Kaisers

Karl versorgte konzentriert das Gewehr. Er ölte die Scharniere, wischte mit einem weichen Tuch über den Lauf, legte den Stutzen in die Gewehrtasche und hängte ihn auf den hoch oben montierten Haken im Schuppen. Die ihm seit Jahren vertrauten Handgriffe erledigten sich fast von allein.

Im Hof hörte man die Stimmen der anderen. Die jüngeren Geschwister drängten sich um den Vater. Alle wollten zusehen, wie der erlegte Hirsch zerteilt wurde.

Karl war stolz auf sich. Seit Tagen hatte der Vater nach dem verwundeten Tier gesucht, aber erst Karl war es heute gelungen, es im Unterholz aufzuspüren. Dafür hatte der Vater ihm den Schuss überlassen. Karl hatte das Tier nicht verfehlt.

Er war keine zehn Jahre alt gewesen, als der Vater ihm das erste Mal die Büchse in die Hand gedrückt hatte. Seit vier Jahren war auch er Mitglied im Schützenverein. Mittlerweile gehörten Karl und sein jüngerer Bruder Alois zu den vielversprechendsten Nachwuchsschützen. Beim Maifest im letzten Jahr hatten sie die entscheidenden Punkte gemacht, um die Schützen aus Hall zu besiegen.

Schon der Großvater hatte die Jagd in Arzl besessen und gemeinsam mit dem Hof an den Vater vererbt. Gleich hinter den Wiesen, auf denen immer die Kühe weideten, stieg der Hügel stark an. Dort stand zwischen groben Felsen der Fichtenwald, den die Rieders seit mehreren Generationen im Auftrag der Gemeinde bejagten.

Der Großvater wie der Vater hatten ein Gespür für ihren Beruf. Sie hegten die Tiere mit großer Sorgfalt. Im Winter kam es nicht selten vor, dass der Vater nach der Stallarbeit die Heuballen auf den Schlitten band, den Gaul vorspannte und zu den Wildfutterplätzen hinauffuhr, bevor er sich selbst ein warmes Essen gönnte.

Als Kind hatte Karl ihn oft auf diesen Ausfahrten begleitet, in ein Fell eingewickelt zwischen den Heuballen sitzend, mit roter Nase und steif vor Kälte. Nachdem der Vater das Heu abgeladen hatte, warteten sie. Versteckt zwischen den Büschen konnten sie beobachten, wie das Damwild leise näherkam, achtsam schnuppernd die Nase erhoben, und sich über das Futter hermachte.

Irgendwann würde Karl als ältester Sohn den Hof und die Jagd vom Vater übernehmen. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Karl überprüfte noch einmal, ob die Ledertasche der Büchse gut verschlossen war, und trat aus dem Schuppen.

Alois und der Vater hatten den Hirsch bereits gehäutet. Anna und Johannes standen daneben und reichten dem Vater, was er benötigte.

Johannes war mit seinen elf Jahren eigentlich alt genug, um bei dieser Arbeit öfter mitzuhelfen, aber von allen Rieder-Kindern war er am wenigsten an solchen Dingen interessiert. Am liebsten half er der Mutter im Garten, im Stall wirkte er immer etwas fehl am Platz, als würden die großen Tiere ihn einschüchtern. Dafür lobte der Lehrer seinen Fleiß, und der Pfarrer ließ ihn Bücher ausleihen, sodass die Eltern überlegten, wie sie ihren jüngsten Sohn auf eine höhere Schule nach Innsbruck schicken konnten.

Anna war eben neun Jahre alt geworden und hatte weniger Scheu vor dem Schlachten, aber weil ihr Geburtstag erst drei Tage her war, durfte sie noch ihre neue Bluse tragen, die sie nicht beschmutzen wollte.

Schließlich tauchten der Vater und Alois die Arme tief in den Holztrog, um sich zu waschen. Sie sahen einander so ähnlich, als wären sie Brüder mit großem Altersunterschied. Alois war gedrungen und kantig wie der Vater, klein, mit einem bulligen Nacken, kräftigen Armen und Beinen, die im Vergleich zum Oberkörper zu kurz wirkten. Der Vater trug einen Bart, und Alois ließ die ersten dunklen Haare, die an seinem Kinn sprossen, stolz stehen.

Karl sah ihnen nicht ähnlich, er war blond wie Johannes, Anna und die Mutter. Er war einen Kopf größer als der Vater und wirkte neben ihm trotzdem zart und schwächlich, ein Eindruck, der täuschte, denn die Arbeit auf dem Bauernhof hatte ihn kräftig gemacht.

Die Mutter war sehr schlank, aber sie konnte den großen Korb mit Äpfeln allein vom Karren in den Keller tragen. Die Eltern hatten nur einen Knecht und zwei Mägde im Dienst, sie arbeiteten hart und erwarteten von ihren Kindern tatkräftige Mithilfe.

Alois und der Vater krempelten die Hemdsärmel wieder hinunter. Ende April hatte die Sonne zwar bereits Kraft, aber der Wind war kühl.

Die Mutter und die Magd Rosa waren den ganzen Tag bei der Rübenaussaat gewesen, aber jetzt kamen sie vom Feld herüber, um den Hirsch zu bewundern. Ein wegen einer Verletzung geschossenes Tier durfte der Jäger behalten, und alle freuten sich auf den Wildschmaus.

Man umstand den toten Hirsch und beriet, ob man einen Teil gleich für das heutige Abendessen verwenden sollte. Karl hörte nur am Rande zu. Schon seit einigen Tagen ging ihm etwas anderes im Kopf herum. Natürlich freute er sich, als der Vater seinen guten Schuss lobte und Rosa ihm anerkennend auf die Schulter klopfte, aber wie er seine Familie so im Hof des elterlichen Hauses stehen sah, konnte er nur daran denken, dass sie in Gefahr war.

Seit einer Woche wussten alle, dass der Kaiser in Wien einen Krieg erklärt hatte. Der Vater las den „Tiroler Tagesboten“, und Karl hatte selbst die Artikel überflogen: Nach den unerträglichen Beleidigungen durch den piemontesischen König in Italien war es unvermeidbar geworden, dass der Kaiser das Heer mobilisierte, um das Vaterland zu schützen. Der Journalist hatte betont, wie wichtig diese Maßnahme für die Bevölkerung sei: Würde man diesen Angriffen nichts entgegenstellen, könnten die rebellischen Provinzen zum Piemont überlaufen.

Tirol grenzte an die Lombardei, und der Gedanke, plötzlich die Piemontesen als Nachbarn zu haben, sorgte für Unruhe. Nach wenigen Tagesmärschen konnte ein feindliches Heer im Land einfallen, eine beängstigende Vorstellung.

Karl kannte Kaiser Franz Joseph von den Bildern, die im Gasthaus und in der Stube des Bürgermeisters hingen. Auch im Vereinsraum der Schützen war ein Porträt des jungen Monarchen angebracht.

Viele der Schützen hatten bereits ihren Armeedienst bei den Tiroler Kaiserjägern hinter sich, der Einheit des österreichischen Heeres, die der Kaiser so schätzte, dass er ihr ständiger Regimentsinhaber war. Die Kaiserjäger waren die besten Schützen und wurden an besonders verantwortungsvollen Positionen eingesetzt. Jeder Junge hier träumte davon, einmal ihre graugrüne Uniform zu tragen.

Und jetzt war die Ehre des Kaisers beleidigt worden und die Heimat in Gefahr. Karl war achtzehn, es würde dauern, ehe er zur Armee einberufen werden würde. Dabei brannte in ihm mit jedem neuen Bericht über die italienischen Frechheiten mehr das Verlangen, selbst etwas zur Unterstützung des Landes zu tun.

Herbert, der Knecht, gesellte sich zur Gruppe. Er bewunderte den Hirsch und nickte Karl anerkennend zu, aber eigentlich suchte er einen Helfer, um am Zaun hinter dem Hühnerstall einige Pfosten auszutauschen. Karl bot sofort seine Hilfe an. Herbert war ein schweigsamer Geselle. Karl war es nur recht, bis zum Abendessen ohne viel zu reden nachdenken zu können.

Am Sonntag nach dem Kirchgang trafen sich die Schützen im Wirtshaus. Alois hatte sich schnell zu seinen Freunden gesellt und war verschwunden. Karl blieb neben dem Vater am Tisch, wo der Bürgermeister, der Leimer-Bauer und der Schneider saßen. Sebastian, der älteste Leimer-Sohn, war auch dabei. Er war vierundzwanzig und seit drei Jahren im Dienst der Kaiserjäger. Auch heute trug er die Uniform. Sein Vater berichtete stolz, dass Sebastians Heimaturlaub verkürzt worden war. Möglicherweise würde er schon in wenigen Tagen Richtung Lombardei abreisen.

„Er wird ihnen zeigen, dass da, wo ein Tiroler hinschießt, lang nichts mehr nachwächst“, rief der Leimer-Bauer stolz in den Raum.

Einige der Umstehenden prosteten Sebastian zu, der verlegen grinste und mit den Hahnenfedern auf seinem Hut spielte.

Karl betrachtete den Hut sehnsüchtig: die breite Krempe mit dem dunkelgrünen Saum, der üppige schwarze Federbusch, alles passend zur Jacke, die hinter Sebastian auf dem Sessel hing, mit dunkelgrünen Aufschlägen an den Ärmeln und am Kragen und den goldgelb leuchtenden Knöpfen.

An diesem Sonntag blieb keiner lange vor seinem Glas sitzen. Man sprach eine Weile über den bevorstehenden Feldzug und war sich einig, dass es der zahlenmäßig überlegenen eigenen Armee keine Mühe bereiten würde, den piemontesischen Verräter zurück in sein Land zu treiben.

„Schnell müssen wir halt sein, wegen der Franzosen. Dass die die Italiener unterstützen, ist eine Schande“, warf der Schneider ein.

„Ach geh, Franzosen“, murrte der Bürgermeister. „Bis die dahergeritten kommen, sitzen wir schon in Turin.“

Aber der Einwurf des Schneiders war richtig. Der französische Kaiser verfügte über die erfahrenste Armee Europas.

Karl war optimistisch. Keiner hatte so viele Soldaten wie Franz Joseph, und ein Großteil des Heeres stand schon in der Lombardei. Ein Sieg war nur eine Frage weniger Wochen.

Andere blieben skeptisch, denn die ersten Nachrichten vom Feldzug versprachen nicht viel. Anscheinend zögerte Graf Gyulai, die Befehle des Kaisers umzusetzen.

Der Schneider verabschiedete sich bald. Auch die Leimers wollten nach Hause. Der Vater schloss sich ihnen an.

Karl sah Sebastians wippenden Federnbusch zwischen den Häusern verschwinden und fasste einen Entschluss.

„Ich möchte mich freiwillig melden“, sagte er beim Abendessen.

Dem Vater fiel das Stück Wildbret wieder vom Löffel.

Alle starrten Karl an.

„Zur Armee?“, fragte die Mutter.

„Ich bin alt genug. Ich könnte zu den Kaiserjägern kommen“, sagte Karl.

„Willst du Sebastian nacheifern?“, fragte der Vater.

„Ich möchte etwas gegen die Bedrohung tun“, antwortete Karl.

„Du müsstest erst in drei Jahren einrücken“, meinte Alois.

„Der Krieg wartet aber nicht drei Jahre.“

„Dir könnte etwas zustoßen“, sagte die Mutter.

„Herbert, was denkst du?“, fragte Karl.

Herbert war vor elf Jahren als Infanterist im ersten Krieg gegen Piemont gewesen. Der Vater hatte seine Dienstzeit in einem Regiment in Innsbruck abgedient und keine Kämpfe erlebt. Karl fand, Herbert habe zu dieser Sache mehr zu sagen.

Der Knecht legte in seiner gewohnt langsamen Art den Löffel zur Seite und wiegte den Kopf hin und her.

„Es ist eine schöne Sache, sein Vaterland zu verteidigen“, sagte er.

Karl nickte zufrieden. Herbert verstand ihn.

„Aber es ist nicht schön, so jung sein Leben zu verlieren“, fuhr Herbert fort. „Und der Krieg selbst, der ist auch nicht schön.“

Keiner aß mehr. Die Kinder starrten zwischen Karl und Herbert hin und her. Die Mutter sah auf ihre Schüssel hinunter, der Vater klopfte verärgert mit den Fingern auf den Tisch.

„Wie war es für dich?“, fragte Karl.

Wieder wiegte Herbert lange den Kopf hin und her.

„Das kann ich nicht erzählen“, sagte er, „man muss es selbst erleben.“

Herbert nahm seinen Löffel wieder zur Hand und aß weiter.

„Wer hilft mir am Hof?“, fragte der Vater.

„Du hast doch Alois“, sagte Karl, „und Johannes.“

„Und mich auch“, sagte Anna.

Der Vater sah in entschlossene Kindergesichter. Schließlich hob auch die Mutter den Kopf.

„Der Junge hat sich nun mal entschieden“, sagte sie. „Wir unterstützen doch alle, die sich einen Sieg gegen die Italiener wünschen. Wie sollen wir Karl seinen Wunsch verbieten?“

Karl hätte die Mutter am liebsten umarmt. Sie verstand, worum es ging.

Der Vater sah ein, dass die Sache entschieden war. In seiner Familie wurden wichtige Fragen immer gemeinsam besprochen, und alle am Tisch unterstützten Karl.

„Du musst zum Bürgermeister “,sagte er. „Der weiß, wo du dich melden sollst.“

„Ich werde morgen zu ihm gehen“, sagte Karl.

„Dann lasst uns jetzt zu Ende essen, ohne weiter vom Krieg zu reden“, sagte die Mutter.

Alle beugten sich wieder über ihre Schüsseln, und für den Rest des Essens hörte man nur mehr das Klappern der Löffel am Steingut.

Karl musterte seine Familie. Alois wackelte mit den Knien, dass die Bank schaukelte, bis der Vater ihn mit einem strengen Blick bedachte. Er war sicher neidisch auf den großen Bruder. Johannes und Anna warfen sich verstohlene Blicke zu und konnten es wohl gar nicht erwarten, später in der Kammer über diese Neuigkeiten zu reden. Nur dem Gesicht der Mutter sah man nicht an, was sie dachte.

Da begriff Karl, dass er diese Gesichter bald für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Für sie würde er diesen Weg auf sich nehmen, aber von ihnen getrennt zu sein, war schmerzvoll. Schon jetzt, am Esstisch, fühlte er sich einsam zwischen ihnen.

Der Bürgermeister war von Karls Einsatz begeistert und verwies ihn an das Regimentskommando in Innsbruck.

„So, wie du schießt, werden sie dich gleich zum Hauptmann befördern“, sagte er und klopfte Karl anerkennend auf die Schulter.

Karl erhielt einen Meldeschein und einen Gruß für die Eltern und machte sich wieder auf den Heimweg.

Herbert hatte sich Alois als Helfer für den Zaun geholt. Anna arbeitete mit den Mägden im Stall. Johannes hatte sich wahrscheinlich wieder irgendwo versteckt, um ein Buch zu lesen.

Die Mutter stand in der Küche und rührte in einem Topf. Auf dem Tisch lag ein Stapel Wäsche.

„Du musst selbst aussuchen, was du mitnimmst“, sagte sie. „Aber nicht zu viel, in einem Tornister ist kaum Platz.“

Karl sah die Wäschestücke durch. Die dicken Wollkleider brauchte er nicht, im Süden war es sicher wärmer als hier.

Ein Hemd zum Wechseln, ein wenig Unterwäsche und vor allem Socken. Trockene Füße, hatte ihm der Bürgermeister erklärt, waren für einen Soldaten das Wichtigste.

Karl betrachtete die Bücher, die auf der Holzbank übereinandergestapelt waren. Johannes hatte sie letzte Woche vom Pfarrer bekommen. Er nahm ein Gebetbuch zur Hand.

„Ich bin sicher, der Pfarrer hat nichts dagegen, wenn du es mitnimmst“, sagte die Mutter. Sie war leise neben ihn getreten.

„Und das nimmst du auch.“ Die Mutter legte ihm ihre Halskette in die Hand. Das kleine metallene Kreuz schimmerte.

Karl schüttelte den Kopf.

„Aber das ist deine Kette. Der Anhänger bedeutet dir so viel.“

„Und genau darum muss er mit dir mit“, sagte die Mutter und drehte sich wieder zum Herd.

Karl stand in der Stube, den Anhänger in der Hand, und kam sich sehr verloren vor. Schnell legte er sich die Kette um den Hals. Das Metall des Kreuzes war kühl auf der Haut.

„Wo ist der Vater?“

„Im Wald. Bei der unteren Futterstelle muss ein Stück Holz ausgetauscht werden. Er wird bald wieder da sein.“

„Ich gehe ihm entgegen“, entschied Karl.

Das war ihm spontan eingefallen. Er hätte schon Arbeit gefunden, Holz hacken, beim Zaun mithelfen, bei den Schweinen ausmisten. Aber heute fühlte er sich bereits zu weit vom Alltag auf dem Hof entfernt. Er stieg den Weg zum Wald hinauf. Schon nach kurzer Zeit musste er die Jacke ausziehen, die Sonne brannte ihm ins Genick.

Er würde in Italien darauf achten müssen, dass seine Wasserflasche immer gut gefüllt war, er wusste von langen Wanderungen, wie schnell beim Marschieren in der Hitze der Durst aufkam.

Am Waldrand lehnte Karl sich an eine hohe Fichte und schaute ins Tal hinunter. Mit dem Berg im Rücken sah er nach Süden, wo der Inn Richtung Innsbruck floss. Südlich des Flusses erhob sich der Brenner, irgendwo dahinter lag die Lombardei und daneben Piemont. Weiter als bis Innsbruck war Karl noch nie gekommen. Es war ein wunderschöner Nachmittag, nur einige hohe Wolken hingen über dem Brenner. Karl musste nicht lange warten, ehe der Vater pfeifend aus dem Wald trat, die Tasche mit dem Werkzeug umgehängt, den geborstenen Holzpflock, den er durch einen neuen ersetzt hatte, in der Hand.

Karl trat aus dem Schatten, der Vater nickte ihm zu.

„Morgen Früh breche ich auf.“

„Gib acht auf dem Weg“, sagte der Vater.

Karl wusste, dass er nicht die kurze Reise nach Innsbruck meinte.

„Sicher“, antwortete er schnell.

Die beiden Männer gingen schweigend zurück zum Hof. Karl fiel auf, dass er mit dem Vater noch nie ein langes Gespräch geführt hatte. Gern hätte er ihm gesagt, wie dankbar er war für die letzten achtzehn Jahre.

Viele Worte waren nie die Art des Vaters gewesen, und Karl wusste nicht, wie er beginnen sollte. Stattdessen nahm er dem Vater die Werkzeugtasche ab und brachte sie in den Schuppen, wo er ein letztes Mal lange die beiden Jagdgewehre betrachtete. Bald würde er sein eigenes Gewehr haben, keinen solchen Stutzen, sondern eines der modernen Geräte, von denen Sebastian geschwärmt hatte.

Das Abendessen verlief schweigend. Anna und Matthias gingen ins Bett und bettelten gar nicht, länger aufbleiben zu dürfen. Karl blieb eine Weile mit den anderen am Tisch sitzen, aber da er nichts mehr zu sagen wusste, verabschiedete er sich mit der Begründung, morgen einen langen Tag vor sich zu haben.

Später hörte er, wie die Eltern zu Bett gingen. Ihr leises Murmeln, der Vater tief brummelnd, die Mutter höher und deutlicher, als sie das Nachtgebet sprachen, war Karl vertraut und neu zugleich.

Noch nie war ihm aufgefallen, in welch gleichmäßigem Rhythmus das Leben auf dem Hof ablief. Als Kind hatte er sich manchmal gelangweilt und auf Abenteuerreise in die weite Welt geträumt. Jetzt schien ihm das Zuhausebleiben verlockend wie nie.

Dann dachte er wieder an den Kaiser und welche Gefahr der italienische König für Österreich darstellte. Karl ballte entschlossen die Hände zu Fäusten. Er würde bald wieder in diesem Bett schlafen und die Gebete der Eltern hören, aber zuerst war sein Platz woanders.

Am nächsten Morgen blieb er lange liegen, es war das erste Mal in seinem Leben, dass er nicht mit den anderen aufstand, ohne krank zu sein.

Er wartete, bis die jüngeren Geschwister sich auf den Schulweg gemacht hatten. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zog er die frisch gewaschenen Kleider an, die die Mutter ihm zurechtgelegt hatte.

In der Küche stand ein Krug Milch und daneben lagen einige Schnitten Brot mit Butter. Karl aß im Stehen, der Gedanke, sich noch einmal auf der Bank niederzulassen, bereitete ihm Unbehagen.

Schnell waren die letzten Habseligkeiten gepackt.

Der Vater und Herbert beluden vor dem Haus den Wagen, um in den Wald zu fahren. Die Mägde schepperten im Kuhstall mit den Eimern. Von der Mutter war weit und breit nichts zu sehen.

„Bring mir eine Mohnblüte mit“, bat Herbert. „Ich hatte eine, damals vor elf Jahren, die ich auf einer Wiese neben unserem Feldlager gepflückt habe. Aber die ist längst zerfallen.“

Karl versprach, daran zu denken und hielt auch dem Vater zum Abschied die Hand hin. Der Vater schüttelte sie lange und legte noch seine linke Hand darauf.

„Wo ist Mama?“, fragte Karl.

„Sie ist vorhin zum Kräutergarten gegangen“, sagte der Vater.

Die beiden Männer bestiegen den Wagen. Herbert schnalzte mit der Zunge, das Pferd zog an. Langsam fuhren sie vom Hof, auf den Waldweg zu. Kurz bevor sie um eine Ecke bogen, drehte der Vater sich noch einmal um und hob als letzten Gruß den Arm.

Karl suchte beim Gemüsegarten nach der Mutter, bei den Ställen und im Haus, aber sie war nirgends. Vielleicht grämte sein Weggehen sie so sehr, dass sie sich versteckt hatte? Der Gedanke schmerzte Karl, aber nach einer Weile wusste er nichts anderes mehr zu tun, als seinen Rucksack zu nehmen und zu gehen.

Die Mutter erwartete Karl auf dem Weg zur Straße, auf der Bank neben der Weide. Als er vor ihr stehen blieb und den schweren Rucksack noch einmal absetzte, fühlte er sich verloren.

„Ja, ich gehe dann“, sagte er.

Sie nickte. „Ich habe hier auf dich gewartet, damit ich die letzte bin, die dir hinterher schauen kann. So etwas ist Müttern wichtig, weißt du.“

Karl lächelte verlegen und die Mutter lächelte zurück.

„Ich werde achtgeben, du musst dich nicht fürchten“, sagte er.

„Das tue ich sowieso, das muss dir kein Kopfzerbrechen machen“, erwiderte sie und stand auf.

„Erinnerst du dich, als du in den Teich gefallen bist? Du warst keine fünf Jahre alt.“

Karl nickte. „Alois hat mich geärgert, da lief ich weg. Ich rutschte am vereisten Hang aus. Das Wasser war so kalt, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Der Vater hat mich herausgezogen.“