Manchmal dreht das Leben einfach um - Kathrin Steinberger - E-Book

Manchmal dreht das Leben einfach um E-Book

Kathrin Steinberger

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Beschreibung

Ali ist hochbegabt und daher für ihre Mitschüler etwas exotisch. In Alis Nachbarhaus zieht der junge Skater Kevin ein, der wegen eines schweren Unfalls seine Profi-Karriere beenden musste. Ali lernt Kevin kennen, sie treffen sich zum Skifahren und er bringt ihr das Snowboarden bei. Als seine Skaterfreunde zu Besuch kommen, erlebt Ali zum ersten Mal, dass sie sich unter anderen jungen Leuten nicht als Außenseiterin fühlt. Kevin und sie verlieben sich ineinander und erleben beide ihre erste Beziehung. Aber Ali spürt, dass Kevin immer wieder auf Distanz zu ihr geht. Dann ist er plötzlich weg. Auf Alis Anrufe reagiert er nicht, schickt nur eine SMS. Ali ist verzweifelt. Als Kevin endlich zurückkommt, erklärt sich nicht nur sein Verschwinden, sondern auch seine Verschlossenheit. Dann beginnt Ali zu studieren, Kevin steigt in das Geschäft eines Skaterfreundes ein und das Leben wendet sich - und wendet sich wieder.

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Seitenzahl: 379

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Kathrin Steinberger

Manchmal dreht das Leben einfach um

 

Kathrin Steinberger

wurde 1982 in der Steiermark geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaft.

Sie arbeitet als freie Autorin und lebt in Wien.

Bei Jungbrunnen ist folgender Titel lieferbar: Die Brüder von Solferino (2010, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien)

 

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien.

ISBN 978-3-7026-5894-6

1. Auflage 2015

Einbandgestaltung: b3k unter Verwendung eines Fotos von Immanuel Gfall © Copyright 2015 by Verlag Jungbrunnen WienAlle Rechte vorbehalten

Kathrin Steinberger

Manchmal dreht das Leben einfach um

Jungbrunnen

Old habits heavy on our hearts.You better leave them behind. […]Gather the stars, gather the stars now.They’ll be gone sooner or later.Claire. Pioneers.

Caught in the fire, say oh.We’re about to explode.Carry your world. I’ll carry your world. […]And all your hurt.Coldplay. Atlas.

Es war Herbst, mein letzter Herbst zu Hause. Die Straßen vor mir, vor den Rädern meines Fahrrads, waren vertraut. Das Etappenziel in Reichweite, der Schulabschluss. Die Wege dahinter schienen bereits klar, aber ich wusste nicht, ob ich ihnen folgen wollte, doch genausowenig, welche andere Abzweigung ich nehmen sollte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Füße die Richtung bestimmten. Aber die Kurve, in die ich schließlich eingebogen bin, hatte ich auch nicht erwartet …

Unsere Stadt nennt sich Stadt, weil sie genügend Einwohner für diesen Status hat. Aber es ist doch albern, zehntausenddreihundertachtundzwanzig Menschen, laut Registerzählung von 2011, als Stadt zu bezeichnen, wenn auch Paris eine Stadt ist. Paris, Hauptstadt von Frankreich, mit Jänner 2012 zwei Millionen zweihundertvierzigtausendsechshunderteinundzwanzig Einwohner. Ja gut, manchmal funktioniert das Stadtgefühl, wenn auf dem Hauptplatz zwischen Cafés und Einkaufszentrum viel los ist. Aber ich wohne am Stadtrand und kann ehrlich nicht sagen, dass ich mich als Städterin fühle.

Unser Haus steht nicht nur am Rand der Stadt, es steht am Rand der Siedlung am Rand der Stadt. Vor zwanzig Jahren haben hier die Bauern ein paar Felder verkauft und die Leute haben ihre Häuser gebaut, auch meine Eltern, Vierzig Prozent Eigenleistung, sagt mein Vater. Durch mein Fenster sehe ich Wiesen, Felder und den Wald. Noch vor sieben, acht Jahren haben wir als Kinderhorde zwischen den Maisstauden Verstecken gespielt.

Jetzt ist es anders. Aus den meisten Feldern sind unbestellte Wiesen geworden. Anna, meine beste Freundin von gegenüber, ist weggezogen, als ihre Eltern sich scheiden ließen. In ihrem Haus wohnt jetzt eine Familie mit kleinen, mir fremden Kindern, die mit anderen kleinen, mir fremden Kindern herumlaufen. Nadine arbeitet als Friseurin und hat eine eigene Wohnung in der Altstadt, ich sehe sie nicht mehr. In mein Gymnasium gehen nur wenige andere aus dem Viertel, aber die sind alle jünger. Ich war eigentlich immer hier, aber irgendwann, ich kann nicht sagen, wann genau, habe ich mich einmal umgesehen, und alles war verändert.

Erklärung von Namen und Begriffen im Glossar ab Seite 276.

Meine letzten Sommerferien verbringe ich auf meinem Rad. Ich fahre zu meinem Job, wie schon die beiden Jahre davor, drei Wochen Aushilfe bei der Post. Mein Vater legt Wert auf solche Dinge, Die lange Schulzeit ist ein Privileg, versucht euch wenigstens mal in echter Arbeit. Er liebt blumige Reden. Mich stört es nicht, auf der Post ist im Sommer nichts los und das Geld kann ich gut brauchen. Für zwei Wochen sind wir auf Teneriffa, zum sechsten Mal in zehn Jahren, meine Eltern sind Gewohnheitstiere. Passt das Buffet, kommen sie wieder; wie die Küchenschaben. Zu Mariä Himmelfahrt fahren Isa und ich fürs verlängerte Woche an einen See, Campingbungalow, schwimmen, Wasserski. Das war es mit Urlaub. Wozu habe ich einen Pool, sagt mein Vater. Ich radle zu Isa und mit ihr ins Bad, wir faulenzen bei uns im Garten, oder ich fahre die Waldwege auf und ab.

Ich radle auch in die Schule, als sie wieder losgeht. Die Lehrer überschlagen sich, Maturaklasse, große Aufgaben, Bewährungsprobe. Genug Schüler lassen sich davon anstecken und sind noch weniger auszuhalten als sonst.

Mir ist das einerlei. Schulaufgaben haben mich noch nie gekümmert. Ich musste nie Zeit investieren, bis ich etwas gelernt hatte. Ich schaue hin, ich höre zu, ich lese es einmal, fertig.

Ich bin hochbegabt. Im Kindergarten haben sie zuerst gedacht, dass ich irgendeine soziale Störung hätte, weil ich nicht Kartons mit Kastanienblättern bekleben wollte, dabei war ich nur unterfordert. Seither bin ich das Wunderkind, auch wenn ich es hasse, dass man mich deshalb immer anders behandelt. Die Begeisterten mag ich noch weniger als die Abschätzigen; haben muss ich beide nicht. Aber bei manchen ist man automatisch unten durch, wenn man ohne Aufwand nur Einsen kriegt. Ich vermute mal, es nervt sie, dass sie einen nicht mal Streber schimpfen können. Aber dass ich nicht Schulballkönigin werde, macht mir nichts aus, ich hab es nicht so mit Menschen.

Als ich in der ersten Schulwoche am Donnerstag heimradle, muss ich nach der letzten Kurve scharf bremsen. Große Baulaster verstellen die halbe Straße. Direkt neben unserem Gartentor parkt ein Betonmischer, dahinter stehen zwei Lkws, auf deren blauen Planen Bauen Sie mit Marković steht.

Neben unserem Haus liegt der Karglhof, eines der ältesten Häuser der Siedlung. Kargls waren Kleinbauern. Vor drei Jahren ist die alte Frau Kargl gestorben, und dass die beiden Söhne sich gestritten haben, was mit dem Erbe – dem Hof, ein paar Wiesen und einem Stück Wald – passieren soll, war für die Leute ein reizvoller Anlass zum Tratsch. Anscheinend ist der Streit beendet, denn irgendjemand richtet hier gerade eine Baustelle ein.

Meine Mutter steht in der Küche. Es riecht nach Gemüsereis. Ich kann Gemüsereis nicht leiden, aber ich verkneife mir jeden Kommentar.

„Vorm Kargl stehen Lastwagen.“

„Vielleicht müssen sie alles abreißen. Die Scheune fällt ja schon auseinander.“

Sie legt das Besteck auf den Tisch.

„Du kannst essen. Benni kommt später. Und kannst du mir nachher die Wäsche abnehmen?“

„Ich geh gleich, es schaut aus, als würde es bald regnen.“

An der Terrassentür schlüpfe ich in meine Crocs. Der Wind ist frisch, ich ziehe den Zipp meiner Weste zu.

Unser Garten ist groß. Den Pool hat mein Vater am Wochenende winterfest gemacht. Dahinter steht eine Gartenlaube. Auf der rechten Seite, wo eine Thujenhecke den Grund zum Karglhof abgrenzt, liegt der Gemüsegarten, den meine Mutter immer weniger nutzt.

Daneben, gleich neben den Terrassenstufen, stehen der Kirschbaum und das Klettergerüst mit den Schaukeln, auf dem Benni und ich viele Stunden verbracht haben. Wir sind längst zu alt, das Holz ist verwittert, aber noch hat es niemand übers Herz gebracht, es zu entfernen. Vielleicht turnen mal die Enkel drauf, sagt mein Vater, es klingt nach Ausrede.

Auf der Wäschespinne hängt trockene Bettwäsche. Ausgerechnet. Es nervt, die großen Laken zusammenzulegen. Macht man es nicht ordentlich, gibt es Falten, dann müht sich meine Mutter beim Bügeln ab und ihr gebeugter Rücken ist ein stummer Vorwurf, den sie selbst einem nie machen würde. Sie hat einen Wäschetrockner, will aber immer Energie sparen. Ich ordne alles so schön wie möglich in den Korb. Als ich ihn zum Haus zurücktrage, wummern beim Kargl schwere Baugeräte los.

Der Gemüsereis kann warten. Ich stelle die Wäsche auf die Terrasse. In der rechten hinteren Gartenecke kann man durch die Thujen schlüpfen. Als Kinder haben wir das ständig gemacht. Heute kürze ich so meinen Weg zum Wald ab, wenn ich meine Sportrunden drehe. Hinter den Häusern liegen nur Wiesen, neben den Zäunen und Hecken verläuft ein schmaler Pfad. Und man kommt am Karglhof vorbei. Die alte Buchenhecke dort hat genug Löcher, durch die ich in den Garten hinterm Wohnhaus sehen kann.

Früher waren hier der Gemüsegarten der Bauern und daneben ein gepflasterter Hof mit einem Geräteschuppen. Der verfallene Holzzaun hat ein Tor, durch das Herr Kargl, an den ich mich kaum erinnern kann, mit dem Traktor auf die Wiese fahren konnte. Zwischen dem kleinen Wohnhaus und unseren Thujen steht eine Gruppe wunderschöner alter Birken. Das Haus selbst ist ein kleiner recht eckiger Bau, mit winzigen Fenstern und einem Schindeldach. Als ich ein Kind war, fand ich, dass es ein wenig wie ein Hexenhäuschen aussah, aber heute kann keine Fantasie darüber hinwegtäuschen, dass es einfach ein altes, verwahrlostes Haus ist. Überall wuchern Holunderbüsche, das Dach des Schuppens ist eingestürzt. Aus dem Haus dringt der Lärm von Maschinen, so laut, als würde jemand Wände abreißen. Da geht die Tür in den Garten auf, zwei Männer kommen heraus und zünden sich Zigaretten an. Kurz sieht man die Staubwolken im Raum, dann fällt die Tür wieder zu. Ich ducke mich hinter die Hecke, damit sie mich nicht sehen.

„Lächerlich, dass wir drinnen nicht rauchen dürfen. Wird ja doch alles rausgerissen.“

„So sind die Reichen. Wenn einer es sich leisten will das herzurichten, obwohl drüberplanieren einfacher wär, kann er sowas anschaffen.“

Es beginnt zu nieseln. Ich schleiche leise davon.

Meine Mutter hat den Reis auf den Tisch gestellt. Ich esse widerspruchslos. Sie fragt nicht, wo ich so lange war, und ich sage nicht, dass ich spioniert habe.

Zwei Monate lang stehen an der Straße ständig die Lastwagen der Baufirma, und dazu welche von Tischlern, Ofenbauern, Elektrikern, Bodenlegern, Dachdeckern, Zimmerleuten, Installateuren und Fliesenlegern. Von morgens bis abends kracht und hämmert es vor sich hin. Meine Mutter, die wenig aus dem Haus kommt, beklagt sich, dass ihr der ständige Lärm die Nerven raubt.

Schnell spricht sich herum, dass irgendjemand den Hof samt Grund und Wald gekauft hat. Der Tratsch brummt. Jede Woche wird ein neuer Besitzer aus dem Hut gezaubert: mal ein bayrischer Adliger, der seine Ruhe vor dem Münchner Schickimicki-Leben sucht, dann ein russischer Industrieller, der von hier aus das zwanzig Autominuten entfernte Skigebiet nutzen will. Den Vogel schießt die penetrante Angestellte unserer Bankfiliale ab, die einen arabischen Scheich als Bauherren vermutet und jedem Kunden vorjammert, dass das letzte, was diese Stadt braucht, irgendwelche Taliban mit zehn verschleierten Frauen seien.

Das ist alles Unsinn, aber ich bin selbst gespannt auf die Wahrheit. Immer wieder zieht es mich beim Joggen oder Radeln zur Buchenhecke. Auf dem Grundstück wimmelt es von Handwerkern. Was sich im Haus ändert, sehe ich nicht, aber wo die Fenster waren, werden große Löcher in die Wände gestemmt. Der Geräteschuppen wird tatsächlich abgerissen. Eine Weile sieht das Haus aus wie ein Kunstwerk von Christo, und als das Gerüst Ende Oktober abgebaut wird, traue ich meinen Augen nicht. Die schmutziggelbe Fassade hat einen weißen Verputz bekommen, statt der kleinen Fenster gibt es riesige Glasflächen, und die alten Schindeln wurden durch wunderschöne neue in einem edlen Grau ersetzt. Solarkollektoren glitzern in der Herbstsonne. Es ist immer noch der Karglhof, aber gleichzeitig auch ein völlig neues Haus.

Als einmal die Rede darauf kommt, schüttelt mein Vater den Kopf.

„Vier Monate hat es gedauert, bis bei uns mal der Rohbau samt Dach stand. Und dann haben wir noch fast ein Jahr lang selbst Hand angelegt, bis wir einziehen konnten. So ist das bei normalen Leuten. Wer Firmen bezahlen kann, die eine Renovierung so schnell durchziehen, muss Geld haben wie Heu.“

Am Ende ist der Garten dran. Schöner neuer Zaun mit stabilem Tor. Die Beete kommen weg, ein Gärtner bessert den Rasen aus und füllt die Hecke mit neuen Büschen auf. Aber der Großteil wird nur planiert und dann kommt noch einmal eine Baufirma mit Mischmaschinen und vielen Säcken Zement. Ich begreife erst, was sie betonieren, als sie fast fertig sind: eine große ebene Fläche, darauf ein länglicher Quader, eine kleine Schanze, ein niedriges, parallel zum Boden verlaufendes Metallrohr, an den Enden des Areals zwei Rampen, die einen Niveauunterschied in der Ebene bilden, in der Mitte eine Treppe samt Geländer. Und das größte, gut zwei Meter hoch, ein U-förmiges Gebilde. Ich starre auf die Bauarbeiten, dann schreibe ich Isa.

Unser neuer Nachbar baut sich eine Halfpipe in den Garten.

Dann ist es eher nicht der Taliban. Haremsdamen skaten nicht. ;-)

Als der echte Besitzer einzieht, liege ich mit meiner jährlichen Herbstgrippe im Bett und kriege nichts mit. Zwei Tage später, als ich zurück in der Klasse bin, wissen es alle. Sein Name ist Kevin Donner. Wenige kannten ihn, aber in der Schule reden alle über ihn, als wäre er immer schon ihr großes Idol gewesen. Isa klärt mich auf.

„Er ist ein professioneller Skateboarder. Anscheinend ziemlich berühmt, aber er ist schwer gestürzt und hat aufgehört.“

„Und was macht er hier?“

„Das weiß keiner. Aber wenn du den anderen zuhörst, denkst du, dass er seit Ewigkeiten ihr bester Freund ist. Die Damen liiiiiieben ihn seit dem Sandkasten.“

Isa ist klein und nicht ganz dünn, hat die schönsten dunkelblauen Augen und den bösesten Humor der Welt. Sie beißt an ihren Nägeln und manchmal auch an den ausgefransten Spitzen ihrer dunkelblonden Haare und ärgert sich dann über sich selbst. Isa ist auch klug und gerecht und loyal. Ihre Welt endet nicht bei Burschen und Nagellack. In Spanisch und Englisch lasse ich sie abschreiben, aber bei Zahlen und Formeln ist sie so gut wie ich. Als ich nach der Unterstufe in diese Klasse gekommen bin, haben uns die Lehrer in Mathe, Geometrie und Physik sofort zum Pärchen für Sonderaufgaben gemacht. So haben wir uns angefreundet. Ich bin unendlich froh, sie zu haben.

Die Geschichten werden immer absurder. Er wohnt dort ganz allein, kriegt aber Besuch von Blur und Avril Lavigne. Er besitzt ein Dutzend Autos und Motorräder und ein Pferd. Das Haus ist wie eine riesige Edelhütte in Hollywood eingerichtet.

Das Karglhaus hat vielleicht achtzig Quadratmeter.

Kurz bin ich interessant, weil wir neben ihm wohnen, aber als ich sage, dass ich ihn noch nie gesehen habe und mir Skater total egal sind, gehen meine fünf Minuten Ruhm glücklicherweise schnell vorbei.

Auf den Nachbarn bin ich trotzdem neugierig. Aber mein Vater ist da, darum muss ich die Sache diskret angehen. Wenn er herausfindet, dass ich hinter einer Hecke andere Leute beobachte, hält er mir eine Predigt. Wenn jemandem der korrekte Krawattenknoten genetisch vorgegeben wurde, dann meinem Vater. Er arbeitet bei einer Versicherung, aber nicht als Vertreter, der gesunden Leuten Unfallversicherungen aufdrückt, sondern in der Verwaltung für Auslandsgeschäfte mit Firmen. Internationales Management, sagt mein Vater. Er ist viel auf Geschäftsreisen und höchstens zwei Wochen im Monat zu Hause. Er war der Erste in seiner Familie, der maturiert hat. Business-Englisch. Rechtskurse. Abends, neben seinem ersten Job. In der Welt meines Vaters hat alles und jeder korrekt zu sein. Ordentlich, sagt mein Vater. Sitz ordentlich. Iss ordentlich. Zieh dir was Ordentliches an.

Mein Vater ist zwiespältig, was den neuen Anrainer angeht. Wer so viel Geld und Einfluss hat, um eine alte Bauernhütte in Rekordzeit in ein Schmuckstück zu verwandeln, der ringt meinem Vater Respekt ab. Außerdem ist der Schandfleck im Viertel nun weg. Die Hecke getrimmt, die Einfahrt asphaltiert, der morsche Zaun durch einen neuen ersetzt. Das ist die Art von ordentlich, die mein Vater schätzt.

Andererseits ist der Nachbar ein Skateboard fahrender, alleinstehender junger Kerl, der einen möglicherweise mit irgendeiner Form von Lärm belästigt, und solche Störungen verträgt mein Vater gar nicht.

Ich tue also so, als wäre mir Kevin Donner piepegal und verziehe mich nach dem Abendessen in mein Zimmer. Dass ich viel lernen muss, ist für meine Eltern immer glaubwürdig, auch wenn ich gar nichts mache.

Ich setze mich an den PC und tippe Kevin Donner in Tante Google ein. Der Computer schlägt mir ein YouTube-Video vor: Kevin Donner horrible slam.

Ich nehme zuerst Wikipedia, für die Fakten. Ein kurzer Artikel ohne Foto.

Kevin Donner wurde am 14. April 1993 in Fürstenfeldbruck (Bayern, Deutschland) geboren und wuchs in der Gemeinde Alching westlich von München auf. Sein erstes Skateboard bekam er als Kind. Kurz nach dem Beginn einer Lehre zum Heizungsinstallateur wurde er im Sommer 2008 beim Wild in the Parks in München entdeckt. Donner machte sich mit dem außergewöhnlichen Talent, sowohl in der Halfpipe als auch Street auf hohem Niveau zu skaten, schnell einen Namen, wurde sofort als Flow ins Team von y-wear shoes verpflichtet und im Oktober 2008 ins Amateurteam von HarshTape übernommen, wo er im April 2009 Profi wurde. Im Dezember 2008 wurde seine Aufnahme als Amateur bei Castor&Pollux Skateboarding bekanntgeben, Anfang Mai 2009 stieg er nach dem Abschied von Patrice Arroux zu den Pros auf, wo er gemeinsam mit Kenneth Scott (USA), Tony Marsino (CAN), Luis Egas (ESP) und Hunter Hansley (USA) die „Mad Squad“ (© Hansley) bildete.

2010 wurde Donner noch Weltmeister in der Vert, legte seinen Schwerpunkt aber immer mehr auf Street und wurde 2011 bei den X-Games in Los Angeles im Street-Contest Zweiter hinter seinem Teamkollegen Luis Egas, 2012 gewann er selbst Gold. Donners vielversprechende Karriere endete schon am 23. März 2013, als er sich bei einem Sturz im Vert-Contest bei der Europe-Tour in Amsterdam einen komplizierten Beinbruch zuzog. Vier Wochen später gab er seinen Rücktritt vom Profisport bekannt.

Ich bin überrascht, dass er Deutscher ist, bei dem Namen hätte ich eher mit einem Amerikaner oder Engländer gerechnet. Andererseits wäre es noch unlogischer, dass ein Amerikaner hierher zieht, Bayern ist zumindest in der Nähe.

Unter dem Artikel ist ein Link zu seiner Website, aber ich bekomme nur die Rückmeldung Server error.

Also das Video. Ein Ausschnitt aus einer dieser Shows über grauenhafte Sportunfälle. Ich schalte die nervige Stimme der Moderatorin weg. Ein Kerl mit einem grünen Shirt und einem weißen Helm steht im Anlauf zu einer riesigen Halfpipe, man sieht ihn nur von hinten. Er klappt das Skateboard nach unten, beschleunigt, steigt auf der gegenüberliegenden Kante hoch in die Luft, macht so etwas wie einen Salto, während sich das Skateboard irgendwie unter ihm dreht, landet sicher, rast auf der anderen Seite die Vertikale hinauf, der nächste Trick, noch höher, und wieder auf der anderen Seite hinauf. Der Sturz wird mehrmals in Zeitlupe gezeigt und tut schon beim Zusehen weh. Er greift zum Skateboard, sicher drei Meter über der Kante, wirbelt schnell um sich selbst. Als er es wieder unter seine Füße schieben will, rutscht es ihm weg, er fällt, versucht noch, sich nachzudrehen, aber er knallt mit der linken Seite ungebremst in die Kante. Bein, Hand und Kopf schlagen gegen das Holz, er rutscht reglos in die Mitte hinunter. Andere Skater rennen zu ihm und dann kommen auch Sanitäter. Man sieht deutlich, wie schief sein Unterschenkel absteht. In der Videoinfo steht: In his terrible slam, Kevin Donner broke his left cheekbone, nose, left thumb, wrist and his left lower leg, which needed three surgeries and eight weeks with a fixateur externe to heal. So sad for the skateboarding community, his career ended that March 23rd, 2013, in Amsterdam.

Ich suche nach fixateur externe und bekomme furchterregende Bilder von Stahlgerüsten geliefert, die Leuten zur Ruhigstellung in die gebrochenen Knochen geschraubt werden.

Mein Vater findet, ein Genie wie ich müsse einen Beruf ergreifen, der mein Talent so richtig zur Geltung bringt. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr für Medizin interessiert, Bücher mit anatomischen Bildern verschlungen, ständig Grey’s Anatomy geschaut habe.

Grey’s Anatomy. Fernsehserie aus den USA, vom Fernsehsender ABC. Läuft seit 2005, momentan in der zehnten Staffel. Ellen Pompeo als Dr. Meredith Grey. Patrick Dempsey als Dr. Derek Shepherd. Sandra Oh als Dr. Cristina Yang. Kate Walsh war Dr. Addison Montgomery, ehe sie mit Private Practice ihre eigene Serie bekam. Eine Gruppe von jungen Chirurgen muss sich etablieren, aber im Endeffekt geht es darum, wer gerade was mit wem hat, und ständig stirbt irgendjemand auf besonders kitschige oder entsetzliche Art und Weise.

Nun ist mein Vater seit dem Tag, an dem ich ihm alle Knochen des menschlichen Schädels aufgesagt habe, davon überzeugt, dass ich Ärztin werden muss, mindestens Neurochirurgin oder die Onkologin, die das Heilmittel gegen Krebs findet. Und ich fand es lustig, im Spiel meine Familie zu verarzten. Das Problem ist nur, ich habe diese Phase völlig hinter mir gelassen, hatte von Grey’s Anatomy nach Staffel vier genug und von echtem Blut wird mir schlecht. Der Fixateur gibt mir den Rest, ich drehe den PC ab und öffne mein Fenster für etwas frische Luft. Wenn ich mich hinauslehne, kann ich zwischen den Birken das Dach von Kevin Donner sehen. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf.

Er wurde zwei Stunden von hier entfernt geboren. Wenn man sich schwer verletzt, seinen Beruf aufgeben und sein gewohntes Leben hinter sich lassen muss, wieso zieht man ganz allein in eine kleine fremde Stadt im Nirgendwo?

Ein paar Tage später fährt mein Vater für zwei Wochen nach Ungarn. Ein wichtiger Geschäftsabschluss steht bevor, er ist nervös und gereizt. Streitet mit Benni wegen einer schlechten Note. Mäkelt am Essen rum. Als er weg ist, atmet sogar das Haus auf.

Ich ziehe meine Sportsachen an, um eine Runde zu drehen. Im Garten dehne ich meine faulen Beine und drehe den iPod an.

American Idiot. Siebtes und auflagenstärkstes Studioalbum von Green Day. 2005 meistverkauftes Album weltweit. Grammy als bestes Rockalbum.

Wake Me Up When September Ends. Dieses geniale Video mit Evan Rachel Wood und Jamie Bell. Wo erst nach einer Minute und vierundvierzig Sekunden das erste Instrument einsetzt.

summer has come and passed

the innocent can never last

Green Day. 1987 als Sweet Children gegründet. 1989 in Green Day umbenannt. Sänger und Rhythmusgitarre: Billie Joe Armstrong, geboren am 17. Februar 1972 in Piedmont, Kalifornien. Mike Dirnt am Bass. Tré Cool am Schlagzeug. Der Durchbruch kam 1994 mit Dookie. Bisher elf Studioalben. Sie reihen nicht nur Lieder aneinander, sie erzählen Geschichten, wie ein Film. Ihre Karriere ist älter als ich, aber ihre Texte packen mich immer wieder. Ich höre sie oft beim Sport, sie treiben mich an.

Ich fahre meistens mit dem Rad, aber in den letzten Tagen hat es viel geregnet und die Wege sind mir zu rutschig. Aber wenn ich so lange keinen Sport mache, werde ich ganz unruhig, also lieber Laufen.

Es ist ein schöner Novembertag, aber die Luft ist frisch, man spürt den nahen Winter. Ich mühe mich den Waldweg hinauf, aber als ich auf dem Hügel bin, von wo sich der Wald über mehrere Quadratkilometer beinah eben ausbreitet, ehe er hinter dem Fluss wieder steiler und steiniger wird, gerate ich in einen schönen Flow und laufe die große Runde bis zum Wasser. Als ich wieder an der Kuppe ankomme und die Siedlung zwischen den Bäumen sichtbar wird, bin ich angenehm ausgelaugt. Ich dehne mich am Waldrand und gehe langsam Richtung Thujenhecke.

Beim Karglhof höre ich das typische Geräusch, das Skateboards machen. Seit der Gärtner fertig ist, kann man kaum noch durch die Hecke sehen, sicher mit Absicht, damit der prominente Bewohner seine Ruhe hat. Aber das Klappern der kleinen Räder macht mich neugierig und ich finde eine Lücke, durch die ich den Garten sehe. Und Kevin Donner.

Er ist groß, deutlich größer als ich, und ich bin nicht klein. Schlank, aber athletisch. Er zieht das blaue Shirt hoch, um sich den Schweiß abzuwischen, über seiner rechten Hüfte ist ein dunkler Fleck, anscheinend ein Tattoo. Sein Gesicht ist jung, mit kräftigen Augenbrauen und einem Fünftagebart. Er hat wuschelige braune Haare, kinnlang, etwas heller als meine, die er mehrmals geistesabwesend hinter die Ohren streicht, aber sie fallen gleich wieder nach vorn.

Er trägt keine Schutzausrüstung, seine Jeans ist an den Knien aufgerissen, als hätte er damit bereits mehrmals unfreiwillig gebremst. Einmal rutscht er auf dem niedrigen Metallrohr ab und schürft sich den Ellbogen auf. Ich höre, wie er ein leises Fuck ausstößt, aber er versucht dieselbe Drehung gleich noch einmal, und dieses Mal gelingt sie.

Ich sehe ihm zu, bis ich merke, dass meine Füße in den feuchten Turnschuhen eiskalt sind. Kevin hat auch genug. Er schnalzt das Skateboard mit einem Fuß hoch, fängt es lässig mit einer Hand und geht zurück ins Haus.

Mein Vater kann zufrieden sein. Der neue Nachbar ist so ruhig, als wäre er nicht da. Gelegentlich hört man Musik, aber nie lange.

Besuch scheint er nie zu bekommen. Dass er ein Auto hat, weiß ich, weil ich ihn morgens einmal aus seiner Einfahrt biegen sehe. Ein roter Prius mit Hybridantrieb, das finde ich gut, kein protziger SUV oder so etwas. Aber meistens scheint er zu Hause zu sein. Wenn ich nachmittags jogge oder radle, höre ich ihn manchmal skaten und kann es mir dann nie verkneifen, kurz durch die Hecke zu linsen. Die Theorie einiger Leute, dass er von hier sein Comeback vorbereitet, glaube ich aber nicht. Er fährt einfach rum, ohne große Anstrengung. Manchmal frage ich mich, was er so treibt, den ganzen Tag.

Kurz nach dem ersten Schneefall ist er mal nicht mit dem Skateboard unterwegs, sondern sitzt auf einer Bank an der Hauswand und neben ihm steht ein Pferd. Also stimmt dieses Gerücht tatsächlich. Er lehnt in der Wintersonne, isst einen Apfel und spricht leise mit dem Tier.

Ich bin selbst mal sehr gerne geritten. Mit dreizehn hab ich damit aufgehört, in einer Phase, in der ich mir mehr Freunde gewünscht habe und es mich gestört hat, dass ich als pferdenärrische Streberin hingestellt wurde. Aber eigentlich finde ich Pferde toll, und dieses hier ist ein Prachtexemplar. Ziemlich groß und kräftig, dunkelbraun mit schwarzer Mähne und einem weißen Fleck auf der Stirn. Es spitzt die Ohren und hört aufmerksam zu, während es im Schnee nach Gras sucht, Kevin den restlichen Apfel aus der Hand stibitzt und sich kraulen lässt. Als es den Kopf zur Hecke dreht, ducke ich mich und schleiche leise weg.

Der Vorweihnachtsstress in der Schule nervt. Jeder muss mit den Professoren seine Spezialgebiete für die Matura absprechen. Sich etwas auszusuchen, scheint manche total zu überfordern. Mich kostet es ungefähr vierzig Sekunden Zeit pro Fach. Wir hören am letzten Tag noch die üblichen Nutzt-die-Ferien-zum-Lernen-Reden. Ich bin dankbar für die baldige Ruhe.

Isa und ich sitzen in der letzten Pause auf dem Klo, als Manu samt Anhang reinkommt. Anhang bedeutet Jasmin und Aylin. Es gibt sie nur im Dreierpack. Ich halte sie einzeln kaum aus. Eigentlich wollte ich gerade spülen, aber ich warte lieber. Ich will ihnen nicht begegnen. Auch Isa ist still.

Sie belegen die freien Toiletten.

„Meine Mutter erschlägt mich, wenn ich im Semesterzeugnis wo durchfalle.“

Das ist Jasmin, die in Mathe und Spanisch mies dran ist.

„Was heißt, deine Mutter?! Mein Vater erwartet nur Einser, wie soll ich das mit der Müllerin nur schaffen? Das Weib ist ja die Willkür in Person.“

Die Müllerin haben wir in Mathe. Ich halte sie für ziemlich gerecht. Aber wenn sie merkt, dass jemand nur faul ist, wie Manu, dann nimmt sie den extra oft dran.

Manu ist hübsch. So eine Frau, über die man sagt, dass sie schön ist. Nicht zu groß, nicht zu klein. Großer Busen, schöner Hintern. Blonde Haare mit goldenem Stich. Volle Lippen, kleine Nase.

Immer schick angezogen, elegant geschminkt. Gestylte Nägel. Aber ihr glänzendes Lächeln ist hart und ihre blauen Augen sind kalt.

Manu muss man aus dem Weg gehen, wenn man nicht an ihren Lippen hängt wie Jasmin und Aylin. Die Burschen rennen ihr trotzdem hinterher. Seit mehr als drei Jahren kenne ich sie, in der Zeit war sie nie lange Single.

„Lernen in den Ferien! Wie stellt die sich das vor, dass ich das Mathezeug mit nach Ischgl nehme?“

Drei Spülungen.

„Die nimmt dich nachher sicher dran, irgendwie musst du aufholen.“

Aylin, die sich nicht recht beschweren kann, weil sie zu gute Noten hat, auch wenn sie sich bemüht, so desinteressiert rüberzukommen wie Manu und Jasmin.

„Ich hab aber keine Zeit. Wenn ich zurückkomme, gehört das letzte Wochenende nur Tom.“

Manu geht schon eine Weile mit einem namens Tom, den sie bei einem Konzert kennengelernt hat. Gekicher, dazu läuft Wasser in die Handwaschbecken. Lippenstift und Eyeliner. Ich war schon öfter Ohrenzeugin dieses Rituals.

„Niko wünscht sich zu Weihnachten Sex.“

Aylin und Manu machen Uuuhh.

Seit ein paar Wochen ist Jasmin mit Niko aus unserer Klasse zusammen. Meistens stehen sie Händchen haltend am Fenster, während Aylin und Manu um sie herumschwirren. Er muss ziemlich verknallt sein, dass er das aushält. Mich irritiert dieser Beziehungskram immer, wer wann mit wem und weshalb dann plötzlich nicht mehr.

„Und, machst du’s?“

„Ich weiß nicht.“

„Ein bisschen muss man sie zappeln lassen, aber den richtigen Moment erwischen, um nachzugeben.“

„Ich hab Schiss.“

„Ach was, ist halb so schlimm. Am besten trinkst du vorher was.“

„Mal sehn …“

„Du könntest ihn mit Blowjobs hinhalten. So hab ich es gemacht, da sind sie scharf drauf.“

Die Tür fällt ins Schloss, Stille.

Isa drückt die Spülung.

„Gott sei Dank am Klo, woanders hätt’s nicht hingepasst.“

Als ich das Rad in unsere Garage schieben will, erschrecke ich fast zu Tode. Vor unserem Stiegenaufgang steht ein Pferd und frisst die vertrockneten Rosen meiner Mutter. Kevin Donners Pferd. Ich lehne das Rad an den Zaun. Das Pferd lässt sich nicht stören. Ich spreche es leise an, kraule seine Nase, es lässt sich widerstandslos am Halfter fassen.

Kevin Donner hat vor seinem Grundstück eine schöne Steinmauer hochziehen lassen, an der Einfahrt ein großes elektrisches Tor. Die kleine Gartentür an der Seite ist verschlossen. Auf dem Klingelschild steht nichts. Ich läute. Pause. Das Pferd beginnt, an unseren Thujen zu knabbern.

„Jaa?“

„Ja, hallo, also ich wohne nebenan, und Ihr Pferd, äh, das stand gerade da bei uns im Garten …“

Wieder mal eine Meisterleistung meiner klaren Kommunikation. Das große Tor öffnet sich wie von Geisterhand. Das Pferd beschließt, dass es Zeit ist heimzugehen, zerrt mich am Halfter neben sich her. Der Platz vor dem Karglhaus ist nicht wiederzuerkennen. Die Scheune auf der rechten Seite wurde abgerissen, da steht eine Garage. Die alte Eiche daneben ist auch weg. Vom Stall auf der linken Seite ist nur ein Teil übrig geblieben und saniert worden, die Stalltür ist offen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Tür vom Wohnhaus aufgeht, da zieht das Tier an. Ich lasse los, das Pferd verschwindet im Stall.

„Musst dich nicht verstecken, Juno. Hab schon gehört, dass du abgerauscht bist.“

Juno. Die höchste Göttin der alten Römer. Das lateinische Gegenüber der griechischen Hera, der Ehefrau des obersten Gottes Zeus, für die Römer war er Jupiter. Hera, Juno, die Wächterin über die Ehe und die Geburt, eine der wichtigsten heidnischen Schutzheiligen der Frauen. Ob Kevin Donner der Stute diesen Namen gegeben hat?

Er kommt auf mich zu. Trainingshose und grauer Kapuzensweater. Barfuß.

„Hey.“

„Hey.“

„Hab ich wohl nach unsrer Runde nicht ordentlich zugemacht.“

Kevin geht an mir vorbei in den Stall. Juno hat sich in ihre Box verzogen. Er legt ihr ein paar Leckerlis in den Futtertrog und schließt sorgfältig den Riegel.

„Und sie war bei dir im Garten?“

Er spricht langsam, zieht die Worte ineinander. Er klingt, als wäre er gerade erst aufgewacht.

„Ja, nebenan.“

„Das gelbe Haus?“

Unser Haus ist das einzige nebenan. Auf der anderen Seite des Karglhofs beginnt der Wald.

„Ja.“

„War mein Tor offen?“

„Nein.“

„Und eures?“

„Als ich grad gekommen bin, nicht.“

Kevin dreht sich zu Juno, kratzt sich am Kopf.

„Wie bist du denn von hier nach dort gekommen?“

„Vielleicht ist sie durch die Thujen geschlüpft.“

Er macht ein verständnisloses Gesicht.

„Unsere Hecke. Da kommt man durch.“

„Is bei euch kein Zaun?“

Ich schüttle den Kopf.

„Na dann sollt ich vielleicht einen machen, sonst gibt’s ständig Besuch. Sorry für die Umstände. Das Vieh is verdammt intelligent und kriegt den Riegel an der Box auf. Wenn ihr langweilig is, geht sie einfach spazieren. Hab sie schon ’n paarmal hier im Stall gefunden, hat einfach die Säcke leergefuttert. Ich sollt was Besseres einbauen.“

Das war eine richtige Rede für ihn. Ich mache einen Schritt zur Seite, damit er die Stalltür zumachen kann.

„Du passt auf, dass ich’s diesmal richtig mach.“

Kevin verschließt ordentlich die Tür, dann dreht er sich zu mir, sieht mich an. Seine Augen haben eine seltsame blaue Farbe, ganz dunkel neben der Pupille, sehr intensiv in der Mitte, hellgrau am Rand.

„Ich bin Kevin.“

„Ich weiß.“

Blöd – blöder – ich.

Kevin lacht.

„Denk ich mir.“

„Ich bin Ali.“

„Ali? Wie denn Ali? Von Ali Baba?“

„Von Almuth.“

„Oh, da is Ali besser.“

Jetzt muss ich lachen. Seine Art, Silben zu schlucken, lässt ihn langsam wirken, aber er ist schlagfertig.

„Ali von Almuth, danke, dass du Juno heimgebracht hast.“

Und dann lässt er mich stehen und geht zurück ins Haus.

„Frohe Weihnachten!“

Aber das hört er nicht mehr.

Das Fest folgt bei uns einem festen Ritual. Mein Vater liebt das, wahrscheinlich, weil er so viel unterwegs ist. Da will er zu Hause seine fixen Gewohnheiten leben. Ich muss zugeben, dass auch ich ziemlich an fixen Gewohnheiten hänge.

Er und Benni ziehen vormittags los, um einen Christbaum zu kaufen. Meine Mutter und ich bauen einstweilen das Wohnzimmer um und richten Brötchen her. Am Heiligen Abend gibt es bei uns belegte Brötchen. Diese Tradition hat mein Vater von seinen Eltern geerbt. In unseren Fotoalben findet man Jahr für Jahr Weihnachtsbilder mit belegten Brötchen auf dem Tisch, bis zu vergilbten Aufnahmen mit meinem Vater als Baby.

Nachmittags schmücken meine Mutter, Benni und ich den Baum, während unser Vater auf den letzten Drücker seine Geschenke verpackt. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die Kerzen angezündet, meine Mutter spielt auf dem Klavier Weihnachtslieder. Mir bleibt das mittlerweile erspart, seit ich vor zwei Jahren durchgesetzt habe, dass ich den Unterricht aufgeben will. Wir überreichen einander die Geschenke und essen Brötchen. Abends beharrt mein Vater auf dem Besuch der Christmette, auch wenn die ganze Familie aus Taufscheinkatholiken besteht. Sonst geht man ja nur zu Beerdigungen, sagt er. Wenigstens dürfen Benni und ich mittlerweile entscheiden, ob wir mitgehen, was uns seit zwei Jahren den ruhigen Tagesausklang allein beschert.

Ich glaube, unser Weihnachten ist verhältnismäßig gemütlich. Und genauso mühsam wie alle Familienereignisse, bei denen man bemüht eine besondere Atmosphäre erzeugen will.

Same procedure as last year.

Benni zieht ein Gesicht, weil er für den Christbaum hinaus muss.

„Ist mir doch egal, ob das eine Tanne oder eine Blaufichte ist.“

„Jetzt geh schon, wenn es ihm Freude macht, es dauert doch nur eine Stunde.“

„Jaja, Frau Superschwester, red nur. Du kannst ja im Warmen bleiben.“

„Willst du lieber das Sofa durch die Gegend zerren?“

„Ich will meine Ruhe. Ich scheiß auf den Weihnachtskram.“

Mein Vater kommt aus der Küche, Benni verstummt.

„Gehen wir, Sohnemann.“

Meine Mutter sieht ihnen durchs Küchenfenster nach.

„Ich wünschte, sie würden sich besser verstehen. Als Benni ein Kind war, haben sie so viel gemeinsam unternommen.“

Ich versuche, mich zu erinnern. Mein Vater war immer unterwegs. Eine Zeit lang hat er Benni zum Fußballtraining gebracht, aber sonst?

„Mit vierzehn kann keiner viel mit seinem Vater anfangen.“

„War das bei dir auch so?“

Ich kann auch mit fast siebzehn wenig mit meinem Vater anfangen. „Machen wir weiter, es wird schon zwölf.“

Meine Mutter streckt sich.

„Wir brauchen den Staubsauger, unterm Sofa sieht es sicher schlimm aus.“

„Mach du die Brötchen, das Wohnzimmer mache ich.“

„Bist du sicher?“

„Aber ja.“

„Danke, Almuth.“

Während meine Mutter Käse und Gürkchen schneidet, schiebe ich Sofa und Couchtisch zur Seite, sauge den Lurch weg, rolle den Teppich ein und decke den Laminatboden mit dem blauen Tischtuch ab, das wir als Baumunterlage benutzen. Ich muss vom Staub ständig niesen, reiße mir den Daumennagel ein, dass es blutet, und fluche leise vor mich hin.

Same procedure as last year.

Benni und mein Vater schleppen einen riesigen Baum ins Haus.

Meine Mutter steht in der Küchentür.

„Jürgen, der ist doch viel zu groß.“

„Ach, der muss was hermachen.“

„Schon wieder eine Blaufichte, die stechen so beim Aufputzen.“

„Schau, wie schön der glänzt. Da kommt eine Tanne nicht mit.“

„Den kriegst du nie ins Kreuz.“

„Das schaffen wir schon.“

Schnauben von Benni.

„Wir!“

„So viele Sachen haben wir gar nicht, dass dieser Riese nicht armselig aussehen wird.“

Meine Mutter kramt in den sechs Kisten mit dem Baumschmuck.

Mein Vater klatscht zufrieden in die Hände.

„Dann sieht man wenigstens die schönen Nadeln.“

„Die einem die Finger zerkratzen, wenn man nur die Kerzen anzünden will.“

Same procedure as every year.

Als meine Eltern in die Mette starten, wird es still im Haus. Benni ist mit seinem neuen Computerspiel in seinem Zimmer verschwunden. Ich nehme mein iPad und gehe auf die Terrasse, um meine neue Starwalk-App auszuprobieren, aber es ist zu bewölkt. Bei Kevin ist es dunkel, kein Rauch aus dem Kamin. Wahrscheinlich ist er bei seiner Familie.

Ich verschwinde in meinem Zimmer und google ihn nochmal. Seine Website ist immer noch offline. Auf einigen Skatewebsites stehen mehr Infos. Seine Haltung auf dem Skateboard ist regular, der linke Fuß vorne. Seine Größe, six feet, also etwa ein Meter dreiundachtzig, elf Zentimeter größer als ich. Sein Spitzname war Lightning. Seine Mutter war bei seiner Geburt erst sechzehn, er hat gemeinsam mit ihr bei den Großeltern gelebt. Er isst gern Pizza. Als ich lese, dass er einmal für einen einzigen Sieg hundertfünfzigtausend Dollar bekommen hat, ist mir klar, wie er die Karglhütte zu einem Schmuckkästchen umbauen konnte. Nur wieso er das gemacht hat, finde ich im Netz nicht.

In den Ranglisten der besten Skater der letzten Jahre ist er immer unter den Top Ten. Aus den Kommentaren erfahre ich, dass er für seinen Pop geschätzt wird, und Google verrät mir, dass das die Fähigkeit ist, dem Skateboard mit möglichst viel Druck aufs hintere Ende möglichst viel Schwung zu geben, um besonders hoch zu springen. Anscheinend werden professionelle Skateboarder von Sportfirmen gesponsert und in deren offizielle Teams aufgenommen, und Kevin war unter anderem bei einem in der Szene wohl sehr berühmten Unternehmen namens Castor&Pollux Skateboarding unter Vertrag, das einem früheren Topskater namens Clive Enqvist gehört. Castor und Pollux. Die Dioskuren. Die beiden hellsten Sterne im Sternbild Zwilling. Die Söhne des Zeus. Zwillinge aus der griechischen Mythologie, der sterbliche Castor und der unsterbliche Pollux, der nach dem Tod seines Zwillingsbruders die ewige Jugend im Olymp aufgibt und die Sterblichkeit wählt, um jeden zweiten Tag bei Castor im Totenreich sein zu können.

Gleich nach dem Video von Kevins Unfall schlägt mir YouTube einen kurzen Film namens Dive vor. In der Videoinfo steht: The Mad Squad at their best! Throwing the world’s most stunning skateboarding team into the water, waiting what they will make of it. Enjoy! Keine Gespräche, nur Musik, die von einem langsamen, aber wuchtigen elektronischen Beat dominiert wird. Music credits with Awolnation. Skateboards drehen sich in der Luft wie von allein.

Fünf junge Männer skaten eine Straße entlang, kommen einzeln ins Bild, ihre Namen als Inserts. Einer mit Glatze und ärmellosem weißem Shirt, augenscheinlich der älteste, Kenneth Scott, San Diego. Ein sehr großer, junger mit blonden Dreads, Hunter Hansley, Little Rock. Ein kleinerer, rotbrauner Wuschelkopf, Tony Marsino, Calgary. Dann Kevin, rotes Shirt, die Haare schulterlang, Kevin Donner, Munich. Und ein kleiner, kurzgeschoren, schwarzer Bart, Luis Egas, Sevilla. Weite Hosen, grelle Shirts, Basecaps, alle, außer Kevin, mit tätowierten Armen und Schultern. Dann gehen sie miteinander weiter, die Skateboards unterm Arm, auf einem Weg zwischen hohen Büschen.

This is how I show my love.

Sie betreten ein Schwimmbad, ein riesiger Wasserpark, betonierte Becken, mehrere lange Rutschen, aber ohne Wasser, verlassen. Orlando, Florida, August 5th, 2012. 92.7° Fahrenheit. Sie erkunden das Gelände. Schrauben an den Skateboards rum. Fahren die leeren Becken ab, drehen die Skateboards an den Kanten. Sie kennen einander gut. Wenn einem ein Trick gelingt, johlen die anderen, applaudieren, High fives und andere scheinbar für sie gewohnte Gesten, um abzuklatschen. Sie trinken nicht einfach aus den Wasserflaschen, sie leeren sich den Wasserstrahl gegenseitig in den Mund, wenn einer dabei nass wird, ist es pure Absicht. An einem großen Becken finden sie eine über die ganze Seite verlaufende Treppe mit mehreren nebeneinanderstehenden Geländern, fahren zugleich darauf zu, schieben sich in die Luft und schlittern synchron mit den hinteren Enden der Skateboards über die hohen Metallrohre, landen gemeinsam, lachen und amüsieren sich über sich selbst.

Blame it on my own sick pride.

Der Kalifornier mit dem weißen Shirt wirbelt, nur auf den Vorderrädern, durch ein kleines rundes Becken wie eine Flipperkugel, auf einer Seite seines Halses tanzt ein bunter chinesischer Drache. Kevin und der Kanadier fahren die langen Röhrenrutschen hinunter, man sieht durch das Plastik nur ihre Umrisse, hört die Räder, dann schießen sie unvermittelt unten heraus, der Kanadier war einen Tick schneller, reißt die Arme hoch, auf seinem linken Unterarm steht Skate Heaven’n’Hell. Der kleine Spanier hockt auf einem Sprungbrett, fotografiert seine Freunde, ehe man ihn selbst sieht, wie er mehrere Tricks über eine steile Treppe springt. Alle scheinen ihre Grenzen auszureizen. Immer wieder verliert einer das Skateboard unter den Füßen, knallt auf den Beton, sobald der Schmerz nachlässt, steht er auf und probiert es erneut.

Maybe I should kill myself.

Was sie mit den Skateboards tun, wird in Zeitlupe wiederholt, sonst kann man den Bewegungen kaum mit den Augen folgen. Sie montieren in einem Becken ein Bungeeseil an einen Pfosten, beschleunigen damit, fliegen über eine Kante. Als sie im Sprung von unten gefilmt werden, sehe ich, dass sie die gleichen Skateboards haben, ein Schachbrettmuster, Weiß und eine Farbe, der Kanadier in Lila, der Kalifornier in Gelb, der mit den Dreads in Rot, der Spanier in Blau und Kevin in Grün. An den Seiten ist jeweils eine Schrift, die ich nicht lesen kann, und zwischen den Rädern sind ihre mit schwarzen Strichen angedeuteten Profile wie ein Scherenschnitt. Die Bretter scheinen an ihren Füßen zu kleben, selbst wenn einem etwas misslingt, wirkt es so, als wäre es Teil des Spiels. Der Blonde mit den Dreads dreht sich fast komplett um sich selbst, kippt um, schlägt sich den Ellbogen auf, zeigt ihn lachend der Kamera, startet wieder, schafft die Drehung, zieht im Ausrollen das Shirt hoch, um sich den Schweiß abzuwischen, sogar auf seinem Bauch ist ein Tattoo.

Maybe I’m a different breed.

Sie stehen vor einem großen leeren Pool, der Grund abschüssig, wie eine Rampe, vor ihnen geht die Wand mindestens zwei Meter hinunter. Sie hocken am Beckenrand, prägen sich alles ein, der Spanier schüttelt amüsiert den Kopf. Ein Fußweg zum Becken dient als Anlauf. Sie spielen Schere-Stein-Papier, um auszuwählen, wer es als Erster versuchen muss. Der Spanier verliert, rollt den Weg hinunter, reißt kurz vor der Kante das Board hoch, springt ins Becken, in die Schräge hinein, fällt hart auf die Seite, bleibt auf dem Rücken liegen, der Kanadier hilft ihm hoch. Der Blonde wirkt fast noch schneller, verliert im Flug das Skateboard, schlägt hart in der Rampe auf, wischt sich den Dreck aus dem Gesicht. Kevin fährt langsam an, schafft es, das Skateboard nach dem Aufprall eine Sekunde lang unter den Füßen zu behalten, dann rutscht es doch weg, er rollt über den Beton, hält sich den Knöchel. Der Kanadier landet zu weit vorn auf dem Brett, schafft irgendwie den Absprung, macht ein paar Schritte das Gefälle hinunter, kracht doch auf die Knie.

Blame it on my ADD.

Als Erstem gelingt es dem Kalifornier, Anlauf, ein weiter Satz in die Tiefe, er steht den Sprung. Alle finden den Rhythmus, jetzt springen sie nicht nur einfach hinunter, sie machen auch Tricks, drehen sich und die Skateboards. Zeitlupe, Nahaufnahme, Beat. Am Ende sitzen sie im Sonnenuntergang in einem Kinderbecken auf großen Fröschen und vergleichen lachend ihre Schürfwunden. Das Bild wird dunkel, die Musik klingt aus.

Eine Stimme, englisch, aber nach den ersten Worten erkenne ich, dass es die von Kevin ist: It’s about freedom. Meeting a challenge, pushing the limit. Even the doubts, the pain, everything is true, makes you feel alive. You share the efforts and the joy, like a family. It adds a meaning to your life, and that’s the most beautiful thing.

Am Christtag besuchen wir die Eltern meiner Mutter, die zwei Städte entfernt wohnen. Wir Enkelkinder werden immer noch behandelt, als wären wir fünf Jahre alt, mit dem Unterschied, dass wir heute keine Strumpfhosen, sondern grüne Scheine geschenkt bekommen. Was sich mit Omas Keksen gut aushalten lässt. Ich mag meine Großeltern sehr. Ich glaube, es gäbe nichts, was wir anstellen könnten, dem sie nicht doch irgendetwas Gutes abgewinnen würden. Ich erinnere mich, wie Benni ihnen vor Jahren das Küchenfenster mit dem Fußball eingeschossen hat, und mein Opa begeistert gemeint hat, der Junge müsse Stürmer werden, bei diesem Schwung.

Die Eltern meines Vaters sind schon tot. Meine Großmutter war klein und zart, durchsichtig. Mein Großvater war Automechaniker, ein gebückter Mann mit großen Händen, stolz auf den einzigen Sohn, der als erstes Familienmitglied einen Beruf erreicht hat, für den man einen Anzug tragen muss. Einmal hat meine Mutter erzählt, dass mein Vater große Minderwertigkeitskomplexe gegenüber seinem Vater hatte, weil sein Job nicht körperlich anstrengend ist. Ich frage mich, ob die beiden je über diese Dinge geredet haben.

Mein Vater genießt seine freien Tage bis nach Silvester, indem er vorm Fernseher sitzt und Sport schaut. Er hat früher selbst viel Sport getrieben, ist Marathon gelaufen und Rennrad gefahren. Seit einem Bandscheibenvorfall vor vier Jahren ist er leidenschaftlicher Passivsportler. Und immens zufrieden, wenn wir die anderen Nationen besiegen.

Am 27. Dezember höre ich ihn schon schimpfen, als ich morgens ins Erdgeschoß komme. Ich nehme mir ein Joghurt und stelle mich löffelnd hinters Sofa. Damenslalom – er ärgert sich, weil die heimische Favoritin ausgeschieden ist. Es schneeregnet, meine Lust auf Draußensport hält sich in Grenzen. Im Hallenbad ist in den Ferien die Hölle los, das spare ich mir auch.

Benni kommt aus der Küche.

„Die letzte Milch ist sauer.“

Meine Mutter müht sich gerade mit ihrer Gymnastik.

„Wie denn das?“

„Keine Ahnung.“

„War die Packung offen?“

Mein Bruder zuckt mit den Schultern. Er schraubt die Tetrapaks nie fest genug zu, das wissen wir alle.

„Am ersten Tag nach den Feiertagen wollte ich nicht ins Geschäft müssen.“

„Ich gehe.“

Der Vorwand, den mein innerer Schweinehund gebraucht hat.

„Wirklich? Wie willst du denn hinkommen?“

„Ich nehme das Rad.“

„Bei dem Wetter!“

„Ich hab doch gute Reifen.“

Meine Mutter zögert. In ihrer Welt ist sie für das Familienwohl und den vollen Kühlschrank verantwortlich. Aber man sieht ihr an, dass sie das Putzen und Backen der letzten Wochen angestrengt hat. Schneller als sonst gibt sie nach.