Die Bücherjäger - Christin Hertzberg - E-Book

Die Bücherjäger E-Book

Christin Hertzberg

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn deine Bücher dich töten könnten? Buchgestalten kriechen aus ihren Seiten und suchen ihre Bibliotheken heim – und es ist ausgerechnet Elliots Job, sie wieder einzufangen. Geheime Missionen, mit denen sie sich die Nächte um die Ohren schlägt, ein Wandler, der in ihrer Küche auftaucht, und eine Nachricht, die alles verändert – Elliots Leben wird seit der verhängnisvollen Nacht in der Breyervilla mit jeder Woche komplizierter. Und obwohl sie und ihr Team entschlossen sind, den mysteriösen Breyer, den sie hinter den zunehmenden Erscheinungen vermuten, zu überführen, müssen sie einen Rückschlag nach dem anderen einstecken. Eine vergessene Stadt in der Nähe eines alten Bergwerks verspricht endlich Antworten. Wird Elliot das Geheimnis der Bucherscheinungen ein für alle Mal lüften können oder wird sie ihm am Ende selbst zum Opfer fallen?

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Über die Autorin

Christin Hertzberg schreibt seit Jahren alles drunter und drüber:

Aufsätze über obskure, längst vergessene Filme, lange Einkaufslisten, die sie immer ungelesen in ihrer Tasche vergisst, altmodisch

Briefe und seit Neuestem auch Jugendbücher. Normalerweise

findet man sie entweder schreibend, reisend oder auf der Suche

nach alten Büchern auf Berliner Flohmärkten.

Inhalt

Der Sturm in der Küche 8

Einbrüche 72

Das Monster im Hafen 105

Galas und Pläne 128

Die vergessene Stadt 172

Der rote Mann und das Mädchen 218

Weihnachtskuchen 250

Danksagung 262

WREADERS E-BOOK

Band 217

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2023 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: epubli – Neopubli GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann

Illustration: Jasmin Kreilmann

Lektorat: Kristina Butz, Vanessa Janke

Satz: Annina Anderhalden

www.wreaders.de

Der Sturm in der Küche

Finn, das Buch! Jetzt!«

Die Wand drückte in meinen Rücken. Kein Ausweg. Kein Entkommen.

Ich verfluchte mich dafür, dass ich es geschafft hatte, mich in die Ecke drängen zu lassen.

Hatte Finn mich gehört? Aus den Tiefen der Bücherregale kam keine Antwort.

Der Geruch nach alten Büchern war so stark, dass ich würgen musste, und hinter meinen Augen hatte sich der altbekannte Druck aufgebaut, der meinen Kopf fast zum Zerspringen brachte. Allerdings brauchte ich diese Anzeichen, die eine Erscheinung ankündigten, nicht, um zu wissen, dass ich mich in Gefahr befand.

Eine Sphinx lauerte wenige Schritte entfernt vor mir. So nah, dass ich mich in ihren Augen spiegelte. Sie fixierte mich mit einem starren und zugleich hungrigen Blick. Ihre Stimme war ein tiefes Zischen wie von hundert Schlangen, unglaublich fern und viel zu nah gleichermaßen, als sie sagte: »Nun? Deine Antwort?«

Die Idee, die Sphinx abzulenken und den anderen so Zeit zu geben, ihr Buch zu finden, erschien mir auf einmal nicht mehr so clever.

Ich musste hier raus. Sofort! Hastig rief ich mir den Aufbau der Bibliothek ins Gedächtnis. Die Bücher waren in mehreren schlauchartigen Räumen gelagert, die ineinander übergingen. Finn war Feuer und Flamme gewesen, als er erfahren hatte, dass wir eine M. K., eine ›Mythologische Kreatur‹, in der alten Klassikbibliothek jagen würden. Sogar Mayas Augen hatten geleuchtet, als sie gehört hatte, wohin wir fahren würden. Mit ihren großen, bodenlangen Fenstern, ihren bis an die Decke reichenden Bücherregalen und ihren alten, wertvollen Statuen war die Bibliothek angeblich eine der schönsten der Stadt.

Aus großen Fenstern konnte man geworfen werden und hohe Bücherregale luden dazu ein, sich den Hals zu brechen, falls man eines der oberen Bücher versiegeln wollte. Für irgendwelche blöden Statuen hatte ich sowieso nichts übrig. Was mich anging, Bibliothek war Bibliothek und Erscheinung war Erscheinung. Und auf die Bekanntschaft mit der hier vor mir hätte ich dankend verzichten können.

Ich hatte mich in das letzte Zimmer drängen lassen, eine Sackgasse, aus der ich jetzt nicht wieder herauskam. Mein Rücken war an die Wand gepresst, links und rechts ragten Regale in die Höhe. Ich könnte versuchen, an ihnen hochzuklettern. Würden sie mein Gewicht halten? Oder würden sie mich unter sich begraben wie vor einem Jahr, als zwei Todesdämonen es geschafft hatten, mich hier zu überfallen?

Wo verdammt noch mal war mein Team?

Ich musste mir unbedingt mehr Zeit verschaffen, damit Finn das Buch der Sphinx versiegeln konnte. »Ja … die Antwort.« Ich zögerte. »Wie war die Frage noch mal?«

Die Sphinx musterte mich. Obwohl ihr Kopf der einer Frau war, hatten ihre Augen nichts Menschliches und mein Spiegelbild darin erschien mir seltsam flach und leblos. Die Haut in ihrem Gesicht und am Hals war dunkel und schimmerte, als wäre sie gerade frisch geölt worden. Knapp unter ihrer Brust ging sie langsam in ein dichtes Fell über. Ihre Flügel lagen fest an ihren Löwenkörper gepresst, aber geöffnet hätten sie locker den kleinen Gang gesprengt, in den sie mich gedrängt hatte. Sie war etwa doppelt so groß und viel schneller als ich. Vorhin war sie mit einem Satz zwischen Maya und mich gesprungen, bevor wir überhaupt mit einer Bewegung ihrerseits gerechnet hatten.

Die Sphinx wiederholte ihr Rätsel. Ihre Stimme drang bis in mein Innerstes. »Wer sind die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen?«

Bildete ich es mir ein oder war es soeben kälter geworden? Konnte eine Sphinx die Temperatur kontrollieren? Ich erinnerte mich nur vage an meinen Kurs über griechische Mythologie. Die Dozentin hatte verschiedene Rätsel durchgesprochen, aber ich hatte kaum zugehört. Womit waren meine Gedanken damals beschäftigt gewesen? Wahrscheinlich mit nichts Wichtigerem als meiner nächsten Lektion im Nahkampf. Jetzt verfluchte ich mich dafür, dass ich nicht besser aufgepasst hatte. »Wer sind die beiden Schwestern, die … was?«

Ich hatte null Ahnung, wovon die Sphinx sprach, aber ich wusste, dass sie mich fressen würde, wenn ich ihr blödes Rätsel nicht lösen konnte. So viel war dann doch noch von dem Kurs hängen geblieben.

Fieberhaft suchte ich nach einer Antwort oder zumindest nach irgendetwas, das mir ein bisschen Zeit verschaffen konnte. Keine Chance. Der Gang war gerade einmal groß genug für die Erscheinung und mich. Mein Messer wirkte lachhaft winzig gegen die Sphinx und sonst umgaben mich nichts als abweisende Regale. Maya und Finn konnten nicht weit entfernt sein, aber ich hörte sie nicht und sie antworteten nicht auf meine Rufe. Ich hätte genauso gut mit dem Wandler allein sein können.

Mit schweißnassen Händen trat ich von einem Bein aufs andere und behielt dabei die gelben Krallen der Sphinx im Auge, die mindestens so lang wie meine Finger waren und mich ohne Mühe aufschlitzen konnten.

Die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen.

Was sollte das heißen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, je etwas von solchen Schwestern gehört zu haben. Gab es überhaupt eine richtige Antwort oder war das nur eine Fangfrage, ihre Art, mit ihrem Essen zu spielen?

»Also, wenn du mich fragst, klingt das nicht gesund mit den zwei Schwestern. Bist du dir sicher, dass du darauf eine Antwort willst?« Ich unterdrückte den Wunsch, erneut nach Maya und Finn zu rufen. Direkt neben mir standen ein paar dicke Bücher. Würde es etwas bringen, wenn ich diese Schinken nach der Sphinx warf, oder machte ich sie so nur wütend?

»Ist das deine endgültige Antwort?« Die Sphinx musterte mich aus ihren Katzenaugen. Mit ihrer dicken Zunge leckte sie sich die Lippen. Ihre Zähne glänzten feucht.

»Ich schwöre dir, ich schmecke furchtbar. Ganz zäh. Wie wäre es, wenn du mir ein anderes Rätsel stellst? Du hast doch sicher ’ne Menge auf Lager?«

Ich hatte nicht vor, als Futter für eine glorifizierte Katze zu enden, aber meine Optionen waren beschränkt. Die Stille der Bibliothek drückte mir gegen die Ohren, die Sekunden flossen zäh wie Sirup vorbei und alles, was ich sehen konnte, waren die Muskeln der Sphinx, die sich zum Sprung bereit machten. Mit schweißnassen Händen umklammerte ich mein Messer fester und hielt es schützend vor mich.

Die Sphinx schrie. Sie sprang.

Ich schloss die Augen und machte mich auf das Schlimmste gefasst.

Ein Knall zerschnitt die Luft. Ich zuckte zusammen.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich eine Masse von schwarzen Locken am anderen Ende des Gangs. Die Sphinx war verschwunden.

»Tag und Nacht.« Maya schlenderte auf mich zu, ein selbstbewusstes Lächeln auf den Lippen und ihre Waffe in der Hand. Sie hatte auf die Sphinx geschossen und sie so verschwinden lassen.

Ich atmete aus und sah sie verständnislos an. »Was?«

»Die Antwort: Tag und Nacht. In der griechischen Mythologie sind Tag und Nacht zwei Schwestern, die sich gegenseitig erschaffen.« Maya warf prüfende Blicke hinter die Regale. Im Gegensatz zu Finn und mir, die ab und zu in unseren Alltagsklamotten auf die Jagd gingen, trug sie die vorgeschriebene offizielle Uniform der Zentrale: eine schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und eine Jacke in der gleichen Farbe, jeweils bestickt mit dem Logo der Zentrale, einem Buch, vor dem sich ein Messer und eine Pistole kreuzten. Maya schaffte es sogar, der Uniform einen gewissen Hauch von Glamour zu verleihen.

»Aha.«

»Du würdest so was auch wissen, wenn du ab und zu die Auffrischungskurse der Zentrale besuchen würdest.« Sie hob ein Buch auf, las den Titel und ließ es sofort wieder fallen.

»Auffrischungskurse?«, fragte ich skeptisch und trat aus dem kleinen Gang hinaus.

»Und Extrakurse. Da kannst du was Neues lernen. Die meisten sind gar nicht so schlecht.«

»Du machst Witze, oder?«

Maya grinste und hob ein weiteres Buch auf, das sie nach einem kurzen Blick wieder fallen ließ. Sie antwortete nicht.

»Sehe ich dich deshalb sonntags nie? Extrakurse?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Du brauchst echt ein Hobby, weißt du das? Trotzdem … danke«, erwiderte ich grinsend und steckte mein Messer weg.

»Jederzeit.«

»Hast du Finn gesehen?«

Ein ohrenbetäubendes Krachen übertönte ihre Antwort.

Wir sahen uns an und hetzten in Richtung des Geräuschs durch die langen Räume. Der Lärm musste von Finn gekommen sein. War die Sphinx bei ihm aufgetaucht? Wenn man Erscheinungen erschoss oder ein Messer auf sie warf, brachte sie das nicht um. Wie auch? Sie waren ja nicht am Leben. Aber es ließ sie verschwinden. Dumm nur, dass sie zu jeder Zeit und an jedem Ort wiederauftauchen konnten.

Wir rannten durch die Dämmerung der Bibliothek. Draußen war gerade die Herbstsonne untergegangen und ein fahles Licht erleuchtete die Marmorstatuen und Regale. Irgendwo zersplitterte Glas. Ich rannte schneller. Maya war so dicht hinter mir, dass ich ihren Atem in meinem Nacken spürte.

Wir stolperten in einen der Räume nahe des Ausgangs. Die staubigen Vitrinen, die ich bei unserer Ankunft kaum eines Blickes gewürdigt hatte, lagen zerbrochen auf dem Boden. Vasen, alte Münzen und Bronzefiguren polterten aus den Glassplittern auf das Holzparkett. Eines der schweren Metallregale war umgekippt und hatte seine Bücherladung verteilt. Die Sphinx thronte davor und fixierte etwas mit ihren unendlich tiefen Augen.

Ich folgte ihrem Blick und mein Magen machte einen Sprung. Direkt vor ihr, halb begraben unter dem Regal, lag Finn auf dem Boden. Die Muskeln der Sphinx spannten sich an, sie machte sich zum Sprung bereit. Im nächsten Augenblick würden ihre Krallen Finn aufschlitzen.

Instinktiv zog ich mein Messer, warf und traf die Sphinx am Hals. Sie verschwand und das Messer fiel klirrend zu Boden. Ich sprang zu Finn. »Alles klar bei dir?«

Er lächelte wässrig. »Alles in Ordnung. Sie hat mich nur überrascht. Ich glaube, ich habe ihr Buch gefunden, aber es ist mir aus der Hand gerutscht. Es muss hier irgendwo sein.« Er drehte sich zu den Büchern auf dem Boden.

»Finn«, sagte ich, um seine Aufmerksamkeit zurückzubekommen. »Wir müssen dich unter dem Regal hervor kriegen.«

Ich gestikulierte zum schweren Eisenregal hin, das über seinen Beinen lag, aber er schien mir gar nicht zuzuhören.

»Irgendwo hier war es doch.« Er wühlte durch die Bücher.

Ich warf Maya einen entnervten Blick zu. »Kannst du mir helfen?«

Sie nickte, aber bevor sie einen Schritt auf uns zu machen konnte, war die Sphinx wiederaufgetaucht, direkt vor Finn und mir. Blitzschnell hob Maya ihre Waffe, zielte und drückte ab.

Nichts.

Sie fluchte.

Die Sphinx trat auf uns zu. Ihre Krallen kratzten bei jedem Schritt über den Boden. Ihre zu Schlitzen verengten Augen richteten sich starr auf mich.

»Maya?«, rief ich und versuchte, ruhig zu klingen.

»Sie klemmt«, rief sie frustriert und fuchtelte mit ihrer Waffe herum.

Mein Blick schoss zwischen Maya und der Sphinx umher. Langsam beugte sich die Erscheinung zu mir herunter. Sie war meinem Gesicht so nah, dass ich ihren faulen Atem riechen konnte. Der Druck hinter meinen Augen machte mich fast blind.

Hinter mir hörte ich, wie Finn, noch immer halb eingeklemmt unter dem Regal, den Bücherhaufen durchwühlte.

Die Sphinx öffnete ihr Maul. Wenn ich meine Hand ausstreckte, hätte ich ihre spitzen Zähne berühren können. Ich sah mich um. Ich würde Finn auf keinen Fall schnell genug unter dem Regal hervor bekommen, Maya war noch immer mit ihrer Waffe beschäftigt und mein Messer lag nutzlos einige Meter entfernt auf dem Boden. Dann blieb nur eins. Ich breitete meine Arme schützend vor Finn aus und rief: »Tag und Nacht.«

Die Sphinx fror mitten in ihrer Bewegung ein. »Was sagst du?«, fragte sie mit ihrer Schlangenstimme.

»Dein Rätsel. Die zwei Schwestern, die sich gegenseitig erschaffen. Die Antwort ist Tag und Nacht.«

Die Sphinx musterte mich und ihr Blick ließ meine Nackenhaare hochstehen. Meine Antwort schien sie nicht zu befriedigen. Im Gegenteil. Ihr Fell sträubte sich. War das nicht genug? Hatte Maya sich geirrt und Tag und Nacht war nicht die richtige Antwort? Ich schluckte schwer.

»Zu spät«, zischte sie schließlich.

»Zu spät?«, entgegnete ich. »Was soll das denn heißen? Ich habe dein blödes Rätsel gelöst.«

»Zu spät«, wiederholte sie.

Die Sphinx fuhr ihre Krallen aus – lang, gelb, gebogen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Mit einem Sprung könnte ich ihr problemlos ausweichen, aber dann würde sie Finn erwischen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Maya noch immer mit ihrer Waffe herumhantierte. Die Sphinx hob die Tatze, ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Mit einem Schrei holte sie aus.

Und verpuffte.

Hinter mir hörte ich Finn jubeln. »Ich hab’s!«

Mit einem Lächeln hielt er eine Metallbox in die Höhe.

Meine Beine fühlten sich wie Pudding an. Ich ließ mich auf einen der Bücherstapel fallen und versuchte, meinen Atem zu beruhigen. Mein Herz wummerte, als wäre ich soeben einen Marathon gelaufen. Wir waren viel zu knapp entkommen. Mal wieder.

Mit geschlossenen Augen zählte ich bis zehn. Dann sah ich Maya an. »Das war das dritte Mal in diesem Monat.«

»Ich weiß«, gab sie zurück. »Ich habe K. schon ein Dutzend Mal um eine neue Waffe gebeten, aber im Moment sind alle Waffen in der Zentrale an andere Agenten ausgeliehen.«

»Sie könnten ein paar neue kaufen«, antwortete ich. »Wir wären beinahe zu Katzenfutter geworden.«

»Ich sage es ihr. Obwohl ich nicht weiß, ob sie das sonderlich interessiert.«

»Wenn das so weitergeht, werden aus unseren Einsätzen bald Selbstmordmissionen.«

Maya trat zu uns und half mir, das Regal von Finn zu heben.

Vorsichtig stand er auf und betastete seine Beine.

»Alles gut?«, fragte Maya, während sie ihre Waffe verstaute.

Er nickte.

»Ganz schön knapp.« Ich beäugte den Fleck, an dem bis vor einem Augenblick noch die Sphinx gestanden hatte. Finn sah mich gespielt entrüstet an.

»Du hast doch nicht etwa an mir gezweifelt?«

Ich hob mein Messer auf und steckte es ein. »Niemals«, gab ich trocken zurück, bevor ich mir die Unordnung um uns herum besah.

»Wir sollten aufräumen«, sagte Maya und stieß eine Scherbe mit ihrer Schuhspitze von sich.

Finn und ich wechselten einen schnellen Blick.

»Oder wir hoffen, dass niemand mitbekommt, dass wir das Chaos verursacht haben«, sagte er.

Ich hatte wenig Lust, das Glas zusammenzufegen und die Bücher wieder ins Regal zu sortieren. Andererseits, wenn wir jetzt gingen, müsste das nächste Team von Agenten, das die Klassikbibliothek betrat, für Ordnung sorgen. Ich war schon öfter in halb zerstörte Bibliotheken gekommen, die uns andere Agenten überlassen hatten. Die durcheinandergekommenen Bücher und Glassplitter würden den nächsten Einsatz nur noch gefährlicher machen.

Ich seufzte. »Lasst uns aufräumen. Ein bisschen zumindest. Aber schnell, bevor der nächste Wandler auftaucht und das hier ’ne Doppelmission wird.«

Mehr schlecht als recht stellten wir das Regal auf, sortierten die Bücher ein und fegten mit unseren Schuhsohlen das Glas der Vitrinen in die Ecken. Dann ließen wir die Bibliothek hinter uns.

Als wir die Stufen hinunter nach draußen gingen, war die schwache Oktobersonne schon lange hinter den Häusern verschwunden. Fröstelnd zog ich mich tiefer in meinen Schal zurück.

»Meinst du, es hätte noch andere Antworten auf das Rätsel gegeben?«, fragte Finn an Maya gerichtet.

Diese überlegte. »Vielleicht Krieg und Frieden? Aber das sind keine Schwestern.«

»Vielleicht. Eirene und Ares waren immerhin Geschwister. Oder …«

Ich hörte den beiden schon nicht mehr zu. Das Rätsel der Sphinx war in dem Moment unbedeutend für mich geworden, als wir ihr Buch versiegelt hatten. Stattdessen musterte ich Maya und Finn in dem aufflackernden Licht der Straßenlampen. Ich hatte die beiden selten so müde und abgekämpft erlebt. Finns Augenringe hoben sich fast schmerzhaft von seiner bleichen Haut ab und die lange Narbe, die sich quer über seinen Hals zog, stand noch deutlicher als sonst hervor. Obwohl er in letzter Zeit seine Schokoriegelration verdoppelt hatte, hing seine Kleidung viel zu locker an ihm herunter. Bei Maya waren es die kleinen Details. Ihr Äußeres hätte nie verraten, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Mayas dichte, schwarze Locken waren noch glänzend, ihre dunkle Haut so perfekt und ihr Lächeln noch genauso kalt wie immer. Aber bei unserem vorletzten Auftrag hatte sie ihre Ersatzbox nicht dabeigehabt. Und davor wäre sie fast in eine Erscheinung gerannt. Der alten Maya wäre so etwas nie passiert.

Kein Wunder, denn seit sechs Monaten führten wir ein Doppelleben und niemand von uns hatte seitdem mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen.

Obwohl mir selbst die Erschöpfung so tief in den Knochen steckte, dass ich überzeugt war, mich nie wieder wach zu fühlen, wusste ich, dass ich keinen Schlaf finden würde, wenn ich erst einmal im Bett lag. Stattdessen würde ich die letzten Wochen und Monate vor meinem geistigen Auge an mir vorbeiziehen lassen wie einen nie enden wollenden Film. Hatten wir etwas übersehen? Hätten wir etwas anders machen sollen?

Ich stoppte die beiden, als sie sich gerade in Finns alten Beetle zwängten. »Gib mir die Box. Ich bringe sie allein in die Zentrale. Fahrt nach Hause.«

Finn stutzte, ein Bein schon im Auto. »Sicher?«

»Sicher. Ich schiebe noch ’ne Trainingsrunde ein. Es sind nur ein paar Stationen von hier. Es macht keinen Sinn, wenn wir alle fahren.«

»Schon wieder Training?«, fragte Maya. »Warst du nicht gestern erst bis spät in die Nacht in der Zentrale?«

Ich zuckte mit den Schultern. Besser in den Trainingshallen als müde, aber wach in meinem Bett.

Die beiden zögerten, aber sie waren eindeutig zu erschöpft, um sich mit mir zu streiten.

Ich streckte Finn energisch meine Hand entgegen und er gab mir die Box. »Lasst mir was vom Abendessen übrig.«

Ich sah zu, wie sie einstiegen und der Beetle um die Ecke verschwand, dann machte ich mich auf den Weg zur Bahn.

Wenig später lief ich die Stufen der U-Bahn-Station hoch und betrat den weitläufigen Vorplatz der Zentrale. Schon von Weitem sah ich das Sicherheitszelt, das noch immer vor dem Eingang hochgezogen war und in dem seit dem Einbruch in der Zentrale vor fast einem Jahr jeder Besucher akribisch durchsucht wurde. Im Gegensatz zu dem riesigen Klotz der Zentrale, der mehrere Blöcke einnahm, wirkte es lächerlich klein.

Ich stapfte an den im Wind zitternden Bäumen vorbei, betrat das Zelt und zog meine schweren Stiefel aus, bevor der Sicherheitsmann auch nur eine mürrische Silbe knurren konnte.

Ein paar Minuten später fand ich mich in dem hell erleuchteten Foyer wieder, nickte Tom am Empfang zu und ging schnurstracks auf den Fahrstuhl zu, der mich in die Sammelabteilung im fünften Stock bringen würde.

Alle versiegelten Boxen landeten früher oder später dort. Vor sechs Monaten hatte ich mit schwerem Herzen die Box aus der Flüsternden Bibliothek dorthin gebracht, die inzwischen garantiert in den unendlichen Archiven unter der Zentrale verschwunden war. Besser als in meinem Schrank unter meinen dreckigen Socken.

Sobald sich die Fahrstuhltüren hinter mir geschlossen hatten, ließ ich meinen Kopf an die kühle Wand fallen und machte die Augen zu. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach einer warmen Dusche. Ich würde die Box entsorgen, eine Trainingseinheit einschieben, die meinen Kopf hoffentlich frei machte, und mir dann zur Abwechslung ein Taxi nach Hause gönnen.

Das Piepen des Fahrstuhls zeigte mir an, dass ich im fünften Stock angekommen war. Ich öffnete die Augen, straffte mich und trat nach draußen, wo ich fast mit Yumi zusammengeprallt wäre.

»Elliot«, sagte sie lachend und trat geschickt einen Schritt zurück. »Schlafwandelst du?«

Ich lächelte. »Sorry, ich habe dich nicht gesehen.«

Die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter mir. Erst jetzt sah ich, dass ich im falschen Stock gelandet war. Anstatt der grauen, nackten Wände und der Ruhe des fünften Stocks schlugen mir geschäftige Stimmen entgegen. Vereinzelt liefen Agenten mit gewichtigen Mienen umher.

Yumi musterte mich besorgt. »Kein Wunder. Du siehst ganz schön fertig aus.«

»Im Gegensatz zu dir«, gab ich grinsend zurück. »Du könntest auch aus einem Katalog gesprungen sein.«

Yumi nahm das Kompliment mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Freundlichkeit an wie jemand, der es gewohnt war, solche Sätze zu hören.

Wie lange war es her, dass wir uns ein Zimmer in der Zentrale geteilt hatten? Fünf Jahre? Seitdem hatte Yumi eine hohe Position in der Kommandozentrale ergattert und während ich mir Jahr für Jahr mehr Narben zuzog, schienen ihre schwarzen Haare nur noch glänzender, ihre Haut noch klarer zu werden. Aber selbst für Yumis Standard – und der war ohne Zweifel hoch – sah sie gut aus. Ihre Augen leuchteten, ein verführerisches Rot auf den Wangen ließ ihr Gesicht gesünder und lebendiger wirken und ihr Lächeln war in den letzten Wochen breiter als früher.

»Dir wird nicht gefallen, was ich dir gleich sage.«

»Dann sag’s nicht. Ich bin gar nicht hier.« Ich drehte mich um und drückte ein paar Mal den Knopf des Fahrstuhls.

Yumi lachte. »Keine Chance. K. sucht dich. Ich war gerade auf dem Weg, um dich anzurufen.«

Ich ließ die Schultern hängen und löste meinen Finger von dem Fahrstuhlknopf. »Warum?«

»Du musst nicht gleich so aussehen, als wärst du zum Wächter abkommandiert worden. Sie will nur mit dir reden.«

»Seit wann will K. nur reden? Sag nicht, sie hat schon einen neuen Fall für uns? Ich habe nicht mal die letzte Box entsorgt. Wir sollten eine Gewerkschaft gründen. In letzter Zeit hatte ich nicht einen freien Tag.«

Entrüstet wedelte ich mit der Metallbox vor Yumis Gesicht herum. Diese zog die Nase kraus. Etwas schien ihr unangenehm zu sein.

»Ich glaube nicht, dass es um einen Fall geht.«

»Sondern?«

Ich hatte das Gefühl, als würde Yumi genau wissen, was mich hinter der Tür von K.s Büro erwartete. Nichts Gutes. Hatte K. mitbekommen, was Maya, Finn und ich in den letzten Monaten getan hatten? Bei dem Gedanken sank mein Magen in Richtung meiner Knie.

Yumi musste die Sorge in meinem Gesicht gesehen haben. Sie klopfte mir aufmunternd auf den Arm und sagte: »Warst du gerade auf dem Weg in die Sammelabteilung?«

Sie zeigte auf die Metallbox. Ich nickte.

»Ich gehe für dich. Lass K. besser nicht warten.«

Misstrauisch übergab ich ihr die Box und hatte das Gefühl, als würde Yumi ihre Hilfe nur anbieten, um schnell von mir wegzukommen.

»Danke«, murmelte ich.

Sie lächelte. »Kein Ding. Wir müssen mal wieder zusammen trainieren.«

»Machen wir.«

Sie zwinkerte mir zum Abschied zu und lief den Gang hinunter.

»Warte mal!«

Yumi blieb stehen und sah mich fragend an.

Ich schloss zu ihr auf. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Kommt drauf an«, antwortete sie vorsichtig.

»Mayas Waffe spinnt schon seit Wochen. Sie braucht eine neue. Kannst du bei K. ein gutes Wort für sie einlegen? Heute hätte uns fast eine Sphinx gefressen.«

»Eine Sphinx?«, fragte Yumi und sah dabei schockierter aus, als ich erwartet hatte. »Ist Maya okay?«

»Nichts Schlimmes.« Ich winkte ab. »Aber ohne richtige Ausrüstung sind unsere Tage da draußen gezählt.«

Yumi presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Sie nahm die Sache ernster als gedacht. »Mache ich«, sagte sie. »Passt auf euch auf.«

Ich blinzelte und nickte.

Yumi war schon wieder dabei, sich umzudrehen, als ihr etwas einzufallen schien. »Ach so, kannst du Maya was ausrichten? Sonntagabend geht klar. Sag ihr einfach wie immer.«

Ich stutzte. Seit wann kannte Yumi Maya gut genug, damit ich ihr etwas ausrichten sollte?

»Kann ich machen«, entgegnete ich verwirrt.

Yumi runzelte die Stirn und trat einen Schritt auf mich zu. Meine Verwunderung spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Hat sie dir nichts davon erzählt?«

Vielleicht lag es daran, dass ich so müde war, aber ich stand vollkommen auf dem Schlauch. »Wovon?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Maya und ich, wir sind zusammen. Seit einer Weile schon. Hat sie nichts zu Finn oder dir gesagt?«

In diesem Moment hätte ich mich am liebsten geschlagen. Ich erinnerte mich daran, wie Maya mich vor ein paar Monaten gefragt hatte, ob Yumi Single war, aber mit all den Dingen, die seitdem geschehen waren, hatte ich nicht mehr daran gedacht. Natürlich hatte sie uns nichts von ihrer Beziehung erzählt. Maya sprach nie freiwillig über sich. Aber wie musste es auf Yumi wirken, dass sie ihre Beziehung vor ihren Mitbewohnern geheim hielt?

»Doch, natürlich«, sagte ich in der Hoffnung, die Situation zu retten. »Ich sage ihr Bescheid. Sorry, Yumi, ich bin heute echt nicht ganz bei mir.«

Yumi warf mir einen prüfenden Blick zu und ich hatte das Gefühl, durchleuchtet zu werden. Für einen Moment erinnerte sie mich an die Sphinx. Meine Befürchtung, dass sie problemlos meine Lüge sehen würde, wurde bestätigt, als sie mit kühler Stimme antwortete: »Du musst ihr nichts ausrichten. Wenn sie mich sehen will, kann sie anrufen.«

Damit drückte sie die Metallbox an sich und verschwand.

Ich sah ihr mit Bedauern hinterher. Garantiert hatte ich Maya soeben in Schwierigkeiten gebracht. Warum musste sie auch immer alles verheimlichen?

Yumi und Maya. Die beiden gaben ohne Zweifel ein gutes Paar ab. Beide hatten die gleiche Besessenheit, wenn es um ihre Arbeit ging, sie waren ausgezeichnete Agentinnen. Nachdem Yumi mich allerdings vor einem Jahr nach einem Date mit Finn gefragt hatte, hatte ich nicht erwartet, dass sie und Maya zusammen waren.

Ich brauchte ein paar Momente, bis mir einfiel, dass K. auf mich wartete. Mit einem miesen Gefühl ging ich den Flur hinunter und klopfte an die Tür von K.s Büro.

K. rief mich nach wenigen Sekunden herein und ich betrat ihr Büro, das wie immer nach einer Mischung aus Qualm und bitterem Kaffee roch.

Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, eine Zigarette in der Hand. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie eine Akte in ein Schubfach. Wenn man sich auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass K., egal, wann man ihr Büro betrat, das gleiche Bild abgab: Massen von roten Haaren türmten sich vogelnestartig auf ihrem Kopf, ihr Bauch wölbte sich unter einer glänzenden Bluse, eine rote Brille balancierte auf ihrer Hakennase und ihre Augen musterten einen scharfsinnig. Ich hatte K. noch nie mit guter Laune und schon ewig nicht mehr ohne Zigarette gesehen.

»Schneller als gedacht, Kindchen«, sagte sie und deutete mit einer Geste zu dem Stuhl vor ihrem Tisch.

»Ich war sowieso gerade hier, um eine Box zu entsorgen.«

Ich nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz, auf dem ich schon mehr als eine Standpauke über mich ergehen lassen hatte, und versuchte, nicht zu husten. K. fand Leute, die bei Zigarettenrauch husten mussten, ›überdramatisch‹. Ich wollte ihre Laune nicht verschlechtern.

»Die M. K.?«, fragte sie.

Ich nickte. »Eine Sphinx.«

K. wirkte zufrieden. »Hat sie dir ein Rätsel gestellt?«

Ich musterte sie für einen Augenblick, bevor ich antwortete. K. hielt nichts von Small Talk. Sie hatte mich mit Sicherheit nicht hierher gerufen, um über Erscheinungen zu plaudern. Ich war besser auf der Hut.

»Ja«, antwortete ich zögerlich, »etwas mit Tag und Nacht. Maya kannte die Antwort.«

»Wie läuft es mit Maya?«

War ihr Blick heute besonders bohrend? Eine tickende Uhr an der Wand füllte die unangenehme Stille zwischen uns.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf meinem Stuhl herumzurutschen. Es war spät, ich war müde und ich hatte keine Ahnung, worauf K. hinauswollte, aber ich war mir sicher, dass sie sich nicht grundlos nach meinem Team erkundigte.

»Gut?«, antwortete ich zögerlich.

K. lachte, ein freudloses Bellen. »Geht’s etwas genauer?«

Ich atmete aus und fixierte die Brandstellen, die ihre Zigaretten im Holztisch hinterlassen hatten. Fast automatisch zählte ich sie. Es waren ein paar Neue hinzugekommen.

»Seit Maya vor einem Jahr in mein Team gekommen ist, ist unsere Erfolgsquote höher denn je. Seit Monaten schließen wir jeden Fall ohne Probleme, ohne Sachbeschädigung und ohne Verletzungen ab.« Ich klang fast ein wenig trotzig und hätte am liebsten ein »Was willst du von mir?« hinzugefügt.

Es stimmte, K. hatte keinen Grund, sich über uns zu beschweren. Wir waren in letzter Zeit vorbildlich gewesen. Maya, Finn und ich gaben ein ausgezeichnetes Team ab. Ich gab es nicht gern zu und ich hätte es niemals vor anderen ausgesprochen, aber Finn und ich arbeiteten mit ihr sogar besser zusammen als mit Ben. K. hatte absolut keinen Grund, mich in ihr Büro zu zitieren.

Sie schien sich an meinem Ton nicht zu stören. »Und Jansen?«

»Finn?«, fragte ich erstaunt.

K. stellte keine Fragen grundlos. Wusste sie etwas, das ich nicht wusste? Wenn sie mitbekommen hatte, womit wir drei in Wahrheit jede freie Minute verbrachten, war ich in großen Schwierigkeiten. Auf keinen Fall durfte sie mir meine Nervosität ansehen und so sagte ich betont ruhig: »Finn geht es gut. Er hat eine Schwäche für mythische Kreaturen.«

»Mythologisch.«

»Was?«

»Das Wort ist mythologisch.«

»Wenn du meinst. Er war jedenfalls enttäuscht, dass nicht er das Rätsel der Sphinx gehört hat, sondern Maya.«

K. musterte mich eindringlich und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ihr meine Antwort nicht gefiel. Statt weiter nachzuhaken, sagte sie jedoch: »Du wirst etwas für mich erledigen.«

Ich entspannte mich ein wenig. Hatte sie mich am Ende doch nur wegen eines neuen Falls zu sich gerufen?

»Ein neuer Ausbruch?«

»Nicht ganz. In sechs Wochen veranstaltet die Zentrale eine Gala. Ich will, dass du uns dort mit deinem Team repräsentierst.«

Hatte mich jemand vor den Kopf geschlagen? Für einen Moment starrte ich K. entgeistert an, bevor ich meine Stimme wiederfand. »Eine Gala? Seit wann schmeißt die Zentrale Galas?«

K.s Ton war ungeduldig, als sie antwortete: »Seit wir um uns herum mehr Wandler haben, als wir zählen können. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, jede Woche kommen mehr Erscheinungen hinzu.« Grantig drückte sie ihre Zigarette aus und zündete sich in einer fließenden Bewegung eine neue an. »Mehr Erscheinungen bedeuten mehr zivile Opfer. Es werden Stimmen laut, die fragen, ob die Zentrale noch mit den Wandlern zurechtkommt.«

Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, wurde mir bewusst, wie müde K. aussah.

»Mein Telefon steht nicht mehr still«, sagte sie und zeigte auf den Apparat auf ihrem Tisch. Der Hörer lag daneben. »Politiker, Polizei, die Öffentlichkeit.« Sie unterstrich jedes Wort, indem sie ihre Zigarette wütend in den Aschenbecher drückte. »Sie alle sind unzufrieden mit uns.«

»Das ist nicht fair! Wir arbeiten härter als je zuvor. Aber es sind einfach zu viele Wandler.«

»Was ist schon fair im Leben, Kindchen?« K. spielte mit ihrer Zigarettenpackung. Eine unangenehme Stille legte sich über uns.

»Und dann soll uns eine Gala helfen?«, fragte ich schließlich zögerlich.

K. nahm eine neue Zigarette aus der Packung. »Das ist unsere Chance, uns von unserer besten Seite zu zeigen, Wohlwollen in der Öffentlichkeit zu generieren, zu beweisen, wie hart wir arbeiten. Ich will, dass dein Team und du die Zentrale repräsentieren.«

Ich blinzelte verwirrt. »Warum wir?«

»Bist du heute voller Fragen?«, fuhr sie mich an.

»Ich verstehe nur nicht, was wir auf einer Gala sollen.«

»Du hörst mir jetzt gut zu, denn ich sage das nur einmal.« K. lehnte sich über den Schreibtisch zu mir. Fast unbewusst tat ich es ihr gleich. »Du bist eine ausgezeichnete Agentin, dein Team leistet gute Arbeit. Im Moment seid ihr – ich glaube kaum, dass ich das sage – eines unserer besten Teams. Ich habe noch ein paar weitere Agenten eingeladen. Und es werden Ausbilder und Ehemalige aus der Zeit kommen, als die Zentrale in den Kinderschuhen steckte. Zusammen werden wir unser bestes Bild abgeben und so hoffentlich die Öffentlichkeit von unserer Arbeit überzeugen. Verstanden?«

K.s Kompliment war das Schockierendste, das ich an diesem Abend von ihr gehört hatte.

»Außerdem«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu, »sieht man Jansen und dir eure harte Arbeit an.« Sie zeigte auf mein Gesicht.

Verlegen schoss meine Hand zu meiner Wange. Direkt unter meinem Auge zog sich eine dünne Narbe entlang, etwa so groß wie mein kleiner Finger, ein Souvenir meiner Begegnung mit Dorian Gray. Finns Hals zierte eine lange Narbe, die er der Klingenbraut zu verdanken hatte. Zusammen mit unseren anderen Narben und Kratzern gaben sie ein gutes Bild der Gefährlichkeit unseres Jobs ab. Ich war nicht scharf darauf, mich einen ganzen Abend von irgendwelchen Fremden anglotzen zu lassen.

»Muss das sein?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass K. nichts davon abbringen konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

»Willst du in ein paar Monaten arbeitslos sein? Denn das wird passieren, wenn sie uns dichtmachen und jemand anderen damit beauftragen, die Wandler zu versiegeln. Du präsentierst dich also von deiner besten Seite.«

Ich ließ die Schultern hängen. »Ich habe nicht mal was zum Anziehen«, entgegnete ich halbherzig. »Ich habe keine Ahnung, was man zu so was trägt.«

»Das lass mal meine Sorge sein«, erwiderte K. mit dieser Art von Lächeln, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. »Du kannst gehen.«

Ich stand missmutig auf, nickte K. zum Abschied zu und war froh, als ich wenige Augenblicke später den dichten Zigarettenrauch hinter mir gelassen hatte. Die Lust auf ein Training war mir vergangen. Ich sah auf meine Uhr. Acht Uhr. Maya und Finn waren bestimmt gerade dabei, Abendessen zu machen. Dann konnte ich ihnen gleich von unserem neuen ›Auftrag‹ berichten. Sie würden mit Sicherheit genauso begeistert sein wie ich.

Ich hatte mir eindeutig ein Taxi verdient.

Eine halbe Stunde später stand ich vor unserem Häuserblock, den Kopf noch immer voll von der Gala und von Maya und Yumi. Sollte ich Maya auf meine Begegnung mit Yumi ansprechen? Ich wollte mich nicht in ihr Privatleben einmischen, aber andererseits war ich verletzt, dass sie uns ihre Beziehung verschwiegen hatte.

Ich blickte an der bröckeligen Fassade hoch. Unser Küchenfenster war dunkel. Es schien, als würden die zwei die Gelegenheit nutzen, Schlaf nachzuholen. Eine kluge Entscheidung.

Inzwischen konnte ich mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. In Gedanken stieg ich bereits die Stufen zu meiner kleinen Dachkammer hoch, in der Hoffnung, unseren alten Kater Momo auf meinem Bett zu finden.

Ich überquerte gerade die Straße, als ein Auto vorfuhr und Adam, Taro und Milla ausstiegen. Ich trat einen Schritt zurück in die Schatten. Ich war zu erschöpft, um jetzt eine der vielen kleinen Beleidigungen mit Adam auszutauschen, die wir uns immer an den Kopf warfen, wenn wir uns sahen. Wenn möglich, mied ich Adam und sein Team in letzter Zeit, was angesichts der Tatsache, dass wir nebeneinander wohnten und beständig auf gemeinsame Missionen geschickt wurden, nicht leicht war.

Man hätte denken können, dass Adam nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten, erträglicher geworden wäre. Immerhin waren wir vor ein paar Monaten gemeinsam in der alten Breyervilla einer Horde Erscheinungen und einem schießwütigen Einbrecher entgegengetreten. Seit ich damals Adams Leben gerettet hatte, gab es einen fragilen Friedenspakt zwischen uns. Adam verriet nicht, dass ich eine Box aus der Flüsternden Bibliothek eingesteckt hatte, die mir gestohlen worden war, und ich erzählte niemandem, dass er dem Dieb gegenüber geheime Informationen der Zentrale ausgeplaudert hatte. Aber nur weil wir Mitverschwörer waren, hieß das noch lange nicht, dass wir uns mochten. Im Gegenteil, Adam war sogar noch bösartiger, wann immer wir uns über den Weg liefen. Immerhin würde so niemals jemand erraten, dass uns ein Geheimnis verband.

Ich hatte keine Lust auf eine Konfrontation und so wartete ich, bis sie in unserem Hauseingang verschwunden waren, und folgte ihnen dann.

Das Licht in unserem Flur war kaputt. Eines Tages würde der ganze Bau über unseren Köpfen zusammenbrechen. Nicht nur, dass beständig das warme Wasser und der Strom ausfielen und die Wände so dünn waren, dass ich das Gefühl hatte, das Leben der Agenten, die um uns herum wohnten, bis ins kleinste Detail zu kennen, jetzt musste ich auch noch aufpassen, mir nicht im Flur den Hals zu brechen.

Gähnend stapfte ich die Stufen hoch.

Ein Schrei irgendwo über mir durchschnitt meine Gedanken. Für den Bruchteil eines Augenblicks blieb ich stehen, dann übernahm mein Training.

Ich hetzte nach oben und zog im selben Augenblick mein Messer.

Ein weiterer Schrei.

Viele Agenten waren um diese Uhrzeit normalerweise auf Missionen, aber um mich herum flogen vereinzelt Türen auf.

Aus den offenen Wohnungen strömte Licht in das enge Treppenhaus. Verwirrte Rufe. Gemurmelte Fragen.

Der Schrei war von oben gekommen. Vielleicht sogar aus unserem Stockwerk. Und von einer Frau. Maya?

Mein Herz warf sich ängstlich gegen meinen Brustkorb. Noch nie waren mir die Treppen bis zu unserer Wohnung so lang vorgekommen, obwohl ich nicht viel länger als ein paar Sekunden gerannt sein konnte. Ich griff nach meiner Taschenlampe und hielt sie zusammen mit meinem Messer vor mich.

Mit einem Satz kam ich im obersten Stock an. Mein Lichtkegel fiel zuerst auf Millas bleiches Gesicht. Völlig verstört stand sie in der Ecke und schien etwas zu umklammern.

Gleichzeitig flog unsere Tür auf und Maya und Finn standen im Flur. Erleichterung durchflutete mich. Sie sahen unversehrt aus und waren es offenbar nicht gewesen, die geschrien hatten.

»Was zum …?«

Im Schein unseres Flurlichts konnte ich die Szene vor mir erfassen. Taro lag auf dem Boden, den Arm in einem unnatürlichen Winkel von sich gestreckt. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, denn Adam kauerte direkt vor ihm und verdeckte es.

Maya trat an ihn heran, doch bevor einer von uns etwas sagen konnte, fuhr sie zurück. »Einen Arzt. Sofort.«

Für jemanden, der Maya nicht gut kannte, hatte sie ruhig gesprochen, aber ich konnte die unterdrückte Panik in ihrer Stimme hören. Mein Magen machte einen Sprung. Finn verschwand in unserer Wohnung.

»Adam, mach Platz.« Maya krempelte ihre Ärmel hoch und hockte sich neben Taro.

Adam schien nicht in der Lage zu sein, sich zu bewegen. Sie gab ihm einen Stoß. Er stand wackelig auf, trat zur Seite und gab so den Blick auf Taros Gesicht frei.

Meine Knie sackten unter mir weg und ich hörte eine Agentin hinter mir aufschreien. Jemand fing mich auf, sonst wäre ich die Treppe hinuntergestolpert.

Taro musste tot sein. Sein Gesicht war nicht mehr als eine rote Masse.

Für einen Augenblick war ich unfähig, mich zu bewegen, unfähig, etwas anderes zu tun, als Taro anzustarren.

Mir wurde schmerzhaft bewusst, wie laut mein Herz schlug, wie abgehackt mein Atem ging. Jemand hatte eine Taucherglocke über meinen Kopf gestülpt und alles vor mir spielte sich wie in Zeitlupe ab. Maya kniete vor Taro. Ich verstand nicht, warum sie begann, Erste Hilfe zu leisten. Niemand konnte so aussehen und noch leben.