Die Bücherkatze - Eva Berberich - E-Book

Die Bücherkatze E-Book

Eva Berberich

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Beschreibung

Von Menschen, Katzen und Büchern Die Katze, das unbekannte Wesen. Wir glauben, alles über sie zu wissen, aber eigentlich wissen wir nichts. Sie ist vertraut mit seltsamen Dingen, die uns verborgen bleiben. Schnurrt sich durch Jahrtausende, weiß von längst verschwundenen Stätten, untergegangenen Kontinenten und von Menschen, die einst dort gelebt haben. Keines der rätselhaften Geschöpfe, die durch diese Geschichten schleichen, ist wie das andere: berühmte und gänzlich unbekannte Katzen, wirkliche, geträumte, poetische, sichtbare, unsichtbare, göttliche und teuflische. Und am nächtlichen Himmel leuchtet für den, der Augen hat zu sehen, die wunderbare Sternenkatze.  

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Seitenzahl: 310

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Eva Berberich

Die Bücherkatze

Erzählungen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Armin, der Kommata an die richtige Stelle gesetzt, falsche Konjunktive verbessert und überflüssige Wörter aus den Geschichten hinausgeworfen hat.

 

 

Das Wunderbarste an den Wundern ist,dass sie manchmal wirklich geschehen.

 

Gilbert Keith Chesterton

Die Katze, das unbekannte Wesen. Wir glauben alles über sie zu wissen, aber was wissen wir schon! Sie ist vertraut mit Wirklichkeiten, die uns verborgen sind, hinter die wir nie kommen werden. Schnurrt sich durch die Zeiten, weiß von längst vom Erdboden verschwundenen Städten, untergegangenen Kontinenten, von Menschen, die vor uns gelebt haben. Als vor Jahrtausenden die Sphinx aus dem Wüstensand wuchs, lag sie vor der riesigen Steinkatze und erzählte ihr – von Katz zu Katz – von Geheimnissen, die jene aber – ihres abbröckelnden Gedächtnisses wegen, längst vergessen hat.

Der Mensch kommt nicht los von diesem rätselhaften Geschöpf. Die Katze hat ihn fest im Griff. Und wenn er über sie schreibt, gehen ihm die Wörter nie aus.

Von der Würde des Buches und der Würde der Katze

Sie hinkte, sich immer wieder umschauend, an mir vorüber: dürr, verklebtes Fell, Schlenzer im Ohr.

Ich warf den gelben Sack in einen der Container im Recyclinghof. »Wer bist du denn, Hinkebein?«

Sie fauchte mich an: »Ein Krokodil.«

Ich entschuldigte mich. »Darf ich fragen, wo du herkommst?«

»Aus dem großen Ding dort hinten.«

Das große Ding war eine Tonne. »Papier hier!«, befahl das Schild, »Kartonagen zum Platzsparen gefälligst zusammenfalten!«

»›Zur Platzersparnis zusammengefaltete Katzen hier reinschmeißen‹ steht aber nicht da«, sagte ich.

»Jemand hat mein Buch reingeschmissen.«

»Katzen haben keine Bücher.«

»Aber Bücher haben Katzen. Hab’s gerade noch geschafft, rauszukommen.«

»Was war’s denn für ein Buch?«

»Ein besonderes. Man hockt ja nicht in jedem dahergeschriebenen Buch. Ich bin nämlich die Buchkatze.« Ihr Ton drückte aus, wie sehr sie sich ihrer Bedeutung bewusst war. »Staunst du?«

Ich staunte gebührlich. Ich kenne Bücher, die sich um Katzen drehen, aber dass Katzen aus Büchern herausspringen, war mir neu. Wieder sah sie sich nach allen Seiten um.

»Ist jemand hinter dir her?«

Ihr Schwanz wurde zur Bürste. »Der große böse Wolf. Der schreckliche Totmacher, Totreißer, Totbeißer.«

Mit großen bösen Wölfen leg auch ich mich nicht gern an. Ich stieg ins Auto und öffnete die Tür: »Rein mit dir!«

Die Katze musterte mich mit schräg gelegtem Kopf – soll ich oder soll ich nicht? –, schaute sich noch mal um, sprang dann auf den Nebensitz, verlangte, ich solle das Fenster aufmachen, und drückte sich eng an die Tür. Wir fuhren ein Stück weiter zu der Wiese mit der Bank, auf der ich gern etwas verschnaufe, wenn mir beim Laufen die Luft ausgeht. Die Bank lehnt sich an einen Baum, ein paar Latten auf der Sitzfläche sind kaputt, und wenn man sitzt, hängt der Hintern durch. Ich fegte Blätter und einen Vogelschiss weg, ließ mich nieder, und die Katze setzte sich unter Wahrung eines gehörigen Sicherheitsabstands ans andere Ende. Auf der abgemähten Wiese blühten melancholische Herbstzeitlose in sanftem Rosa und Violett.

»Erzähl mal!«, sagte ich.

Die Katze erzählte: »Ich hatte einen Dichter. Der war nicht mehr der Jüngste. Manchmal hat er gedichtet, manchmal nicht. Dann hing er nur so rum, hatte schlechte Laune und fing an zu saufen, rumzudöbern und zu motzen: ›Mir fällt nichts ein.‹

›Warum nicht?‹, frag ich.

›Es liegt an der Muse. Ich hab keine. Eine Muse ist jemand, der einem lahmen Dichter auf die Sprünge hilft. Dieser Jemand ist meistens eine Jemandin.‹

›Du hast eine‹, sag ich zu meinem lahmen Dichter. ›Mich. Eine bessre findst du nicht.‹

›Musen müssen Dichter küssen‹, sagt er.

Ich hab meinen Schwanz um seine Schultern rumgelegt, meinen Kopf an seinem Kopf gerieben und geschnurrt. ›Das ist besser als ein Kuss‹, sagt er, ›und nicht so feucht.‹«

Die Katze hüllte sich in ihren Schwanz. »Mir ist kalt.«

»Mir auch.« Ich wickelte meinen Schal zweimal um den Hals. »Du bist also zu seiner Katzenmuse geworden. Zu seiner Musekatze.«

Die Katze fixierte die Fransen des Schals. Ihre Pfoten zuckten. »Dann setzt er sich auf den Hintern und legt los. Es flutscht. Er lahmt nicht mehr, macht wieder Sprünge. Hohe weite Dichtersprünge. Er schreibt und schreibt und schreibt, bis seine Pfoten wund sind. Unter die letzte Geschichte setzt er einen Punkt. Einen Schlusspunkt. Er macht aus den Geschichten ein Buch, und aufs erste Blatt schreibt er: Ich widme dieses Buch in tiefer Dankbarkeit meiner geliebten Katzenmuse, ohne die mir rein gar nichts eingefallen wär. Dann sieht er mich an. Ganz inniglich, ganz minniglich.«

»Minniglich und inniglich sagt heut kein Mensch mehr.«

»Klingt aber schön. ›Meine allerliebste Katzenmuse‹, sagt er, ›ich hab genug. Hiermit lege ich den Löffel – den Griffel – aus der Hand. Aber was wird mit dir, wenn ich nicht mehr bin?‹

›Wo bist du dann, wenn du nicht mehr bist?‹, frag ich.

›Auf dem Olymp. Dem Berg, auf dem nur bedeutende Persönlichkeiten wohnen dürfen.‹

›Bist du eine bedeutende …?‹

›Das vermute ich. Ich hoffe auf einen Lorbeerkranz, Unsterblichkeit und ewigen Nachruhm.‹

›Ich komm mit. Ich will auch einen Unsterblichkeitsruhm. Aber ohne Lorbeerkranz.‹

›Geht leider nicht. Auf dem Olymp ist nur Platz für Dichter allererster Güte.‹

›Ich bin eine Katze allererster Güte, dazu eine Musekatze. Ohne Katzenmuse käm kein Dichter da rauf.‹

›An der Tür zum Olymp hängt ein Schild: ›Musekatzen und Katzenmusen müssen leider draußen bleiben!‹ Die Unsterblichen wollen verehrt werden, und Katzen verehren grundsätzlich nur sich selber. Aber ich weiß was Besseres. Du ziehst in unser Buch mit den Geschichten. Da wirst du dich wohler fühlen als auf dem Olymp.‹

›Wie komm ich da rein?‹, frag ich.

›Mit einem Zauberwort.‹ Dichter kennen sich ja aus mit Zauberwörtern. Einer hat mal gesagt: Und die Welt fängt an zu schnurren, wenn einem so eins übern Weg läuft.«

»Und die Welt fängt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort«, sagte ich. »Das war der Herr von Eichendorff. Was ist das für ein Zauberwort? Sesam öffne dich? Oder Buch öffne dich? Oder Simsalabim? Oder mantje, mantje, timpe te? Oder dreimal schwarzer Kater, viermal bunter Hund? Könnt ja sein, ich brauch mal eins.«

»Zauberwörter sind hoch geheim, die darf nicht jeder Trottel von Mensch wissen.«

Nachdem ich ihr großehrenwörtlich versichert hatte, ich sei weder ein Trottelmensch noch ein Menschentrottel, schnurrte sie mir das hochgeheime Zauberwort ins Ohr. Sie habe es von einem alten Kater, der von einem goldschillernden Käfer, der von einem blauen Schmetterling, der von einem Feuersalamander, der aber nicht mehr wisse, wo er es her habe.

Ich versprach, es nur im allerdringendsten Notfall zu gebrauchen, etwa wenn ein Mammut es auf mich abgesehen hätte oder der große böse Wolf oder der kleine, aber gar nicht feine Wadenbeißer meines Nachbarn. »Und dann?«

»Er packt sein Bündel, setzt sich drauf und wartet. Und als seine Zeit kommt, um ihn für die Reise zum Olymp abzuholen, nimmt er mich in die Arme, drückt seinen Kopf an meinen Kopf und sagt, ohne mich wär er nie ein Dichter allererster Güte geworden. Höchstens ein Dichter siebter oder zehnter Güte. Und dann sagt er das Zauberwort. Und dann war ich drin.«

Ein Blatt fiel vom Baum und tänzelte kokett vor uns hin und her. Die Katze pfotete danach, das Blatt wich aus und landete auf dem Boden.

»Wie ist es so in einem Buch?«

»Kann ich nur empfehlen. Das Papier riecht fein. Die Wörter auch. Wenigstens die meisten. Es gibt natürlich auch Wörter, die stinken. Nette runde Fragezeichen tanzen um dich rum, lange dünne Ausrufezeichen und jede Menge Striche und Pünktchen. Vorne und hinten ein Deckel, damit du nicht rausfällst. Kein Hund verbellt dich, kein Jäger erschießt dich, kein Floh beißt dich, kein Auto macht dich platt. Im Buch bist du sicher. Und es ist immer schön warm. Wenn du mal die Nase voll hast von der Welt und nicht weißt, wohin – ab in ein Buch!«

»Und dann?«

»Schenkt jemand mein Buch einem Kind. Das Kind lacht und zeigt mit dem Finger auf mich und miaut: Katze, Kaaaatze, Katzzzzze. Es macht Flecken – Kakao, Marmelade, Dreck, Spucke, Tomatensoße –, kneift Eselsohren in die Seiten und verbiegt den Deckel. Muss das Kind ins Bett, liegt rechts der Bär, links das Buch. Zuerst liest ihm jemand draus vor, dann erzählt das Kind dem Bär meine Geschichten. Fast wie Honig, brummt er, aber Bärengeschichten seien nicht fast, sondern ganz honiglich und noch empfehlenswürdiger. Das Kind wird größer, wie das so ist mit Kindern, kriegt neue Bücher mit neuen Geschichten, und eines Tages lieg ich mit den anderen Büchern in einer Kiste, die kommt auf den Speicher. Bücherkiste steht drauf. Wir erzählen uns im Dunkeln unsere Geschichten. Hab bedeutende Leute kennengelernt. Den Robinson mit dem langen Bart. Ronja, die wilde Räuberstochter. Den kleinen Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud all Gossarah. Der hat links sieben Schnurrbarthaare, rechts vier …«

»Links acht, rechts drei«, sagte ich. »Ein lieber alter Freund von Kara ben Nemsi und von mir, aus dem Stamm der tapferen Haddedihn.«

»Eines Tages wird’s wieder hell und die Kiste geöffnet. Mein Kind ist auf einmal ein Mann und hat selbst ein Kind. ›Das sind meine lieben alten Bücher‹, sagt er, nimmt mein Buch in die Hand und streichelt es – ›schau, hier ist mein allergeliebtestes Buch mit den wundervollen tollen Geschichten.‹ Er blättert herum, begrüßt jeden Fleck, jedes Eselsohr. An einer Stelle hatte er ›das ist lustigg‹ an den Rand gekritzelt, woanders einen kleinen Teufel gekrakelt, aber warum weiß er nicht mehr. ›Jetzt ist es deins‹, sagt er zum Kind.«

Die Katze sah mich von der Seite an. »Katzen sind streichelbar.«

»Mein Arm ist zu kurz«, sagte ich, »du bist zu weit weg.« Immer mehr Blätter umschwebten uns – ein anmutiges Blätterballett. Rote, gelbe, orangefarbene, braune und gefleckte spielten Fangerles …

Die Katze rückte näher. »Mein Buch wird auch das Lieblingsbuch des Kindes. Es macht noch ein paar Flecken und ein paar Eselsohren mehr dazu, und als es ein bisschen aus dem Leim gegangen ist, klebt der Vater es wieder zusammen. Eine Seite spuckt das Kind voll, weil es Vitamin-A-reiche Gelbe Rüben essen soll. Es hat aber was gegen reiche Gelberübenvitamine. Da muss der Vater die ganze Seite noch mal schreiben und ins Buch kleben. Unter seinem Namen steht nun der Name vom Kind. Vom Kindeskind. Auch das Kindeskind wird größer und bekommt noch viele andere Bücher. Und eines Tages – ich bring’s fast nicht raus – es ist so schrecklich –, eines Tages sagt eine Stimme …«

Die Katze legte als Zeichen höchster Missbilligung die Ohren flach an. Das Blatt, das gerade vom Baum heruntersegelte, verharrte bewegungslos in der Luft, der Wind hielt den Atem an.

»Was hat die Stimme gesagt?«, fragte ich, aufs Schlimmste gefasst.

»Weg mit den Büchern!«

Das Blatt stürzte erschüttert ab. Die Herbstzeitlosen wurden noch blasser, und der Wind machte einen empörten Wirbel.

»Nein!«, sagte ich. »Nein, nein, nein!«

»Doch, doch, doch!« Der Abstand zwischen uns wurde kleiner. »Arm lang genug?«

Ihr Fell war klebrig und – »du muffelst.«

»Hock du mal ein paar Tage in dem Ding, dann muffelst du auch. ›Die Bücherzeit ist vorbei‹, sagt die Stimme. ›Nur Hintermmondhocker nehmen noch ein Buch in die Hand. Bücher stehen nur dumm rum. Es gibt was viel Besseres.‹«

Die Katze lag nun dicht neben mir. »Ich hab’s gesehen, das viel Bessere: kleine flache viereckige Scheiben. Darauf stehen heute die Geschichten. Man wischt mit den Fingern auf ihnen rum, man muss nicht mehr umblättern, wischt immer neue Seiten her. Wisch und weg – und wisch und weg. Man kann nicht mehr an den Geschichten riechen, keine Eselsohren machen, keine schönen farbigen Flecken und nichts dazumalen, keine Teufel oder Schweinchen oder Gesichter oder Männchen. Man kann nicht mehr ›das ist lustigg‹ an den Rand schreiben. Man löscht die Geschichten einfach aus. Man bringt sie um. Ermordet sie.«

Sie drückte den Kopf auf die Pfoten und legte eine Schweigeminute ein. Für die weggewischten, ausgelöschten, umgebrachten Geschichten.

»Einige Bücher landen bei den Flöhen …«

»Auf dem Flohmarkt«, sagte ich …

»… mit vielen anderen in dieser Tonne, wo ›Papier‹ draufsteht und dass man die Kartons gefälligst zusammenfalten soll.«

Der Herbstwind, ein ruheloser Geselle, fegte den Boden und wirbelte die dort liegenden Blätter wieder auf, was denen gefiel.

»Hab gewusst, was uns blüht: Der große böse Wolf. Der würde uns zerreißen, zerschreddern, zerhäckseln, zerschnipseln und fressen. Da hab ich an die Bremer Stadtmusikanten gedacht und mir gesagt: Was Besseres als Zerreißung, Zerschredderung, Zerschnipselung und Gefressenwerden findest du allemal. Hau ab! Raus aus dem Buch! Und als jemand den Tonnendeckel geöffnet hat, um noch mehr Bücher reinzuwerfen, zieh ich mich mit den Pfoten an der Wand hoch – und dann nix wie fort. Hab erst mal verschnauft. Dann bist du gekommen. Und jetzt bin ich hier.«

Sie legte eine Pfote auf mein Bein. Die Pfote war dreckig und hinterließ einen dunklen Fleck auf der Hose. Ein leuchtend rotes Blatt fiel mir in den Schoß. In meinen Kopf fielen Wörter:

»Die Krähen schrei’n

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt.

Bald wird es schnei’n …«

»Was ist das?«, fragte die Katze.

»Ein Gedicht. Von Nietzsche, Vorname Friedrich.«

»Hockt der auch auf dem Olymp, mit einem Lorbeerkranz und ewigem Nachruhm?«

»Wo er hockt, weiß ich nicht. Aber seine Gedichte sind …«

»Erster Güte?«, fragte sie.

»Allererster Güte.«

»Meine Pfoten frieren trotz seiner Gütegedichte.«

»Meine auch.«

»Aber du hast schöne warme Pfotenschuhe. Die Vögel fliegen in die Stadt. Die Raben irren faul. Ja, so sind sie, die Raben: faul und irrig.«

»Die Raben sind Krähen! Und sie fliegen nicht, sie irren auch nicht, sie schwirren trägen Flugs …«

»Bald schneit’s«, sagte die Katze.

»Bald wird es schnei’n«, sagte ich.

»Kommt aufs Gleiche raus.«

»Aber es ist poetischer.«

»Kalte Pfoten sind nicht poetisch. Und dann? Was sagt der – der Dings dann?«

»Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat. Sagt der Dings.«

»Du hast eine. Aber ich bin eine heimatlose, buchlose, frierende, kaltpfotige, fast zerrissene, zerbissene, zerschredderte, zerstückelte und aufgefressene höchst mitleidige Katze.«

»Bemitleidenswerte«, sagte ich. »Mitleidig kann nur ich sein.«

»Bist du mitleidig?«

Ich rupfte kleine Stücke aus dem roten Blatt.

»Vielleicht schmeißen sie dich auch mal ins Loch«, sagte die Katze. »Und du wirst auch zerschreddert und zerrissen und verhäckselt und zerschnipselt.«

Nur der Stiel war noch übrig.

»Oder weggewischt und gelöscht.«

Ich blies die roten Blattreste über die Wiese. Der Wind trug sie fort, sie flogen schwirren Flugs zur Stadt – nein, das waren ja die Krähen … »›Weh dem, der keine Heimat hat‹«, sagte ich.

Sie sah mich an. Was für Augen. Große, tiefgründige, dunkle samtige Katzenaugen.

Ich sah sie an. Ich hab kleine Augen, Tränensäcke und Schlupflider.

Sie hielt es länger aus als ich. Katzenblicke brechen jeden Widerstand. Sie lassen etwas in einem schmelzen. Der liebe Gott oder sonst ein Katzelmacher muss eine Prise Unwiderstehlichkeit hineingetan haben.

»Du sollst wieder eine Heimat haben«, sagte ich. »In einer neuen Geschichte. Ich schreib dir eine. Da kannst du drin wohnen, solang du willst.«

Sie sah mich abschätzend an. »Kriegst du sowas hin?«

»Wenn ich mir Mühe geb, vielleicht schon.«

Sie fing an sich zu putzen. Wenn eine Katze sich putzt, geht’s ihr besser. »Eine einzige Geschichte ist nicht so toll«, sagte sie und beknasperte ihre Zehen.

»Ich kann ja noch mehr schreiben.«

»Aber du hast keine Katzenmuse. Keine Musekatze. Ohne so eine läuft nix.«

»Doch. Ich hab dich. Komm mit!«

Sie grabschte nach den Fransen meines Schals. »Hast du auch so ein Lese-, Wisch- und Löschdings?«

»Nein, hab ich nicht. Aber eine Menge Bücher. Es wird immer Menschen geben, die Bücher lieben, Bücherfreunde, Büchernarren und Leseratten. Sie schlagen das Buch auf und vergessen alles um sich herum. Wie das riecht, sagen sie. Nach Abenteuer. Nach Liebe. Nach Kindheit, Heimlichkeit und Unheimlichkeit. Nach der großen weiten Welt. Der Welt um uns herum und der Welt in uns drin, die ist noch viel größer, unendlich tief, reicht bis zu den Sternen und weit über die Sterne hinaus. Die Menschen verschwinden im Buch, und wenn sie es gelesen haben, tauchen sie wieder auf und freuen sich, dass noch alles drin steht. Sie machen Eselsohren, legen das Buch irgendwo hin, verlieren es, finden es wieder, vielleicht vergessen sie es auch für eine lange Zeit. Und irgendwann stoßen sie wieder drauf und sind gerührt. Drücken das Buch ans Herz. Weißt du noch, Buch? Hab dich unter der Bettdecke gelesen, mit der Taschenlampe, die halbe Nacht durch. Hab dich unter der Matratze versteckt, damit meine Mutter dich nicht findet.«

»Klingt nicht übel«, sagte die Katze. »Aber wenn ich mitkomm, komm ich ganz bestimmt nicht mit, weil du es willst, sondern weil ich es will. Ich bin nämlich eine freiwillige Katze. Ist das klar?«

»Sonnen-, mond- und sternklar«, sagte ich. »Du bist und bleibst eine freie Katze und kannst tun und lassen, was du willst.«

»Gibst du mir die Pfote drauf?«

Ich gab ihr die Pfote drauf. Die Katze sprang ins Auto, fuhr mit mir heim und verlangte meine Bücher zu sehen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, mochte sie denken.

»Hier die Märchen der Brüder Grimm. ›Von deiner lieben Oma Klara zum siebten Geburtstag‹ steht vorne drin. Und das ist der Heidradei. Der fährt mit seiner Kutsche am silbernen Rheinstrom entlang und sammelt alle Märchen, die er kriegen kann. Die Märchen von Andersen sind schön traurig. Ich hab geheult, als die kleine Seejungfrau wieder zurück ins Meer gegangen ist, weil dieser blöde Prinz eine andere geliebt hat. Das dicke Buch heißt: ›Die Sagen des Klassischen Altertums‹. Schau, den nackigen Göttern hab ich die Feigenblättchen, die bei ihnen unten drauf sind, damit man nicht sieht, was drunter ist, immer grün angemalt. Ich kenn heut noch alle Götter und Helden persönlich: Achill und Hektor und Priamos und Paris und Ajax und Kassandra und die schöne Helena und den listenreichen Odysseus. Und sogar Argos, den Hund, der seinen Herrn Odysseus wiedererkennt, als der nach zwanzig Jahren zurückkehrt in seine Heimat Ithaka. Da hab ich wieder geheult, und unseren Spitz hab ich Argos getauft, damit der mich, wenn ich später mal aus der großen weiten Welt heimkomm, auch wiedererkennt. In diesem Buch hier leben andere Helden: Siegfried der Drachentöter, der grimme Hagen und der edle Dietrich von Bern. Mit Omas großen Waschkesseldeckeln haben wir ihre Kämpfe gekämpft. Und da ist das Buch von den beiden Bibern Tschilawii und Tschikanii. Wäscha Kwonnesin hat es geschrieben, das ist Indianisch und heißt Graueule. Und so fängt’s an: ›Weit hinter Stadt und Ackerland, hinter den letzten Handelsniederlassungen Nordkanadas, liegt ein wildes, fast unbekanntes Land‹«, sagte ich mit geheimnisvoller Stimme. »›Wer es erreichen will, muss in fernste Fernen wandern‹ … Diese Worte haben mich verzaubert. Ich hab sie oft vor dem Einschlafen vor mich hingemurmelt, und dann bin ich in diese fernsten Fernen gewandert zu den beiden Bibern – und einmal wär ich fast dortgeblieben. Hier siehst du meinen Freund Nils Holgersson, der fliegt auf Martin, dem Gänserich, mit den anderen Wildgänsen weit übers Land. Ich hab mich hinter Nils gesetzt, mich an ihm festgehalten und bin mitgeflogen. Der mit der langen Lügennase ist das hölzerne Bengele.«

»Freut mich katzenmäßig, dich kennenzulernen!«, sagte die Katze zu jedem Buch.

Ich nahm eins in die Hand. »Das hier stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert und hat einen Deckel aus Holz. Und dieses Buch wurde mal gewaschen. Hier hinten steht’s: ›Gewaschen anno domini 1821‹.«

»Vielleicht hat ein früheres Kind auch vitaminreichen Gelberübenbrei draufgespuckt«, sagte die Katze, spazierte auf dem Regal entlang, setzte eine Pfote vor die andere, so vorsichtig, dass keins der Bücher das Gleichgewicht verlor.

Aus einem Buch fiel eine getrocknete Blume. Eine Rose. »Die hab ich hineingelegt, weil es in der Geschichte um eine Rose geht. Um ›Die Rose des Paracelsus‹. Der alte Mann wirft sie ins Kaminfeuer. Die Rose verbrennt. Da sagt Paracelsus ein Wort, und aus der Asche ersteht die Rose aufs Neue. Manchmal, wenn es mir schlecht geht – ›in dürftiger‹ Zeit, wie ein anderer Dichter sagt –, lese ich die Geschichte wieder. Natürlich glaub ich nicht, dass eine verbrannte Rose neu aus Asche erstehen kann, das glaubt kein vernünftiger Mensch, das glauben nur unvernünftige wie der blinde Dichter aus Südamerika, der sie geschrieben hat. Aber hinterher geht es mir immer gut. Und ich denk drüber nach, warum es einem wieder gut geht, wenn man etwas gelesen hat, das es gar nicht geben kann. Nur im Buch. Verstehst du das?«

»Ja«, sagte die Katze, beschnüffelte die ewige Rose des Paracelsus und nieste.

»Die Bücher leben. Sie reden mit mir. Ruhig und gelassen die älteren, schneller, lebhafter, geschwätziger die neueren. Manchmal stehen sie anders als am Abend zuvor. Die Buchmenschen, auch die Buchtiere, besuchen sich nachts. Oft halte ich mein Ohr an die Buchrücken, und dann hör ich sie miteinander reden. Und es kommt vor, dass ich etwas lese, das ich noch nie gelesen habe, und es erinnert mich an etwas Wichtiges, das ich einmal gewusst, aber vergessen hatte. Natürlich kann ich nicht mehr alle lesen. Aber ich bin nie einsam, nie unbeschützt. Mein Haus ist immer warm. Geschichtenwarm. Bücherwarm. Bücher sind eine Heimat.«

Die Katze rieb den Kopf an Nils Holgersson und legte den Schwanz um Tom Sawyer herum.

»Vor über sechshundert Jahren schrieb einer im Turmzimmer seines Schlosses in der Dordogne: ›Ich fühle mich unsäglich beruhigt und geborgen in dem Gedanken, dass sie bei mir sind, um mich zu erfreuen, wenn ich sie brauche; dankbar erkenne ich an, wie sie mir im Leben helfen.‹«

»Er muss eine Katze gehabt haben«, sagte sie. »Denn alle Gescheitheit kommt von den Katzen.«

»Er hatte eine. Wenn ich ein altes Buch in die Hand nehme, spür ich ein Kribbeln. Ich denk an den Menschen, der es angefasst und gelesen und geliebt hat. Und ich hör, was er sagt: Geh vorsichtig damit um, du Mensch nach mir. Es hat viel gesehen, viel mitgemacht, es lag auf einem Speicher, in einem Keller oder in einer Rumpelkammer, hat Kriege und Feuer und Überschwemmungen überlebt. Freud und Leid. Lustiges und Trauriges. Mehr, als du je erleben wirst. Es hat ein Schicksal. Es hat eine Würde.«

Die Katze sah das auch so. »Die Würde des Buches ist unantastbar«, sagte sie, »da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Würde der Katze erst recht. Steckt im Buch eine Katze, ist die Buchwürde eine ganz besonders unantastbare. Man muss sie achten und schützen und …«

Auf dem Fußboden lag ein Stapel Bücher. »Leg noch ein paar drauf«, sagte die Katze. Dann: »Noch ein paar.« Als der Turm zwanzig Bücher hoch war, sprang sie hinauf, ohne dass er wackelte oder kippte, und machte es sich darauf bequem. »Eine Katze«, belehrte sie mich, »muss immer ganz oben sein. Damit sie alles beobachten kann und weil sie die Krone der Schöpfung ist. Kronen sind immer oben. Oder kennst du eine Krone, die unten …?«

»Natürlich nicht. Ich hab’s auch schon immer gewusst. Dass nicht wir die Krone der Schöpfung sind.«

»Du schreibst jetzt die Geschichte – aber eine von allererster Güte! –, und ich hau mich aufs Ohr. Aber lass dir Zeit, eine Katze braucht viel Schlaf.« Sie rieb ihren Kopf an meinem Kopf und verschwand in das uns Menschen unzugängliche Land der Katzenträume.

Ich setzte mich an den Computer und fing an zu schreiben. Dank meiner sanft schnarchelnden Musekatze flutschte es …

Durch alle Geschichten schleichen, rennen, klettern, maunzen, fauchen, jaulen und schnurren Katzen: berühmte und unberühmte, wirkliche, geträumte, poetische, gläserne, sichtbare und unsichtbare, heimliche und unheimliche, mögliche und unmögliche Katzen. Und am nächtlichen Himmel leuchtet, für den, der Augen hat, sie zu sehen, die wunderbare Sternenkatze. Zuletzt schrieb ich die Geschichte ›Von der Würde des Buches und der Würde der Katze‹.

Ich gab meiner Katzenmuse einen Stupps. »Die Geschichten sind fertig!«

Sie streckte und reckte sich. »Und? Sind sie von allererster Güte?«

»Ich hab mir Müh gegeben.« Ich sagte das hoch geheime Zauberwort –, und schon war sie drin, ruckelte, trapste sich zurecht und schnurrte so laut, dass Wörter und Sätze vibrierten.

Aus den Geschichten machte ich ein Buch. Die Katz war im Buch. Die Katz war im Glück. Die Katz im Buchglück.

Und wenn keiner das Buch in die dunkle Tonne oder dem großen bösen Reiß- und Beißwolf in den Rachen wirft, ist sie, unverwischbar und unlöschbar, morgen noch drin.

Der Beweis

»Wahnsinn«, rief der Forscher, »ich glaub’s nicht. Ein Messfehler.«

Er starrte auf den Bildschirm. Die Daten erschienen zu perfekt, zu stimmig. Kein Messfehler.

Er holte die Daten näher heran, vergrößerte sie. Nein, nicht zu perfekt, nicht zu stimmig. Sie stimmten einfach. Kein Zweifel möglich. Der Beweis, nach dem seit hundert Jahren kluge Köpfe gesucht hatten, war gefunden. Obwohl Einstein gesagt hatte, es müsse ihn geben, aber draufkommen werde man wohl nie.

Generationen von Prinzen waren gescheitert an der Dornenhecke, die um das Schloss gewachsen und in der noch alle hängengeblieben waren, in dem Schloss, in dem hold und süß der Beweis schlummerte.

Prinzen? Dornenhecke? Der Forscher griff sich an den Kopf. Unsinn, das hier war kein Märchen. Das war Realität. Der Beweis lag nicht in der Turmstube eines alten Gemäuers, sondern auf seinem Computerbildschirm und hatte die Schönheit und Eleganz einer mathematischen Formel. Da konnte kein Dornröschen mithalten.

Der Forscher küsste den Bildschirm und druckte, was da stand, aus.

»Komm her, Hubble, schau dir das an!«

Hubble – er hieß nach dem Erfinder des berühmten Weltraumteleskops und leistete dem Forscher beim Forschen Gesellschaft – lag auf der Heizung, blinzelte träge und dachte nicht daran, sich zu erheben. Weshalb der Forscher ihn wie ein Bündel um den Bauch packte – Vorder- und Hinterpfoten hingen herunter – und auf dem Computertisch absetzte.

Hubble jagte erbost die Maus über die Tischplatte. Die Maus stürzte sich in den Abgrund, versteckte sich hinterm Papierkorb, worauf Hubble das Interesse an der Maus, die nicht mal quietschen konnte, verlor und es sich auf dem Papierstapel mit Berechnungen, Kurven und Zahlenkolonnen bequem machte.

Der Forscher sah Archimedes vor sich, wie der vor 2000 Jahren – ›Heureka! Ich hab’s gefunden!‹ rufend – nackt durch die Straßen von Syrakus rannte und der Stadt und dem Erdkreis das später nach ihm benannte archimedische Prinzip verkündete, welches er, zwischen Badeentchen und Schiffchen in der Wanne hockend (wenigstens stellte sich der Forscher den antiken Kollegen so vor), gerade gefunden hatte. Am liebsten hätte der Forscher auch ›Heureka!‹ geschrien und dem Rest der Welt seine Entdeckung verkündet, aber im Winter läuft man nicht gerne nackt herum. Und die Welt würde es auch so mitbekommen.

Plötzlich verspürte er den ungewohnten inneren, aber äußerst unwissenschaftlichen Drang zu danken. Nur wem?

»Lieber Gott«, sagte er, »ich bin gerührt und ergriffen, dass Du mich diesen wunderbaren Beweis hast finden lassen.« Und mangels Passenderem betete er, was er als Kind immer vor dem Essen gebetet hatte: »Jedes Tierlein hat sein Essen, jedes Blümlein trinkt von Dir, hast auch meiner nicht vergessen, lieber Gott, das dank ich Dir, Amen!«

Dann bedachte er, dass im wissenschaftlichen Weltbild der liebe Gott keinen Platz mehr hatte. Aber es gab ja Kant. Der Forscher gehörte der Generation an, die noch wusste, wer Kant, Vorname Immanuel, war und die sogar den kategorischen Imperativ zitieren konnte.

»Verehrter Herr Kant«, sagte er, »Sie haben mal so schön gesagt, dass der gestirnte Himmel über Ihnen Sie immer wieder mit Erstaunen erfülle. Wie auch mich. Und jetzt haben wir noch mehr Grund zu staunen.« Nun fiel ihm auch noch Goethe ein. »Ihr Faust weiß es nicht«, sagte er, »und Sie wissen es auch nicht, Herr von Goethe, aber« – er strich über seines Katers Ohren – »Hubble und ich, wir werden wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Na ja, nicht gleich morgen oder übermorgen, aber der Anfang ist gemacht, den Rest kriegen wir später.«

»Das weiß ich schon lang, was mich zusammenhält.« Hubble fing an, sich die Pfoten zu lecken.

»So?«

»Mein Pelzmantel. Ohne den tät ich auseinanderfallen.«

»Ich hab nicht von dir gesprochen, sondern von der Welt. Dem Universum. Dem All.«

»Die Welt bin ich«, sagte Hubble mit großer Selbstverständlichkeit und ganz ohne Arroganz, wie einer, der weiß, wer und was er ist. »Ich bin die Welt. Die Welt hat Ohren und einen Schwanz. Das reicht.«

Der Forscher starrte verzückt auf den Bildschirm. »Das Universum spricht mit mir. Ich meine, mit uns.« Er ging zum Fenster, öffnete es, blickte hinaus und atmete ein paarmal tief ein. Der Sternenhimmel war überwältigend klar. Wunderbar. Geheimnisvoll. Und seit dieser Stunde etwas weniger geheimnisvoll. Dann fiel ihm ein, dass er nach dem lieben Gott, den Herren Kant und Goethe auch seine Frau informieren könnte.

Er rief sie an: »Schatz, wir haben den Beweis, den wir seit hundert Jahren suchen. Du weißt schon.«

»Na, toll«, sagte seine Frau. »Gratuliere. Ich bin furchtbar stolz auf dich. Wenn du am Wochenende heimkommst, bring bitte zwei Kilo Kartoffeln mit. Und Hubble. Ich frag mich, warum du den immer mitnimmst. Nachbars Musch schleicht ums Haus und fragt dauernd nach ihm.«

»Damit ich besser rechnen kann. Wenn er daliegt und pennt oder sich putzt, kommen mir die besten Ideen. Hubble ist ungemein denkfördernd.«

»Was sagt er zum Beweis?«

»Na ja, seine Begeisterung hält sich in Grenzen.«

Die Begeisterung des Forschers nicht. Nachdem er im Kopf »Kartoffeln und Hubble mitbringen« notiert hatte, rannte er nun doch hinaus in den frisch gefallenen Schnee, aber nicht nackt, er trug einen dicken Pullover und eine Pudelmütze. Rollte drei verschieden große Kugeln, baute einen Schneemann und setzte ihm seine Mütze auf.

Sagte: »Da fehlt noch was!« Rannte zurück ins Haus, zog eine rotbraune Einlegesohle aus seinem Pantoffel, steckte sie in den Mund des Schneemanns und taufte ihn »Albert«.

Zurück im Warmen schenkte der Forscher sich einen Schnaps ein und prostete durchs Fenster Albert zu. »Hast recht gehabt. Es gibt ihn, den Beweis. Auch wenn du behauptet hast, man werde ihn nie und nimmermehr finden. Komm rein, dann zeig ich ihn dir.«

Albert streckte ihm und der Welt die Zunge raus. Der Forscher verstand es als kollegiales Lob.

Dann läutete das Telefon. »Das Nobelpreiskomitee«, sagte er zu Hubble, »sie wissen’s schon, ich brauch dringend einen Frack.«

Es war aber die Frau des Forschers. Sie habe vorhin vergessen, ihm zu sagen, er solle unbedingt mehlige Kartoffeln mitbringen, bloß keine festkochenden, die matschten. »Schreib’s auf«, verlangte sie, »sonst vergisst du’s, wie immer!«

Er notierte unter dem Blatt mit dem Beweis: »Festkochende Kartoffeln matschen«, schenkte sich noch einen Schnaps ein, packte Hubble, der gerade eingedöst war, trug ihn zum Fenster und setzte ihn auf den Sims. »Dies ist nicht die Zeit zum Schlafen, mein Lieber. Dies ist eine historische Stunde, und du kannst später mal deinen Enkelkindern sagen, du seist dabei gewesen – oh, Verzeihung, ich vergaß, mit Enkeln ist natürlich nichts, dafür hat ja der Tierarzt gesorgt – schau nur den Himmel an, die Sterne, die Milchstraße, den Andromedanebel, nein, den kannst du noch nicht sehen – aber bald werden wir auf dem Mars – wir werden unser Planetensystem hinter uns lassen – und die Milchstraße – werden in fernste Galaxien – durch Wurmlöcher in andere Welten – und bis hinter den Urknall – auf dem Mond waren wir ja schon …«

Hubble gähnte. »Der Mensch kann auf dem Mond erwachen, aber keine Katze machen«, sagte er, »erst recht keinen Kater.« Den Spruch hatte er von der Frau des Forschers, die hatte ihn von dem Dichter Reiner Kunze, und der hatte vermutlich einen anbetungs- und bedichtungswürdigen Kater.

Hubble gähnte abermals, sprang vom Fensterbrett, marschierte zurück zur Heizung.

»Dir fehlt jeder Sinn für die Bedeutung dieses Ereignisses«, sagte der Forscher vorwurfsvoll.

»Ich mag keinen Knall, auch wenn der noch so ur ist. Knall ist Knall!« Hubble legte, mit dem Gefühl, damit alles gesagt zu haben, den Kopf auf die Pfoten.

Dann war Ruh. Der Kater des Forschers, der wusste, was die Welt – also ihn – im Innersten zusammenhält, nämlich ein wunderbar warmer graugestreifter Pelz, machte Müffchen und meditierte über die Stille, den gestirnten Himmel und die Unendlichkeit des Alls. Vielleicht pennte er auch nur.

Schirm und Schild

Adam äußert den dringenden Wunsch nach Bratkartoffeln mit Bärlauchbratwurst, weshalb Eva ihn bittet, Kartoffeln aus dem Keller zu holen. Was Adam auch tut. Dann ein Schrei: »Das sind meine Kartoffeln!«

Eva ruft zurück, es seien ihre gemeinsamen Kartoffeln, sie esse schließlich mit.

Er rede nicht mit ihr, brüllt Adam.

»Mit wem dann?«

»Na, mit ihr. Mit der Maus.«

»Mit was für einer Maus?«

»Irgendeiner Maus halt. Zwei Ohren, langer Schwanz, Fell grau.«

»Tolle Personenbeschreibung«, findet Eva. »Und was will sie?«

»Sie frisst eine Kartoffel. Vielmehr, ich hab sie dabei gestört, wie sie an einer Kartoffel herumnagt. An der nag ich nicht mehr rum.«

»Sag ihr, sie soll sich verziehen.«

Adam schlägt der Maus vor, sich an anderer Leute Kartoffeln zu laben, der Nachbar habe gestern einen Sack ins Haus geschleppt.

Was die Maus ablehnt, vermutlich, weil sie nicht weiß, wie sie aus dem Keller wieder herauskommen kann, ohne Adam auf die Füße zu treten.

»Sie muss durch den Lichtschacht gekrabbelt sein«, verkündet Adam. »Hat sich durch das Gitter, das daraufliegt, durchgezwängt. Hab ich dir nicht schon letztes Jahr gesagt, da gehört ein engmaschigeres Gitter hin? Aber mir hört ja niemand zu.« Adam sagt gern, es ist sozusagen eine adamsche Spezialität, dass er irgendetwas schon immer gesagt habe, aber niemand – niemand ist Eva – ihm zugehört habe. »Und jetzt haben wir den Salat.«

»Nein«, ruft Eva, »wir haben die Maus. Was macht sie?«

»Hockt da und stellt sich tot … Jetzt guckt sie.«

»Wie guckt sie?«

»Wie wenn sie kein Wässerchen trüben – keiner Kartoffel was antun könnte.«

Eva kommt in den Keller, um sich die Übeltäterin anzuschauen. Die entspricht genau Adams Beschreibung. Ohren: zwei. Schwanz: lang. Fell: grau. Adam erklärt, die Maus müsse eliminiert werden. Denn wer nicht willig sei, dem müsse man mit Gewalt …

Auf sie dürfe er dabei nicht zählen, so Eva, und auf eine Kartoffel mehr oder weniger komme es ihr nicht an.

»Dann muss Frau Ebner ran, als Fachfrau für Mäuse wird sie sie schon kriegen.« Adam ruft Frau Ebner, die draußen über dem Gitter auftaucht, aber erst, nachdem Adam dreimal gerufen hat. Der solle nicht denken, sie folge ihm aufs Wort. Adam erklärt Frau Ebner die Sachlage und fordert sie energisch auf, sich der mundräuberischen Maus anzunehmen.

Frau Ebner wird so gerufen, weil ihre Vorbesitzerin – sie hat längst das Zeitliche gesegnet – so hieß, und weil Adam und Eva den Eindruck hatten, sie höre, wenigstens gelegentlich, auf diesen Namen. Frau Ebner, energische Aufforderungen wie stets ignorierend, putzt sich erst mal den Bart. Putzen ist immer gut.

Die Maus versteckt sich hinter der geschändeten Kartoffel.

Eva, mit ihrer Katze solidarisch, verlangt, auch in Frau Ebners Namen, einen höflicheren Ton.

Adam bittet Frau Ebner einigermaßen höflich, die Maus abzumurksen.

Frau Ebner schleckt sich die rechte Pfote. Adam verspricht ihr ein Leckerli. Aber Frau Ebner murkst nicht unter zwei Leckerli. Mindestens.

Nun erscheint Herr Ebner, Adams Kater und männliche Verstärkung, der zuvor im Bücherschrank ein Nickerchen gemacht hat, aber bei dem Wort Leckerli sofort aus dem Tiefschlaf erwacht sein muss. Herr Ebner ist nicht Frau Ebners Gatte, sondern ihr Zwillingsbruder, der sich von seiner Schwester nur durch einen weißen Brustfleck unterscheidet.

»Also drei Leckerli für den, der sie erwischt«, sagt Adam, und zu Frau Ebner, sie solle vorne reinkommen, die Haustür stehe offen. In diesem Haus stünden ja immer die Türen offen, da könne er sich den Mund fusselig reden und einen Schnupfen nach dem andern kriegen.

Sie führe nun mal ein offenes Haus, erklärt Eva, damit die Katzen nicht dauernd klopfen oder an der Tür läuten müssten, wenn sie rein oder raus wollten.

Während Adam und Herr und Frau Ebner noch über die Anzahl der Leckerli verhandeln, sagt sich die Maus, wie einst der alte Adenauer: Die Situation ist da! Und ist weg. Adam vermutet, sie sei in schlimmer Absicht aus dem Keller ins Erdgeschoss geflüchtet, und rennt hinterher. Eva und Herr Ebner folgen gemesseneren Schrittes, und Frau Ebner kommt zur Haustür hereinspaziert.

»Sie muss im Wohnzimmer sein«, brüllt Adam. »Aber wo?«

Eva rät, mal unterm Schrank nachzusehen.

»Aber da muss ich mich auf den Bauch – und ich brauch was Langes zum Stochern, einen Stock oder einen Besen. Der ist bestimmt wieder mal nicht da.«

»Unser Besen«, sagt Eva, »hält sich meistens im Putzschrank auf, wenn er nicht gerade ausgegangen ist oder seinen freien Nachmittag hat. Siehst du was?«

»Da ist nichts. Ich schau mal hinter der Truhe nach. Nein, auch nicht. Wo könnte sie sonst noch …?«

»Vielleicht ist sie in dein Schlafzimmer gerannt.«

Was Adam sich verbittet. Sein Bett gehöre ihm. »Tu was, Herr Ebner. Such die Maus!«

Herr Ebner, er hat es nicht so mit Mäusen, zeigt, um Adam zu gefallen, guten Willen, rollt ein bisschen die Augen, guckt gemäßigt wild, wirft den Papierkorb um, inspiziert den Kamin, frisst etwas Asche – Herr Ebner ist wild auf Asche. Laut Tierarzt soll er ruhig, weil in der Asche irgendwelche wichtigen Mineralsalze sind –, springt dann mit aschgrauen Pfoten auf Adams Musiksessel, guckt lieb und vergisst ganz, was seine Pflicht ist. Bis ihn Adam daran erinnert, herunterscheucht und dringend ersucht, ein Mann zu sein und endlich die Maus Mores zu lehren.

»Der kriegt sie doch nicht«, ruft Eva. »Dein Herr Ebner« – sie betont das ›dein‹ – »hat noch nie eine gekriegt.«

Adam, in männlicher Solidarität, verbittet sich jede Beleidigung seines Katers, feuert ihn leidenschaftlich an und verspricht vier Leckerli, wenn er die Maus …

Frau Ebner zeigt noch weniger Interesse als ihr Bruder, vermutet sie doch, es handle sich um eine Spitzmaus, die seien ihr sowieso zuwider, und sie habe eine dringende Verabredung mit Ottl, dem schwarzen Nachbarskater, der eigentlich Othello heißt.