Die Bücherwelt-Saga - Stefanie Straßburger - E-Book

Die Bücherwelt-Saga E-Book

Stefanie Straßburger

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Beschreibung

Wenn es dein Leben als Buch gäbe – würdest du es lesen? Plötzlich ist da dieses Buch in Tildas Tasche. Alt und doch irgendwie neu. Ohne Titel oder Autor. Ihre Lebensgeschichte. Ehe sie sich versieht, entführt sie Titus, das Bücherwesen, in eine fantastische Welt, voller Magie und Zeitreisen. Und dann ist da auch noch die Liebe…

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Vollständige eBook Ausgabe 2017

 

 

© 2017 ISEGRIM VERLAG

in der Spielberg Verlag GmbH, Regensburg

 

Bildmaterial: shutterstock.com

Umschlaggestaltung: Ronja Schießl

 

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

(eBook) ISBN: 978-3-95452-816-5

 

www.spielberg-verlag.de

www.isegrim-buecher.de

 

 

Für Egid-Opa.

Du hast mir gezeigt, dass Geschichten überall sind.

Man muss sie nur zu erzählen wissen.

Stefanie Straßburger, Jahrgang 1982, hat Germanistik und Vergleichende Kulturwissenschaften studiert und arbeitet seit 2007 als Texterin und Redakteurin – zunächst im Angestelltenverhältnis für Werbeagenturen, seit 2011 als freie Journalistin und Autorin für diverse Verlage und Firmenkunden. Autorin zu werden, war schon als Kind ihr Berufswunsch. Auch wenn der Schreiballtag nicht immer so einfach ist, wie sie es sich damals ausgemalt hat: Heute ist sie sehr glücklich, ihren drei Kindern beweisen zu können, dass sich Träume erfüllen, wenn man an sie glaubt.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Autorin

Prolog

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Epilog

Danksagung

Playlist

Vorwort der Autorin

Ich freue mich, dass du zu Teil I der Bücherwelt-Saga gefunden hast und möchte dich nicht lange aufhalten. Einen Hinweis aber möchte ich dir mit auf deine Reise durch mein Buch geben, der es dir ermöglichen kann, noch tiefer in die Geschichte abzutauchen: Achte auf die Musiktitel, die im Laufe der Geschichte erwähnt sind. Sie haben mich beim Schreiben inspiriert und transportieren die Gefühle der Protagonisten auf einer weiteren Ebene. Wenn du dir die zugehörigen Lieder beim Lesen anhörst, öffnest du damit einen weiteren Sinn. Die Liste der Titel findest du am Ende des Buches. Nun aber los: Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

13. Juli 1908

Lauter Jubel brandete auf. Die Begeisterung der Leute für die Olympischen Spiele steckte Richard beinahe an. Während die Sportler ins Londoner White City Stadium einmarschierten, war er jedoch mit etwas völlig anderem beschäftigt. Hier sollte er einen Zugang erhalten, das hatte Erika vorausgesehen. Endlich sollte er einen entscheidenden Schritt weiterkommen in der Arbeit, die nicht nur sein ganzes Leben bestimmte, sondern auch das seiner gesamten Familie, soweit man ihre Linie zurückverfolgen konnte. Er sollte derjenige sein, der zum ersten Mal die Grenzen überschritt. Noch konnte er es nicht recht glauben. Bislang aber hatten sich alle Prophezeiungen seiner Schwester erfüllt, sodass er ihr auch dieses Mal blind vertraute. In alphabetischer Reihenfolge liefen die Athleten der einzelnen Nationen ins Stadion. Als die Sportler des Vereinigten Königreichs einliefen – mit einer riesigen Gruppe von über 700 Teilnehmern stellten sie die mit Abstand größte Mannschaft – gab es kein Halten mehr. Das Publikum tobte, winkte und klatschte. Richard hatte noch einen der ruhigsten Plätze unweit der britischen Königsfamilie, trotzdem konnte er sich nur sehr schlecht konzentrieren. Er wusste nicht genau, wonach er suchte. Er wartete auf ein Zeichen, eine Hilfestellung und sah sich um – in der Hoffnung, etwas übersehen zu haben. Die Menge schenkte ihm keine Beachtung – alle waren zu sehr vertieft in das Geschehen dort unten.

Richard blickte sich um. Da fiel ihm ein Mädchen auf. Nicht nur deshalb, weil der Großteil der Zuschauer aus Männern bestand, sondern vor allem, weil sie eigenartig gekleidet war. Sie trug ein körperbetontes, langes hellblaues Kleid, das so gar nicht der aktuellen Mode entsprach. Ihre honigblonden Haare fielen ihr offen bis über die Schultern. Das auffälligste aber war ihre Schönheit. Trotz der seltsamen Kleidung sah sie geradezu perfekt aus. Als sie kurz den Kopf hob und ihn anlächelte, erstarrte er.

Er zuckte zusammen. Es hatte deutlich geknallt, so laut, dass seine Ohren regelrecht schmerzten. Aber im gesamten Stadion schien niemand den Knall gehört zu haben. Was noch viel merkwürdiger war: Als Richard sich umsah, schien es, als hätte jemand die Zeit angehalten. Niemand um ihn herum bewegte sich, jeder Einzelne war in seiner Bewegung erstarrt. Der Mann neben ihm, der eben noch die Hand gehoben hatte, um jemandem zuzuwinken ebenso wie der englische König und die Athleten. Einzig Richard konnte sich frei bewegen – genauso wie das schöne Mädchen, auf das er noch immer seinen Blick gerichtet hatte. Sie bewegte sich zielgerichtet auf ihn zu, ohne mit dem Lächeln aufzuhören. Wie ein Engel schwebte sie ihm entgegen und auch Richard begann sich seinen Weg durch die Menge zu bahnen.

Sollte das das Zeichen sein? Er hatte es sich einfacher vorgestellt, in die andere Welt zu gelangen. Doch was in aller Welt hatte ein Mädchen damit zu tun? Ein Zeichen hatte er erhalten, aber er wusste absolut nichts damit anzufangen.

Da übermannte ihn ein Gefühl. Sein Herz begann wie wild zu klopfen. Eine wohlige Wärme durchströmte ihn. Er fühlte sich glücklich, geborgen, sorgenfrei – so wundervoll wie noch nie zuvor in seinem Leben. Wie wunderschön sie war! Ihre grünen Augen fesselten ihn, er konnte an nichts anderes mehr denken, war wie in einem Rausch. Er wollte nur noch so schnell wie möglich zu ihr gelangen. Sie schien es ebenso eilig zu haben, zu ihm zu kommen. Ihr Lächeln wich allmählich einem verzweifelten Gesichtsausdruck. Noch lag eine zu große Entfernung zwischen ihnen. Die Gefühle, die er für sie hatte, waren unbeschreiblich. Er fühlte sich ihr so vertraut, als würde er sie schon ewig kennen. Und doch hatte er sie vor einigen Augenblicken das erste Mal in seinem Leben gesehen. Die Angst, sie zu verlieren, war übermächtig. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, wo er sie außerhalb dieses Getümmels noch einmal treffen konnte. Vor allem musste er ihr das mitteilen. Tagsüber, im Trubel der Olympischen Spiele schien ihm das unmöglich. Aber sobald es dunkel war, verebbte die Flut der Menschen. Glücklicherweise sollte die kommende Nacht nicht sehr dunkel werden – es war Vollmond. Er wollte etwas sagen, aber er war unfähig zu sprechen. Richard deutete mit seinen Händen einen Kreis, zeigte nach oben in den Himmel und formte mit den Lippen das Wort »Moon«.

Auch das Mädchen öffnete den Mund, aber er konnte keinen Laut vernehmen. Ehe er sich versah, war der Moment so schnell vorüber wie er gekommen war und das Mädchen mit den grünen Augen war verschwunden. Die Zeit hatte wieder angefangen im steten Rhythmus zu laufen, die Athleten marschierten wieder, der König nickte ihnen zu, die Menge jubelte.

Schnell drehte Richard den Kopf, in der Hoffnung, irgendwo ein hellblaues Kleid zu entdecken. Nichts. Er zwängte sich entschuldigend an den Menschen vorbei. Er suchte alles ab. Aber sie war und blieb verschwunden. Alles schien wieder normal und Richard dachte angestrengt, fast verzweifelt nach. Er konnte sich absolut keinen Reim auf dieses seltsame Zeichen machen. Einen Zugang konnte er auf diese Weise jedenfalls nicht aufbauen. Die grünen Augen wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ob er sich das alles nur eingebildet hatte?

Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz: Die Herzbande! dachte er. Es war unmöglich, aber genau so lauteten die alten Überlieferungen einer innigen, fast magischen Verbindung zweier füreinander bestimmter Menschen.

»Höre zu und merke:

Im Blick allein liegt eure Stärke.

Habt ihr euch einmal gesehen,

so ist es gleich um euch geschehen.

Mit einem Knall steht still die Zeit,

ihr seid allein, ihr seid zu zweit.

Doch nur für einen Augenblick,

dann kehrt ihr in die Zeit zurück.

Ab sofort und unumwunden

ist euer Herzschlag eng verbunden.«

sprach er leise die Worte seiner Großmutter nach. So oft hatte sie ihm diesen Spruch aufgesagt und so oft hatte er darüber gelacht. Jetzt war es ihm passiert: Er hatte die Liebe seines Lebens gesehen. Und sie war verschwunden.

1

Manche Menschen lesen ein Buch in einem Satz von vorne bis hinten durch, ohne sich dabei unterbrechen zu lassen. Sie nehmen Augenringe in Kauf, um in diesen Genuss zu kommen und reagieren wütend, wenn sie unterbrochen werden. Andere lesen bei jedem Buch zuerst den Schluss. Vielleicht wollen sie sichergehen, dass es auch gut endet. Und wenn nicht – na, dann sind sie wenigstens darauf gefasst. Wieder andere lesen unglaublich langsam, saugen jedes Wort förmlich in sich auf, wiederholen lange und komplizierte Sätze, um sie auch wirklich zu verinnerlichen und können sich später an jedes Detail erinnern.

Tilda las gerne, aber erst jetzt, bei dieser Besprechung fiel ihr auf, welch unterschiedliche Lesetypen es eigentlich gab. Sie hatte sich unglaublich viel Mühe gegeben, alles schön herzurichten. Sie hatte Blumen gekauft, die zu den Vorhängen passten, sie hatte einen Korb mit frischem Obst bereitgestellt, um für eine unterschwellige Zitrusnote zu sorgen, sie hatte Petit fours vom Edelkonditor besorgt und die Stifte und Notizblöcke mit dem Agenturlogo akkurat platziert. Nicht zuletzt hatte sie das herrliche Buch – jedes dekorativ mit einer Schleife versehen – obenauf gelegt. Schließlich war ihr wochenlang vorher eingebläut worden, wie wichtig dieser Kunde für die Agentur war.

Alle Vorschläge für die heutige Präsentation hatte die Grafikabteilung eigens binden lassen und nun lag auf jedem Platz eben dieses wunderbare Buch voller Ideen. Tilda selbst hatte eine dazu beigetragen, darauf war sie besonders stolz, denn schließlich arbeitete sie nicht in der Kreativabteilung, sondern war gewissermaßen das Mädchen für alles. Als die Bücher aus dem Druck gekommen waren, hatte sie als Erste den Karton geöffnet, das oberste Exemplar herausgenommen und ehrfürchtig aufgeschlagen. Da sie den Inhalt bereits grob kannte, hatte sie gezielt zu der Seite mit ihrer Idee geblättert und diese gefühlt tausendmal gelesen. Ihre grünen Augen hatten vor Freude und Stolz geleuchtet. Sachte ließ sie jetzt noch einmal ihren Blick über ihre perfekte Dekoarbeit schweifen, wandte sich dann aber unverzüglich wieder den anwesenden Kunden sowie ihren Vorgesetzten zu, die das Meeting leiteten. Noch hatte es nicht offiziell begonnen, aber alle blätterten oder lasen bereits in dem Buch, das auf ihrem Platz lag.

Der Besprechungsraum war das absolute Highlight der Agentur: Großzügig und hochmodern, dennoch strahlte er eine Gemütlichkeit aus, die man in solch riesigen Räumen normalerweise vermisste. Am großen ovalen Tisch saßen Mia Gutenberg aus der Grafikabteilung, Frank Wissmann aus dem Textbereich und Ute van Lessen, die Chefin des Unternehmens. Der neue potentielle Kunde war durch zwei Herren vertreten, die nach Tildas Geschmack einen Tick zu jugendlich für ihr Alter gekleidet waren. Tilda schätzte sie auf Ende vierzig, Anfang fünfzig und fand die rockigen T-Shirts unter den Sakkos rochen ein bisschen zu sehr nach ›ich würde gerne, aber kann nicht mehr‹. Der eine blätterte wie wild durch das Buch, der andere, der seinem Outfit mit einem schwarzen Lederband um den Hals noch die Krone aufsetzte, studierte gerade ausgiebig die erste Seite.

Tildas Hände zitterten vor Aufregung, denn sie hatte Gefallen an der kreativen Arbeit gefunden und hoffte, dass ihre Idee beim Kunden ankam. Vielleicht durfte sie dann öfter an den vielen Brainstormings des Teams teilnehmen. Jetzt aber musste sie ihre Gedanken erst einmal beiseitelegen: Die Damen und Herren warteten auf einen Kaffee. Tilda schlich sich unauffällig aus dem Raum, legte – nachdem sie sachte die Tür geschlossen hatte – einen Spurt in ihren zehn Zentimeter-Absätzen bis zur Küche hin, warf unterwegs noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel und konnte gerade noch rechtzeitig stoppen, bevor sie mit voller Wucht gegen die sauber aufgereihten Kaffeetassen gekracht wäre. Sie fluchte leise, ärgerte sich über sich selbst, dass sie offenbar doch sehr aufgeregt war. Um ein wenig runterzukommen, ging sie zur Musikanlage und drückte auf Play, bevor sie sich dem Kaffee widmete. Es dauerte immer einen Moment, bis die Anlage in die Gänge kam und Tilda hoffte innerlich, dass nicht gleich Franks Schlagerparade aus den Lautsprechern dröhnte.

Doch sie hatte Glück: Freddy Mercury sang »Crazy little thing called love«.

Ute war totaler Queen-Fan, da war es kein großer Zufall, dass regelmäßig alle ihre Lieder auf und ab liefen. Dieses Lied mochte Tilda besonders gerne. Sie stellte eilig zwei Tassen auf die Kaffeemaschine, drückte auf den Knopf und bewegte sich tanzend zum Tresen, um Untertassen, Milch und Zucker aufs Tablett zu stellen. Während einer perfekten Drehung bemerkte sie erschrocken, dass sie offenbar an der Kante des Unterschrankes hängen geblieben war: Ein daumennagelgroßes Loch zierte ihre teuren Strümpfe und setzte sich bereits nach oben und unten in einer breiten Laufmasche fort.

»Scheiße! Scheiße!« fluchte sie erneut, diesmal ein wenig lauter. Während die Bohnen gemahlen wurden, schlüpfte sie aus ihren camelfarbenen Pumps und begann, sich ihrer Strümpfe zu entledigen. Nachdem der erste Strumpf ausgezogen war, hob sie kurz den Kopf, denn der Kaffee war durchgelaufen. Im Takt der Musik ging sie zur Schublade mit den Tassen, sang den Refrain mit und stellte schließlich zwei weitere Tassen auf die Kaffeemaschine. Noch immer singend stellte sie das Bein mit dem verbliebenen Strumpf auf einen Stuhl neben sich, um auch diesen loszuwerden. Als sie kurz aufblickte, stand zu ihrem Entsetzen keine zwei Meter von ihr entfernt ein Mann mit Sakko, Totenkopf-T-Shirt und Lederhalsband und grinste amüsiert.

»Kann ich Ihnen zur Hand gehen?«, fragte er anzüglich.

Tilda verdrehte innerlich die Augen, lächelte dann aber freundlich und erwiderte mit roten Wangen: »Wenn Sie Laufmaschen aus Strümpfen entfernen können, würden Sie mich glücklich machen.«

Dann legte sie ihre Strümpfe demonstrativ auf den Tresen, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Ich bin Matilda Hummel.«

Der Mann im Totenkopf-Shirt reichte ihr seine Hand und erwiderte:

»Schön, Sie kennenzulernen, Matilda. Ich bin Jürgen König und auf der Suche nach den Toiletten. Aber bei so einem Anblick vergisst man selbst das dringendste Bedürfnis für einen Moment«, und grinste schon wieder.

Heilige Scheiße, durchfuhr es Tilda. Das ist der Oberboss der König AG!

Obwohl sie gerade vor den Augen des wichtigsten potentiellen Kunden der Agentur ihre Strümpfe ausgezogen und noch dazu geflucht hatte, blieb sie ganz cool: »Nur einmal um die Kurve, dann ist der Anblick auch wieder verschwunden und Sie können sich ganz auf ihr Bedürfnis konzentrieren.«

Der Typ war ihr sofort unsympathisch geworden. Mit einem Nicken und immer noch grinsend verschwand Jürgen König um die Ecke zu den Toiletten, während Tilda die dritte Garnitur Kaffeetassen auf die Maschine stellte. Nachdem sie sechs volle Tassen auf einem knallroten Tablett platziert hatte, machte sie sich wieder auf den Weg in den Besprechungsraum. Natürlich war Jürgen König auch wieder auf dem Weg zurück. Er hielt ihr die Tür auf und machte sich ein wenig breiter als nötig, so dass Tilda ihn beim Betreten des Raumes mit ihrer Hüfte streifte.

Tilda war wirklich eine Augenweide. Sie war groß, schlank, hatte lange Beine und dichte honigblonde Haare, die ihr bis über die Schultern reichten. Sie hatte Kurven an den richtigen Stellen und noch dazu ein sehr ebenmäßiges und schönes Gesicht mit strahlend grünen Augen, die die meisten Menschen sofort in Begeisterung versetzten. Nach ihrem Abitur vor gut einem Jahr hatte sie – im Gegensatz zu den meisten ihrer Klassenkameraden – kein Studium begonnen. Sie hatte sich für kein Fach entscheiden können und noch dazu war es ihr wichtig gewesen schnell ihr eigenes Geld zu verdienen. Deshalb hatte sie auch recht rasch das erste Angebot angenommen, das sich ergeben hatte. Der Job am Empfang der Agentur war zwar nicht sehr anspruchsvoll, aber Tilda machte ihre Arbeit nicht nur gern, sondern auch gut. Ute hatte ihr Potential erkannt und ließ sie in letzter Zeit hin und wieder in die Kreativabteilung schnuppern.

Auch jetzt schaltete Tilda wieder in den Schönheitsmodus: Ihr gutes Aussehen hatte ihr schon so manches Mal Vorteile verschaffen können. Mal sehen, ob ich irgendwo einfließen lassen kann, dass ich eine Idee zur Präsentation beigesteuert habe. Ute ergriff das Wort. Sie sprach vom großen Vertrauen, das die König AG der Agentur entgegengebracht hatte, von schlaflosen Nächten und tausenden Ideen, von Begeisterung für dieses neue Projekt und übergab schließlich das Wort an Mia. Mia war klein, zierlich und blass. Sie hatte braune Augen, die aber so leuchteten, dass Tilda sich manchmal fragte, ob Mia wohl Kontaktlinsen trug. Tilda fand, sie sah ein wenig aus wie sie sich früher Schneewittchen vorgestellt hatte – nur anstelle der langen Haare hatte Mia einen Bob. Sobald sie aber den Mund aufmachte, war das Puppenhafte verschwunden: Mia sprach mit fester Stimme, die immer ein leichtes Schmunzeln im Unterton hatte und die Zuhörer hingen automatisch an ihren Lippen. Gemeinsam mit Frank, einem leicht untersetzten, sehr gemütlichen und äußerst talentierten Texter erklärte sie den beiden Herren der König AG Schritt für Schritt ihre Ideen.

Nach fast drei Stunden, zwei weiteren Kaffee- und einer Raucherpause verabschiedeten sich die Herren und Tilda ging entnervt zu ihrem Spind. Es war über eine Stunde nach Feierabend. In zwanzig Minuten traf sie sich mit Leon und hatte keine Zeit mehr für ein neues Styling oder etwas zu Essen. Noch dazu hatte sie keine Möglichkeit gefunden, ihre Mitarbeit an dem Projekt zu erwähnen, denn außer sie gelegentlich anzüglich anzugrinsen, hatte Jürgen König sie nicht beachtet. Sie ärgerte sich über sich selbst. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen und fand immer einen Weg, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber heute war es wie verhext gewesen. Als hätte jemand ihren Plan manipuliert.

Zu allem Überfluss hatte sich keiner der beiden Kunden in irgendeiner Weise zu der Präsentation geäußert. Niemand wusste diese Reaktion zu deuten. Ute brachte es schließlich auf den Punkt: »Alles Spekulieren nützt nichts, wir müssen einfach abwarten.« Und damit war sie auch schon verschwunden. Tilda tat es Ute gleich, setzte ihr perfektes Lächeln auf und verabschiedete sich ins wohlverdiente Wochenende. Sie überlegte kurz, Leon für heute abzusagen, denn sie fühlte sich ziemlich geschlaucht. Allerdings hatte sie ihn seit letztem Freitag nicht mehr gesehen. Und er war eine willkommene Abwechslung zum Arbeitsstress der letzten Tage. Was soll’s, er wird mich schon auf andere Gedanken bringen.

Für ihr Treffen war sie zu früh dran, aber das störte Tilda nicht. Warum sollte sie sinnlos in der Gegend herumlaufen, wenn sie es sich bereits im Café Rastlos gemütlich machen konnte? Sie schnappte sich den letzten freien Tisch an einem der bequemen Sofas und kramte in ihrer Handtasche, um sich eine Beschäftigung zu suchen. Sie hatte kurz das Buch mit den Ideen in der Hand, legte es dann aber wieder zurück – das hatten sie eben im Detail durchgekaut. Für heute hatte sie wirklich genug von diesem Thema. Sie suchte nach ihrem Handy, weil sie ein wenig im Internet surfen wollte, da berührten ihre Hände etwas, das sie nicht erwartet hatten. Ein weiteres Buch? Tatsächlich! Ich habe doch nichts zum Lesen eingesteckt. Sie holte es heraus und legte es vor sich auf den Tisch. Noch nie hatte sie der Anblick eines Buches so erschreckt und gleichzeitig fasziniert. Es sah fremd und vertraut gleichermaßen aus. Es war alt und doch irgendwie neu.

2

Ungläubig starrte Tilda das Buch an. Sie war verwirrt. Einerseits fühlte es sich so an, als würde das Buch schon immer ihr gehören, als wäre es eine Art Tagebuch, dem sie all ihre Geheimnisse anvertraut hatte, etwas sehr Intimes. Andererseits wusste sie ganz sicher, dass sie es noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Und doch hatte es etwas faszinierend Vertrautes an sich. Sachte strich sie mit den Fingern über den Umschlag. Er fühlte sich rau an, obwohl er allem Anschein nach, eine glatte Oberfläche zu haben schien.

Seltsam. Wie kann das sein? Sie ertastete eine Reihe von Unebenheiten, die sie aber selbst aus nächster Nähe mit dem Auge nicht erkennen konnte. Sie nahm das Buch in die Hand, hob es hoch und roch daran. Nichts. Dieses Buch hatte keinen Geruch. Die meisten Bücher rochen nach Druckerschwärze, nach Papier, nach Gerüchen, die sie im Laufe der Zeit angenommen hatten, nach irgendwas eben! Aber dieses Buch hatte keinen Geruch. Ein Gedanke durchfuhr Tilda.

Vielleicht riecht es wie ich? Den eigenen Geruch nimmt man auch nicht wahr. Doch sie traute sich nicht die Frau am Nebentisch zu fragen, ob sie mal an ihrem Buch schnuppern konnte – die schaute sowieso schon eine Weile sehr skeptisch zu ihr herüber.

Auf dem Umschlag war kein Titel zu lesen, kein Autor, kein Verlag. Ein paar seltsame Zeichen waren aufgedruckt, die Tilda aber nicht deuten konnte. Sie wollte eben das Buch aufschlagen, um zu sehen, was darinstand, da fragte die Bedienung gelangweilt: »Was darf ich dir bringen?«

Hastig schob Tilda das Buch zur Seite und antwortete: »Ich nehme einen Chai-Latte bitte. Und ein Glas Wasser. Und kannst du mir bitte die Speisekarte bringen?« Wenn du mich duzt, dann duze ich dich auch, auch wenn du schon mindestens 40 bist!

Ob Jürgen König ihr dieses Buch untergejubelt hatte? Gelegenheit hätte er dazu sicher gehabt, denn sie hatte ein paar Mal ihren Platz verlassen müssen, um neue Getränke zu holen.

Aber warum sollte er das getan haben? Wenn dann hätte er mir eher ein Buch mit einem schlüpfrigen Titel untergejubelt und ganz fett seine Visitenkarte eingesteckt. Nein, er kann es nicht gewesen sein. Tildas Gedanken schweiften weiter ab. Ihre Tasche hatte sie heute Morgen erst gepackt, weil nur diese zu den camelfarbenen Pumps passte. Sie war zuvor leer gewesen, dessen war sie sich sicher.

Oder etwa doch nicht? Ob es mir beim letzten Büchereibesuch aus Versehen hineingefallen ist? Welche Tasche hatte ich denn dabei, als ich das letzte Mal…

»So, bitteschön«, unterbrach sie die Bedienung, stellte den Chai-Latte und das Wasser auf Tildas Platz und reichte ihr die Speisekarte.

»Danke«, entgegnete Tilda, noch immer in Gedanken versunken. Wenn das Buch aus der Bücherei stammt, muss irgendwo der Stempel oder die Nummer zu sehen sein. Das haben wir gleich. Sie blickte nach rechts, ob die andere Frau noch immer so neugierig herüberschaute – ein Glück, sie ist mit ihrem Handy beschäftigt! – hob das Buch erneut auf und untersuchte es zunächst äußerlich von allen Seiten. Es war weder eine Nummer noch sonst eine Kennzeichnung darauf zu sehen. Sie schlug es auf.

»Hey, hey, schöne Frau!«, begrüßte sie Leon gut gelaunt. Seufzend klappte Tilda das Buch wieder zu, erhob sich und gab dem gutaussehenden Jungen einen Kuss auf die Wange.

»Hi Leon, wie war deine Woche?«

»Bist du schon länger hier?«, fragte Leon mit Blick auf die Getränke. »Ein paar Minuten«, erwiderte Tilda. »Ich komme direkt von der Arbeit, daher bin ich noch im Business-Look unterwegs.«

Leon strahlte: »Du siehst toll aus, egal in welchem Look.«

Tilda seufzte innerlich. Leon sah blendend aus, war charmant, witzig, beruflich erfolgreich und gut im Bett – ein echter Traummann, um den sie alle ihre Freundinnen beneideten. Aber der Funke sprang einfach nicht über. Keine Frage: Tilda genoss es sehr, Zeit mit ihm zu verbringen, aber sie konnte sich keine feste Beziehung mit ihm vorstellen. Zum Glück beruhte diese Einstellung auf Gegenseitigkeit. Tilda war froh über diese Freiheit. Mit ihrer Arbeit hatte sie genug zu tun und da war vermutlich nicht einmal genug Zeit für eine richtige Beziehung. Trotz allem – das musste sie sich insgeheim immer wieder eingestehen – sehnte sie sich nach etwas Festem. Sie wartete darauf, irgendwann jemanden kennenzulernen, bei dem sie echte, tiefe Gefühle hatte. Wenn sie verliebte Pärchen die Straße entlanglaufen sah, versetzte es ihr jedes Mal einen Stich. So wohl sie sich bei Leon fühlte, so sehr wurde ihr in solchen Momenten der Unterschied bewusst. Wenn sie sich von Leon verabschiedete, wusste sie nicht, wo er hinging. Es interessierte sie auch nicht wirklich. Mal sahen sie sich dreimal pro Woche, mal drei Wochen gar nicht. Als sie nach ihrem ersten Treffen im Bett gelandet waren, stand für beide fest, dass das eine einmalige Sache gewesen war. Als sie sich dann kurze Zeit später wieder über den Weg gelaufen waren, hatten sie beschlossen, dass »man das ab und zu wiederholen könnte – völlig unverbindlich!«, wie Leon betonte.

»Kein Grund in Panik zu verfallen«, sagte Mia immer, wenn Tilda wieder einmal sentimental wurde. »Du bist gerade einmal 19 – da hast du wirklich noch genug Zeit, deinen Traummann zu finden.« Mia hatte natürlich Recht. Warum sollte sich Tilda unnötig stressen? Es gab so viele schöne Momente im Leben, die sie genießen wollte.

3

»Sag mal Tilda, bist du betrunken?« fragte Leon und grinste sie an, während Tilda sich bückte, um zum dritten Mal ihr Handy aufzuheben. »Ich hab zu viel Handcreme dran, da wird alles so glitschig…«, gab sie wenig überzeugt von ihrer Ausrede zurück.

Ein einziges Glas Weißwein: Ich vertrag ja wirklich gar nichts mehr! dachte sie hilflos.

»Ohhh ja, glitschig hört sich gut an«, erwiderte Leon und grinste noch breiter. Tilda verdrehte die Augen und suchte verzweifelt nach dem Foto, das sie ihm zeigen wollte. Es war einfach wie verhext. Vor der Präsentation hatte sie sich die Schnappschüsse ihres Neffen noch mit Mia angesehen. Aber jetzt waren sie einfach verschwunden. »Das gibt’s doch nicht«, sagte Tilda und suchte verzweifelt weiter, während Leon sich schon wieder seinem Bier widmete. »Ok, Schluss mit der Sucherei«, bestimmte sie schließlich. Allmählich zweifelte sie an sich selbst. Normalerweise war sie sehr belastbar. Aber vielleicht war in letzter Zeit doch alles ein wenig viel? Zugegeben: Sie machte in ihrem Job mehr als von ihr verlangt wurde. Aber das tat sie gerne – schließlich machte ihr die Arbeit Spaß.

Was Sport anbelangte, war Tilda eher faul. Sie ging zwar regelmäßig joggen, um sich fit zu halten, aber die halbe Stunde war jedes Mal eine Quälerei. »Von nix kommt eben nix«, sagte sie sich immer wieder, um sich zu motivieren. Freitag- und Samstagabend war Tilda fast immer in Bars, Clubs und Kneipen unterwegs. Meistens zusammen mit Mia oder Leon. Vor 4 Uhr früh gingen sie selten nach Hause. Aber auch wenn man all das zusammennahm: Von Überbelastung konnte man doch wirklich nicht sprechen.

Tilda wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich ein Arm um ihre Schultern legte.

»Süße, ich schlage vor, wir brechen hier ab und machen’s uns bei mir zu Hause gemütlich. Was hältst du von einer ausgiebigen Massage?« fragte Leon. »Hmmmm…«, Tilda überlegte, wusste natürlich, worauf Leon hinauswollte, erwiderte aber schließlich: »Weißt du was? Vielleicht ist das jetzt genau das Richtige! Wenn ich schon mal so ein Angebot bekomme, dann kann ich das doch nicht ausschlagen!«

»Sehr richtig«, freute sich Leon und führte sie aus dem Café.

Am nächsten Morgen wachte Tilda in ihrer Wohnung auf. Alles tat ihr weh. Als sie sich aufsetzen wollte, stieß sie sich den Kopf. »Aua!«, rief sie empört und völlig überrascht, welch schmerzvolle Erfahrung über ihrem Bett lauerte. Die Rollos waren vollkommen geschlossen, es war dunkel im Zimmer. Tilda bemerkte, dass sie noch immer ihre Kleidung vom vorherigen Abend trug. Sogar einen ihrer camelfarbenen Pumps hatte sie noch an. Meine Güte, was ist denn nur mit mir passiert? Sie versuchte den vergangenen Abend Revue passieren zu lassen, während sie langsam ihre Hand zum Lichtschalter bewegte. Aber der war nicht da, wo er sein sollte. Nichts war da, wo es sein sollte! Panik brach in ihr aus. Es war stockfinster und sie wusste nicht, wo sie war. Ganz ruhig atmen. Wahrscheinlich ist es noch mitten in der Nacht und Leon liegt irgendwo neben mir. Aber ich liege definitiv nicht in einem Bett…

Langsam tastete sie sich den Fußboden entlang, in der Hoffnung bald an eine Wand zu kommen. An den Abend gestern konnte sie sich gut erinnern. Als sie bei Leon zu Hause angekommen waren – und sie auf dem kurzen Weg dorthin zwei Mal gestolpert war – hatten sie eine Flasche Rotwein aufgemacht. Leon hatte sein Versprechen gehalten und sie ausgiebig massiert. Die Massage war sogar besser gewesen als der Sex danach. Tilda hatte beschlossen, nicht bei Leon zu übernachten, weil sie am Morgen zum Joggen gehen wollte. Er hatte darauf bestanden, sie persönlich nach Hause zu bringen und das war eine sehr gute Idee gewesen. Obwohl Tilda sich zwischendurch sogar die Schuhe ausgezogen hatte, um sicherer laufen zu können, hatte sie es geschafft, ganze vier Mal zu stürzen – glücklicherweise ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen. Das letzte an das sie sich erinnern konnte, waren ein Kuss von Leon und seine Worte: »Süße, du machst mir Sorgen.«

Das nächste, das ihr einfiel, war der seltsame Traum, der sie die ganze Nacht wieder und wieder verfolgt hatte: Sie stürzte in einen Graben und jemand reichte ihr die Hand, während sie fiel. In der Hand hielt die Person ein Gänseblümchen, das schon ein wenig zerrupft aussah. Tilda sah das Gänseblümchen in allen Details vor sich, sie sah das Wasser in dem Graben, sie sah den Schein der Laterne. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr an das Gesicht der Person erinnern.

Es waren bestimmt nur zwei oder drei Meter, bis Tilda an eine Wand kam, aber die fühlten sich an wie eine kleine Ewigkeit. Vorsichtig erhob sie sich und ging Schritt für Schritt weiter, ohne den Kontakt zur Wand zu verlieren. Schließlich fanden ihre Hände den Lichtschalter.

Mein Gott! Ich habe tatsächlich in meinem Bücherregal geschlafen! Tilda spürte ihre schmerzenden Körperstellen noch intensiver, als sie sah, wie sie ihre Nacht verbracht hatte. Von Leon war nichts zu sehen. Nachdem sie die Rollos hochgezogen hatte und helles Morgenlicht das Wohnzimmer durchflutete, warf sie einen Blick in Bad, Schlafzimmer und Küche, aber auch hier war keine Spur von ihrem Freund. Er war gar nicht mehr mit reingekommen.

4

Frisch geduscht saß Tilda mit dem Telefon auf der Couch und fühlte sich gleich viel besser. »Wenn ich’s dir doch sage, Emi. Ich hab nicht zu viel getrunken. Meine Güte, drei Gläser Wein machen doch nicht gleich so einen Rausch! Und ich hab ja nicht mal Kopfweh oder sonstige Katererscheinungen.«

»Also können wir doch zusammen joggen gehen?«, fragte ihre Schwester.

»Es tut mir echt leid, aber… ich trau mich einfach nicht!« Tilda brach in Tränen aus. »Ich hab keine Ahnung, was mit mir los ist! Alles ist wie verhext. Vorhin wollte ich mir nur einen Tee machen und hab nicht mal das geschafft.«

»Mann oh Mann, das hört sich aber gar nicht gut an! Kann dir gestern jemand was in dein Getränk geschüttet haben?«, fragte Emi.

»Nein, das glaub ich nicht, ich bin ja nie vom Tisch aufgestanden und Leon macht so etwas nicht«, erwiderte Tilda überzeugt. »Und dieses ganze Durcheinander hat gestern bereits in der Agentur angefangen. Da schüttet einem niemand was ins Getränk.«

»Ok, dann bleib wo du bist – ich bin in zehn Minuten bei dir! Bis gleich!« Schon hatte Emi aufgelegt.

Als Tilda das Telefon auf den Wohnzimmertisch legte, fiel ihr Blick auf den Schuh, der ihr seine Sohle entgegenstreckte: An einem ihrer Pumps klebte ein Gänseblümchen. Oh mein Gott! Tilda war sich sicher, dass es das Gänseblümchen aus ihrem Traum war. Du spinnst! Es gibt tausende von Gänseblümchen. Sie versuchte, vernünftig zu denken. Dennoch fühlte sie ganz tief drin, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte.

Ihre Tasche fiel ihr wieder ein. Und das seltsame Buch. Sie hatte noch keine Gelegenheit gefunden, einen weiteren Blick hineinzuwerfen. Sie machte es sich mit dem Buch auf der Couch bequem und schlug es auf. Es gab keinen Titel, keinen Autor, keinen Verlag. Ein kleiner Schauer durchzog sie und ein eigenartiges Gefühl nahm von ihr Besitz. Tilda wusste nicht, ob sie dieses Gefühl angenehm oder beängstigend finden sollte. Sie fühlte sich geborgen, angekommen, zu Hause. Aber sie fühlte sich auch, als würde ihr etwas Unangenehmes bevorstehen. Sie spürte, dass sie ihre volle Aufmerksamkeit nun dem Buch widmen sollte und begann zu lesen:

Ihre Schwester macht sich große Sorgen um sie, als sie so überstürzt wieder aus der Wohnung gehen muss. Aber der Unfall ihres Mannes lässt ihr keine andere Wahl. Eine tröstende Umarmung, dann ist sie wieder alleine. Alleine mit ihren quälenden Gedanken um die Ereignisse des vergangenen Tages.

Tilda blätterte weiter. Als wollte das Buch, dass sie an einer bestimmten Seite Halt machte, fiel ihr ein weiterer Absatz auf:

Sie sieht ihn und es trifft sie wie ein Blitz. In diesem Moment weiß sie: Er ist die Liebe ihres Lebens! Er sieht sich um, sucht etwas. Da erblickt er sie. Einen winzigen Moment bleibt die Zeit stehen und sie ist mit ihm verbunden, aufs Innigste. Ein Augenblick, der sehr bedeutungsvoll sein wird, für ihr Leben, für sein Leben, für das Leben aller. Braune Augen treffen grüne Augen.

Es läutete. Emilia stand vor der Tür. Ein wenig verärgert, weil sie sich noch immer keinen Reim auf das Buch machen konnte, klappte Tilda das Buch zu und empfing ihre ältere Schwester. Nach nur wenigen Minuten klingelte Emilias Handy. Innerhalb von Sekunden wurde sie kreidebleich. »Ich bin sofort da!«, rief sie, während eine Träne über ihre Wange lief.

Tilda sah ihre Schwester fragend an. »Was ist denn los?« Emilia antwortete: »Da hat jemand vom Krankenhaus angerufen. Patrick hatte einen Unfall! Ich muss sofort zu ihm! Er ist wohl vom Gerüst gestürzt und hat sich einiges gebrochen. Nichts Lebensbedrohliches, aber … tut mir so leid, Süße!« Sie sah völlig fertig aus. »Weißt du, ich habe so einen Schrecken bekommen. Ich möchte doch nicht, dass es Timmy so geht wie uns beiden…«

»Emi! Bitte mach dir keine Vorwürfe!«, beruhigte Tilda ihre Schwester und drückte sie. »Timmy wächst nicht ohne Papa auf! Du hast doch gesagt, es ist nichts Lebensbedrohliches! Also ganz ruhig! Soll ich mitkommen?«

»Nein, nein, ich möchte lieber alleine bei ihm sein. Ich sag dir Bescheid, sobald ich was Genaueres weiß. Ruh dich aus!« Als Emi die Tür geschlossen hatte, blieb Tilda wie gelähmt stehen. Vor nicht einmal einer halben Stunde hatte sie exakt diese Szene gelesen. In dem eigenartigen Buch!

Tilda stürzte regelrecht auf das Buch zu. Das kann nicht sein! Das war sicher nur ein Zufall. Die Szene war bestimmt nur sehr ähnlich. Fieberhaft suchte sie die Stelle, die sie zuvor überflogen hatte. Nichts, es war wie verhext. Sie konnte sie nicht mehr finden. Dafür blieb sie an einem anderen Absatz hängen.

Er ist da. Ganz nah bei ihr. Er beobachtet sie auf Schritt und Tritt. Aber sie bemerkt ihn nicht in seiner Bedeutungslosigkeit. Sie sitzt nur auf ihrer Couch und liest. Sie ist verwirrt, über das, was sie liest. Mag nicht so recht glauben, dass es tatsächlich um sie selbst geht. Sie hält inne und denkt nach.

Tilda hob den Kopf und sah sich im Zimmer um. Das Buch jagte ihr Angst ein. Wie konnte so etwas möglich sein? Sie las weiter.

Sie wünscht sich ihr altes Leben zurück. Aber insgeheim weiß sie, dass es dafür zu spät ist. Er kommt immer näher.

Panisch schaute sich Tilda um. Um wen geht es? Das kann nicht sein! Ich kann nicht gemeint sein! Unmöglich!

Und doch fühlte sie, dass sie nicht alleine im Raum war. Sie suchte jeden Winkel mit den Augen ab, starr vor Angst. Nichts. Da war nichts. … oder etwa doch?

Das Gänseblümchen! Es schwebte in der Luft, direkt vor ihren Augen. Tilda atmete tief durch, schloss ihre Augen und öffnete sie wieder. Es hatte sich nichts verändert. Das Gänseblümchen war greifbar nahe. Sie streckte langsam, ganz langsam ihre Hand danach aus. Eine winzige Sekunde zögerte sie, doch dann berührte sie es mit ihrer Fingerspitze. In diesem Moment sah sie ihn. Erst eine fast durchscheinende Silhouette, dann wurde die Gestalt immer deutlicher. Es war ein Wesen von der Größe eines Kleinkindes. Ein kleiner Mann mit riesengroßen Augen, der sie neugierig ansah.

»Mein Name ist Titus«, sagte der kleine Mann mit einer höflichen Verbeugung. Er hatte nicht nur riesige Augen, sondern dazu auch noch eine sehr große, knubbelige Nase. Sein ganzes Gesicht wirkte, obwohl es voller Falten und Kerben war, sehr gepflegt. Die Ohren waren ungewöhnlich klein und rund. Rund war eigentlich fast alles an ihm. Sogar die Finger schienen eher rund als lang zu sein. Er trug eine Art grünblaues Kleid mit Kapuze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte und blickte Tilda aus seinen Kulleraugen von unten an.

Tilda war nicht einmal sonderlich überrascht. Das kleine Wesen wirkte alles andere als bedrohlich. Sie war eher erleichtert, dass sie endlich eine Ursache für die seltsamen Vorkommnisse gefunden hatte. Trotzdem brachte sie kein Wort hervor, wartete einfach darauf, dass ihr dieses Wesen alles erklären würde. Dass es alles wieder in Ordnung bringen würde. Und das tat es. Titus begann ohne Umschweife zu erklären: »Ich komme aus der Bücherwelt. Mir ist ein schwerwiegender Fehler passiert, denn ich habe aufgehört, in deinem Buch zu lesen. Da hat es sich selbstständig gemacht und den Weg zu dir gefunden. Ich möchte es wieder zurückbringen.«

»Aha.« Tilda nahm das Buch, aus dem sie eben noch gelesen hatte, in die Hand. »Meinst du das hier?«

»Gib es mir!«, rief Titus aufgebracht.

Tilda wollte es ihm gerade reichen, doch in ihr sträubte sich etwas dagegen.

Was, wenn in diesem Buch tatsächlich meine Zukunft steht? So etwas kann ich nicht einfach wieder zurückgeben!

Titus hielt ihr noch immer seine Hand entgegen. »Nein«, sagte Tilda bestimmt. »Erst erklärst du mir, was es damit auf sich hat und warum da drin Sachen stehen, die mir tatsächlich passiert sind!«

Und was es mit diesem geheimnisvollen Jungen auf sich hat, der in diesem Absatz beschrieben wurde.

Titus seufzte. Alle Aufregung schien verflogen. »Können wir dazu nach draußen gehen?«, fragte er.

5

Sie saßen auf einer Wiese nicht weit von Tildas Wohnung entfernt. Titus hatte gleich zugestimmt, als Tilda diesen Platz vorgeschlagen hatte. Auf dem Weg dorthin hatte niemand Notiz von dem ungleichen Paar genommen, was Tilda sehr verwundert hatte. Schließlich war Titus, trotz seiner geringen Größe, eine sehr auffällige Erscheinung. Er hatte den ganzen Weg sorgsam darauf geachtet, dass sie das Gänseblümchen immer in der Hand behielt, was Tilda ebenfalls wunderte. Dennoch hielt sie sich brav an die Anweisung, schließlich erhoffte sie sich von dem Gespräch eine Menge Antworten.

»Ich stelle die Fragen«, bestimmte Tilda nüchtern. »Und ich will alles wissen. Eher bekommst du das Buch nicht zurück.«

»In Ordnung«, erwiderte Titus.

»Was ist das für ein Buch?« fing Tilda an.

»Es ist das Buch deines Lebens. Da drin steht alles, was in deinem Leben passiert. Oder vielmehr, was in deinem Leben passieren sollte, bevor ich zu lesen aufgehört habe.«

»Wie meinst du das?«, hakte Tilda nach.

»Ich muss vielleicht ein wenig weiter ausholen. In meiner Welt gibt es sowohl Schreiber als auch Leser.«

»Stopp!« unterbrach ihn Tilda. »Was heißt in deiner Welt? Wo kommst du her?«

»Aus der Bücherwelt«, entgegnete das Wesen.

»Schön«, erwiderte Tilda mit sarkastischem Unterton. »Und was soll das sein? Wo ist diese Welt?«

Titus seufzte. »Meine Welt ist für euch Menschen nicht zu erreichen. Sie befindet sich auf einer anderen spirituellen Ebene. Aber lass mich doch erklären.«

Tilda hob die Augenbrauen, sagte aber nichts und wartete darauf, dass Titus fortfuhr.

»Wie ich schon sagte: Es gibt bei uns Schreiber und Leser. Die Schreiber sind dafür zuständig, die Geschichten der Menschen aufzuschreiben. Die Leser lesen sie einfach vor. Und alles, was wir vorlesen, ereignet sich ganz genauso. Nur ich habe den Fehler gemacht aufzuhören. Und weil jedes Buch mit seinem Menschen auf eine magische Art und Weise verbunden ist, findet es den Weg zu ihm, wenn wir es nicht durch unser Vorlesen daran hindern.«

Tilda musste schlucken. »Dann bist du also Gott oder sowas Ähnliches?«

»Nein!«, sagte Titus energisch.

»Aber du sagst, dass ihr die Lebensgeschichten der Menschen schreibt. Ihr bestimmt über unser Schicksal!« Ein Schaudern durchzog Tilda, sie sah ihre Welt zusammenbrechen. Als sie keine Antwort erhielt, sah sie Titus an. Der saß mit geschlossenen Augen auf seinem Platz und erweckte den Anschein, als würde er ihren Gefühlsausbruch in vollen Zügen genießen.

»Was bist du, Titus?«, fragte Tilda leise.

»Niemand von uns kann euer Schicksal beeinflussen. Nicht die Leser und auch nicht die Schreiber. Wir sind nur ausführende Organe. Das Schicksal der Menschheit liegt nicht in unserer Hand. Ich erzähle dir, wie unsere Welt aufgebaut ist. Du wirst vielleicht nicht alles verstehen, aber ich möchte, dass du alles weißt. Ich habe keine andere Wahl.«

Tilda war nun wieder etwas zuversichtlicher und lauschte den sanften Worten von Titus Stimme.

»Ich bin ein Bücherwesen und gehöre zu den Lesern. Das sind die niedrigsten Wesen in der Bücherwelt. Über uns Lesern stehen die Schreiber. Und ganz oben die Wächter. Die Wächter passen auf, dass niemand die Grenzen überschreitet. Kein Mensch, kein Bücherwesen und kein Buch. Es war nicht leicht, an ihnen vorbeizukommen«, schmunzelte er. »Die Schreiber besitzen das innere Auge. Das erlaubt ihnen, in die Zukunft zu sehen. Vielmehr noch: Sie können in die Zukunft reisen. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichte des Menschen, der ihnen zugewiesen wurde, im Detail aufzuschreiben. Verstehst du? Sie denken sich die Geschichten nicht aus. Sie notieren nur, was sie in der Zukunft sehen. Die fertig aufgeschriebenen Lebensgeschichten kommen in einen ganz besonderen Saal. Denn sie sind sehr wertvoll. Zu Beginn eines jeden neuen Lebens wird ein Bücherwesen fest mit einem Menschen verbunden. Das magische Orakel wählt uns aus und stellt die Verbindung her. Ich wurde mit dir verbunden und erhielt die Aufgabe, deine Lebensgeschichte zu lesen. Alles, was wir Leser tun, ist Lesen. Tag und Nacht. Wir lesen jedes Detail und genauso ereignet es sich auch bei unseren Menschen. Ich weiß nicht, warum ich aufgehört habe. Das hat vor mir noch nie jemand getan.«

Tilda musste erst einmal durchschnaufen. Sie konnte noch nicht so recht glauben, was ihr dieses kleine Wesen da erzählte. Und doch ergab alles langsam einen Sinn. »Und was geschieht jetzt mit mir, wenn keiner meine Geschichte vorliest?«, fragte sie vorsichtig.

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Titus hilflos. »Aber offenbar läuft dein Leben ja weiter. Ich hatte schon befürchtet, du wärst gestorben.«

»Es läuft aber ziemlich chaotisch, findest du nicht?«, fragte ihn Tilda.

»Das ist nur eine Übergangsphase. Ich habe mir in den letzten Stunden so meine Gedanken gemacht. Und ich habe einige Antworten gefunden. Tilda, vielleicht ist es gar nicht notwendig, dass wir eure Lebensgeschichten lesen! Ihr könnt auch ohne uns leben! Du bist der Beweis dafür!«

»Ein seltsamer Beweis, wenn du mich fragst. Ich habe bis vor ein paar Minuten noch nicht einmal gewusst, dass mein Leben von jemandem gesteuert wurde. Und jetzt sagst du mir, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt, der frei entscheiden kann. Entschuldige, aber das kann ich nicht so recht glauben. Jeder hat doch seinen freien Willen!«

»Eben nicht«, erklärte Titus. »Ihr Menschen macht genau das, was wir euch vorlesen. Vor langer Zeit ist einer meiner Vorfahren einmal darauf gekommen. Er besaß das innere Auge und hat sich einen Spaß daraus gemacht, kurze Zeitsprünge zu machen und den Menschen anschließend ihre Zukunft vorzulesen. Er war erstaunt, dass sie genau das taten, was er ihnen vorlas. Mehr noch: Er fand heraus, dass sich die menschliche Rasse ordnete, je mehr Bücherwesen sich an dem Vorlesen beteiligten. Die Entwicklung vom homo erectus zum homo sapiens: Das waren wir!«, erklärte Titus nicht ohne Stolz.

Tilda fühlte sich auf den Arm genommen. »Was soll der Quatsch, Titus? Das war die Evolution. Außerdem hat nie ein Mensch ein Bücherwesen gesehen. Wenn ihr ständig in allen Zeiten unterwegs seid, dann müssten wir euch doch schon mal gesehen haben.«

»Gutes Argument. Aber du weißt noch nichts über unsere wichtigste Eigenschaft: die Bedeutungslosigkeit. Wir sind überall, in jeder Zeit, an jedem Ort. Aber keiner nimmt uns wahr. Überleg doch mal, wie lange du gebraucht hast, um mich zu erkennen! Ich bin dir letzte Nacht direkt vor die Füße gelaufen und du hast mich nicht einmal gesehen. Den ganzen Tag war ich bei dir, habe versucht, dich auf mich aufmerksam zu machen. Aber es hat schließlich nur mit Hilfe des Gänseblümchens funktioniert. Ein Bücherwesen kann sich in jeder Zeit frei bewegen, weil kein Mensch von ihm Notiz nimmt.«

Das Gänseblümchen! Tilda erinnerte sich. Es war nicht geschwebt. Titus hatte es die ganze Zeit gehalten! Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte noch unglaublich viele Fragen. Aber vor lauter Fragen wusste sie gar nicht, womit sie anfangen sollte. Deshalb sagte sie nur: »Erzähl mir mehr, Titus!«

»Später, Tilda«, entgegnete er. »Ich muss noch etwas Wichtiges herausfinden. Ich werde bald zurück sein. Behalte das Gänseblümchen unbedingt bei dir. Sonst wirst du es schwer haben, mich zu sehen.« Und in dem Moment war er verschwunden.

6

Tilda war unfähig, sich zu bewegen. Das, was ihr das Bücherwesen da eben gesagt hatte, schockierte sie bis ins Mark. Es war verrückt, völlig unmöglich. Und dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte. Es konnte doch nicht sein, dass da eine Parallelwelt existierte, in der kleine Wesen herumliefen, die das Leben der Menschheit kontrollierten! Und sie sollte als einzige nun frei in ihrem Denken und Handeln sein? Aber hatte sie sich denn vorher in irgendeiner Art und Weise gefangen gefühlt?

Warum ich? Kann sich nicht irgendein anderes Buch auf den Weg zu seinem Menschen machen? Warum muss es mein Buch sein? Langsam erhob sich Tilda und erholte sich von ihrem Schockzustand. Sie brauchte unbedingt jemanden, mit dem sie über alles reden konnte. Aber wer sollte ihr denn glauben?

Seltsam losgelöst ging sie am nächsten Montag zur Arbeit. Ihre Erlebnisse mit Titus konnte sie nicht zuordnen, sie glaubte aber auch nicht, dass sie sich alles nur eingebildet hatte. Die Wogen der Missgeschicke hatten sich geglättet und Tilda lebte ihr Leben nun selbstbestimmt. Einen großen Vorteil machte das allerdings nicht aus – im Gegenteil: Auf Schritt und Tritt nagte die Unsicherheit an ihr. Jede Entscheidung, die sie treffen musste, verursachte Angstzustände. Was, wenn diese Entscheidung nun die falsche war? Was, wenn ich dadurch eine katastrophale Kettenreaktion auslöse?

Allmählich legten sich aber ihre Zweifel und ein Hochgefühl ergriff von ihr Besitz. Wenn Tilda in die Runde des Großraumbüros blickte, hatte sie nur einen Gedanken: Ich kann selbst bestimmen, was ich tue, während ihr alle von den Worten der Bücherwesen abhängig seid!

Titus meldete sich nicht mehr. Allmählich zweifelte Tilda an sich selbst. Was, wenn sie sich diese ganze verrückte Geschichte nur eingebildet hatte? Das Gänseblümchen hatte sie in einen Kettenanhänger gelegt, den sie Tag und Nacht trug. Der Anhänger war durchsichtig und gab den Blick auf ein mittlerweile total vertrocknetes Gänseblümchen frei, das wahrlich keine Zierde war. Aber Tilda hatte in der Eile nichts anderes gefunden als den augenscheinlich sehr betagten Anhänger vom Flohmarkt. Drei lange Tage waren vergangen, in denen Tilda sich ihre Gedanken gemacht hatte. Sie wollte Titus eine Menge fragen, wenn er sich wieder zeigte. Vor allem wollte sie wissen, was es mit dem geheimnisvollen Jungen auf sich hatte, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, seit sie den kurzen Absatz in ihrem Buch über ihn gelesen hatte.

Das Buch… Sie hatte sich vorgenommen, Antworten darin zu finden. Aber so sehr sie sich auch bemühte, so war es ihr doch nicht möglich, für längere Zeit darin zu lesen. Entweder wurde sie unterbrochen oder sie las nur unverständliche, zusammenhangslose Wortfetzen. Als wäre das Buch verschlossen und wollte ihr nichts mehr preisgeben.

Gerade schrieb Tilda eine Rechnung, als Mia die Agentur betrat.

»Morgen, Mia! Hast du dich schön erholt?«, begrüßte Tilda ihre Freundin. Mia, die nach ihrem verlängerten Wochenende blendend aussah, blieb abrupt stehen und starrte Tilda aus ihren funkelnden braunen Augen an. Nur einen winzigen Augenblick lang hatte sie die Kontrolle verloren, dann hatte sie sich wieder im Griff. »Morgen, Tilda! Alles bestens!«

Der Moment war an Tilda nicht spurlos vorübergegangen. Ein beklemmendes Gefühl kroch langsam durch ihren Körper. Sie weiß von dem Buch! durchfuhr es Tilda, bis sie sich selbst beruhigte. Das kann gar nicht sein. Ich habe sie das ganze Wochenende nicht gesehen und bis Freitagabend wusste ich selbst nichts davon.

Der Arbeitstag verlief ganz normal. Tilda bemerkte aber, dass Mia sie mied und aus der Ferne ungläubig beobachtete. Darauf konnte sie sich keinen Reim machen. Wie konnte Mia von dem Buch wissen? Und was, wenn ich mir ihr seltsames Verhalten nur einbilde? Titus, es wird Zeit, dass du wiederkommst! Ich dreh noch durch hier!

Da trat Mia an ihren Schreibtisch. »Was gibt’s Neues von der König AG?«, fragte sie betont lässig.

»Nichts, da hat sich noch niemand gemeldet.«

»Ist das ein neuer Modetrend?«, grinste Mia und nickte mit dem Kopf in Richtung des Gänseblümchen-Anhängers.

Tilda lachte. »Total! Wusstest du das nicht?«

Mia stimmte in das Lachen ein, sagte dann: »Gib mal her, ich will wissen wie das gemacht ist!« und streckte ihre Hand aus.

In Tildas Kopf schrillten alle Alarmglocken. »Ach, das ist nichts als ein stinknormales Gänseblümchen in einem alten Schmuckanhänger. Das kann doch jeder!«

Mia sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Um ehrlich zu sein«, fügt Tilda hinzu, »ich habe einem Freund versprochen, ihn ständig zu tragen. Dieses Versprechen möchte ich nur ungern brechen.«

»Verstehe«, nickte Mia. »Welchem Freund denn? Ist es doch etwas Ernsteres zwischen dir und Leon?«

Die alte Vertrautheit zwischen ihr und Mia war wieder da. Fröhlich unterhielten sie sich eine Weile, bis Mia sich wieder an die Arbeit machte.

Während die Menschen nach Feierabend an diesem strahlend schönen Sommertag in die Cafés strömten, lief Tilda so schnell sie konnte nach Hause. Als sie die Haustüre aufschloss, spürte sie ihn schon. Titus war wieder da.

7

Wie erwartet brauchte sie einen Moment, bis sie ihn bemerkte. Durch ihre gemeinsame Verbindung über das Gänseblümchen fiel es ihr aber von Mal zu Mal leichter.

»Titus! Endlich! Wo warst du so lange? Ich habe so viele Fragen! Meine Freundin Mia war heute ganz seltsam… Meine Güte! Titus! Was ist denn mit dir passiert?«

Entsetzt sah sie das kleine Bücherwesen an, das über und über mit Kratzern bedeckt war. Eine Wunde blutete sogar noch etwas. Tilda griff nach dem erstbesten Tuch, das ihr in die Hände fiel, hielt es kurz unter den Wasserhahn und reichte es Titus.

»Ich wurde angegriffen«, erwiderte der kleine Mann und wirkte dabei verärgert. »Man hat mein Verschwinden bemerkt und die Wächter suchen mich.«

Erschrocken sah sich Tilda um, aber Titus beruhigte sie. »Keine Angst, sie sind nicht hier. In der Menschenwelt bin ich sicher.« Das Bücherwesen sah sie mit seinen riesigen Augen verzweifelt an: »Kann ich bei dir bleiben, Tilda?«

»Na logisch!«, rief Tilda aus und nahm den überraschten Titus in den Arm, der mit so viel Herzlichkeit gar nicht gerechnet hatte. Genießerisch schloss er die Augen. Nach einer Weile fing er an zu erzählen.

»Ich wollte nur noch einmal kurz in die Bücherwelt, um mir genug Energie zu holen. Als ich in die Nähe der Wächter kam, bemerkte ich ziemlich schnell, dass mein Verschwinden offenbar aufgefallen war. Es gab keine Chance für mich, hineinzukommen. Deshalb habe ich einen Umweg über die Zwischenwelt gemacht, in der das magische Orakel steht. Ich habe einige Antworten von ihm erhalten, aber es war nicht leicht, dorthin zu finden. Die beste Nachricht jedenfalls ist, dass ich genug Energie habe, um mein ganzes Leben damit auszukommen.«

»Was meinst du damit? Was soll das ganze Gerede von Energie?«

»Wir Bücherwesen essen nicht so wie ihr Menschen. Wir ernähren uns von euren Gefühlen. Egal ob die Gefühle positiv oder negativ sind, sie versorgen uns mit Energie und mit der Kraft zu leben. Normalerweise gelangt die menschliche Gefühlsenergie durch das Lesen in unsere Welt. Sie wird dort gespeichert und nach und nach freigegeben. Die meiste Energie aber bekommen die Leser direkt ab, beim Vorlesen. Wenn ein Leser ein besonders emotionales Ereignis vorliest, strömt die Gefühlsenergie seines Menschen direkt in seinen Körper. Nur ein verschwindend geringer Anteil wird in die großen Speicher für die anderen Bücherwesen weitergeleitet.«

»Dann habt ihr Leser also viel mehr Energie?«

»Ja und nein. Wir verbrauchen auch sehr viel Energie beim Lesen. Wir machen ja keine Pausen. Normalerweise. Ein Menschenleben macht ja auch keine Pausen. Deshalb ist es lebensnotwendig, dass das Lesen niemals aufhört, weil sonst die Energiezufuhr gestoppt wird und der Leser ohnmächtig zusammenbricht. Das ist aber zum Glück noch nie passiert.«

»Aber wie hast du dann so einfach aufhören können zu lesen?«

»Das Orakel hat es mir verraten: Ich habe sozusagen eine Überdosis Gefühl abbekommen, die für den Rest meines Lebens reicht.«

Tilda musste grinsen: »Wie Obelix, der als Kind in den Zaubertrank gefallen ist!«

Titus musste ebenfalls lachen. »So ähnlich kannst du es dir vorstellen! Ich habe schon immer gewusst, dass mit mir etwas nicht stimmt. Während alle anderen Leser einfach ihren Job machten, fing ich an, mich zu langweilen. Ich wurde nachlässig, las langsamer. Und ich merkte: Ich trage keinen Schaden davon! Das ließ mich leichtsinnig werden. Ich hörte schließlich ganz auf zu lesen, weil ich neugierig war, was dann passieren würde. Und dann ist es passiert: Dein Buch wurde nicht mehr durch mein Lesen festgehalten und ist verschwunden.«

»Und wie ist es bei mir gelandet? Ich habe es plötzlich in meiner Tasche gefunden. Hat es mir jemand reingesteckt?«

»Das weiß ich nicht. Fest steht nur, dass jedes Buch wie durch einen unsichtbaren Faden mit seinem Menschen verbunden ist. Wir halten es durch unser Lesen fest. Wenn es freigegeben wird, findet es zu seinem Menschen.«

»Aber anfangen kann ich nicht viel damit. Ich hatte gedacht, ich könnte ein bisschen in meiner Zukunft schmökern. Aber es ist wie verhext! Das Buch gibt mir nichts preis!«

»So etwas Ähnliches hatte ich schon vermutet. Mal abgesehen davon würde dir deine Zukunft aus dem Buch auch nicht viel sagen. Schließlich hast du jetzt deinen freien Willen und deine Zukunft kann sich mit jeder Entscheidung ändern.«

»Du meinst also, es ist wertlos?«

»Nein!«, rief Titus aus. »Behalte es immer bei dir! Es ist dein Buch! Deine Lebensenergie ist darin enthalten. Es könnte sehr gefährlich sein, wenn es in die falschen Hände gelangt.«

»Was passiert denn mit den ganzen Lebensbüchern, wenn die Menschen gestorben sind?«, fragte Tilda.

»Das ist die letzte Aufgabe eines Lesers: Wenn eine Geschichte beendet ist, bringt er das Buch in den großen Saal. Dort stehen Milliarden von Bücherregalen, in denen die Bücher aller Verstorbenen der Menschenwelt zu finden sind. Wir dürfen diesen Raum auch nur zu diesem einen Zweck betreten und werden dabei von einem Wächter begleitet. Die Gefahr ist zu groß, dass ein Buch versehentlich ein zweites Mal herausgezogen würde.«

»Und was passiert dann mit euch Lesern? Ist euer Leben dann auch vorbei?«

»Nein. Beim Tod eines Menschen erhalten wir einen Energiestoß, der uns so lange versorgt, bis wir unser nächstes Buch vorlesen. Wir bekommen dann einfach den nächsten Leseauftrag. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Lebensgeschichten ich schon vorgelesen habe. Immer im selben Trott. Erst bei dir ist mir aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.«

Das war ein gutes Stichwort. Tilda erzählte Titus vom seltsamen Verhalten ihrer Kollegin. Weil das Bücherwesen vom Vorlesen jedes Detail aus Tildas Leben kannte, verstand es sofort, dass Mia anders war als sonst.

Titus überlegte konzentriert. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder löst deine plötzliche Entscheidungsfreiheit bei Menschen, die dir nahestehen, einen unterschwelligen Neid aus, oder… aber das wäre ja ganz schrecklich…«

»Was denn, Titus?«, fragte Tilda erwartungsvoll.

»Oder Mia ist ein Zwischenwesen.«

8

»Was ist denn das schon wieder?«, fragte Tilda verwirrt und schauderte, als sie Titus‘ besorgten Gesichtsausdruck sah.

»Die Zwischenwesen sind gefährlich. Sie wollen völlige Kontrolle über die Menschen. Sie suchen seit Menschengedenken nach einem Weg in die Bücherwelt, um die Bücherwesen zu töten und die Macht an sich zu reißen.« Titus‘ Tonfall war dunkler geworden. Er sprach mit leiser Stimme, als hätte er Angst, dass ihm jemand zuhören könnte.

»Das ist doch lächerlich, Titus! Mia ist meine Freundin! Sie ist einer der liebsten Menschen, die ich kenne!«, rief Tilda empört.

»Das mag sein. Aber wenn sie ein Zwischenwesen ist, wird es mit der Freundschaft vorbei sein, sobald sie herausgefunden hat, dass du Kontakt mit einem Bücherwesen hast.«

»Quatsch! Ich lege für Mia meine Hand ins Feuer. Wahrscheinlich hatte sie einfach nur einen schlechten Tag. Oder es ist dieser Neid, von dem du gesprochen hast.« Tilda klang nicht sehr überzeugt. »Aber sag mal, wie kann man denn ein Zwischenwesen erkennen?«

Titus seufzte. »Das ist nicht leicht. Sie haben gelernt, sich anzupassen. Zu einer Zeit, als Bücherwesen und Menschen noch nebeneinander lebten, haben sich beide Geschöpfe miteinander verbunden. Daraus ist eine neue Art entstanden, die überaus große magische Fähigkeiten hatte und diese zum Nachteil beider einsetzte. Die Bücherwesen schworen sich, diese neue Art wieder auszulöschen und nie wieder Nachkommen mit den Menschen zu zeugen. Wir mussten restlos alle der neuen Art töten. Nur eines übersahen wir: Eine Menschenfrau erwartete ein Kind von einem der neuen Art. Sie fürchtete um ihr Leben und das ihres Babys und behielt das Geheimnis für sich. Wir in der Bücherwelt ahnten davon nichts, da wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Geschichten aller Menschen vorlasen. Es hat Jahrhunderte, ach was, Jahrtausende gedauert, bis wir es geschafft hatten, alle Menschenleben in unseren Büchern festzuhalten. Die magischen Fähigkeiten bei dem Mischlingskind, dem ersten dieser Zwischenwesen, hatten sich zwar ein wenig abgeschwächt, wurden aber von Generation zu Generation weitergegeben – stets unter einem feierlichen Schwur, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Erst im Laufe der Zeit kam heraus, dass diese Menschenfrau nicht die einzige gewesen sein konnte, denn auch abseits dieser ersten Familie gab es magische Handlungen, die sich anders nicht erklären ließen. Die magischen Familien verbündeten sich schließlich, nachdem sie sich lange bekriegt hatten und schworen, dass ihr Blut nicht verunreinigt werden durfte. Jeder Nachkomme sollte nur unter seinesgleichen weitere Nachkommen zeugen, um die magischen Kräfte nicht abzuschwächen. Denn nur so – und das war ihr oberstes gemeinsames Ziel – konnten sie Rache an den Bücherwesen üben, die es geschafft hatten, die Kontrolle über die Menschen zu übernehmen.«

»Wow, das klingt total absurd. Ich meine, wo sind denn auf der Welt magische Handlungen aufgetreten?« fragte Tilda.