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Petra Grill

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Beschreibung

Die Bestsellerreihe geht endlich weiter! Die Charité – das berühmteste Krankenhaus Deutschlands auf neuen Wegen. Geschichten von Leben und Tod, von Liebe und Verrat. Berlin, 1858. Das Hausmädchen Sophie wird unehrenhaft entlassen und steht vor dem Nichts. Der Sohn der Familie hat sich in Sophie verliebt, doch die Schuld gibt man ihr. Sophie bleibt nur, es ihrer Kindheitsfreundin Bertha gleichzutun und das Geld zum Überleben auf der Straße zu verdienen. Als Bertha und Sophie sich eine der grassierenden Geschlechtskrankheiten einfangen, bringt man sie in die Charité. Statt dort Hilfe zu bekommen, werden die beiden Frauen jedoch unwissentlich Teil eines grausamen Experiments. Bertha erkrankt schwer, und Sophie sorgt aufopferungsvoll für ihre Freundin. Das bleibt auch der Oberschwester nicht verborgen, und Sophie bekommt die Chance, als Pflegerin an der Charité anzufangen. Doch die Angst von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden, liegt wie ein Schatten über Sophie. Vor allem als sie sich in einen jungen Offizier verliebt.

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Ulrike Schweikert • Petra Grill

Die Charité

Neue Wege

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Liebe & Verrat

 

Berlin, 1858. Das Hausmädchen Sophie wird unehrenhaft entlassen und steht vor dem Nichts. Der Sohn der Familie hat sich in Sophie verliebt, doch die Schuld gibt man ihr. Sophie bleibt nur, es ihrer Kindheitsfreundin Bertha gleichzutun und das Geld zum Überleben auf der Straße zu verdienen. Als Bertha und Sophie sich eine der grassierenden Geschlechtskrankheiten einfangen, bringt man sie in die Charité. Statt dort Hilfe zu bekommen, werden die beiden Frauen jedoch unwissentlich Teil eines grausamen Experiments. Bertha erkrankt schwer, und Sophie sorgt aufopferungsvoll für ihre Freundin. Das bleibt auch der Oberschwester nicht verborgen, und Sophie bekommt die Chance, als Pflegerin an der Charité anzufangen. Doch die Angst, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden, liegt wie ein Schatten über Sophie. Vor allem als sie sich in einen jungen Offizier verliebt.

 

Die Charité – das berühmteste Krankenhaus Deutschlands auf neuen Wegen. Geschichten von Leben und Tod, von Liebe und Verrat.

Vita

Ulrike Schweikert arbeitete nach einer Banklehre als Wertpapierhändlerin, studierte Geologie und Journalismus. Sie ist eine der bekanntesten deutschen Autorinnen historischer Romane. Die ersten beiden Bände ihrer Erfolgsreihe «Die Charité» standen in den Top 10 der Bestsellerliste. Nun legt sie zusammen mit Co-Autorin Petra Grill die Fortsetzung der Bestsellerreihe vor.

 

Petra Grill wohnt in ihrer Heimatstadt Erding. Mit ihrem Debüt «Oktoberfest 1900» gelang ihr auf Anhieb der Sprung auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. «Die Charité: Neue Wege» ist ihr erster Roman bei Rowohlt.

Kann man Eine Pustel bei Variola von Einer solchen bei Acne, Syphilis, Scabies etc. unterscheiden? Gibt es eigenthümliche Pusteln, welche Impetigo oder Ecthyma characterisiren? – Wir müssen dies im Allgemeinen mit nein beantworten. Weder die Grösse, noch der Sitz, weder der Inhalt, noch die Form noch die so genannte Delle geben unterscheidende Merkmale ab.

Ferdinand Hebra/Moriz Kaposi, Lehrbuch der Hautkrankheiten, Band 1, Erlangen 1872, S. 649

Prolog

Hinter einer der Türen erscholl ein durchdringender Schrei. Unwillkürlich zuckte Felix von Bärensprung zusammen.

«Bitte verzeihen Sie, Herr Doktor», sagte Doktor Hamann, der ältliche Nervenarzt, der Bärensprung begleitete. «Wir haben selten Besucher, das macht die Patienten immer ein bisschen unruhig.» Er lachte hart, es klang hilflos.

Dieses kleine private Sanatorium in Potsdam galt als eine der besseren Nervenheilanstalten Preußens. Rein äußerlich machte es in der Tat einen guten Eindruck. Es lag ein wenig außerhalb des Orts, inmitten von viel Grün, Haupt- und Nebengebäude wirkten frisch renoviert, die Gärten säuberlich in Ordnung.

Das Hässliche lag hinter den frisch getünchten Wänden.

Ein Krankenwärter klimperte mit dem Schlüsselbund, als er die nächste Tür für die beiden Ärzte entriegelte. Urplötzlich sprang eine Frau hinter einer nahen Säule hervor. Sie trug einen unförmigen Kittel, das Haar wallte ihr in dunklen, mit Grau durchzogenen Strähnen offen bis auf die Hüften herab. Wie ein Schatten huschte sie an Bärensprung vorbei und wäre vielleicht durch den Türspalt entwischt, hätte der Wärter sie nicht gepackt und rüde zurückgestoßen.

«Verdammt, wer hat die Irre wieder aus’m Zimmer gelassen?»

Die Frau prallte gegen die Säule und stürzte auf den gefliesten Boden. Verletzt hatte sie sich wohl nicht, dennoch fing sie an zu schreien. Der Laut, ein lang gezogenes Heulen wie von einem Tier, ging Bärensprung durch Mark und Bein. Zwei weitere Wärter hasteten dazu und brachten sie weg. Beide stanken nach Bier.

«Bringen Sie die Patientin zur Hydrotherapie!», befahl der Nervenarzt ungerührt. «Kaltes Wasser sollte sie beruhigen.» Er schaute Bärensprung an. «Bitte verzeihen Sie die Störung. Hier gewöhnt man sich daran. Folgen Sie mir, zu Herrn Doktor Simon geht es hier entlang.»

Doktor Hamann marschierte vor Felix von Bärensprung her den Flur entlang. Eine weitere Tür wurde aufgeschlossen. Das Zimmer dahinter war weiß gestrichen, die Einrichtung spartanisch: Bett, Schrank, Schreibtisch, Stuhl. Eine Topfpflanze auf einer Fensterbank und ein Gemälde an der Wand verrieten, dass es sich hier wohl dennoch um eins der besseren Gemächer handelte.

Am Schreibtisch saß ein Mann, von dem Doktor von Bärensprung wusste, dass er erst dreiundvierzig Jahre zählte. Er wirkte weit älter, sein Haar war an den Schläfen bereits deutlich ergraut. Das Gesicht schien eingefallen, der Anzug schlotterte um die mageren Glieder.

«Wer stört?» Die Stimme des Mannes klang desto kräftiger. Er ignorierte Doktor Hamann, musterte Felix von Bärensprung jedoch ungnädig.

«Herr Doktor Gustav Simon?», erkundigte Bärensprung sich höflich.

«Das bin ich, ja. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, mein Herr. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen.» Er wandte sich wieder ab und kritzelte mit dem Bleistift auf ein Stück Papier.

«Ich bin gekommen, um mich Ihnen vorzustellen, Herr Kollege», sagte Bärensprung. «Man hat mich aus Halle nach Berlin berufen, damit ich kommissarisch, bis zu Ihrer Genesung, Ihre Aufgaben wahrnehme.»

«Aufgaben?» Damit hatte er Doktor Simons Aufmerksamkeit gewonnen. Simon erhob sich und beäugte Bärensprung eingehend.

«An der Charité», stellte Bärensprung klar. «Als leitender Arzt der Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten.»

«Ah!» Ein Leuchten ging über Doktor Simons Gesicht. Mit plötzlicher Lebhaftigkeit kam er auf Bärensprung zu und schüttelte ihm die Hand. «Freut mich, freut mich. An der Charité! Da werden Sie viel zu tun haben. Viel Freude, viel Arbeit, noch mehr Ärger.»

«In jedem Fall wird es mir eine Ehre sein, Sie eine Weile zu vertreten, Herr Doktor. Sie haben sich in ganz Europa einen derartig hohen Ruf erworben, dass es jeden Arzt mit Stolz erfüllt, für diese Aufgabe ausgewählt zu werden.»

Abrupt straffte sich Simons eingefallene Gestalt, er streckte das Kinn vor. «Das will ich meinen. Verstehen Sie denn auch etwas von der Materie? Mir wäre lieb gewesen, man hätte mich vorher um Rat gefragt. Aber sei’s drum. Man gewöhnt sich an die Dummheiten, die an der Charité gemacht werden, und kann nicht alle verhindern. Sie allerdings dürfen keine begehen. Sie werden Großes leisten, Herr Kollege, das müssen wir alle, dazu sind wir auf der Welt.»

«Zweifellos, Herr Doktor Simon. Ich hoffe, ich kann Ihnen bei Ihrer Rückkehr Ihre Abteilung …»

Doktor Simon schien Bärensprungs Worte gar nicht gehört zu haben. «Ich habe Großes geleistet. Größeres wahrscheinlich als die meisten anderen Ärzte.» Er blickte hastig über die Schulter, dann zischte er Bärensprung zu: «Aber ich habe Feinde. Widersacher. Das werden Sie auch bald lernen. Ein Pfuhl, die Charité. Ein Sündenpfuhl, voll Eiterbeulen und widerwärtiger Intriganten. Krank. Krank an Leib und Seele.»

Er lachte plötzlich schrill auf. Als Bärensprung von ihm zurückweichen wollte, umklammerte er gedankenschnell dessen Arm. Seine Augen funkelten.

«Man hat mich meine Pläne nicht verwirklichen lassen. Nur ein paar Monate hätte ich noch gebraucht, und ich hätte das Heilmittel gefunden. Gegen alles. Herpes, Masern und Syphilis. Syphilis! Ich kenne das Geheimnis, Herr Kollege. Ich könnte es Ihnen verraten, aber das wäre zu einfach. Gehen Sie nur selbst hin, suchen Sie bei den wilden Weibern. Man wartet auf Sie. Ihr Schicksal wartet auf Sie! Leisten Sie Großes, sage ich. Großes, wie ich vor Ihnen! Gemeinsam werden wir die Welt aus den Angeln heben, Herr Kollege!»

Hinter Bärensprungs Rücken hatte Doktor Hamann die Tür geöffnet. Mit zwei raschen Schritten war ein Krankenwärter hinter Doktor Simon, verdrehte ihm den Arm nach hinten und zog ihn von Bärensprung weg. Simon ließ einen Klagelaut hören und sank wieder in sich zusammen.

«So, erobern wir heut mal wieder die Welt, Professorchen? Jetz’ setzt du dich dahin und schmierst weiter auf deinen Papierfetzen herum.» Der Wärter drückte den berühmten Patienten zurück auf den Schreibtischstuhl, ehe er sich zu dem Besucher umdrehte und kurz mit den Schultern zuckte. «Kann man nie vorhersagen, wie die Irren reagieren.»

Doktor Hamann räusperte sich. «Wir werden den Patienten gleich zu einer Behandlung bringen. Vielleicht möchten Sie so lange warten und sich danach noch einmal mit ihm unterhalten, Herr Kollege? Hinterher sind die Patienten üblicherweise etwas … zahmer.»

Doktor von Bärensprung verzichtete dankend. Er rief Doktor Simon noch einen Gruß zu, doch der reagierte nicht darauf.

«Ist dieser Patient schon lange hier?», erkundigte sich Bärensprung, als er mit Doktor Haman wieder im Flur stand.

«Bei uns erst seit drei Wochen. Er hatte bereits einen längeren Aufenthalt in einer anderen Anstalt.»

«Und wie schätzen Sie seine Heilungsaussichten ein?»

«Heilung?» Wieder das knappe, grimmige Lachen. «Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Herr Kollege. In Laiensprache nennt man Doktor Simons Krankheit nicht umsonst ‹Gehirnerweichung›. Ich habe noch nie von einer Heilung gehört. Diese Abteilung an der Charité, die Sie übernommen haben, die bleibt Ihnen mit Sicherheit. Falls es das war, was Sie bei diesem Besuch erfahren wollten.»

«Das war es nicht», sagte Felix von Bärensprung scharf. «Ich bin hierhergekommen, um einem berühmten Kollegen meine Bewunderung auszusprechen.»

Der Arzt zuckte die Achseln. «Nun, das haben Sie ja jetzt.» Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. «Kaum zu glauben, dass der dahinten einmal Arzt war, nicht wahr?»

Bärensprung rümpfte die Nase. Was unterstand dieser Mensch sich! «Doktor Simon hat die Lehrbücher geschrieben, anhand deren wir studierten», antwortete er knapp. «Er ist ein in ganz Europa bewunderter Experte auf dem Gebiet der Haut- und Geschlechtskrankheiten.»

«Geschlechtskrankheiten?» Das dreckige Lachen dieses Menschen machte Bärensprung wütend. «Das auch noch. Nun, Herr Kollege, ich bin vielleicht kein bewunderter Experte, aber so viel kann ich Ihnen sagen, mit dem da ist es aus. Der macht’s vielleicht noch ein paar Jahre, aber in Zwangsjacke. Das habe ich hier oft genug erlebt. Erst Größenwahn, dann Halluzinationen, und am Ende müssen die Wärter sie ans Bett fesseln, weil sie den Leuten sonst an die Kehle springen und die Augen auskratzen.» Er schüttelte den Kopf. «Und Sie sitzen in Zukunft auf Doktor Simons Platz? Da können Sie von Glück sagen, dass Wahnsinn nicht ansteckend ist, was?»

Doktor von Bärensprung verzichtete auf eine Antwort.

Kapitel 1Monbijouplatz

18. Januar 1858

«Ich verstehe nicht», stotterte Sophie.

Frau von Seydlitz’ Stimme zischte vor Wut. «Du verstehst nicht? Du verstehst nicht, wenn eine Mutter sich darüber empört, wie ihr unschuldiger Sohn verführt und auf Abwege geleitet wird? Oder verstehst du nicht, wieso ich davon weiß? Hattest du angenommen, wir seien alle blind und taub und niemand würde bemerken, dass Philipp sich seit Wochen heimlich nachts in deine Kammer schleicht?»

«Aber so war es doch …»

«Und ob es so war! Die ganze Zeit über, seit wir dich ins Haus genommen haben, haben wir eine Schlange an unserem Busen genährt! Du hast meinen einzigen Sohn nicht nur vom Pfad der Tugend abgebracht – du hast dir in den Kopf gesetzt, ihn zu verderben! Das hätte dir so gepasst, wie? Den Sohn deines Dienstherrn in dich verliebt zu machen und ihm so sehr den Kopf zu verdrehen, dass Philipp allen Ernstes davon spricht, dich heiraten zu wollen! Dich, ein Dienstmädchen! Das wäre freilich ein feiner Aufstieg für eine wie dich!»

«Gnädige Frau, das stimmt nicht!» Zu Beginn der Strafpredigt war Sophie zu schockiert gewesen, um sich zu wehren. Ein Teil von ihr wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Aber je länger Frau von Seydlitz sprach, desto mehr war Sophie entrüstet über die Ungerechtigkeit. Es kostete sie Mühe, ruhig zu bleiben. «Ich habe Philipp nie auf solche Gedanken gebracht, im Gegenteil, ich habe ihm gesagt, dass das unmöglich ist. Dass Sie mir vorwerfen, Ihr Vertrauen missbraucht zu haben, ist nicht gerecht.»

Ein langer, hoheitsvoller Blick glitt an Sophie entlang. Adelheid von Seydlitz war sicher schon um die fünfundvierzig. Eine Schönheit war sie wohl nie gewesen, doch sie war groß, deutlich größer als ihr zierliches Dienstmädchen. Vor allem konnte sie eine eisige Kälte und Herablassung an den Tag legen und verstand damit, wie Sophie wusste, sogar Sohn und Ehemann einzuschüchtern.

Im Augenblick schien sie einzulenken. Sie trat ans Fenster und strich in Gedanken mit der Hand über die samtenen Vorhänge. «Sei dem, wie es sei. Bis zu einem gewissen Grad habe ich ja Verständnis. Du bist selbst noch ein halbes Kind; wahrscheinlich lässt du dir heimlich Groschenromane an der Hintertür verkaufen, so wie alle Dienstmädchen. Es ist eine Schande, dass solche Lektüre uns das Personal verdirbt. In jedem dieser Heftchen heiraten Grafen und Fürstensöhne simple Bauernmädchen. Wer wollte einem einfältigen Geschöpf verdenken, wenn es anfängt zu glauben, so etwas sei wirklich möglich.» Frau von Seydlitz drehte sich abrupt wieder zu Sophie um. «Aber dies ist das echte Leben, Kind. Du musst einsehen, dass ich dich unmöglich länger im Dienst behalten kann.»

Sophie erstarrte. «Sie … Sie wollen mich entlassen?»

Sie war beinahe zu fassungslos, um verärgert zu sein. Nach all den Jahren, die sie im Haus der Familie Seydlitz gearbeitet hatte – das? Dann meldete sich urplötzlich die Angst. Was sollte sie tun, wenn sie ihre Stelle verlor? Sie hatte niemanden mehr, zu dem sie hätte gehen können. Ihre Mutter war gestorben, als Sophie noch klein war. Ihren Vater, einen wohlhabenden Herrn aus Potsdam, hatte sie nie gekannt. Er hatte Sophies Mutter geschwängert, mehr oder minder regelmäßig seine Alimente bezahlt und seine Vaterpflichten insofern erfüllt, als er der außerehelichen Tochter eine Dienststelle im Haus von Seydlitz vermittelte, sobald Sophie alt genug war. Zuvor hatte man sie von einem Verwandten zum nächsten gereicht; zuletzt hatte sie bei einer Tante gelebt, die seit dem Tag, an dem sie die Nichte aufgenommen hatte, nur daran dachte, wie sie den zusätzlichen Gast am Tisch am schnellsten wieder loswürde.

Sie konnte nirgendwohin.

Sophie hatte mit Konsequenzen gerechnet, sobald die Sache ruchbar würde. Natürlich hatte sie das, sie war ja nicht dumm. Ewig ließ sich ihr Verhältnis mit Philipp nicht verheimlichen, zumal Philipp sich immer weniger Mühe gab, seine Verliebtheit zu verbergen. Er war achtzehn, so alt wie Sophie, aber manchmal fühlte sie sich um zehn Jahre älter als er.

Philipp war ein rührend anständiger und freundlicher Kerl, das genaue Gegenteil seiner kühlen Mutter und seines herrischen Vaters. Wäre das anders gewesen, hätte sie doch nie …

Dass man sie und Philipp trennen würde, hatte sie kommen sehen. Philipp würde im Sommer sein Abitur machen und wollte ein Studium beginnen; man brauchte ihn nur an eine Universität weit weg von Berlin zu schicken. Die Familie von Seydlitz besaß außerdem ein Gut in Pommern; sie konnten Sophie dort für den Rest ihrer Tage Mist schaufeln und Gänse rupfen lassen.

Seit vier Jahren, seitdem ihre Tante sie, versehen mit einem Brief ihres unbekannten Vaters und einem kleinen Bündel Kleider, an der Hintertür des Hauses am Monbijouplatz abgegeben hatte, hatte Sophie hier gelebt. Trotz der harten Arbeit und der oft ungerechten Behandlung hatte sie sich wohlgefühlt, auch weil sie sich gut verstand mit der Köchin, die sie zu Beginn regelrecht bemuttert hatte. In gewisser Weise waren die von Seydlitz die erste Familie, der sie sich zugehörig gefühlt hatte. Sie hatte zum ersten Mal ihren Platz gehabt, einen dunklen, unbeachteten Platz in einer Kammer unter dem Dach. Am untersten Ende und äußersten Rand des Seydlitz’schen Haushalts. Aber eben doch Sophies eigenen Platz.

«Es bleibt mir nichts anderes übrig», schnitt Frau von Seydlitz’ Stimme in Sophies Gedanken. «Du kannst es uns kaum vorwerfen, diese Strafe hast du dir durch deine eigene Unverfrorenheit zugezogen. Doch ich will dir deine Jugend zugutehalten. Da wir mit deiner Arbeit im Allgemeinen zufrieden waren, will ich dich sogar an eine Familie in Köln vermitteln, wenn du dein Unrecht einsiehst und dich kooperativ zeigst.»

«Was soll ich tun?»

«Ich werde dir einen Abschiedsbrief an meinen Sohn diktieren, in dem du ihm gestehst, dass du seit Langem einen anderen Liebhaber hast, einen fahrenden Handwerksburschen oder so etwas, mit dem du nun durchgebrannt bist. Anschließend wirst du aus dem Haus verschwinden, bevor Philipp mit seinem Vater aus Schlesien zurückkehrt. Philipp ist leider so zart und empfindsam, dass er sich sonst monatelang über dich nichtswürdiges Geschöpf grämen könnte; auf diese Weise wird ihm sein gekränkter Stolz hoffentlich über den Kummer hinweghelfen. Abgesehen davon sollte es ihm eine Lehre sein, zweimal darüber nachzudenken, an wen er seine Gefühle verschwendet. Also setz dich dort hinten an den Sekretär und nimm dir Papier und Tinte.»

«Nein!»

Das Wort durchschnitt so unerwartet Frau von Seydlitz’ Anweisungen, dass diese regelrecht verdutzt aussah, als sie sich zu Sophie umdrehte.

«Was war das?»

«Nein», wiederholte Sophie fest. Ihr Ärger kochte über, die Scheinheiligkeit dieser Auseinandersetzung war unerträglich. «Ich werde Philipp nicht belügen, Frau von Seydlitz. Auch wenn mir immer klar war, dass er und ich nie zusammenleben können – er bedeutet mir viel.»

Philipp. Warmer Atem in der Schwärze ihrer winzigen Kammer, Hände auf ihren Brüsten, ungeschickte Turnübungen auf Sophies schmalem Bett. Das verräterische Knarren der Dienstbotentreppe, das Tappen nackter Fußsohlen auf den blanken Dielen, wenn er sich nachts zu ihr stahl. Küsse, geflüsterte Koseworte, sein dünnes blondes Haar unter Sophies Fingern, weich wie der Flaum eines Kükens.

«Ich werde nie so tun, als sei er mir gleichgültig gewesen. Als hätte ich ihn ausnutzen wollen. Ich habe ihn gern, und ich bin niemand, der so handelt! Das können Sie nicht von mir verlangen.»

«Ich kann nicht?» Frau von Seydlitz lachte spitz. «Für wen hältst du dich denn? Du wirst den Befehlen gehorchen, die dir gegeben werden!»

Sophie zwang sich zur Ruhe. «Mit Verlaub, gnädige Frau, ich bitte Sie dringend darum, mir zu gestatten, in dieser Angelegenheit auch ein Wort mit dem gnädigen Herrn zu sprechen, bevor Sie eine Entscheidung treffen.»

«Was für eine Unverschämtheit!» Frau von Seydlitz schoss auf Sophie zu. Einen Augenblick lang dachte Sophie, sie würde sie ohrfeigen. «Meinen Mann gegen mich aufzubieten! Lass dir das gesagt sein, du impertinente Kreatur: In diesem Haushalt entscheide ich allein über Einstellungen und Entlassungen.»

«Das weiß ich, gnädige Frau. Aber Ihr Gemahl … Er kann Ihnen vielleicht Dinge sagen, die Sie nicht wissen und die …»

«Das wird ja immer schöner! Nun deutet man auch noch an, man habe Geheimnisse mit meinem Ehemann. Vor mir! Es ist in der Tat höchste Zeit, dass du dieses Haus verlässt. Offenbar ist dir die Tatsache, dass mein Sohn dir in seiner Naivität ein paar Aufmerksamkeiten geschenkt hat, so zu Kopf gestiegen, dass du ohnehin in keinem Haushalt mehr zu verwenden bist.»

«Ihr Mann hat mir befohlen, mit Philipp zu schlafen!», schrie Sophie.

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen. Wütend wischte sie sie weg. Sie sah die ganze demütigende Begegnung noch immer vor sich, den langen, taxierenden Blick, den Oberstleutnant von Seydlitz an Sophie hatte entlanggleiten lassen, und das Schmunzeln, mit dem er sich dabei den Schnurrbart gestreichelt hatte. Sein Sohn stehe kurz vor dem Erwachsenwerden, hatte er erklärt, es sei an der Zeit, dass Philipp «gewisse Erfahrungen» mache.

«Zu meinem Unmut ist er ein wenig schüchtern und verklemmt, was Frauen angeht. Du wirst ihm also helfen und ihn aus der Reserve locken müssen.»

«Ich, gnädiger Herr?»

«Du bist im richtigen Alter, und da du bei uns im Haushalt lebst, wissen wir über deinen Lebenswandel Bescheid. Bei dir besteht keine Gefahr, dass Philipp sich eine Krankheit einfängt. Was ihm fast mit Sicherheit passieren wird, sollte er seinen fleischlichen Gelüsten in einem Bordell nachgehen.» Das Schmunzeln wurde zum Grinsen, unzureichend versteckt unter dem buschigen Schnurrbart. «Außerdem sieht er dich nicht ungern. Kein Wunder.» Der Oberstleutnant trat einen Schritt näher an Sophie heran, eine Hand legte sich auf ihr Hinterteil und fuhr prüfend darüber. «Du hast dich ganz ordentlich herausgemacht. – Also, dass mir das demnächst erledigt ist! Es wird Zeit, dass jemand dem Jungen ein bisschen mehr Feuer einbläst. Vielleicht kommt er durch dich ja auf den Geschmack.»

Was Sophie in jenem Moment dachte, hätte sie selbst nicht zu sagen gewusst. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie nach dem Gespräch aus dem Zimmer gekommen war, nur dass sie etwas später verstört bei Frau Brunner, der Köchin, am Tisch vor dem Herd saß, an dem das Gemüse geschnitten wurde. Sie musste Frau Brunner wohl zumindest angedeutet haben, was Herr von Seydlitz verlangte, denn die Köchin hatte ihr tröstend die Schulter getätschelt.

«Musste ja so kommen, früher oder später. Gehört dazu, Kind. Kannst von Glück sagen, dass es erst jetzt ist, wo du schon achtzehn bist. Es gibt Herrschaften, die warten nicht so lang.»

Befehlsgemäß hatte Sophie Philipp also verführt. Oder wie man das nennen wollte. Sophies eigene Erfahrungen mit Männern beschränkten sich darauf, dass hin und wieder ein betrunkener Gast auf einer Abendgesellschaft versucht hatte, sie in eine leere Kammer zu zerren, woraufhin stets jemand anders den bezechten Herrn diskret zum Gehen aufgefordert hatte. Dies war schließlich ein anständiges Haus. Sophie wusste daher kaum besser als Philipp, was sie tun sollte, und eine lange Zeit gab es nur Blicke oder ein verlegenes Erröten zwischen ihnen, ehe sie beide darangingen, es herauszufinden.

Dass Philipp sich dabei ernsthaft in Sophie verliebte, hatte sicher nicht zum Plan von Herrn von Seydlitz gehört. Aber es änderte nichts daran, dass es sein Plan gewesen war. Sicher würde Frau von Seydlitz, wenn sie mit ihrem Mann sprach …

Sophie dachte den Gedanken nicht zu Ende, nachdem sie einen Blick in das Gesicht ihrer Herrin geworfen hatte. Frau von Seydlitz’ ausdruckslose Miene, der höhnisch-mitleidige Blick, verbunden mit dem winzigen spöttischen Zucken um ihre Mundwinkel, konnte nur eines bedeuten.

«Sie haben es gewusst», sagte Sophie. «Sie haben gewusst, was Ihr Mann mir befohlen hatte. Sie haben die ganze Zeit zugesehen, und jetzt, jetzt echauffieren Sie sich darüber, dass ich Philipp ‹vom Pfad der Tugend› abgebracht hätte …»

«Du aufgeblasenes kleines Geschöpf», sagte Frau von Seydlitz kalt. «Glaubst du wirklich, mein Sohn wird noch einen Gedanken an dich verschwenden, wenn du erst aus dem Haus bist? Du warst eine Notwendigkeit. Ein Mittel zum Zweck. Du hast deinen Zweck erfüllt.» Sie wandte sich ab und trat ans Fenster. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme gelangweilt. «Da du dich weigerst, den Brief zu schreiben, den du schreiben sollst, sehe ich mich leider außerstande, dir ein Zeugnis auszustellen. Zum Glück. Es hätte mir Gewissensbisse bereitet, ein schamloses Geschöpf wie dich dem Frankfurter Freund meines Gemahls aufzuhalsen. Ich habe Anweisung gegeben, dir den Lohn für diese Woche noch auszuzahlen. Geh sofort in deine Kammer und pack deine Sachen. In einer Stunde steige ich persönlich hinauf und sehe nach. Sollte die Kammer bis dahin nicht leer sein, lasse ich dich von einem Schutzmann auf die Straße setzen.»

«Aber gnädige …»

«Habe ich mich unklar ausgedrückt?»

Sophie wankte hinaus.

Ohne Verwandte, dachte sie. Ohne Freunde, ohne Stellung. Und nun noch ohne Papiere.

Eine Stunde später stand sie, ihr kleines Köfferchen in der Hand, in der Küche, um sich von Frau Brunner zu verabschieden. Es war fast unerträglich heiß, Backofen und Herd glühten. In den Töpfen und Tiegeln brodelte das Abendessen. Sophie brauchte nichts zu sagen, sie konnte Frau Brunner ansehen, dass diese es bereits wusste. Sie schnitt Zwiebeln, halb verborgen hinter Dampfwolken.

«Wissen Sie, wo man ein billiges Zimmer für die Nacht finden kann, Frau Brunner?»

Die Köchin sah auf, ihre Augen waren gerötet. «An der Königsmauer, dummes Ding.» Sophie erschrak über die Härte in der Stimme der Köchin. «Da wirst du früher oder später ohnehin landen.»

Sophie schluckte. «Danke, Frau Brunner. Für alles.»

Als keine Antwort kam, drehte sie sich rasch um und trug ihren Koffer zur Hintertür hinaus. Bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte sie noch Frau Brunners Murmeln.

«Geh mit Gott, Kind.»

Kapitel 2Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin

18.01.1858

Am Abend desselben Tages stand Doktor Friedrich Wilhelm Felix von Bärensprung am Rednerpult, um seinen sorgfältig vorbereiteten Vortrag über die sekundären Erscheinungsformen der Syphilis zu halten. Die «Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin», der er seit Jahren angehörte, pflegte sich bei Terminen im Winter etwas früher als sonst zu treffen, weswegen sich manche Mitglieder nicht rechtzeitig von ihren beruflichen Pflichten freimachen konnten und den Versammlungen fernblieben. Bärensprungs Vortrag heute war jedoch hervorragend besucht, wie er zufrieden registrierte. An dem langen Tisch in der Mitte des Saals sah er die wichtigsten Köpfe der Berliner Ärzteschaft, nebeneinander aufgereiht wie auf einer Perlenschnur.

Hautkrankheiten – und dazu zählte man die meisten Geschlechtskrankheiten, da sie sich vor allem in Ausschlag und Ekzemen äußerten – waren seit Langem Felix von Bärensprungs bevorzugtes Forschungsgebiet. Vielleicht weniger im Fokus als andere Teilgebiete der Medizin, boten sie einem engagierten Mediziner gerade deshalb ein weites Feld, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Genau darum ging es den Mitgliedern der Gesellschaft, in der sich vor allem junge, engagierte Ärzte von der Berliner Universität und der Charité zusammengeschlossen hatten: Auch die Medizin, forderten sie, müsse sich endlich fortbewegen von ihrem oft noch aus dem Mittelalter tradierten Fundament und sich auf dieselbe wissenschaftliche Basis stellen wie die Physiologie oder die Biologie. Erkenntnisgewinn durch exakte Definition, durch beliebig wiederhol- und verifizierbare Versuchsreihen und systematische Beobachtung, lautete die Maxime.

Nach dieser Maxime hatte Doktor Bärensprung auch seinen heutigen Vortrag abgefasst. Dass er ein großes Publikum anziehen würde, hätte ihn nicht überraschen sollen. War die Syphilis nicht seit Jahrhunderten eine wahre Geißel der Menschheit? Die Krankheit war tückisch und trug ebenso viele Namen, wie sie vielfältige Symptome hervorrief: Syphilis, Lues, Chancre, Schanker, Morbus Gallum, Franzosenkrankheit … Vermutlich war die Seuche eine gottgegebene Strafe, dachte Bärensprung bitter, jede Sünde trug eben den Keim der Bestrafung in sich. Und in den jetzigen traurigen Zeiten, in denen man Liberalismus für eine vertretbare Ideologie und Auflehnung gegen die Obrigkeit für eine Tugend hielt, breiteten sich Zügellosigkeit und Unmoral, und mit ihr die Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten, in der gesamten Hauptstadt aus.

Manche behaupteten, jeder dritte Mann in Berlin habe in seinem Leben einmal an der Lues gelitten. Es hätte Felix von Bärensprung nicht gewundert. Seit er im Oktober 1853, nach der Erkrankung des bisherigen Chefarztes Doktor Simon, zunächst kommissarisch die Leitung der Syphilis-Abteilung in der Charité übernommen hatte, hatte er jedes Jahr Hunderte von Fällen behandelt. Der weitaus größte Teil seiner Abteilung, zweihundert Betten, war allein für Geschlechtskranke reserviert.

Wenige Monate nachdem Bärensprung an die Charité gekommen war, stand fest, dass Doktor Simon nie mehr in der Lage sein würde, seinen Posten weiter auszufüllen. Über die Art seiner Erkrankung sprach man sich ungern deutlich aus. Nur wenige wagten es, die fatale Diagnose «Progressive Paralyse» in den Mund zu nehmen; der Volksmund sagte auch «Gehirnerweichung» dazu. Doktor von Bärensprung hätte den Leuten sagen können, dass es sich in Wahrheit um einen rapiden Abbau von Nervengewebe in Gehirn und Rückenmark handelte. Über die Gründe dafür rätselte man noch, einige Neunmalkluge wollten selbst diese Krankheit auf eine mangelhaft ausgeheilte Syphilis zurückführen.

Bärensprung schäumte bei dem bloßen Gedanken. Wollte man das Andenken an Doktor Simon, der letztlich in geistiger Umnachtung in einer Berliner Nervenheilanstalt verstorben war, kein Jahr nach dessen Ableben bereits in den Schmutz treten? Falls Doktor Simon, ein durch und durch redlicher Mensch, tatsächlich an Syphilis gelitten haben sollte, so hatte er sie sich zweifellos im Zuge seiner Arbeit und seiner Studien zugezogen. Es war ein Risiko, dem sie als Ärzte allesamt unterlagen. Man musste dafür nicht einmal so weit gehen wie der Engländer Hunter, der sich selbst mit Gonorrhö infizierte, um seinen Standpunkt zu beweisen.

Felix von Bärensprung hatte die Direktorenstelle an der Charité seit 1854 fest übernommen, obwohl ihm der Abschied aus Halle nicht ganz leichtgefallen war. Doch Berlin war die Haupt- und Residenzstadt – vor allem war sie seine Heimatstadt. Hier war sein Vater in der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen Oberbürgermeister gewesen, hier war er, der Sohn, geschätzter und willkommener Gast in den gehobenen Kreisen.

An der Charité hatte Doktor Bärensprung die ihm unterstehende Abteilung im Griff, so gut es ihm die Patientenklientel, mit der er es zu tun hatte, erlaubte. Huren, Tagelöhner und Handwerksburschen benötigten eine straffe Führung und leider häufig eine starke Hand, wollte man die Disziplin, mit der die Behandlung durchgeführt wurde, nicht gefährden. Angenehmer war der Umgang mit den Patienten in seiner Privatpraxis, als leitender Arzt der Charité konnte er sich vornehme und wohlhabende Patienten aussuchen. Doch seine wahre Leidenschaft war die Forschung, weshalb er die Möglichkeit genoss, bei Vorträgen wie dem heutigen mit neuen Erkenntnissen zu glänzen.

Bärensprung schob seine Papiere ineinander, als er zum Ende seines Vortrags kam, das Resümee brauchte er nicht abzulesen. «Und so komme ich, was die Erscheinungsformen der Krankheit und ihre Behandlungsmöglichkeiten angeht, zu folgenden Schlussfolgerungen: Erstens können wir als endgültig erwiesen ansehen, dass der bedauernswerte Kollege John Hunter sich irrte, als er meinte, Gonorrhö vulgo Tripper und die Syphilis vulgo Lues seien auf dasselbe Ansteckungsgift zurückzuführen. Dies haben die Versuche der französischen Ärzte, von denen ich nur Doktor Ricord erwähnen will, eindrucksvoll gezeigt, so wenig Vertrauen ich im Allgemeinen in Studien dieser Schule setze. Denn, das ist mein zweiter Punkt, auch Ricords Ansicht, nach dem die Lues in ihrem zweiten Stadium nicht mehr ansteckend sei, mag wahrscheinlich sein, und ich bin geneigt, sie zu teilen, doch seine Beweislage ist zu dünn. Hier sind entschieden weitere Forschungen nötig. Drittens bezweifle ich grundsätzlich die Existenz eines konstitutionellen, also chronischen Stadiums der Syphilis. Das erste und zweite Stadium der Krankheit, mit einzelnen und mehrfachen Geschwüren, sind unumstritten. Jene seltenen Fälle jedoch, in denen die Krankheit sich im Körper nach innen wendet und dort jene gummiartigen Knötchen bildet, die die Herren Pathologen so gerne am Mikroskop untersuchen, sind nicht etwa ein eigenes drittes Krankheitsstadium, sondern eine Ausnahmeerscheinung des zweiten Stadiums. Wenn die Syphilis ordentlich ausheilt, ist sie in ihrer Natur den Masern vergleichbar. Wenn es dem Körper gelingt, sich von ihrem Gift vollständig durch Pusteln und Geschwüre zu reinigen, so wird dieser, wie auch bei den Masern, nach dem einmaligen überstandenen Befall eine natürliche Immunität erlangen.»

Bärensprung blickte auf und deutete durch ein Kopfneigen eine Verbeugung an. Es gab höflichen Applaus, einige Herren trommelten sogar mit der Hand auf der Tischplatte wie Studenten in den Hörsälen. Aber Bärensprung merkte auch, dass mehrere Zuhörer nicht zufrieden waren. An erster Stelle natürlich dieser unerträgliche Mensch in der vordersten Reihe, der sich vergeblich durch Nickelbrille und Vollbart den Anschein von Seriosität zu geben versuchte.

Davon ließ Doktor von Bärensprung sich nicht täuschen. Seit 1848, seitdem Rudolf Virchow während des Aufruhrs der Bürger Berlins gegen die Obrigkeit beim Bau von Barrikaden mitgeholfen hatte, wusste jeder, woran man mit diesem Störenfried und Unruhestifter war. Ja, der Mensch schien in manchen Kreisen sogar Respekt dafür zu genießen.

Dabei hätte man ihm nie erlauben dürfen zurückzukehren, nachdem ihn Preußen 1848 erfolgreich nach Würzburg losgeworden war. Doch statt ihn kaltzustellen, hatte die Verwaltung der Charité geradezu Kopfstände gemacht, um ihn nach Berlin zurückzuholen, und ihm eine eigene Professorenstelle eingerichtet: Virchow war nun «Professor für anatomische Pathologie». Außerdem kümmerte er sich um Privatpatienten und dilettierte zusätzlich auf beinahe jedem medizinischen Fachgebiet, stets mit der Begründung, seine unter dem Mikroskop gemachten Erkenntnisse hätten ihm einen neuen Blick auf das Problem eröffnet.

Für Bärensprung zeigte sich daran, was in der modernen Medizin falschlief. Wie konnten sie, die behandelnden Ärzte, die Nachfolger von Hippokrates, zulassen, dass ihnen die Leichenbeschauer plötzlich die Antworten vorgaben? Natürlich waren Autopsie und Mikroskopie notwendige und nützliche Methoden des Erkenntnisgewinns. Niemand bestritt das, man lebte ja nicht mehr zur Zeit des großen Johann Dieffenbach, des bedeutenden Mediziners, der diese Methoden gegen viele Widerstände eingeführt und sich sogar an Transplantationen und Gesichtschirurgie gewagt hatte. Doch ging in all den Diskussionen über Gewebe, Granulome, Nerven- und Muskelstränge nicht die Betrachtung des ganzen Menschen, seiner inneren Disposition, seiner Grundbeschaffenheit, vollkommen verloren?

Der Applaus verebbte, sobald Doktor von Bärensprung seinen Platz am Tisch wieder eingenommen hatte.

Ausgerechnet Virchow saß ihm jetzt schräg gegenüber. Der jedoch zunächst nichts sagte, sondern sich halblaut mit seinem Tischnachbarn, seinem Schwiegervater Carl Wilhelm Mayer, einem bekannten Geburtshelfer in Berlin, unterhielt. Statt Virchow sprach ihn Doktor Ludwig Traube, Assistenzarzt auf der Station für Innere Medizin, als Erster auf den Vortrag an.

«Das waren weitgehende und mutige Ausführungen, Herr Kollege. Sie widersprechen da einigen Autoritäten auf Ihrem Fachgebiet.»

«Ich habe mich sogar zurückgehalten.» Bärensprung bemerkte selbst, wie herablassend sein Ton klang. Sollte er ruhig. Traube als bloßer Assistent, noch dazu jüdischer Herkunft, der seine Stelle nur aufgrund von Protektion erhalten haben konnte, hätte durchaus warten können, bis er vom Ranghöheren angesprochen wurde, statt sich mit ihm als Kollege zu unterhalten. «Es gibt noch einige weitere Grundsätze der bisherigen Forschung, die ich bezweifle und an denen ich zu rütteln gedenke.»

«Ich habe davon gehört.» Das war Professor Bernhard Langenbeck, der große Chirurg, in seinem Metier mindestens eine so anerkannte Koryphäe wie Virchow in seinem. Allerdings empfand Bärensprung für Langenbeck echten Respekt. Sicher, Chirurgen waren nur die Handwerker unter den Ärzten, und wie bei allen Handwerkern gehörte zu ihrem Tagespensum eine gehörige Menge Pfusch. Doch Langenbeck hatte Großartiges geleistet. Er hatte die Chirurgie in Preußen in der Nachfolge Dieffenbachs durch mutige Operationstechniken vorwärtsgebracht. Und er hatte sich vom Vorbild der französischen Lehre gelöst, vor der Chirurgen viel zu lang in Ehrfurcht erstarrt waren. Zudem war er ein königstreuer Patriot. Während Virchow auf den Barrikaden der Revolutionäre herumkletterte und aufrührerische Schriften verfasste, hatte Langenbeck am Krieg in Schleswig und Holstein teilgenommen und in den Feldlazaretten die verwundeten Soldaten versorgt.

Man sah es ihm an. Langenbeck war nicht sehr groß, aber sehnig und kräftig, und trug fast nur Anzüge, deren Schnitt an Uniformen erinnerten. Selbst sein Backenbart hatte etwas Militärisches. Zweifellos war er stolz auf seine Kriegserfahrungen, und ebenso zweifellos hätte man aus ihm, wäre er nicht ein großer Chirurg geworden, auch einen exzellenten Offizier machen können.

Es überstieg Bärensprungs Fantasie, wie Langenbeck es aushielt, mit einem Rudolf Virchow am selben Tisch zu sitzen. Doch die beiden schienen tatsächlich, solange es nicht um Politik ging, miteinander auszukommen.

«Ich habe davon gehört», wiederholte sich Langenbeck jetzt und nickte Bärensprung zu. «Sie haben sich entschlossen, die Merkurialtherapie zu beenden. Das ist in der Tat ein großer Schritt.»

«Wirklich?» Offenbar hielt Virchow es nicht länger aus, er musste sich einfach einmischen. Umständlich rückte er seine Nickelbrille auf der Nase zurecht, um Bärensprung besser ins Auge fassen zu können. «Die Behandlung der Syphilis mit Quecksilber gilt noch immer als vielversprechendste Therapieform, dachte ich. Auch wenn ich natürlich weiß, dass man nach Alternativen sucht. Wie zum Beispiel Auzias-Turenne in Paris …»

«Ich halte nach bisherigem Eindruck gar nichts von seinem Versuch einer Impfung», unterbrach ihn Bärensprung eilig. «Es war eine logische Schlussfolgerung, eine Impfung ähnlich der gegen die Pocken zu erproben. Doch offenbar gestaltet sich das bei der Lues ungleich schwieriger. Mir erscheint der Versuch für die Betroffenen unzumutbar.»

«Aber die Quecksilberbehandlung halten Sie ebenfalls für ungeeignet?» Das war wieder Traube, vielleicht in dem Versuch, eine unangenehme Diskussion bereits im Keim zu ersticken. «Durch vermehrtes Schwitzen und verstärkten Speichelfluss den Körper dazu zu bringen, das Gift der Lues abzusondern, ist freilich für den Patienten ein unangenehmer Prozess.»

Das war vornehm ausgedrückt, dachte Bärensprung. In älteren Krankenhäusern glichen die Abteilungen der syphilitisch Erkrankten einem Vorposten der Hölle, Fegefeuer inklusive. Der Körper sollte das Gift ausscheiden, deshalb sollte er schwitzen und spucken. Also hielt man die Öfen ganztägig am Brennen und die Temperatur im Zimmer möglichst hoch, während die Kranken gleichzeitig quecksilberhaltige Arzneien schluckten. Diese Arzneien sollten die Speichelbildung anregen, führten jedoch meist zu Erbrechen und Durchfall. Selbst die äußerliche Anwendung des giftigen Quecksilbers, in der vor allem in Wien bevorzugten grauen Salbe, war gefährlich.

In der Charité hatte man unter Doktor Simon dieses traditionelle Verfahren befolgt. Als Felix von Bärensprung zum ersten Mal die Syphilis-Station betrat, schritt er hinein in ein Inferno aus Hitze und Gestank, in eine Luft, aus der man Quaderblöcke hätte herausmeißeln können, so dick war sie. Alle Fenster waren fest geschlossen, die Wärterin am Eingang fauchte wütend «Tür zu!», bevor ihr klar wurde, dass sie es mit dem neuen Herrn der Station zu tun hatte. Neben jedem Krankenbett stand ein Eimer, in den die erschöpften Patienten hineinspien, sofern sie den Kopf weit genug heben konnten. Diejenigen, die von der tagelangen Tortur bereits zu ausgemergelt waren, sabberten Kissen und Bettbezüge voll.

«Ich halte die Gabe von Quecksilber in der Tat nicht für zielführend», hielt Doktor Bärensprung fest. «Dieses Verfahren wurde im Mittelalter angewendet, doch weder wurde die Verbreitung der Krankheit eingedämmt noch ihr Verlauf gelindert oder die Sterblichkeit verringert. Im Gegenteil, die Merkurisierung halte ich für verderblicher als die Krankheit selbst.»

«Niemand bestreitet die grundsätzliche Gefährlichkeit», sagte Traube. «Doch welche Alternativen haben wir, solange wir uns über die Ursache der Krankheit nicht sicher sind?»

«Die offensichtliche», sagte Bärensprung. «Wir sollten die Krankheit ihren natürlichen Verlauf nehmen lassen. Der befallene Körper sondert das syphilitische Gift nicht primär durch Saliva und Schweiß ab, sondern durch ebenjene Pusteln und Geschwüre, gegen die wir in der traditionellen Behandlung das Quecksilber anwenden. Und was ist letztlich das Resultat davon? Die Patienten leiden an Durchfall und Auszehrung, das Quecksilber lässt ihnen Haare und Zähne ausfallen, Geschwüre werden brandig und greifen weiter um sich.» Er lehnte sich vor. «Wie viele Patienten, die in der Charité an Syphilis starben, starben in Wahrheit an den Leiden, die das Quecksilber ihnen auferlegte? Die Syphilis durchläuft zwei getrennte Stadien. Im primären Stadium zeigt sich ein einzelnes Geschwür, die Lymphknoten schwellen an, und die Glieder schmerzen. Nach Abheilen des primären Geschwürs bricht die Krankheit nach einiger Zeit in voller Stärke aus, mit Hautausschlägen am gesamten Körper, Fieberschüben und geschwollenen, indurierten – also verhärteten – Lymphknoten. Lässt man diese Phase ihren Gang gehen, behandelt die Geschwüre mit herkömmlichen Methoden und unterstützt die Heilung durch die zu Unrecht vergessenen Holztränke, eine strenge Diät sowie körperliche und geistige Beschäftigung – dann kann man einen guten Teil der Patienten völlig ohne Quecksilber nach Ablauf des zweiten Stadiums als geheilt entlassen.»

«Oh sicher.» Rudolf Virchow hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme verschränkt. «Bis auf die, die daran gestorben sind.»

Kein anderer in der Runde hätte eine derart hämische Bemerkung über einen Kollegen gemacht, dachte Bärensprung, während er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Professor oder nicht, dieser Mensch war und blieb ein Raufbold, ein Subjekt aus den niedrigsten Kreisen bar jeglicher Manieren.

«Ich bitte Sie, Professor», sagte Doktor Langenbeck prompt, aber selbst in seinem Tadel lag ein Schmunzeln. Für Außenstehende hatten Virchows sarkastische Kommentare zweifellos etwas Unterhaltsames. «Bleiben wir doch sachlich.»

«Die Sterbezahlen in der Abteilung für Haut- und Geschlechtskranke sind seit Jahren hoch. Ich sehe nicht, was an meiner Bemerkung unsachlich war.» Virchow musterte ihn; Bärensprung hätte den Blick nicht einmal unfreundlich nennen können. «Ihren Eifer, das Leiden Ihrer Patienten zu lindern, finde ich mehr als nur löblich, Herr Kollege. Allerdings begreife ich nicht, was Sie stattdessen als Behandlungsmethode anzubieten haben. Die Quecksilbertherapie mag Schattenseiten aufweisen, sogar gewaltige, doch scheinen einige Ihrer Vorgänger von ihrer Wirksamkeit überzeugt gewesen zu sein.»

«Ich werde Ihnen zeigen, dass ich die Todesrate in meiner Abteilung allein durch das Ende der Merkurisierung bereits um die Hälfte reduzieren kann!», entfuhr es Bärensprung. Er ärgerte sich über sich selbst, eine solche Aussage war voreilig und unprofessionell, vor allem aber gewagt. Hastig sprach er weiter, um von seinem Lapsus abzulenken. «Sie werfen mir vor, ich würde an den Therapien meiner Vorgänger zweifeln. Nun, das tue ich tatsächlich. Verlängert die Quecksilbertherapie das Leiden der Patienten nur, ohne zur Heilung beizutragen, so gehört sie abgeschafft.»

«Sicher, sicher. Doch Sie können nicht leugnen, dass die Syphilis, wenn man sie nicht mit Quecksilber behandelt, ebenfalls einen tödlichen Verlauf nehmen kann. Und es gar zu häufig tut.»

«Was zweifellos nicht mit dem Wesen der Krankheit zusammenhängt, denn sonst müsste die Syphilis stets einen tödlichen Verlauf nehmen. Die überwiegende Zahl der Fälle jedoch bleibt harmlos.»

«Herr Kollege, das ist doch kein Argument.» Virchow strich sich über den Bart. «Keine potenziell tödliche Krankheit führt ausnahmslos zum Tod. Auch die Pocken, ja selbst die Beulenpest haben viele Erkrankte überstanden. Doch was hilft das denen, die daran sterben?»

«Deren Tod war, wie ich bereits anmerkte, auf eine bereits bestehende Störung im synkratischen System des Körpers zurückzuführen, deretwegen die Syphilis nicht korrekt ausheilen konnte.»

Rudolf Virchow verzog halb schmerzhaft, halb spöttisch das Gesicht. «Ein gestörtes synkratisches System? Sie meinen eine allgemein geschwächte Konstitution des Patienten, nicht wahr? Ich wünschte, Sie würden nicht immer diese antiquierten Begriffe verwenden, lieber Doktor von Bärensprung. Wie sprechen doch nicht mehr ernsthaft über die Lehre der Temperamente, nicht wahr?» Er rückte näher an den Tisch und legte die Unterarme auf die Tischplatte. «Es desavouiert außerdem Ihre ganze ambitionierte Forschung. Vor allem aber fürchte ich, Sie gehen von einer falschen Voraussetzung aus. Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Untersuchungen noch einmal einer Prüfung zu unterziehen. Ich denke nämlich nicht, dass Sie mit Ihrer Einschätzung recht haben, die Syphilis heile im Allgemeinen nach dem zweiten Stadium aus.»

«Hört, hört.» Doktor Langenbeck setzte sich genüsslich zurecht, um beide Kontrahenten gleichzeitig im Auge behalten zu können. Ganz offensichtlich freute er sich über die Konfrontation.

«Und wie, Herr Professor», knurrte Bärensprung, «kommen Sie als fachfremder Pathologe zu dieser gegenteiligen Einschätzung?»

«Aufgrund jener Befunde vom Seziertisch, von denen Sie so wenig zu halten scheinen. Ich finde in meinem Arbeitsalltag in Dutzenden von Leichnamen üblicherweise an den Knochen, aber auch an Blutgefäßen jene charakteristischen gumminösen Knoten, denen Sie zu wenig Bedeutung beimessen. Dabei halte ich sie für beinahe das wichtigste Kennzeichen der Krankheit. Es sind diese Gummen, aus denen sich die Geschwüre der Syphilis entwickeln. Ihr Vorhandensein im Körper beweist, dass die Krankheit, auch wenn die äußeren Erscheinungen des zweiten Stadiums abgeklungen sind, mitnichten aus dem Körper verschwindet. Sie ist mit all ihren Erregern – oder, wie Sie sagen, ihrem Gift – nach wie vor im Körper des Befallenen präsent. Ich halte es zumindest für wahrscheinlich, dass diese Erreger dafür verantwortlich sind, wenn die Syphilis nach dem zweiten Stadium plötzlich mit neuem Fieber und neuen Exanthemen zurückkehrt. Es sind Brandherde im Körper, die die Krankheit festhalten und irgendwann zur konstitutionellen Syphilis verfestigen, zu jenem tertiären Stadium also, das Sie für eine Ausnahme halten.» Virchow hob einen Finger, als ermahne er ein unaufmerksames Kind. «Außerdem hielte ich es für lohnenswert zu prüfen, inwieweit jene eigentümlichen Lähmungserscheinungen, die manche ehemalige Syphilis-Patienten nach Jahren befallen, mit dem Auftreten dieser Gummen in Verbindung stehen. Die Theorie, nach der die sogenannte Gehirnerweichung damit zusammenhängt, sollte man auch nicht außer Acht lassen. Ich habe deutliche Indizien dafür gefunden. In den letzten Monaten hatte ich mehrere ehemalige Patienten der Irrenabteilung von Direktor Ideler unter dem Messer. Einige von ihnen waren förmlich durchsetzt mit diesen Anzeichen für eine frühere Syphilis-Erkrankung. Als ich die Krankenakten einsah, stellte ich fest, dass etliche von ihnen wegen ihrer Syphilis bei uns in der Charité in Behandlung gewesen waren. Eine Frau war sogar bereits bei Ihnen gewesen, Doktor Bärensprung.»

Bärensprung fuhr auf. «Sie haben die Krankenjournale meiner Abteilung eingesehen? Was unterstehen Sie sich? Spionieren Sie mir nach?»

«Aber, Herr Kollege», rief Traube in den ausbrechenden Tumult.

Virchow winkte ab. «Ich bitte Sie, lieber Bärensprung, davon kann doch …»

«Für Sie immer noch Doktor von Bärensprung!»

«Herr von Bärensprung!», rief nun auch Langenbeck, der ebenfalls aufgestanden war. «Bitte mäßigen Sie sich.» Wenn er wollte, konnte der Chirurg jenen Offizier herauskehren, der an ihm verloren gegangen war. Noch immer erzürnt, aber gehorsam ließ Bärensprung sich zurück auf seinen Platz sinken.

«Natürlich will ich Ihnen nicht hinterherspionieren», beteuerte Virchow. «Gleichwohl versuche ich oft, die Krankheitsgeschichte eines Patienten nachzuverfolgen. Auch will ich Ihnen nicht in Ihre Behandlungsmethoden hineinpfuschen. Doch ich kenne Ihren Eifer, diese Geißel der Menschheit genauer zu erforschen, und möchte nicht, dass Sie Ihre Bemühungen womöglich in eine falsche Richtung lenken, weil Sie ein Detail falsch eingeschätzt haben.»

«Belassen wir es für heute dabei», bestimmte Langenbeck. «Wie Sie alle wissen, nimmt mich die praktische Arbeit am Krankenbett weit mehr in Anspruch als die Forschung, insofern werde ich mich nicht in Ihre Streitereien mischen. Doch eine persönliche Animosität sollte daraus nicht entstehen.»

Kapitel 3An der Königsmauer

18. Januar 1858

Offiziell gab es die schmalen, spitzgiebeligen Häuser gar nicht mehr, vor denen Bertha gerade hüftschwingend auf und ab ging. Andere Mädchen, die sich bei Madame Madeleine eingemietet hatten, hatten ihr davon erzählt. Vor Jahren hatte der König von Preußen verfügt, alle Bordelle, die er in seiner Hauptstadt duldete, müssten sich in dieser einen Gasse ansiedeln, die «An der Königsmauer» hieß und die Königsstraße mit der Klosterstraße verband.

Ausgerechnet, dachte Bertha. König und Kloster und dazwischen sie. Die Huren.

Nachdem alle verbliebenen Freudenhäuser hier in der Gasse aufgereiht waren, immer eins neben dem anderen, hatte man sie im Jahr 1844 sämtlich aufgelöst. Zur Wahrung von Sitte und Ordnung. «Und dann sind ihnen die eignen Leute an die Kehle gesprungen.» Madame Madeleine lachte jedes Mal, wenn sie die Geschichte erzählte. «Weil die Männer eher aufs Essen verzichten würden als aufs Vögeln. Seitdem sind wir offiziell verboten, aber geduldet. Also merkt’s euch, Mädchen, uns gibt’s eigentlich gar nich hier. Da könn’ wir auch nix Verbotenes anstellen.»

Über so etwas ließ sich die alte Bordellwirtin gern aus, sobald sie betrunken war. Das war sie meist, gerade jetzt im Winter. Zum Glück, nüchtern war die Alte nämlich unerträglich. So hochtrabend der französische Name klang, den sie sich selbst gegeben hatte, so hässlich und knochig war die Frau, die ihn trug. Manchmal behauptete sie, ihre Mutter wäre mit den Franzosen nach Berlin gekommen, seinerzeit unter Napoleon. Also, dem Ersten. Jetzt hatten die Franzosen ja anscheinend wieder einen, den Dritten, aber der war noch nie in Berlin gewesen. Marie, die sich mit solchen Sachen auskannte, war jedenfalls sicher, dass an Madame Madeleine kein Stück Französisch war und dass sie auch kein Wort der Sprache beherrschte.

Vor allem war die alte Puffmutter geldgierig und gemein gegen die, die sich nicht wehrten. Bertha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Alte ein Mädchen mit dem Gehstock verprügelte, bis es sich wimmernd in der Ecke krümmte. «Ick geb dir die Kerze nich zum Spaß mit, du nichtsnutziges Gör! So lang, bis se aus is, hat er Zeit. Wenn ihm die nich reicht, is er selbst schuld. Muss er sich eben ’n bisschen beeilen, der verdammte Hurenbock! Umsonst gibt’s hier nix, nich mal für ’ne Minute!»

Zum Glück gehörte Bertha nicht zu denen, die sich schnell einschüchtern ließen. Nicht von den Männern und auch nicht von einer Madame Madeleine. Bertha hatte dagegengehalten, als die Alte ihr das erste Mal für ein erfundenes Vergehen mehr als ihren normalen Anteil abnehmen wollte, und sie hatte solchen Radau geschlagen, dass andere Mädchen ihr beigesprungen waren. Am Ende hatte die Alte klein beigegeben. Seit diesem ersten Krach hatte Madame Madeleine eine Art widerwilligen Respekt vor Bertha. Bertha nutzte das manchmal, um ein paar Extrawürste für sich herauszuschlagen.

Zum Beispiel ließ sie sich gerne auf Besorgungsgänge schicken, in die Apotheke oder zur Weinhandlung. Früher hätte sie befürchtet, jemandem aus ihrem Heimatdorf zu begegnen. Heute wusste sie, wie unwahrscheinlich das war. In Berlin lebten angeblich vierhundertsechzigtausend Menschen, das hatte Marie ihr aus der Zeitung vorgelesen. Darin ging eine einzelne Bertha Brandau vollkommen unter. Selbst wenn sie einem Bekannten aus ihrem früheren Leben begegnet wäre, wäre es ihr inzwischen gleichgültig.

Es war, wie’s war.

Für die, die nicht völlig grün hinter den Ohren waren, waren die leichten Mädchen von der Königsmauer auch im Menschengewühl auf den Straßen Berlins sofort zu erkennen. Nicht, dass sie sich freizügiger hätten kleiden dürfen als andere, im Gegenteil. Aber sie schminkten sich Wangen und Lippen, und ihre Art, zu gehen und sich umzusehen, verriet sie unweigerlich. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Bertha nicht mehr wie ein unschuldiges junges Ding verschämt den Blick senken können, sobald ein Mann sie anschaute. Sie wusste zu genau, was in seinem Kopf dabei wohl gerade vorging.

Den Behörden wäre es am liebsten gewesen, die Huren hätten ihre Bordelle überhaupt nicht verlassen, den Nachbarn wahrscheinlich auch. Der alte Kauz, der an der Ecke zur Klosterstraße den ganzen Tag im ersten Stock aus dem Fenster sah, spuckte jedes Mal aus, wenn er Bertha oder eine ihrer Kolleginnen vorbeigehen sah. Er hatte viel zu spucken, fast jedes zweite Haus beherbergte ein Bordell. Es gab strenge Regeln. Die Mädchen durften nicht zum Kundenfang auf die Gasse, sie durften niemanden ansprechen, keine unanständigen Gesten machen, keine frivolen Lieder singen und auch sonst auf keine Art andeuten, dass sie auf zahlungskräftige Kunden warteten.

Hin und wieder überprüfte die Polizei mit einem Großaufgebot die Zustände in den Hurenhäusern, abgesehen davon interessierte sich niemand für die Mädchen.

 

Es wurde früh dunkel, jetzt im Januar, der Abend dämmerte. Unter Berthas Stiefeletten knirschte der mit Dreck vermischte Schneematsch. Sie war auf dem Weg zu Madame Madeleines Wirtsstube, als sie eine schlanke junge Frau mit einem kleinen Köfferchen in der Hand wahrnahm. Ihr glattes Haar war von einem hellen Blond, und sie trug ein graues, hochgeschlossenes Kleid, das sauber, aber völlig zerknittert aussah. Der breite Wollschal, den sie darübergeschlungen hatte, verhinderte nicht, dass die Fremde sichtlich fröstelte. Bertha sah, dass ihre Hände ganz blau waren, während ihr Atem als weiße Wolke in der dämmrigen Gasse stand und ihr Blick an den Häuserfassaden entlangglitt.

Es waren die Augen, diese großen grauen Augen mit den langen Wimpern, an denen Bertha die junge Frau erkannte. Sophie! Wie hatte sie früher deren schöne Augen bewundert. Und sie um ihre langen Zöpfe, den glänzenden Goldton ihres Haars beneidet. Sophie Ahlbeck, der Schandfleck des Dorfs, wie die Nachbarn gesagt hatten. Mutter tot, Vater unbekannt, aber vielleicht das hübscheste Kind im Ort, und das, obwohl es bei seiner lieblosen Tante weniger zu essen bekam und mehr Schläge erhielt als alle übrigen. Wie oft hatte Bertha, selbst nur die Tochter eines armseligen Häuslers, ihr Brot mit Sophie geteilt. Sophie revanchierte sich dafür, indem sie Bertha im Unterricht vorsagte und das Lesen mit ihr übte, denn damit hatte Bertha es nie gehabt.

Inzwischen schien Sophies Haar ausgebleicht und abgestumpft, sie trug es kürzer als früher, einzelne Strähnen fielen ihr unordentlich ins Gesicht. Sophie sah aus, als hätte sie eine harte Nacht hinter sich. Müde und abgekämpft, Stiefel und Rocksaum voller Schmutz, als wäre sie weit herumgelaufen.

Bertha kannte das. Irgendwann war man zu kaputt, um zu bemerken, dass man in eine Abflussrinne oder einen Haufen Pferdeäpfel trat. So lang war es noch nicht her, dass auch sie selbst versucht hatte, vor dem Unausweichlichen davonzulaufen, das unweigerlich auf sie zukam.

Sophies Augen blickten noch immer so unschuldig und harmlos wie damals, als sie neben Bertha in der hintersten Bank der Dorfschule gesessen hatte. Als hätte Sophie den ungläubigen Blick gespürt, mit dem Bertha sie musterte, legte sie den Kopf schief, und auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Falten.

Verdammt. Anscheinend hatte sie auch Bertha erkannt. Jetzt war es zu spät, sich einfach davonzumachen. Also streckte Bertha herausfordernd ihr Kinn vor und straffte sich, während sie betont aufreizend auf Sophie zustolzierte. Sie hatte den Saum ihres Kleids gerafft und schwenkte den Zipfel locker hin und her.

Sollte Sophie nur gleich merken, woran sie war!

«Na, wenn das nich das Frollein Ahlbeck is!» Berthas Stimme war ganz heiser geworden vom abendlichen Krakeelen in der Gaststube und von den Schnäpsen und Zigarren, die die Freier ihr spendierten. Früher einmal, als Kind, hatte sie eine so volle, wohltönende Stimme gehabt, dass der Dorfpfarrer die Häuslerstochter Brandau in den Kirchenchor geholt und am Sonntag unter der Kanzel hatte vorsingen lassen.

Lang war das her. Ein ganzes Leben, dachte Bertha.

«Bertha?» Sophie hatte ihre Kinderstimme noch, mit dem ganzen naiven Staunen darin und der ganzen dummen Freude, weil man eine Freundin aus einem anderen Leben wiedersah. «Bertha Brandau, bist das wirklich du?»

«Was denkste denn, wer ick bin? ’n Gespenst?»

Einen Moment dachte Bertha, Sophie würde ihr um den Hals fallen. Beim zweiten Blick in Berthas Gesicht – das Rouge auf den Wangen, das Lippenrot, die dunkel umrandeten Augen, das verzerrte Lächeln – schien es der kleinen Unschuld aber wohl zu dämmern, wen und was sie vor sich hatte.

«Ich wusste gar nicht, dass du in Berlin lebst», sagte Sophie nach kurzem Zögern. «Niemand wusste, was aus dir geworden war. Du bist damals einfach verschwunden …»

Natürlich. Bertha erinnerte sich noch gut an den Morgen, an dem sie ihr Dorf auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte. Den Morgen nach jenem Abend, als der alte Hansen vom Nachbarhof sie in den Stall gezerrt hatte. Sie hatte gerufen, aber niemand war gekommen. Ihr Vater schlief seinen Rausch aus, und die Mutter war vielleicht einfach nur froh, dass sie selbst nicht belästigt wurde. Bertha war vor dem ersten Hahnenschrei unter die Plane eines Fuhrwerks gekrochen und im nächsten Dorf abgesprungen, um auf einem anderen Karren weiterzureisen. Bis nach Berlin. Hier sollte es Arbeit geben, hatte man sich im Dorf erzählt, vornehme Häuser mit einem Dutzend Zimmern, mit Küchen und Blumengärten, wo man Hausmädchen und Küchenmägde benötigte.

Alles nur Gerede. Die einzige Arbeit, die Bertha gefunden hatte, war als Spülhilfe in einem der Bordelle an der Königsmauer. Madame Madeleine, so viel musste man ihr zugutehalten, hatte gewartet, bis Bertha älter war und sich eingewöhnt hatte, bevor sie ihrem jüngsten Schützling klarmachte, was seine eigentliche Aufgabe war.

Bertha zuckte die Achseln, als könne sie alle Erinnerungen mit dieser einen Geste abwerfen. Es war, wie’s war.

«Ick hatt’ genug», höhnte sie. «Jeden Tag früh aufstehen, Hühner füttern und den Stall ausmisten für’n Butterbrot ohne Butter. Da bin ick los in die Stadt.»

«Und jetzt?» Sophie schluckte.

«Was denkste denn?», wiederholte Bertha.

Sophie zog es vor, nicht zu antworten. Was sie dachte, war ohnehin klar, Bertha las es ihr vom Gesicht ab.

«Und du? Wer hat dich nach Berlin geschleift? Du warst doch immer die Brave.» Die Dumme, fügte Bertha in Gedanken hinzu. Die, die sich von ihrer Tante Ohrfeigen verpassen ließ für Streiche, die andere Kinder verbrochen hatten. Die, die in der Schule klaglos die Tatzen entgegennahm, die der Lehrer nur ihr verpasste, auch wenn die ganze Klasse ungehorsam gewesen war.

«Ich hatte eine Stelle. Als Hausmädchen», sagte Sophie. «Mein Vater muss das eingefädelt haben. Irgendwann kam meine Tante, kein Jahr nachdem du verschwunden warst, und hat gesagt, ich wäre alt genug, für mich selbst zu sorgen, und sie hätte eine Stelle für mich.»

Natürlich. Unwillkürlich stieg Neid in Bertha auf. Sophie mit den goldenen Haaren musste sich nicht im Stroh von einem sabbernden Alten betatschen lassen und heulend morgens auf ein Fuhrwerk klettern. Sophie hatte ihn nie gesehen, aber sie hatte immer diesen geheimnisvollen Vater im Hintergrund gehabt, der ihr sogar eine Zukunft hatte eröffnen wollen.

Aus der anscheinend nix geworden war.

«Is schiefgegangen, wa? Was haste gemacht? Haste geklaut?»

«Nein!»

So entsetzt, wie Sophie Bertha anschaute, hatte sie das wahrscheinlich wirklich nicht getan. Verdammt. Die Göre würde es schwer haben hier. Denn dass sie hier, an der Königsmauer, landen würde, daran zweifelte Bertha nicht. Aus dieser Gasse führten nur sehr wenige Wege hinaus.

«Aber rausgeworfen ham se dir?»

Sophie nickte beschämt. «Ich … ich bräuchte ein Zimmer.» Sie redete ganz anders als auf dem Dorf, sprach astreines Hochdeutsch. Wahrscheinlich hatte ihre vornehme Herrschaft ihr das eingetrichtert. «Möglichst billig. Ich bin den ganzen Abend herumgelaufen auf der Suche nach einem Gasthof, aber die waren alle so teuer. Ich weiß ja nicht, wann ich … Es ist nur für jetzt, weißt du, nur bis ich eine neue Stelle gefunden habe, ich will nicht …»

«… anschaffen gehen?» Berthas Stimme war voller Spott. «So eene wie icke werden? ’ne gottverdammte Hure?»

«Das habe ich nicht gesagt, Bertha.»

«Nee, aber gedacht, oder nich?» Bertha drehte sich auf dem Absatz um. Als sie ein paar Schritte gegangen war, schaute sie sich noch einmal um. «Na, was is? Kommste oder kommste nich? Ick wohn’ bei Madame Madeleine, die hat genug Zimmer. Da kannste dir gleich mal alles anschauen.» Sie lachte hart. «Ick mein’, bevor du selber anfängst.»

«Das mach ich nicht!» Sophie wiederholte es, während sie zu Bertha aufschloss. «Das ist … das könnte ich nie. Es ist bloß für ein paar Nächte, wirklich.» Sie lächelte Bertha an. «Aber ich bin dir ehrlich dankbar. Und so froh, dass ich dich hier getroffen hab.»

Bertha spuckte zur Seite. «Wart’s ab, Prinzesschen. Du wirst noch merken, was der Mensch alles tut, damit er was in den Magen kriegt.» Sie ging schneller, das Kinn stolz erhoben. Sophie, den Koffer in der Hand, hastete hinter ihr her.

 

In der Wirtsstube saßen die Mädchen beieinander, rauchten oder halfen sich gegenseitig beim Schminken. Die blonde Käthe hockte breitbeinig auf einem der Tische in der hinteren Ecke, die Füße auf der Sitzbank. Sie hatte ihre Röcke hochgeschlagen und unters Kinn geklemmt und zog mit zwei Fingern ihre Schamlippen auseinander. «Verdammter Mist, ick glaub, ick krieg schon wieder so ’ne blöde Pustel.»

«Mach Schminke und Puder drauf!», kommandierte Madame Madeleine von der Bar aus. «Wenn’s aber so groß is, dass man’s noch sieht, bleibste heut außer Sicht. Ick will keinen Ärger mit die Polente.» Sie stemmte die knotigen Hände in die Hüften, als sie Bertha und Sophie sah. «Bertha, du faules Stück, wo bleibste? Arbeit geht an. Und was is das für eine?»

«Eine Freundin von mir», sagte Bertha, «auf Arbeitssuche. Könnt’ ’n Zimmer brauchen.» Sie wandte den Kopf. Sophie stand wie angewurzelt hinter der Türschwelle und starrte fassungslos auf Käthe, die noch immer mit unbedecktem Unterleib auf der Tischplatte saß und sich aus einer kleinen Dose etwas Cremiges auf die Schamlippen tupfte.

«Wenn se irgendwann ganz reinkommt in die gute Stube, dann kann se ’n Zimmer haben.» Madame Madeleine lachte. «Arbeit auch. Sieht ja ganz proper aus. Und gesund is die sicher auch noch, so unschuldig, wie se guckt.»

Das krächzende Gelächter der Puffmutter riss Sophie aus ihrer Erstarrung. «Ich danke schön», sagte sie fest. «Das Zimmer nehme ich gern, aber es ist wirklich nur, bis ich eine Stelle habe.»

«Eine Woche», sagte die Alte. Als Sophie sie fragend anschaute, wiederholte sie: «’ne Woche geb ick’s dir. So lang schreib ick dir Mietzins und Zeche an. Danach zahlste. Wie, is mir gleich, haste verstanden? Wenn das gnädige Frollein keine Arbeit findet, die ihr genehm is, muss sie halt machen, was hier jede macht.» Sie schaute Bertha an. «So weit wie die Kleine sind wir alle mal gewesen. Was, Bertha?»

Bertha schnaubte nur, dann schob sie Sophie auf eine Bank in der Nähe des Bollerofens. «Jetz’ muss sie erst mal auftauen. Hunger hat se auch, denk ich.»

«Ich habe Geld», sagte Sophie hastig. «Ich kann bezahlen.»

«’ne Woche», sagte Madame Madeleine zum dritten Mal, während sie aus einem Kessel Eintopf in eine Schüssel klatschte. «So lang schreib ick an.»

Die Schüssel wurde vor Sophie abgestellt, ein Löffel klapperte daneben auf die Tischplatte.

Schwere Männerschritte polterten zur Tür herein. In der Ecke ließ Käthe hastig ihren Rock sinken und rutschte fluchend vom Tisch.

«Wir ham noch zu, Georg!», wies Madeleine den Mann zurecht.

Der vierschrötige Kerl ließ sich ungerührt Sophie gegenüber an den Tisch sinken. «Ick will erst mal was in den Magen kriegen. Derweil könnt ihr euch die Nasen fertig pudern. Stört mir nich.»

«Bist ’ne echte Landplage, Georg», spottete Bertha. «Kennst auch keine Heimat, oder?»

«Bei euch is es schöner wie in meinem stinkenden Loch.» Er musterte Sophie, während Bertha auch ihm eine Schüssel Eintopf hinstellte. «Bist wohl neu hier.»

«Das is der Georg», erklärte Bertha. «Stammgast.» Und zu Georg gewandt: «Auf meine Freundin musste noch warten, alter Bock. Die arbeitet nich hier.» Sie verzog grimmig die Lippen. » Solang musste mit unsereins vorliebnehmen.»

Georg zuckte die Achseln und begann zu essen. «Mit dir doch immer, Bertha.»

Kapitel 4Philipp von Seydlitz

24. Januar 1858

Philipp war froh, als er durchs Kutschenfenster den Turm der Sophienkirche entdeckte. Jetzt war es nicht mehr weit. Der Wagen ratterte über das holprige Straßenpflaster und hielt vor dem Haus der Familie Seydlitz am Monbijouplatz. Auf der anderen Seite des Platzes zeichnete sich hinter Baumkronen die vertraute Silhouette von Schloss Monbijou ab. Philipp atmete auf. Zu Hause, das wäre geschafft. Vor seinen Eltern gab er es nicht zu, doch die Ausflüge nach Pommern, auf den Stammsitz der Familie von Seydlitz, langweilten ihn allmählich. Während sein Vater das Landleben genoss.

«Hier ist die Welt noch, wie sie sein sollte, Junge», sagte er oft und fasste Philipp dabei scharf ins Auge. «Vergiss das nie, wenn sie dir in der Schule all den gelehrten Unfug beibringen, der das Leben nur kompliziert macht. So wie hier ist es richtig. So hat der Allmächtige die Welt geordnet in seiner Weisheit, bevor wir in unserem Unverstand angefangen haben, alles durcheinanderzubringen.»

Falls sein Vater das wirklich glaubte, wovon auszugehen war, da er kaum je Scherze machte, konnte Philipp sich vorstellen, was er darunter verstand: ein klar abgegrenztes Oben und Unten, Pächter, die sich unterwürfig vor dem Gutsherrn verneigten, als hätte es nie eine Bauernbefreiung gegeben, als seien sie noch immer die Leibeigenen, die sich geschmeichelt fühlten, weil der gnädige Herr Oberstleutnant von Seydlitz sich herabließ, um mit ihnen zu sprechen und ein paar joviale Witze zu reißen. Gehorsam war der Inbegriff dessen, was Philipps Vater unter Benehmen verstand. Das galt für seine pommerschen Pächter ebenso wie für seine Soldaten und Offiziere – und auch für Ehefrau und Sohn.

Umso mehr musste es den Vater verstören, dass Philipp sich, zum ersten Mal, in einer wichtigen Angelegenheit nicht seinen Wünschen fügen wollte. Philipp hatte den Ausflug nach Pommern genutzt, um mit ihm darüber zu sprechen.