Oktoberfest 1900 - Träume und Wagnis - Petra Grill - E-Book
SONDERANGEBOT

Oktoberfest 1900 - Träume und Wagnis E-Book

Petra Grill

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im bunten Zauber des berühmtesten Volksfestes der Welt kämpfen zwei Frauen in Zeiten der Umwälzung um Aufstieg, Anerkennung und Liebe. Der große Frauenroman zum größten Fest der Welt. In diesem Jahr gehen wir mit dem großen ARD-Mehrteiler »Oktoberfest 1900« auf die Wiesn und feiern ein mitreißendes Lesefest mit diesem Roman. München, 1900: Dass sie ein einfaches Schankmädchen war, muss Colina verheimlichen. Denn jetzt ist sie aufgestiegen zur Gouvernante der jungen, eigenwilligen Clara. Deren Vater, der Brauereimagnat Prank, strebt nach Macht und Einfluss auf dem Oktoberfest. Auch Claras Verheiratung soll dabei helfen. Aber Clara will sich seinen Befehlen nicht unterordnen. Trotz Colinas Warnung flieht sie von zu Hause. Der Skandal droht alles zu zerstören. Doch dann entwickelt Colina mitten im Glanz und Getriebe des Oktoberfestes einen gewagten Plan: für sich und Clara will sie eine neue Chance aufs Glück erkämpfen. »Das Oktoberfest ist ein überwältigender Ort, an dem man in einen Strudel gerät, der einem den Atem nimmt.« Martina Gedeck, Hauptdarstellerin im großen ARD-Mehrteiler »Oktoberfest 1900«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 646

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Grill

Oktoberfest 1900 - Träume und Wagnis

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

1. Mehr als genug2. Unter Kannibalen3. Eine Frage der Einstellung4. Ein einziger Zustand5. Gute Gesellschaft6. Kocherlball7. Einsatz8. Viragines oder Hetären9. Zähne10. Bis auf die Knochen11. Leichenschmaus12. Delinquenten13. Heimsuchung14. Königlich15. Die Gärten des Glücks16. Aufklärung17. Zugriff18. Vertane Chancen19. Wo man hingehört20. Eine Schlagzeile21. Einzug22. Flüchtig23. Ehrbar24. Jemand25. Willkommen im Leben26. Zeugenbefragung27. Hinterher28. Was geht29. Scherben30. Die halbe Entfernung zum Mond31. Nacht32. Wider die sittliche Ordnung33. In der Falle34. Fort, weit fort35. Ende einer Burg36. Die Ordnung der Dinge37. Fragen38. Wohin es führt39. Der Preis, den man zahlt40. Etwas Großes41. Vertrauen gegen Vertrauen42. Ausbruch43. Schlachthof44. Zu leben lernen45. Hopfen, Wasser und MalzEpilog

1.Mehr als genug

»Hör auf jetzt, mehr gibt’s nicht!«

»Geh, jetzt stell dich halt nicht so an!«

Verschwitzte Hände drückten Colina gegen die Bretterwand. Sie spürte einen Balken im Rücken, die Kante schnitt in ihre Haut. Gollhubers Wanst presste sich gegen sie. Sie schob Gollhubers Schultern von sich weg, was er in seinem Suff wahrscheinlich nicht einmal bemerkte. Sein Mund saugte an ihrem Hals, eine Hand vergrub sich ungeschickt in Colinas Mieder. Gesprungene Fingernägel kratzten über die Haut ihrer Brüste.

Gott, wie er roch!

Ein Bild stieg in ihr auf. Ein anderer Mund, andere Hände. Sie schob es zurück in die Finsternis, aus der es aufgestiegen war, schloss die Augen und duldete die fleischigen Lippen, die ihren Mund suchten. Eine Zunge schob sich zwischen ihre Zähne und mit ihr ein Geschmack, der gleichzeitig süßlich war – Bier – und ein wenig ranzig wie Öl.

Maxi, dachte sie.

Als Gollhubers andere Hand anfing, ihren Rock in die Höhe zu raffen, schlug Colina ihm auf die Finger.

»Ich hab’ gesagt, jetzt ist Schluss!« Sie wollte sich aus seinem Griff winden. Er hielt sie allein schon mit seinem Ranzen an Ort und Stelle.

»Komm jetzt. Tu nicht so prüde.« Er lallte so, dass Colina ihn kaum verstand. »Kriegst noch eine Mark obenauf, wenn ich darf.«

»Du hast schon mehr gehabt als genug!«

Wahrscheinlich hätte Colina ihn einfach weitermachen lassen sollen. Die Chancen, dass er beim Versuch, seinen Hosenstall aufzuknöpfen, das Gleichgewicht verlor, umkippte und auf dem Stroh im Schuppen einschlief, standen nicht einmal schlecht.

Und selbst, wenn nicht. Zwei Mark waren viel Geld, und es war ja nicht, als ob es für Colina etwas Neues gewesen wäre, mit einem von Lochners Gästen im alten Schuppen hinter dem Wirtshaus zu verschwinden.

Wenn Gollhuber nur nicht so entsetzlich gestunken hätte! Nach Schweiß, nach Fett, nach billigen Zigarren, nach Schnaps und nach Bier. Vor allem nach Bier. Dazu das faulige Stroh auf dem Boden, auf dem heute wahrscheinlich auch schon Lochner und Johanna, und Louise und Fonshofer …

Er stank, wie Rupp gestunken hatte. Der Gedanke gab Colina die Kraft, Gollhuber trotz dessen Gewichts von sich wegzustoßen. Er taumelte, stolperte fast rückwärts über einen alten Melkschemel, hielt sich aber auf den Füßen.

»Schluss und aus!«, wiederholte Colina. »Wenn du dir nichts sagen lassen kannst, dann kriegst halt gar nichts. Dann brauch ich dein Trinkgeld nicht.«

»Das kannst dir eh malen, du blöde Urschel!« Gollhuber wollte wütend zur Tür herumfahren, torkelte dafür aber zu stark. Sein Gewicht zog ihn immerhin in die richtige Richtung, der Türstock verhinderte, dass er fiel. »Was meinst denn du, was du für eine bist? Erst die Zähn’ lang machen und dann die Mimose spielen! Wart nur, der Lochner is’ ned die einzige Wirtschaft in München.«

Beim zweiten Versuch gelang es ihm, den Riegel zurückzustoßen und die Tür aufzureißen. Er taumelte in den nachtdunklen Hof hinaus.

»Probier’s bei der Gerdi in der Müllerstraß’!«, rief Colina ihm hinterher. »Und einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin!«

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Mundwinkel; dann schob sie ihre Röcke wieder zurecht und ließ sich einen Moment auf den Schemel sinken, um in Ruhe ihre Bluse wieder über die Schultern emporzuziehen und sich das Mieder zuzuknöpfen.

Die Müdigkeit sprang sie an wie ein Tier. Seit vierzehn Stunden war sie heute auf den Beinen; ihre Füße spürte sie kaum noch. Dabei war es erst kurz nach neun; zur Tür herein krochen noch die letzten schmutzig-roten Reste Sonnenlicht aus dem Hof. Vier Stunden musste Colina in jedem Fall heute noch durchhalten. Das würde sie auch. Sie hatte immerhin schon die schlechte Laune Lochners und Johannas den ganzen Tag ertragen, und sie hatte für Louise mit ausgeholfen, als diese für eine halbe Stunde mit einem anderen Stammgast im Schuppen verschwunden war.

Aber Gollhuber – nein, das wäre wirklich zu viel gewesen für einen einzigen Tag.

Zweifelnd blickte Colina hinauf in die Ecke des Schuppens, wo über einem Regalbrett voll rostiger Werkzeuge eine Kreuzspinne bewegungslos in ihrem Netz saß. Colina hatte nie viel Schulbildung erworben, obwohl sie sich bemühte, das nachzubessern, und Zeitungen aufsammelte, wo immer sie ihrer habhaft werden konnte. Hieß es nicht von Spinnen, sie würden ihre Männchen nach der Paarung auffressen?

»Ihr Viecher seid gar nicht so blöd«, sagte sie in Richtung der Spinne. Das Tier verzichtete vornehm auf jede Antwort.

 

Auf dem Hof stank es durchdringend nach Urin. Und nach Erbrochenem; auf dem Weg stieg Colina über eine weißliche Lache. Über die Hofmauer herein schauten die Hinterhäuser der benachbarten Gebäude, ihre Fassaden kahl, weil alle Verzierungen, Farben und eingemauerten Heiligenbilder natürlich nach vorn zur Straße hinausgingen, ihre Fenster dunkel und mit weit aufgerissenen Läden. Es war Anfang Juli, die Nacht war warm, in den oberen Etagen stand die Luft.

Lochners Wirtsstube war mäßig besucht. Am Stammtisch, unter den verblichenen Drucken der Monarchen Max, Ludwig und Otto, schlug man die Karten auf den Tisch; vier, fünf Haus- und Stallknechte hatten Ausgang, und ein paar junge Bahnarbeiter in der Ecke machten Lärm für einen ganzen Saal. Colina kam gerade rechtzeitig, um Gollhubers Abgang mitzuerleben, nachdem dieser sich offenbar ausgiebig bei Oberkellnerin Johanna beschwert hatte. Johanna warf ihr einen wütenden Blick zu, bevor sie Gollhuber hinterher auf die Straße stürzte.

Colina trat an den Tresen. Louise stellte leere Bierkrüge vor ihr ab mit einer Miene, die halb betreten war, halb mitfühlend.

»Manchmal ist’s einfach zu viel verlangt«, murmelte sie. Afra, die Krüglwascherin, nahm ihr kopfschüttelnd die schweren Steingutgefäße aus der Hand. Sie sprach erst, als sie den ersten Keferloher schon ins Wasser getaucht hatte.

»Nutz deine Zeit, Deandl.« Sie schaute auf, um zu verdeutlichen, dass sie Colina meinte. »So jung bist nimmer. Wie viel Jahr hast denn? Achtundzwanzig? Dreißig?«

Einunddreißig, dachte Colina, sagte aber nichts. Afra wartete auch nicht auf Antwort. »Jetzt bist noch frisch und ansehnlich, jetzt sehen sie’s noch gern, wenn du mit ihren Krügen an den Tisch kommst, und beim Mieder steht der oberste Knopf auf. Sei ned dumm, nimm mit, was du mitnehmen kannst. Leg dich hin, halt still, denk an was anderes. Zwei Mark sind zwei Mark, und sogar wenn’s nur eine is’, ist’s immer noch mehr als die zehn Pfennig, die dir einer sonst als Trinkgeld gibt.« Sie schaute wieder auf und lächelte wehmütig. »Aber du bist fesch mit deinen schönen blonden Haaren, du könntest bestimmt drei Mark auch kriegen. Nimm’s, und dann, Deandl, leg dir was zurück! Ewig bleibt die Schönheit nicht, und wenn sie erst beim Teufel ist, schickt die Johanna lieber eine Jüngere an den Tisch, und du bist wieder da, wo ich bin. Beim Krüglwaschen.« Sie tauchte ihre stämmigen roten Arme ins Wasser bis fast zu den Achseln. Die Adern zeichneten sich beinahe schwarz unter der Haut ab. Ihr Kopftuch war verrutscht, darunter fiel strähniges graues Haar hervor.

Wie alt mochte Afra sein? Fünfzig, sechzig?

»Ich kann nichts zurücklegen«, sagte Colina. »Ich brauch’ mein Geld.«

Afra schaute auf, noch immer lächelnd. »Bub oder Mädel?«

Colina lächelte zurück. »Bub. Sieben Jahr.«

»Hast ihn gut untergebracht? Bei mir war’s a Mäderl.« Sie wischte sich mit feuchten Händen das Haar aus dem Gesicht. »Lebt aber nimmer.«

Vielleicht hätte sie noch mehr gesagt, aber sie kam nicht mehr dazu. Inzwischen war Johanna in die Gaststube zurückgekehrt, und zum zweiten Mal binnen einer Viertelstunde krachte Colinas Rückgrat gegen eine Wand.

»Was glaubst denn du?« Johannas stahlgraue Augen blitzten vor Colinas Gesicht. »Du damische Trutsch’n, meinst du, du kannst uns unsere Stammgäst’ vergraulen? Glaubst du, ich hab dich eingestellt, weil du ein bisschen vornehm tun und Preußisch daherreden kannst? Wenn du so mit unsere Gäst’ umgehst, stehst du gleich wieder auf der Straß’, das sag ich dir!«

»Jetzt fass die Lina nicht so hart an«, meldete sich eine amüsierte Stimme unter den Gästen. »Wenn ich so ein fesches Ding wär, tät ich so einen wie den Gollhuber auch weiterschicken.«

»Du machst das schon richtig, Lina!«, kommentierte einer der jungen Burschen am Tisch der Arbeiter. »Lass dir nicht alles gefallen.«

»Außerdem hat der Gollhuber das sowieso morgen Früh vergessen«, spottete der grauhaarige Matthäus vom Stammtisch. »Bei dem Rausch! Spätestens übermorgen ist er wieder da und bettelt, dass die Lina an unseren Tisch kommt, bloß damit er ihr in den Ausschnitt schauen kann.«

So sehr Colina sich über die Unterstützung der Männer freute, so wenig gab sie letztlich darauf. Erstens wusste sie gut, dass die meisten nur redeten in der Hoffnung, demnächst glücklicher zu sein als Gollhuber. Was in einigen Fällen durchaus möglich war; es stanken ja nicht alle so wie der. Zweitens ahnte sie aber auch, wie wenig ihr alle Unterstützung helfen würde, wenn Johanna den Wirt hinter sich wusste. Und Lochner, der in diesem Moment aus dem Keller kam und von Johanna unverzüglich in hastigem Gezischel eingeweiht wurde, sah gerade noch griesgrämiger aus als sonst.

Allerdings wollte er seinen Stammgästen nicht offen widersprechen.

»Jetzt pass einmal auf, Lina«, setzte er an. »Biermadl kann ich mir holen, so viele ich will. Dich hab ich genommen, weil du anstellig bist und singen kannst und eine nette Goschen hast. Solange meine Gäste mit dir zufrieden sind, darfst machen, was du willst. Aber sobald du mir den ersten vergraulst, fliegst du ’naus.« Er fuhr mit der Hand in einer horizontalen Linie durch die Luft. »Quer zur Tür.«

»Das tät’ ich mir überlegen an deiner Stell’«, meldete sich wieder Matthäus. Er hob höhnisch seinen Keferloher. »Außer der Lina gibt’s bald keinen Grund mehr, dass man noch zu dir kommt, Lochner. Fürs Bier brauch ich mir die Mühe jedenfalls nicht machen, seitdem du diese Kapital-Brausuppen ausschenkst.«

»Verträge sind halt einmal Verträge«, knurrte Lochner. »Gern hab ich die Wirtschaft nicht an den Stifter verkauft, das darfst du mir glauben. Aber mir ist das Wasser bis zum Hals gestanden. Jetzt gehört die Wirtschaft dem Kapitalbräu, und ich muss denen das Bier abnehmen.«

»Eine Schande. Wär’s denn gar nicht mehr anders gegangen?«

»Die letzte Wiesn hat uns gerade noch gerettet.« Lochner hob die Schultern, resigniert, fast als ginge es ihn nichts mehr an. »Ohne das Geld vom Oktoberfest kann kein Wirtshaus überleben heutzutage, und ich hätte nicht gewusst, wie ich die Lizenz fürs nächste bezahlen soll. Es haben schon ein paar Wirte die Pacht fürs Oktoberfest heuer nicht mehr aufbringen können.«

»Stehen die Wirtsbuden von denen dann leer?«, fragte jemand, und Lochner machte eine fahrige Geste. »Wird schon einer ersteigert haben. Gibt ja genug Wirte in München. Noch, zumindest.«

»Die Großbrauereien arbeiten die Wirte der Reihe nach auf«, pflichtete jemand bei. Andere stimmten ein; das Thema bot eine willkommene Gelegenheit, auf die Zeiten und den allgemeinen Niedergang zu schimpfen, insbesondere auf Münchner Traditionsbrauereien, die so groß wurden, dass sie sich das Geld über Aktien hereinholen mussten und deshalb Berliner Vorstandsvorsitzende wie den Preußen Anatol Stifter in München einschleppten. Colina brachte derweil die Krüge an den Tisch der Knechte. Als sie sich vorbeugte, um sie abzustellen, zwickte Martin sie in den Hintern, und Alois zog sie unvermittelt auf seinen Schoß.

»Jetzt gehörst uns, jetzt lassen wir dich nimmer zu den alten Männern ’nüber!«

»Du, pass fei auf, Bub!«, rief Matthäus gutmütig vom Stammtisch herüber. Colina musste lachen; sie verpasste Alois eine scherzhafte Ohrfeige, die der wohl kaum spürte. Er grinste sie an.

»Sehen wir uns im Englischen Garten, am Donnerstag in der Früh?«, flüsterte er.

»Am Donnerstag?« Colina war verblüfft. »Der Kocherlball ist doch immer am Sonntag?«

Alois und Martin schüttelten beide den Kopf. »Zu viel Polizei. Jetzt machen wir’s am Donnerstag. Müssen wir halt früher anfangen, damit wir fertig werden.«

»Kommst?«, wiederholte Alois fast bettelnd und lehnte seine Wange gegen Colinas Ausschnitt. Sie musterte ihn wehmütig. Wie alt war er? Neunzehn?

»Solltest du dir ned lieber eine Richtige suchen?«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Ich bin doch bloß ein Hausknecht.« Es klang bitter. »Ich kann doch eh nie heiraten.«

 

Bevor Colina hätte antworten können, öffnete die Tür sich erneut, und aus der Nacht traten drei Gestalten in die Wirtsstube.

»Jessasnaa!«, entfuhr es jemandem am Stammtisch. »Was haben s’ denn heute auf die Straß’ lassen?«

Die drei Frauen in ihren dunklen Ausgehkleidern ließen Colina sofort an den Jungfernbund von Wetting denken. Natürlich trugen sie städtische Tracht mit Korsett, bodenlangen Kleidern und Hüten, nicht Mieder, Hauben, Schultertücher, Rock und Schürzen wie auf dem Land. Aber es waren die gleichen schweren, grau-braun gemusterten Stoffe, die gleichen zum Dutt aufgesteckten Haare und die gleichen halb verschämten, halb selbstgerechten Mienen, mit denen die drei sich an den Broschüren festklammerten, die jede von ihnen in der Hand hielt. In Lochners Wirtsstube passten sie wie ein Kommunionskelch unter Keferloher. So ungefähr stellte Colina sich die Abstinenzlerinnen vor, von deren Bewegung sie in der Zeitung gelesen hatte.

Lochner, der vielleicht Ähnliches befürchtete, musterte die drei Gestalten mit skeptischer Miene.

»Grüß Gott?«, dehnte er fragend. Die Damen hatten sich umgesehen, jetzt machte die vorderste resolut einen Schritt auf Lochner zu.

»Grüß Gott, Herr Wirt.« Das klang eher wie eine Drohung als wie ein Gruß. »Wir würden uns gern kurz mit Ihren Kellnerinnen unterhalten, wenn es recht ist.«

»Weiß ich nicht, ob mir das recht ist.« Lochner schaute misstrauisch von einer Besucherin zur nächsten. »Was wollt ihr von meinen Mädeln?«

»Sie aus den katastrophalen Verhältnissen herausführen, in die sie unverschuldet geraten sind.« Die Frau deutete mit ausgestrecktem Arm auf Colina, die noch immer auf Alois’ Schoß saß. »Aus solchen Verhältnissen!« In ihrer Stimme schwang helle Empörung mit.

»Na, na«, kam Matthäus’ brummige Stimme vom Stammtisch. »Die geht ja auf!«

»Es ist eine Schande, dass diese jungen Frauen gezwungen sind, sich ihren Lebensunterhalt mit ihrer Ehrenhaftigkeit zu erkaufen! Um diese Frauen und Mädchen vor den verderbten Sitten ihrer Zunft zu bewahren und ihnen den Weg in geordnete Verhältnisse zu bahnen, haben wir – unter der Schirmherrschaft vieler einflussreicher Damen der Gesellschaft, möchte ich hinzufügen – im März den Münchner Kellnerinnenverein ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, für alle Frauen im Gastgewerbe feste Löhne zu erstreiten, die sie unabhängig machen von den Trinkgeldern und den … Gelüsten der Gäste.«

Für Lochner genügte das. »Meine Damen«, erklärte er mit gezwungenem Lächeln und breitete die Arme aus, als wolle er die drei zurück auf die Straße schieben, »meine Damen, mit Ihrem löblichen Vorsatz sind Sie hier vollkommen verkehrt. Das ist eine anständige Wirtschaft; wir schauen schon darauf, dass eine Zucht und ein Anstand herrschen.«

»Das sehe ich.« Ein weiterer giftiger Blick der Frau glitt zu Colina, und Lochner drehte sich wütend nach dem Tisch um.

»Jetzt steh schon auf, Lina!« Colina erhob sich, klopfte ihren Rock aus und räumte die leeren Krüge zusammen, um sie zurück zum Tresen zu bringen.

»Zahlen Sie Ihren Angestellten denn ein Festgehalt, Herr Wirt?«, hakte die Frau nach.

Man hörte Lochner an, wie sehr er sich bei dieser Frage zusammenreißen musste. »Wie ich mein Geschäft führe, das geht nun wirklich niemand was an.«

»Ganz im Gegenteil, Herr Wirt. Gerade ihre mangelnde Absicherung ist es doch, die diese armen Geschöpfe dazu nötigt, sich ihr Trinkgeld mit allen Mitteln zu erkaufen – auch und gerade mit solchen unsittlicher Natur. Wir vom Münchner Kellnerinnenverein wollen deshalb erreichen …«

»Das hab ich schon verstanden, was ihr erreichen wollt!« Lochners Geduld war zu Ende. »Meine Biermadl wollt ihr gegen mich aufhetzen mit euren blödsinnigen Ideen! Aber da wird nix draus! Bloß, weil euch Gewittervögel euer Lebtag lang kein Mannsbild angeschaut hat, braucht ihr mir nicht meine Mädel auf krumme Gedanken bringen. Meine Mädchen werden so bezahlt, wie man das immer schon gemacht hat: Die Kellnerinnen haben ihre Trinkgelder – eine freundliche viel, eine zwiderne wenig. Von den Trinkgeldern geht ein Teil an die Oberkellnerin, und die verteilt davon was an die übrigen, die bloß putzen oder Krüge auswaschen. Für die Mädel ist das mehr wie genug!«

Es war wohl der letzte Satz, der für Colina den Ausschlag gab. Über Lochners Heuchelei hatte sie zuvor geschmunzelt, und selbst den Hinweis auf Johanna, die von dem, was sie den Kellnerinnen abnahm, den Großteil in die eigene Tasche steckte, hatte sie geschluckt. Aber die Verachtung, mit der Lochner den letzten Satz aussprach, ließ etwas in ihr zerreißen.

Als habe jemand wie Colina keinen Anspruch auf etwas Besseres. Keinen Hunger auf etwas anderes als Kartoffeln mit saurer Milch. Keine Kinder, keine Wünsche, und schon gar keinen Traum.

Sie beugte sich zu Louise hinüber. »Sag dem Lois, ich sehe ihn auf dem Kocherlball.« Zu Johanna sagte sie:

»Johanna? Ich kündige.«

»Ja, spinnst du jetzt ganz?«, rief Lochner. Statt einer Antwort drehte Colina sich um, marschierte auf die drei verdutzten Frauen zu und riss der vordersten den ganzen Stapel Broschüren und Zeitungen aus der Hand.

»Geben S’ her, ich schau mir das an.« Sie wollte weiter zur Tür, aber Lochners Stimme holte sie ein.

»Du Dotschn, du hast nix und bist nix, was willst denn machen, allein in München?«

Aufs Geratewohl warf Colina einen Blick auf das, was sie in der Hand hielt. Oben auf den dünnen Bändchen Benimm- und Erbauungsschriften lag eine alte Beilage der »Münchner Allgemeinen Zeitung«. Die Stellenanzeigen waren aufgeschlagen, und zwei hatte jemand mit Bleistift markiert: Küchenhilfe und Dienstmagd – wohl als Beispiele für den Ausweg, den der Münchner Kellnerinnenverein seinen Schützlingen anbieten wollte.

Nichts davon war nach Colinas Geschmack. Stattdessen las sie die Anzeige ganz oben auf der Seite, die beinahe ein Viertel des Blatts einnahm, und schenkte Johanna zum Abschied einen triumphierenden Augenaufschlag.

»Gouvernante«, verkündete sie und rauschte hinaus. Als Letztes hörte sie Matthäus’ heiseres Lachen.

»Die musst du gehen lassen, Lochner. Die ist dir über!«

2.Unter Kannibalen

In der »Königlichen Schutzmannschaft« von München scherzte man über Inspektor Eder, der Mann sei alt genug, um noch zu wissen, wie der Prinzregent ohne Bart ausgesehen habe. Im Moment stand er ein wenig abseits von den übrigen Gendarmen und unterhielt sich mit Schmidt, dem Münchner Intendanten von »Gabriels Völkerschau«. Aulehner schätzte Eder auf mindestens sechzig, also ein Vierteljahrhundert älter als er selbst war – auf den ersten Blick ein hochgewachsener, in Ehren ergrauter Herr, auf den zweiten verblichen wie ein altes Foto. Unter Eders schütterem Haar hing ein mageres Gesicht mit dünnem, kurz gestutztem Bart, in das viel zu viele Grübeleien ihre Falten gegraben hatten. Warum Eder an diesem Morgen überhaupt mit heraus in die Isarauen gekommen war, konnte Aulehner nicht sagen. Soweit er wusste, gehörte Eder der Kriminalabteilung der Schutzmannschaft an, und von einem Verbrechen war hier keine Rede. Jedenfalls von keinem, gegen das es ein Gesetz gegeben hätte.

Wahrscheinlich war Eder aus demselben Grund hier wie die Hälfte der Gendarmen: aus purer Neugierde.

Was die Polizisten auf der kleinen Anhöhe oberhalb des Isarufers zu Gesicht bekamen, befriedigte diese Neugierde nur zum Teil. Aulehner fand den Anblick gleichermaßen sensationell wie unspektakulär. Von weitem hätte es auch das Biwak einer durchmarschierenden Militäreinheit sein können. Die Zelte standen in ordentlichem Halbkreis, die Lagerfeuer waren mit Steinen abgegrenzt; über der Feuerstelle hing ein rußgeschwärzter Kochtopf an einem Dreifuß. Man hatte sogar eine Latrine gegraben. Auf dem Grund lag noch Tau, die ganze Wiese glitzerte in der Morgensonne, und das Laub der umstehenden Birken malte zittrige Schatten ins Gras.

Alles normal genug. Das Sensationelle bestand in den Dekorationen, die an den Zelten angebracht waren, in gekreuzten Knochen und mit Schnüren und Wimpeln versehenen Vogelbälgen, in Rinderschädeln, die auf langen Stangen steckten und aus leeren Augenhöhlen das Lager überblickten, und in den Bewohnern.

Ein in Richtung Fußpfad aufgestelltes Schild warnte: »Achtung! Menschenfressender Stamm aus den deutschen Schutzgebieten von Samoa. Für unbefugtes Betreten wird nicht gehaftet.« Darunter in Rot der Werbeschriftzug »Gabriels Völkerschau! Besuchen Sie uns auf dem Oktoberfest!«

Wie man leibhaftigen Wilden erlauben konnte, unbeaufsichtigt gleich nördlich von München zu lagern, war Aulehner ein Rätsel.

Angesichts der fremden Männer, die in ihren Helmen und blauen Uniformen da zwischen ihnen herumstrolchten, wirkten die Samoaner ihrerseits nicht weniger skeptisch. Es mochten zwei Dutzend Insulaner sein, die hier hausten, alle braunhäutig und stämmig, mit breiten, flachen Gesichtern, schmalen Augen und platten Nasen, einige über und über tätowiert. Aulehner hätte die Leute gern gezählt, um sich einen Überblick zu verschaffen, aber vor allem die Kinder hielten ja nie still. Immerhin konnte man Männlein und Weiblein gut unterscheiden, weil die Männer einen Lendenschurz trugen und die Frauen zur Wahrung der Sittlichkeit wenigstens ein bisschen mehr am Leib hatten. Bei weitem nicht genug nach Aulehners Ansicht, aber vermutlich musste man schon froh sein, niemanden »in puris naturalibus« herumlaufen zu sehen.

Die Einzigen, die man gut unterscheiden konnte, waren der Häuptling, der einen Kopfputz aus Muscheln und Federn auf seinem Kraushaar trug, und der Schamane im langen Hemd, dem unzählige Ketten und bizarre Anhänger an Schnüren um den Hals hingen. Die Ketten klapperten bei jedem Schritt, den der Mann tat.

Ein weiterer Gendarm kam aus dem größten der Zelte, salutierte vor Aulehner und machte ein bedenkliches Gesicht.

»Alles in Ordnung, Herr Oberwachtmeister«, sagte er dabei. Seine Miene sagte das gerade Gegenteil.

»Nichts Besonderes?«, erkundigte Aulehner sich daher.

»Gar nichts.« Der Mann spuckte zur Seite aus. »Stinkt ein bisserl komisch da drin, nach Weihrauch oder so was, sonst sind da bloß Schlafdecken und eine Puppe aus alten Stofffetzen. Aber gefallen muss es mir trotzdem nicht.«

Das konnte Aulehner für sich so unterschreiben.

»Ich versteh halt nicht, dass unser Bürgermeister so was genehmigt.« Der Gendarm zupfte sich den Helmriemen unterm Kinn zurecht. »Wenn das Menschenfresser sind, dann gehören die in einen Käfig. Also, tät ich sagen.«

Aulehner hätte dasselbe gesagt. Hätte ihn jemand gefragt.

»Nicht unsere Angelegenheit«, erklärte er knapp. »Wir haben Befehle zu befolgen, alles andere wäre Insubordination.« Sein Gegenüber gab sich nicht so rasch geschlagen.

»Ja, schon. Aber ich mein halt, wenn Sie hinübergehen täten und reden mit dem Inspektor? Der Eder ist ja kein Unmensch. Dass wir vielleicht ein paar Wachen abstellen hier draußen. Es wohnen immerhin anständige Leut’ in der Nähe. Unterföhring ist nicht weit, und wenn da in einer Woche ein Kind abgeht …«

Aulehner zögerte, aber er war nun einmal der Ranghöchste unter den Gendarmen. Wenn einer die Bedenken der Truppe vorzubringen hatte, dann er.

 

Er salutierte vorschriftsmäßig vor dem Inspektor. Eder winkte ab. »Stehen S’ bequem, Herr Oberwachtmeister.« Als Einziger der Polizisten trug er keine Uniform, sondern Zivilkleidung. Er drehte sich zu seinem Gesprächspartner um, einem kleinen, rundlichen Mittvierziger mit Haaren, die aussahen, als hätte er sie mit Schuhwichse schwarz gefärbt, und einem Knebelbart nach der Art Napoleons III. Der Mensch war Aulehner sofort unsympathisch, aber Eder übersah das Stirnrunzeln seines Untergebenen völlig.

»Herr Schmidt, darf ich vorstellen, das ist Oberwachtmeister Lorenz Aulehner. Ist erst vor einem Vierteljahr aus Landshut zu uns gestoßen. So lange wird es her sein, oder, Lenz?«

»Zu Befehl, Herr Inspektor. Im August wird’s ein Dreivierteljahr.«

»Doch schon wieder so lang. Die Zeit vergeht …« Er ließ einen Blick über das Lager gleiten. »Sind Sie zufrieden mit der Inspektion, Lenz? Haben Ihre Leute etwas gesehen, das wir beanstanden und melden müssen?«

»Nicht unmittelbar, Inspektor. Aber, wenn ich sagen darf, es herrscht eine gewisse Unruhe bei dem Gedanken, diese … Leute hier draußen sich selbst zu überlassen.« Er warf einen skeptischen Blick auf Schmidt. »Also, falls das wirklich echte Kannibalen aus der Südsee sind.«

Sofort blitzten die Augen des Intendanten auf. »Ich muss doch sehr bitten, Herr Oberwachtmeister, zweifeln Sie etwa an meinem Wort? Gabriels Völkerschau hat nur erstklassige Angebote; wir haben einen Ruf zu verlieren! Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, dass es sich bei diesen Menschen um echte Insulaner aus Samoa handelt, in den traditionellen Trachten ihrer Heimat, allesamt aus der Region Falealili auf der Insel Upolu, wo deutsche Kultur und Zivilisation bereits seit Jahren Wurzeln geschlagen haben und erste Früchte tragen. Fragen Sie sie ruhig; einige von Ihnen können bereits ein paar Brocken Deutsch.«

»Sind denn die Früchte dieser Zivilisation schon so reichhaltig«, fragte Eder mit leisem Schmunzeln, »dass Sie die Leute unbeaufsichtigt hier lagern lassen können?«

Schmidt zögerte merklich mit der Antwort. Einerseits konnte er schlecht sagen, deutsche Zivilisation mache in den Kolonien keine Fortschritte; wie hätte sich das denn angehört? Zu harmlos wollte er seine Attraktion freilich auch nicht erscheinen lassen, nahm Aulehner an; das wäre schlecht fürs Geschäft.

»Nun, wir haben für das Lager natürlich mit Absicht einen abgelegenen Ort gewählt«, erklärte Schmidt. »Um Konflikte zu vermeiden und die Herrschaften gar nicht erst in Versuchung zu führen. Auf dem Oktoberfest, wo so viele wohlgenährte und potenziell wohlschmeckende Besucher unterwegs sind, werden wir sie natürlich hinter Gittern halten.« Er lachte meckernd. »Glauben Sie mir, solange sie keinen Hunger verspüren, sind diese Geschöpfe umgängliche und liebevolle Wesen. Schauen Sie nur.«

Schmidt deutete mit dem Kopf auf den Häuptling, der sich gerade bückte, um ein Kind auf seinen Arm zu nehmen. Eine Frau, einen Kranz aus Blättern und Blüten um den Hals und einen weiteren im Haar, trat dazu und wischte dem Kind kopfschüttelnd irgendetwas von der Nase.

»Freilich ist das nur das eine Gesicht dieser Leute«, beeilte der Intendant sich hinzuzufügen. »Mit derselben Selbstverständlichkeit würden sie auch einen Menschen tranchieren und über dem Feuer garen. Der völlige Mangel an Einsicht in die moralische Verwerflichkeit ihres Tuns macht ja gerade den Charakter dieser Wilden aus. In unserer Ausstellung auf dem diesjährigen Oktoberfest wird Gabriels Völkerschau dieses Wesen der interessierten Öffentlichkeit augenfällig machen. Denken Sie nur, Herr Oberwachtmeister, diese Menschen wären nicht hier, sondern an einem ihrer heimatlichen Strände, unter einer alles vergoldenden Sonne und sich wiegenden Palmen, wo junge Samoanerinnen sich, ohne jede Scham, unbekleidet in ihren Hängematten räkeln …«

»Ja, ja«, unterbrach Aulehner hastig und wechselte dabei versehentlich in den Dialekt, »g’langt scho’!« Er schaute Eder an. »Es stellt sich die Frage, ob wir nicht zum Schutz der Bevölkerung einen Wachposten aufstellen sollten, Herr Inspektor. Zur Beobachtung.«

Eder nickte etwas schwerfällig. »Das ist die Frage, ja. Sie ist leider schon beantwortet, weil wir nämlich keine zusätzlichen Leute dafür bekommen. Ich habe mich erkundigt. Wir müssten’s mit der regulären Mannschaft abdecken, die ganzen zehn Wochen bis zum Oktoberfest. Sie wissen selber, Lenz, was wir für einen Krankenstand haben.«

Das wusste Aulehner allerdings. Sie hatten kaum genug Männer, um die Streifen zu besetzen.

»Wir möchten auf keinen Fall der hiesigen Polizei Probleme bereiten«, erklärte der Intendant Schmidt. »Ich versichere Ihnen, meine Herren, besondere Sicherheitsmaßnahmen sind vollkommen unnötig. Man kann diese Leute getrost sich selbst überlassen.«

Ärgerlich zuckte Aulehner die Achseln. Was ging es ihn letztlich an? Mehr als warnen konnte er nicht.

»Wenn der Herr Intendant die Verantwortung dafür übernimmt, dass nichts passieren wird, gibt es nichts zu beanstanden, Herr Inspektor.«

»Das höre ich gern«, nickte Eder. »Dann können wir unseren Ausflug ja abbrechen, heimreiten und unseren Bericht abgeben.« Er schüttelte Schmidt die Hand. »Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Schmidt.«

»Ganz meinerseits, das Vergnügen, ganz meinerseits!«, versicherte der Intendant und zog, als sei ihm noch etwas eingefallen, ein paar gefaltete Papierblätter aus der Tasche seines Rocks, die er Aulehner mit einer Verbeugung überreichte. »Bitte, nehmen Sie das mit für Ihre Leute, Herr Oberwachtmeister; es sind die ersten Probedrucke unserer Handzettel fürs Oktoberfest. Noch nicht geprüft und korrigiert, bitte entschuldigen Sie eventuelle Druckfehler.«

Aulehner salutierte, allerdings nachlässig. Eigentlich tat er es nur, um zu vermeiden, Schmidt die Hand geben zu müssen. Er betrachtete die Zettel im Gehen. Der oberste zeigte die Zeichnung eines Mannes, eines christlichen Missionars wohl, der angedeuteten Tonsur nach, der in einem gewaltigen Kochtopf steckte. Darunter brannte ein Feuer, und rundum tanzten drei fast nackte braune Gestalten, die Speere in der Luft schwangen. Auf dem nächsten Blatt leuchteten ihm die Orchideenblüten im dunklen Haar einer Südseeschönheit entgegen, die vermutlich ebenfalls nackt war, was der Zeichner aber der Sittlichkeit und der Zensur wegen dadurch verschleierte, dass er alles unterhalb ihres Halses mit überbordenden Blumenkränzen bedeckt hielt.

Aulehner steckte den Packen unbesehen in die Satteltasche. Auf der Wache würden sich gewiss genügend Abnehmer dafür finden.

 

Man hatte den Männern für den Weg zum Lager der Samoaner Pferde gestattet. Die Gendarmen der kleinen berittenen Abteilung aus der Leonrodstraße hatten zwar protestiert, als man ihnen die Gäule entführte, aber ergebnislos. Aulehner war Eder dankbar für sein Insistieren. Während die meisten Gendarmen heute der Samoaner wegen mit in die Isarauen herausgekommen waren, hatte Aulehner sich wegen der Gelegenheit zu einem Ausritt gemeldet. Er klopfte seinem Tier den Hals, bevor er sich in den Sattel schwang.

Als sie kurz vor der Emmeramsmühle über die Isar gingen, winkte Eder Aulehner nach vorn an seine Seite. Eine Weile sagte er nichts; erst, als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten und in der Hirschau angelangt waren, wandte er den Kopf und musterte Aulehner lächelnd. »Sie kommen vom Heer, Lenz, gell? Hab’ ich in Ihrer Akte gelesen. Sieht man aber eh gleich.« Er ließ den Blick anerkennend an Aulehner hinabgleiten bis zu den Hufen seines Reittiers.

»Leichte Kavallerie«, bestätigte Aulehner knapp. »Sechstes Chevauxlegers-Regiment Albrecht von Preußen.«

»So, vom Sechsten«, kommentierte Eder schmunzelnd und klopfte seinem Tier den Hals. »Freut mich. Kenn’ ich. An den Namen merkt man, wie sich die Zeiten ändern. Heute sind’s Preußen, damals waren wir noch Leuchtenberger. – Und jetzt sind S’ im Polizeidienst.« Eder ließ den Nachsatz in der Luft hängen, nicht ganz Frage, aber doch eine Aufforderung an Aulehner, etwas zu sagen. Lorenz ignorierte sie. Er hatte keine Lust auf ein Verhör. Wenn Eder seine Akte eingesehen hatte, wusste er ohnehin, was es zu wissen gab. Eder schien das zu akzeptieren und sprach von sich aus weiter. »Aber dass Sie nicht zu den Berittenen gegangen sind?«

Aulehner schob das Kinn vor. »Die müssen ihre eigenen Pferde stellen.«

Eder nickte ernst, vielleicht sogar mitleidig, hatte aber so viel Feingefühl, das zu verbergen. »Eine Schande, wenn man darüber nachdenkt. Ich könnt’s auch nicht. Sie sind noch gut in Übung, dafür dass Sie schon so lang vom Regiment weg sind.«

»Manche Sachen verlernt man nicht.« Diesmal war es Eder, der auf diesen Gemeinplatz keine Antwort gab, und nach kurzem Zögern fügte Aulehner hinzu: »Ich kenne einen der Stallmeister in der Reithalle, der mir ab und zu eins von den Übungspferden gibt.«

»Bei mir ist’s einer von unseren Berittenen«, lächelte Eder. »Vielleicht treffen wir uns einmal in der Halle. Sonst sieht man Sie ja eher selten. Außerhalb vom Dienst, meine ich.«

»Mir sind die Rösser lieber als die Leut’.«

Eder nickte. »Das ist manchmal bestimmt nicht verkehrt. Zumindest stellen die Rösser weniger an. Und sind leichter zu rangieren.« Als hätte ihn das an etwas erinnert, drehte er sich halb im Sattel um, um einen prüfenden Blick auf seine Truppe zu werfen. »Das mit den Samoanern g’fallt Ihnen immer noch nicht, Lenz, richtig?«

Statt einer Antwort klopfte Aulehner auf die Satteltasche, in der er Schmidts Handzettel verstaut hatte. »Sie haben gehört, was der Intendant gesagt hat. Ich halte es für unverantwortlich, solche Leute bei uns frei herumlaufen zu lassen. Kann ja sein, dass sie in aller Unschuld handeln. Aber wenn sie in aller Unschuld jemanden auffressen, wem hilft das dann?«

Eder schwieg wieder ein Weilchen. Sie waren bisher dem Lauf der Isar aufwärts gefolgt. Jetzt bogen sie ab, der Stadt zu. Die Sonne schien ihnen auf den Rücken; der Wald lichtete sich. Aulehners Wallach schnaubte unwillig. Über dem Maffei-Werk hing dichter Qualm in der Luft, und der würzige Geruch von Harz und Waldboden wich dem beißenden von Rauch. Darunter mischte sich etwas Dickes, Süßliches. Malz von irgendeiner Brauerei wohl.

Die Straße belebte sich. Fußgänger schwenkten grüßend Hüte und Spazierstöcke, ein Maler stapfte mit geschulterter Staffelei über die Straße, ohne darauf zu achten, wen er mit seiner Fracht anrempelte. Gemächlich zuckelten sie in Doppelreihe an Sankt Ursula vorbei, dem alten Schwabinger Dorfkirchlein, das wie ein vergessenes Mastkalb zwischen den rundum emporgewachsenen Häusern stand, geradezu fragend, als versuche es zu begreifen, wie die Stadt München es komplett hatte verschlucken können. Weiter links, der Altstadt zu, zerrannen die Silhouetten der Frauentürme und die des Alten Peter inmitten der dunklen Rauchwolken zu einem jener verwaschenen Aquarelle, wie sie bei Malern seit einiger Zeit in Mode gekommen waren.

»Sie sollten nicht alles glauben, Oberwachtmeister, was Händler erzählen«, sagte Eder. Er sprach jetzt Hochdeutsch, wie Aulehner es meist tat. »Es ist Schmidts Geschäft, die Leute, die seine Firma zur Schau stellt, so aufregend erscheinen zu lassen wie möglich.« Ein leises Lächeln. »Ich bin sicher, in Wahrheit sind diese Leute völlig harmlos. Oder kam Ihnen Schmidt sonderlich abenteuerlustig vor? So, als würde er auch nur das kleinste persönliche Risiko eingehen?«

Das war ein logisches Argument, musste Aulehner zugeben. Andererseits hatte er oft genug erlebt, dass Leute für Geld zu sehr vielem bereit waren.

Aber er sagte nichts dazu. Selbst wenn man eine eigene Meinung hatte, dachte er, war es in den seltensten Fällen sinnvoll, sie zu zeigen. In Zukunft, so hatte er beschlossen, würde er klug sein und sich heraushalten. Alles andere brachte nur Scherereien.

3.Eine Frage der Einstellung

Colina holte tief Luft, krallte die Finger fest um den Griff ihrer kleinen Damenreisetasche und sagte sich, alles werde gut gehen.

Alles musste gut gehen.

Sie hatte sich nach ihrer Kündigung bei Lochner drei Wochen Zeit gegeben, um zu lernen, was es für eine Gouvernante zu wissen gab. Nach drei Tagen, dem frustrierenden Gespräch mit einer Stellenvermittlerin und eingehendem Studium sämtlicher Bücher, die Colina in der Leihbücherei über den Umgang mit vornehmen Leuten hatte auftreiben können, hatte sie eingesehen, dass drei Jahre dafür nicht ausreichen würden. Geographie und Geschichte, Französisch und Italienisch, Klavierspielen und Aquarellmalerei erlernte man nicht nebenbei, und nein, wie die Stellenvermittlerin sie pikiert wissen ließ, auch ein noch so großes Talent bei der Darbietung populärer Gassenhauer aus den Varietés könne derart eklatante Mängel an Vorkenntnissen nicht ausgleichen.

Colina gab sich geschlagen. Sie hatte keine Jahre, um alles zu lernen, was man kleinen Kindern aus großen Familien offenbar beibringen musste. Sie hatte nur ein paar Wochen, in denen das, was sie bei Lochner zusammengespart hatte, für Essen und Miete reichen musste. Aber wenn sie schon zu ungebildet war, um kleine Kinder zu unterrichten – was war mit großen? Brauchten diese höheren Töchter nicht sämtlich Anstandsdamen, die hinter ihnen her trippelten und aufpassten, dass ihr Schützling nicht in schlechte Gesellschaft geriet? Oder, schlimmer, von Männern angesprochen wurde? Das klang doch nach einer Tätigkeit, die sich auch in der Kürze der Zeit erlernen ließe?

An dieser Stelle hatte die Vermittlerin sich abrupt abgewendet und das Gespräch beendet.

»Es tut mir wirklich leid, aber in Anbetracht Ihres Lebenslaufs halte ich Sie, mit Verlaub, auch als Anstandsdame für ausgesprochen ungeeignet. Ich fürchte, ich sehe mich außerstande, Ihnen eine Stelle bei einem meiner Klienten zu vermitteln.«

Dabei hatte Colina ihr noch nicht einmal erzählt, dass sie verheiratet war, sondern sich unter ihrem Mädchennamen »Kandl« vorgestellt.

Zurück auf der Straße war sie in schallendes Gelächter ausgebrochen. Viel hatte sie sich von dem Besuch ohnehin nicht versprochen. Der Gesichtsausdruck der würdigen Dame, die so steif auf ihrem Stuhl saß, als hätte sie einen Zollstock verschluckt, war die Mühe aber allein schon wert gewesen, die drei Treppen bis zu ihrem Büro hinaufzuklettern.

Colina war also auf sich selbst angewiesen. Nichts Neues für sie. Allein und auf sich selbst zurückgeworfen war sie schon, seitdem sie Rupp geheiratet hatte. Hatte sie sich, ihn und ihr Kind Jahr um Jahr irgendwie durchgebracht, würde sie das auch weiterhin können.

Zum Glück hatte sie etwas, das der grauen dürren Madame hinter ihrem wuchtigen alten Mahagoni-Schreibtisch vollkommen abging: Ideen.

Die nächsten vierzehn Tage studierte sie weiter Benimmschriften bis in die Nacht hinein. Was sie der alten Jungfer vom Kellnerinnenverein abgenommen hatte, genügte ihren Ansprüchen nicht. Weitere Gänge in die Leihbücherei wurden fällig. Und in die Pfandhäuser und Läden, die mit gebrauchten Kleidern handelten. Und in ein Schreibwarengeschäft, um sich – für eine vornehme Herrschaft, die Colina zu diesem Zweck erfand – Proben von verschiedenen teuren Papiersorten mitgeben zu lassen. Ihre Barschaft schwand bei diesen Unternehmungen schneller, als Colina lieb war, aber ganz ohne Investitionen würde es nicht gehen.

Auch die feine Gesellschaft von München kochte letztlich nur mit Wasser. Davon war Colina mehr und mehr überzeugt, seitdem sie begonnen hatte, auf die Annoncen in den Zeitungsblättern zu antworten. Noch wollte sie sich nicht bewerben, sondern sich nur einen Eindruck von den Familien verschaffen, die sich hinter jenen Chiffre-Nummern verbargen, unter denen man sich an die Redaktionen zu wenden hatte. Ihre anfängliche Ehrfurcht schwand schnell. Colina hatte vielleicht nicht gerade mit den höheren Adligen gerechnet, den Preysings oder Arco-Zinnebergs, aber doch zumindest mit Namen, die sie aus der Hofberichterstattung der Zeitungen kannte, einem Wiedemann vielleicht oder einem Obermedizinalrat Battler, vielleicht sogar einem Pettenkofer.

Stattdessen waren es Seifen-, Nudel- und Wurstfabrikanten, die eine Gesellschafterin für ihre Tochter suchten, Maschinenbauer, die ein Patent hielten, Besitzer von Elektrizitätswerken oder Leute, die zufällig zur richtigen Zeit das richtige Aktienpaket gekauft hatten. Colina empfand dieses Wissen als äußerst beruhigend. Einem Fräulein Huber, Müller oder Hintermoser, dessen Vater vor ein paar Jahren noch eigenhändig Fleischreste durch den Wolf gedreht und in Schweinedärme gestopft hatte, würde der Unterschied zwischen einer Colina Kandl und einer wirklichen Gouvernante kaum auffallen. Dieses Fräulein benötigte seine Anstandsdame nur, weil man so etwas in der feinen Gesellschaft nun einmal vorweisen musste, während die Familie nach einem passenden Ehemann suchte.

Für Herrschaft wie Anstandsdame galt es in diesem Fall lediglich, den Anschein zu erfüllen. Und das konnte Colina allemal!

Mit der Zeit gelang es ihr, zwischen den Zeilen der Annoncen zu lesen. Sie fühlte sich wie eine Raubkatze, die sich aus einer Herde Gazellen das richtige Beutetier aussucht, während sie so unauffällig wie möglich Erkundigungen einzog.

Am Ende fand sie genau die richtige.

»Gesucht wird eine Gesellschafterin für eine junge Dame zur Verfeinerung der Bildung und sinnvollen Ausfüllung der Mußestunden während ihres Aufenthalts in München. Referenzen, exzellente Manieren, ein gefestigter Charakter und beste Gesundheit unbedingte Voraussetzung. Wir erwarten die Bewerbung interessierter Damen unter Chiffre …«

Die Anzeige war schon deshalb verräterisch, weil sie ebenso aufgeblasen wie nichtssagend war. Natürlich erwartete man von einer Gesellschafterin gute Manieren, was denn sonst? Was die Bewerberin dagegen an Kenntnissen mitbringen sollte, blieb unerwähnt; vermutlich hatte, wer auch immer die Annonce geschrieben hatte, davon selbst keine Ahnung.

Und: Beste Gesundheit? – In Colina reifte ein Plan.

Darum stand sie nun hier, in Bogenhausen, im Schutz eines kleinen Dickichts, in dem sie sich soeben umgekleidet hatte, und stopfte ihre alten Kleider in die mitgebrachte Reisetasche. Ihre neu erworbenen waren alles andere als billig gewesen, selbst gebraucht, aber sie verwandelten Colina beinahe ohne ihr Zutun in einen anderen Menschen, in eine jener eleganten Erscheinungen, wie Colina sie sonst nur auf der Straße sah, wenn die Dame des Hauses sich bemüßigt fühlte, höchstpersönlich die Einkäufe zu erledigen. Colina hatte ihr Erscheinungsbild über Stunden im Spiegel perfektioniert und mit diesen Eindrücken abgestimmt. Der bodenlange Rock, den sie ergattert hatte, war sogar recht modern, fiel in einer schmalen Silhouette von den Hüften abwärts und erweiterte sich erst auf Höhe der Knie. Die Bluse war nicht mehr ganz neu, aber aus guter Seide, und Keulenärmel kamen gerade wieder in Mode. Weiße Glacé-Handschuhe versteckten Colinas noch etwas rissige Hände. Colina hatte beim Umkleiden im Gebüsch außerdem penibel darauf geachtet, ihre sorgfältig arrangierte Frisur nicht zu beschädigen. Den Hut musste sie blind aufsetzen, würde ihn aber nicht lange brauchen. Nur bei den Schuhen hatte sie einen Kompromiss eingehen müssen. Die dunklen Stiefeletten wirkten ein wenig klobig und waren leicht abgetreten, aber im Normalfall würde man sie sowieso nicht sehen.

Colina hatte sich eingehend erkundigt, wem die protzige Villa gehörte, auf deren Eingangstor sie jetzt zu stolzierte: einem Unternehmer aus Nürnberg namens Curt Prank, der erst um Ostern herum nach München gezogen war, rund um die Uhr arbeitete, selten ausging und hierzulande vermutlich kaum jemanden kannte. Eine Dame des Hauses gab es nicht, der Mann war Witwer.

Es war perfekt. Ein zugezogener Neureicher, der die meiste Zeit in Geschäften unterwegs war und bei dem, da er von auswärts kam, keine Gefahr bestand, dass er schon einmal Lochners Gastwirtschaft besucht und dabei eine gewisse Kellnerin Colina Kandl auf dem Schoß gehabt hatte.

Bei manchen der einheimischen Herren, die Annoncen für ihre Töchter aufgaben, war Colina sich da nämlich nicht wirklich sicher gewesen.

Gerade, als sie das schmiedeeiserne Tor in der Gartenmauer erreichte, öffnete sich die Eingangstür der Villa. Colina trat hastig zurück hinter den steinernen Pfeiler des Torbogens. Nicht weniger als vier Damen, alle ähnlich herausgeputzt wie Colina, wurden von einem Dienstboten ins Haus gelassen; eine fünfte hastete noch über die Kieswege bis zum Portal. Der Diener hielt ihr die Tür auf und schloss sie hinter ihr wieder.

Fünf Konkurrentinnen also. Nun gut. Letztlich war es unwichtig. Wenn sie der Stellenvermittlerin in ihrem muffigen Büro nur ein bisschen ähnelten, würden sie hoffentlich alle gleich agieren.

Colina zählte bis zehn, ehe auch sie sich zum Portal aufmachte. Einige Kastanien beschatteten den Weg, aber der größere Teil des Gartens, ein regelrechter Park, schien hinter dem Haus zu liegen. Wer auch immer dieser Curt Prank war, an Geld mangelte es ihm nicht.

Sie läutete. Das Gesicht des Dieners erschien in der Tür. Ein blasses, schmales Gesicht, eine Miene, in der vor allem Unbehagen stand und die Angst, etwas falsch zu machen. Perfekt.

»Bitte entschuldigen Sie«, erklärte sie so liebenswürdig wie möglich, »ich habe mich leider verspätet. Ich komme wegen der Annonce …« Sie ließ den Satz ausklingen wie eine Frage, und der Diener beeilte sich, sie zu beantworten.

»Herr Prank hat die Bewerbungsgespräche noch nicht begonnen; Sie kommen gerade rechtzeitig. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, die übrigen Damen sind bereits im Salon.«

Hier waren merklich erst vor kurzem neue Bewohner eingezogen; das Foyer wirkte leer und unbewohnt, und man roch frische Farbe. Protzig war das Haus außerdem. Der schwere persische Teppich auf dem Flur biss sich in der Farbe mit den modernen Gemälden an der Wand; den Bilderrahmen ebenso wie den unförmigen Bodenvasen hätten einige Goldverzierungen weniger nicht geschadet.

Perfekt, wiederholte Colina in Gedanken.

Der Diener hielt ihr stumm ein silbernes Tablett hin, auf dem einige Umschläge lagen. Nur daran erkannte Colina, was er wollte. Sie holte ihre eigenen Zeugnisse aus dem Seitenfach ihrer Reisetasche und legte sie höflich lächelnd dazu.

Diese Zeugnisse hatten sie Stunden über Stunden gekostet, in denen sie, erst mit dem Bleistift, dann mit dem Füllhalter, verschiedene Handschriften nachgeahmt hatte. Verglichen damit war der Inhalt einfach gewesen; sie hatte nur einige Sätze aus den Lehrbüchern für Gouvernanten abschreiben und variieren müssen. Aber diese Sätze so aufzubereiten und in eine Form zu bringen, dass sie aussahen, als kämen sie aus der Hand einer zufriedenen Herrschaft, und jede einzelne Handschrift mit einer winzigen persönlichen Eigenheit zu versehen, das war tatsächlich eine Leistung. Colina war stolz auf ihre Meisterwerke.

Als der Diener ihr die Tür zum Salon bezeichnet hatte und sich abwenden wollte, erkundigte Colina sich, ob es möglich sei, sich rasch ein wenig frischzumachen. »Ich habe mich so beeilt, sicher bin ich ganz echauffiert …« Noch so ein Wort aus den Benimmschriften, das Colina unbedingt hatte anbringen wollen.

Mit etwas verlegenem Lächeln deutete der Diener auf eine Tür, an der sie auf dem Flur vorbeigekommen waren. So unsicher, wie er wirkte, war er bestimmt selbst noch nicht lange im Haus, wahrscheinlich auch noch nicht lange in seinem Beruf. Ob er sich seinen Posten auf ähnliche Weise ergaunert hatte, wie Colina das zu tun plante?

»Vielen Dank«, lächelte sie herzlich. »Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen.«

Der Diener lächelte ängstlich zurück. »Herr Prank kommt in fünf Minuten«, mahnte er, ehe er davonhastete, als wolle er mit dem, was jetzt kam, nichts zu tun haben.

Kluges Kerlchen.

Colina ließ ihre Reisetasche zu Boden gleiten und schob sie mit der Stiefelspitze unter einen Armsessel, der vor dem Eingang des Salons herumstand. Ihren Hut legte sie auf die Sitzfläche, zupfte kurz ihre Kleidung zurecht und betrat schwungvoll und mit größter Selbstverständlichkeit den Salon, dessen Tür sie fest hinter sich schloss.

Unter Hüten und Hauben hervor schauten fünf Gesichter sie fragend an. Die Damen erhoben sich merklich verwirrt; sie hatten mit einem Herrn gerechnet. Colina ließ ihnen keine Zeit, lange nachzudenken.

»Guten Tag, die Damen«, sagte sie, während sie an ihnen vorbeischritt, ohne ihnen mehr als einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. »Verzeihen Sie, wenn Sie warten mussten; wir sind kürzlich erst eingezogen, noch läuft der Haushalt nicht rund.« Sie machte eine ungeduldige Geste, als wolle sie diese Unannehmlichkeit zur Seite wedeln. »Um mich vorzustellen, ich bin Antoinette Prank. Es wird mir eine Ehre sein, Sie alle auf Herz und Nieren zu prüfen, um diejenige herauszufinden, die zur Erziehung und Begleitung meiner Stieftochter am geeignetsten ist.«

Colina richtete den Blick erstmals fest auf die Bewerberinnen und beobachtete, wie es in deren Mienen zu arbeiten begann. Eine junge zweite Ehefrau, und zwar offenbar eine von der energischen Sorte – davon war in der Annonce keine Rede gewesen. Eine unangenehme Überraschung.

Sofort setzte Colina nach. »Wie Sie der Anzeige entnommen haben werden, legen mein Gemahl und ich nicht nur Wert auf gute Erziehung und einen gefestigten Charakter, sondern auch auf exzellente Gesundheit. Dieser Punkt ist sogar von ausgesprochener Bedeutung für uns. Wenn Sie nun bitte alle so freundlich wären, Ihre Blusen aufzuknöpfen?«

Wie schade, dass kein Fotograf im Salon war! Er verpasste eine brillante Gelegenheit für ein garantiert nicht verwackeltes Bild; die Damen standen starr wie die Salzsäulen und machten entgeisterte Gesichter. Colina schnalzte ungeduldig mit der Zunge und klatschte dazu in die Hände.

»Nun machen Sie schon, ich habe meine Zeit nicht gestohlen und Sie die Ihre sicher auch nicht. Zu Ihrer Information: Ich leide bereits seit Jahren an Frigidität, weswegen Ihre Stellung in diesem Haushalt, so sie denn zustande käme, noch ein paar zusätzliche Pflichten umfassen würde. Die selbstverständlich eigens vergütet werden; diesbezüglich einigen Sie sich bitte mit meinem Gemahl.«

»Also, das ist doch …« Die würdige Dame, der dieser Halbsatz entfuhr, war vor Empörung so rot angelaufen, dass man sich Sorgen um ihre Gesundheit machen musste. Ein halb auffordernder, halb hilfesuchender Blick glitt zu ihrer Nachbarin und fand in deren Miene prompte Bestätigung.

»Falls Ihnen diese Einstellungsvoraussetzung nicht zusagt – den Dienstbotenausgang finden Sie links auf der Rückseite des Gebäudes«, fügte Colina kühl hinzu.

Mehr an Aufforderung war nicht nötig. Eine nach der anderen stießen die Bewerberinnen die Nasen in die Luft, bedachten Colina mit einem Blick, der eisig genug gewesen wäre, um tatsächlich Frigidität auszulösen, und verließen den Salon in einem Pulk rechtschaffener Entrüstung.

Durch die Vordertür, natürlich.

Alle, bis auf eine. Die jüngste der Anwärterinnen, nur wenig älter als Colina. Sie zögerte ein wenig, dann lächelte sie, halb geziert, halb herausfordernd, knöpfte ihre Bluse auf und streifte sie ab. Sie trug kein Korsett.

Brauchte die Bohnenstange bei der halben Handvoll Busen wohl auch nicht.

Colina stand einen Moment sprachlos. Damit hatte sie in der Tat nicht gerechnet. Hieß das mit anderen Worten, diese Dame wäre bereit gewesen, das Arrangement, das Colina soeben erfunden hatte, tatsächlich einzugehen? Was war das denn für eine?

Sie überspielte ihren Schreck schnell.

»Vielen Dank«, sagte sie beiläufig. »Sie werden verstehen, wenn ich jede Einschätzung in diesem Punkt meinem Mann überlasse. Da er noch immer nicht eingetroffen ist, könnten Sie eigentlich bereits weiter ablegen. Das wird uns hinterher ein wenig Zeit ersparen. Ja, ja, Röcke, Hemd, alles, bitte.«

Es half nichts. Diese Wahnsinnige tat es tatsächlich! Ungerührt schälte sie sich aus Rock, erstem Unterrock, zweitem Unterrock, streifte das Hemd ab, schnürte sich die Stiefeletten auf, fing an, die Knöpfe am Bund ihrer knielangen Unterhosen zu öffnen …

Auf dem Flur nahten Schritte. Männerschritte.

Die Tür ging auf, und einen Moment lang war Colina sicher, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.

»Was ist denn …«

Das, dachte Colina sofort beim Anblick des Mannes, der über die Schwelle getreten war, war kein gutmütiger oder bärbeißiger Besitzer eines Handelsgeschäfts, kein ehemaliger Metzger und kein zufällig zu Geld gekommener Glückspilz. Dieser Mann, vielleicht fünfzig, groß, dunkel, mit präzise zurechtgestutztem Schnurrbart und misstrauisch zusammengeschobenen Brauen, mit Schultern wie ein geübter Boxer und Händen, die seinem Namen alle Ehre machten, dieser Mann war gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Und alles dafür zu tun.

Selbst wenn das hieß, über Leichen zu gehen.

Seine Augen, braun wohl eigentlich, aber im grellen Licht des nachmittäglichen Salons so verfinstert, dass sie schwarz wirkten, schossen Blicke wie Pfeilschüsse auf das ab, was in seinem Salon vorging, erfassten die nackte Frau, den Berg Kleider daneben – und Colina, die nichts Besseres zu tun wusste, als mit klopfendem Herzen ein Lächeln aufzusetzen und in jenem tiefen Knicks zu versinken, den sie ebenfalls stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte.

Einen Atemzug lang geschah nichts. Colina glaubte sehen zu können, wie hinter der starren Miene des Hausherrn in seinem Kopf unzählige Zahnrädchen ratterten, während er versuchte, sich einen Reim auf den Anblick zu machen. Dann drehte Curt Prank leicht den Kopf und schaute sie an.

Die Lider senkten sich einmal, fast verschwörerisch, und der winzige Ansatz eines Lächelns zuckte um seine Mundwinkel. Beinahe anerkennend.

Er hatte alles begriffen. Colina schluckte.

»Ziehen Sie sich an«, sagte er kalt zu der zweiten Frau, die sich inzwischen verlegen bemühte, zumindest ihre gröbsten Blößen zu bedecken. »Hubertus wird Ihnen Ihre Papiere bringen und Sie hinaus begleiten.« Er schaute wieder auf Colina. »Es scheint, als seien Sie die einzige Bewerberin für die ausgeschriebene Stelle, Fräulein …?«

»Kandl«, sagte sie, vor Aufregung beinahe stotternd. »Colina Kandl.«

Er nickte, bereits wieder die Eiseskälte in Person. »Folgen Sie mir bitte in mein Büro, Fräulein Kandl. Glauben Sie mir, ich werde mir Ihre Zeugnisse genau ansehen.«

4.Ein einziger Zustand

»Wenn’s Ihnen recht ist, Lenz, habe ich uns zwei heute für die Streife in Schwabing eingeteilt«, sagte Eder. »Der Grabrucker fällt auch aus, und ganz ohne Polizei sollten wir die Ecke eher nicht lassen.«

Es war Lorenz Aulehner nicht recht. Ganz bestimmt nicht. Er hatte nichts dagegen gehabt, als Eder ihn nach dem Ausflug zu den Samoanern eher nebenbei informierte, Lorenz sei bis auf Weiteres zur Unterstützung des Inspektors abkommandiert. Er hatte freilich nicht damit gerechnet, trotzdem noch regulär Streife gehen zu müssen.

Und dann ausgerechnet in Schwabing!

Obwohl man Eder verstehen musste. Wenn Aulehner seinem Vorgesetzten in einer Sache beipflichtete, dann darin, dieses Viertel zügelloser Künstler, Literaten und Philosophen, diese Ansammlung von gefallenen Mädchen, geschiedenen Frauen und leichtfertigen Witwen, von Homosexuellen, Nebenerwerbshuren, Nacktbadern, verschuldeten Untermietern, Zechprellern und sonstigen Schmarotzern nicht ohne Aufsicht lassen zu wollen.

Was nicht hieß, dass er es gerne betrat.

Man konnte Lorenz’ mangelnde Begeisterung offenbar bereits auf Höhe Odeonsplatz bemerken, denn Eder kommentierte, während sie hinter der Feldherrnhalle darauf warteten, dass eine Pferdetram sich unter wildem Geklingel den Weg durch das Durcheinander aus Spaziergängern, Fuhrwerken, Lastenträgern und Gottesdienstbesuchern der Theatinerkirche bahnte:

»Lenz, mir kommt vor, die Schwabinger mögen S’ genauso gern wie die Samoaner.«

»Gegen die alten Schwabinger habe ich gar nichts«, verwahrte Aulehner sich sofort. »Bloß gegen das ganze zugezogene Gschwerl. Und da sind mir, entschuldigen Sie, die Kannibalen lieber.«

Eder schmunzelte in sich hinein. Er hatte sich für den heutigen Streifgang tatsächlich eine Uniform angezogen, die ihm um seine magere Gestalt schlotterte, und einen Helm dazu aufgesetzt; wenn man ihn wie Aulehner sonst nur in Zivil kannte, wirkte er damit wie verkleidet. »Sie sind ein Misanthrop, Lenz.«

Aulehner zuckte die Achseln. »Mit Verlaub, Herr Inspektor, aber schauen Sie sich doch um! Was soll man denn da anderes werden?«

Diesmal lachte Eder laut, antwortete aber nicht.

Die beiden Gendarmen ließen die Säulen der Feldherrnhalle, die in ihrer gigantischen Sinn- und Nutzlosigkeit Münchens Prachtstraße eröffnete, hinter sich und marschierten nebeneinander die Ludwigstraße entlang, vorbei an Staatsbibliothek und Universität. Hier herrschte noch weitgehende Ruhe, Fiaker brachten vornehm gekleidete Herrschaften nach Hause oder ins Theater; Konzertbesucher auf dem Weg zum Odeon nickten den beiden Uniformierten herablassend zu. Es war kurz nach sieben Uhr, die Studenten eilten wahrscheinlich gerade in ihre möblierten Zimmer, um ihre Bücher in die Ecke und sich selbst in Schale zu werfen, ehe sie zum Essen in eines jener zahllosen Cafés gingen, die in den Gassen hinter dem Siegestor wie Pilze aus dem Boden schossen und deren Namen und Besitzer schneller wechselten, als Aulehner sie sich merken konnte.

Am Siegestor bog Eder links ab. Aulehner holte noch einmal tief Luft, ehe er sich vom Chaos überspülen ließ.

Mitten auf der Akademiestraße hatte ein Fotograf sein Stativ aufgebaut. Sein Modell, das er vor dem Hintergrund der neuen Kunstakademie aufnehmen wollte, stützte sich, in ein togaähnlich drapiertes Bettlaken gehüllt, mit einem Kranz aus Eichenblättern auf dem Kopf und einer Lyra in der Hand, lässig mit einem Arm an die Straßenlaterne und bemühte sich, mit dem anderen einige Studenten zur Seite zu scheuchen, die feixend im Hintergrund durchs Bild hüpften.

An der Ecke Amalien- zur Adalbertstraße ging es dann los.

»Schwestern, Brüder! Es wird Zeit, die Ketten zu zerschlagen, die die Generation unserer Väter und Großväter uns angelegt hat! Frauen, sprengt eure Korsette! Männer, werft die Fessel der Erziehung ab, die euch an der Entfaltung hindert und euch ein Leben aufzwingt, das konträr verläuft zur wahren Natur des Menschseins! Humanitas ist die Antwort auf alles!«

Anscheinend predigte heute nicht Diefenbach selbst die Abkehr von Ehe, Religion, Textilien und Fleischverzehr, sondern einer seiner Jünger. Oder vielleicht war es auch ein Konkurrent; gab ja genug von diesen Kohlrabi-Aposteln. Sie sahen auch alle ähnlich aus: wallender Rauschebart, zerzauste Haarmähne bis auf den Rücken, und über ausgelatschten Sandalen eine bodenlange Kutte, die verblüffend an die des samoanischen Schamanen erinnerte. Man musste froh sein, dass der Mann wenigstens so viel an Bekleidung angelegt hatte; immerhin war Diefenbach ein Anhänger der Freikörperkultur, bei der die Leute, wenn Aulehner das richtig verstanden hatte, tatsächlich splitterfasernackt herumliefen – und zwar Männlein und Weiblein bunt gemischt!

In diesem Moment hatte der Prediger die beiden Gendarmen auf der anderen Straßenseite erspäht und deutete mit ausgestrecktem Arm zu ihnen hinüber.

»Da, schaut sie euch an, die Vertreter von Recht und Ordnung, die uns im Namen verknöcherter Institutionen und verlogener Moral an den Erdboden fesseln, während unsere Seelen in Wahrheit dazu bestimmt wären, dem Himmel entgegenzueilen und diese Erde in ein Paradies zu verwandeln! Ziehen Sie Vergnügen daraus, meine Herren von der Polizei? Bereitet es Ihnen Genugtuung, diejenigen, die von der Natur zu Höherem bestimmt wären, in demselben Kerker der Engstirnigkeit gefangenzuhalten, dem Sie selbst wie alle Spießbürger nie entkommen werden? Pfui sage ich, dreimal pfui!«

Alle Köpfe drehten sich prompt und musterten Eder und Aulehner. »Jetzt geht’s auf!«, freute sich jemand unter den Zuhörern und zog erwartungsvoll an seiner Zigarre. Wäre Aulehner allein gewesen, hätte sich diese Erwartung mit Sicherheit erfüllt. Eder legte ihm allerdings sachte eine Hand auf den Arm.

»Nicht provozieren lassen, Lenz! Einen größeren Gefallen, als ihn zu verhaften, könnten Sie dem Mann gar nicht tun.« Notgedrungen beschränkte sich Aulehner darauf, dem selbsternannten Propheten einen grimmigen Blick zuzuwerfen, und stapfte weiter neben Eder her. Inzwischen brach die Dämmerung herein. Die Straßenlampen begannen zu leuchten.

So ging es weiter, Schritt für Schritt. Ein Schnellmaler porträtierte im letzten Licht auf offener Straße ein Dienstmädchen, von dem er sich als Gegenleistung vermutlich Gefälligkeiten erhoffte. Ein Kerl mit Koteletten und blondem Lockenkopf redete in einer Sprache, die sich Nordisch oder Holländisch anhörte, auf einen stämmigen älteren Mann in gestrickter grauer Weste ein, der auf einem Bierfass saß und an einer langstieligen Tabakspfeife zog. Eine junge Frau mit Zwicker auf der Nase schob sich, den Blick auf ein Textbuch geheftet, durch die Passanten und sagte im Gehen Passagen aus einem Theaterstück auf. Schwabing war ein Tollhaus, dachte Aulehner, und heute Abend waren Eder und er seine einzigen Aufseher.

Vor einem der nächsten Hauseingänge, einer Doppeltür mit buntem Glaseinsatz, blieb Eder stehen.

»Bereit, Oberwachtmeister?« Eder machte gar nicht erst den Versuch, seine Erheiterung zu verbergen, als er Aulehner ansah. Lorenz verzog das Gesicht.

»Für das da drin bin ich in zehn Jahren noch nicht bereit. Hilft es was, wenn ich nein sage?«

»Auf gar keinen Fall.« Sie betraten das Lokal.

So musste sich ein Erzbrocken in einem Hochofen fühlen, dachte Lorenz. Nichts als Hitze, Qualm und Lärm. Der Lärm kam von dem Gewirr Dutzender Stimmen, die lachten, stritten, wüst durcheinander schrien, nach Bier und Absinth riefen und sich dabei gegenseitig zu übertönen versuchten, und der Rauch von den Unmengen an Zigarren, Zigarillos und Zigaretten, die nebenbei gepafft wurden.

Noch ehe Aulehner Zeit gehabt hätte, Atmung und Gehör an die Umgebung anzupassen, kündigte bereits der erste Ruf das Eintreffen der neuen Gäste an.

»Ach-tung!« Der Rufer dehnte den ersten Vokal und betonte die zweite Silbe des Worts so, dass es sich anhörte wie ein Befehl auf einem preußischen Exerzierplatz.

»Pickelhaubenalarm!«, ergänzte eine zweite Stimme in genüsslichem Singsang. Rundum brandete Lachen auf. Statt unverzüglich den angemessenen Respekt einzufordern, tippte Eder nur gegen den Rand seines Helms und schlenderte gemächlich tiefer in das Lokal hinein.

Aulehner folgte und bemühte sich, die spöttischen Bemerkungen rundum zu überhören. Sie erstarben ohnehin rasch. Stattdessen trieben durch den Zigarrenrauch von den Tischen, an denen sie vorbeikamen, Satzfetzen zu ihm her und vereinten sich zu einem akustischen Mosaik, das Seinesgleichen suchte.

»Und ich sage dir, der Hellenismus war in ästhetischer Hinsicht der Zenit der Menschheit; wir werden nie mehr wieder …«

»… ein völliger Fehlschlag und eine totale Verkennung der Sachlage. Dass wir überhaupt Truppen nach Fernost, und das in dieser …«

»Weil dem Christentum in seiner Essenz immer etwas Jüdisches innewohnen wird, während die nordischen Mythen …«

»Weiß der Himmel, wer ihr gesagt hat, sie könnte schauspielern. Womöglich bin ich schuld; es gehört etwas dazu, eine Schwester zu haben, die beim Theater im Chor singt, wenn man selbst keinerlei Talent für die Kunst …«

»… keine Ahnung von moderner Malerei. Mach dir nichts draus, Corinth ist es nicht anders ergangen. Wenn du einen Nachmittag Zeit hast, klecks ihm ein Stillleben zusammen oder einen röhrenden Hirsch, dann ist er glücklich, und du kannst deine Miete bezahlen.«

»Bei Schuler lasse ich mich freiwillig gewiss nie wieder blicken. Als ich letztens dort war, hatten sie eine Art Tanz zu Ehren Apollos. Oder Kybeles, kann auch sein. Sah jedenfalls aus wie eine Horde besoffener Rumpelstilze beim Versuch, sich gegenseitig die Beine auszureißen. Da ist mir, wie man hierzulande sagt, dann doch der Schmarren zu groß, edles Heidentum hin oder her.«

Dazwischen brandeten von links und rechts Bestellungen von Leberkäse und Bier heran, und ein paar Kellnerinnen mühten sich ab, die Horde gefüttert und getränkt zu halten. An einem der hinteren Tische fing eine Gruppe bereits ziemlich angeheiterter Herren, zum Teil mit Damen auf dem Schoß, zur Melodie von »Schlösser, die im Monde liegen« an zu singen:

»Grüne Fee, komm lass sie fliegen! / Wenn wir sie nur gratis kriegen …« Dazu streckten sie auffordernd ihre leeren Absinth-Gläser in Richtung Theke.

Ein Tollhaus, wiederholte Aulehner in Gedanken.

Bis dahin hatte er Eder im Verdacht gehabt, ziellos durch den Schankraum zu wandern. Inzwischen erkannte er, dass der Inspektor sehr wohl ein Ziel hatte, noch dazu ein erfreuliches: den hinteren Ausgang in den Hof. Erleichtert stolperte er hinter ihm her ins Freie und atmete die frische Luft ein.

Nicht, dass es hier viel ruhiger gewesen wäre. Aber zumindest der Qualm konnte sich hinauf zwischen die Äste der drei Rosskastanien verziehen, und selbst das Künstlergebrüll der Gäste dröhnte weniger als drinnen. Die Reaktionen auf die zwei Polizisten waren freilich ähnlich spöttisch.

Eder kümmerte sich nicht darum. Stattdessen steuerte er einen Tisch an, der für sechs Leute gedacht war und an dem sich mindestens zehn drängten. Mehrere andere standen, Bierkrüge und Zigaretten in den Händen, daneben und dahinter, um sich am Gespräch beteiligen zu können.

Einen davon, einen mageren Kerl Mitte zwanzig, blass und sommersprossig, mit Augen, die hinter ihren dicken Brillengläsern übergroß wirkten, sprach Eder an.

»Ah, Herr Denhardt. Sie hatte ich gesucht.«