Die Chiòcciola-Trilogie - Kiara Borini - E-Book

Die Chiòcciola-Trilogie E-Book

Kiara Borini

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Beschreibung

Alle drei Bände der Chiòcciola-Trilogie: Fünfzehn Jahre, Sommerferien in Brandenburg, die beste Freundin verreist. Öde! Pa im Regierungsviertel, Ma beim Heilfasten, der Zwillingsbruder beim Computerspielen - Unspannend! Die Rettung der Ferien: Ins Haus gegenüber ziehen Nachbarn vom anderen Ende der Milchstraße ein. Chiòcciola, das geliebte Alien, kehrt nach Jahren des Wartens auf die Erde zu Annika zurück. Überraschend, am Ende ihrer Kräfte und mit einer unerwarteten Begleitung. Dennis muss ans andere Ende der Galaxis reisen - der Liebe wegen! Und Annika macht völlig unerwartete Erfahrungen. Für Dennis ist es am Anfang gar nicht leicht, Akzeptanz und Sinnhaftigkeit im Leben zu finden in einer ablehnenden Welt ohne Strom für den Laptop...

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Seitenzahl: 522

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Impressum

Texte:

© Copyright by Kiara Borini

Umschlag:

© Copyright by Kiara Borini

Verlag:

Kiara Borini

14542 Werder (Havel)

[email protected]

www.facebook.com/borini.books

Druck:

epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Band 1: Aliens im Nachbarhaus

Danke

Keiner der Bände wäre ohne Zuspruch und Hilfe von Leuten, die an Annika, Dennis, Chiòcciola, Ashley und Jill geglaubt haben, auch nur entstanden. In nicht einmal einem Jahr ist aus einem groben Konzept mit wenigen Seiten eine interessante und bunte Welt geworden, die zwar mitunter fremdartig anmutet, aber auch viele Aspekte unserer Welt widerspiegelt. Dass diese Welt aus dem Nichts entstehen konnte, dafür gilt mein großer Dank!

Natürlich möchte ich einigen Personen ganz besonders danken, und sie namentlich hervorheben. Das heißt aber nicht, dass der Beitrag derer, die hier nicht genannt sind, etwa weniger wichtig für das Gelingen wäre. Es ist halt nur so, dass ich bereits das Alter erreicht habe, in dem ich vergesslich werde. Man möge mir also verzeihen!

Und bei den Namen, nenne ich bewusst nur die Vornamen in alphabetischer Folge, unabhängig, ob ich die Personen im Alltag duze oder nicht. Ein wenig Datenschutz wollen wir hier dann doch wahren, oder?

Mein besonderer Dank gilt also: Anette, Annemarie, Annette, Annika, Barbara, Bettina, Brigitta, Christina, Christine, Claudia, Daniela, Elizabeth, Heike, Holger, Jessica, Johannes, Katrin, Mandy, Manuela, Maria, Marie, Marlies, Nico, Petra, Ria, Sabine, Sonja, Tatjana, Ulrike, Vanessa, Vivien und vielen, vielen anderen!

Einen Namen möchte ich aber doch besonders hervorheben: Daniela Voges, die sich tapfer durch alle drei Bände gekämpft hat!

Sommer-Blues

Also, was soll ich sagen, es ist Sommer. Es ist warm. Sehr warm. Brütend heiß, um genau zu sein; und ich sitze zu Hause. Eigentlich wollten wir am Mittelmeer sein. Diese Insel, auf der wir vor zwei Jahren einen echt tollen Urlaub hatten.

Dann sind wir hierher gezogen, weil Pa einen wichtigen Job hatte. Irgendetwas bei der Regierung oder so. Klar, da muss man in die Nähe der Hauptstadt ziehen. So wichtig, dass nicht einmal ein Urlaub mehr drin ist. Überhaupt, ich sehe Pa seit zwei Jahren kaum noch. Und wenn, dann tut er irre geheimnisvoll und sagt manchmal so tolle Dinge wie: „KB ist sich natürlich darüber im Klaren, dass das Ganze nicht in Einklang mit dem Außenwirtschaftsgesetz zu bringen ist.”

KB, wer soll das schon wieder sein: Katrin Baumgartner? Kübler-Baumschulte? Kanzlerberater? Mir ist das echt zuwider. Wenn man was zu sagen hat, dann finde ich, sollte da eine Aussage drin stecken, Und wenn nicht, dann messe ich, Annika, dem „keine Bedeutung” bei. K. B., verstanden?

Jedenfalls ist K.B. indirekt mit dafür verantwortlich, dass ich hier während meiner Sommerferien allein rum hocke, statt mir am Mittelmeer eine nahtlose Bräune zu holen. Die erste vielleicht in meinem Leben. Nein, natürlich ist das nicht das erste Mal, dass ich mich mit freien Oberkörper in die Sonne lege. Aber es wäre das erste Mal gewesen, dass es mir so richtig wichtig gewesen wäre. Denn letztes Jahr wäre „nahtlos” noch gar nichts Besonderes gewesen.

Überhaupt: Das letzte Schuljahr war irgendwie anders gewesen als früher. Es war das erste Mal, dass die Jungen nicht nur doof waren. Irgendwie hatten sie, wenn man sie nur intensiv genug studierte, auch interessante Seiten. Na gut, mein Bruder und seine doofen Freunde sind da definitiv die Ausnahme von der Regel!

Und was soll ich sagen, auch ich war irgendwie interessanter geworden. Die Schule machte mir jedenfalls auf eine neue, aufregende Art Spaß. Obwohl es mehr die Pausen waren, denen ich entgegen fieberte. Mathe und Physik hasse ich nach wie vor!

Und jetzt sind Ferien, die wichtigsten vielleicht in meinem Leben und ich hänge hier allein in dieser öden Neubausiedlung am Rande der Hauptstadt. Obwohl ich nicht ganz allein bin. Zwar sind alle halbwegs interessanten Menschen im Urlaub, weil ihre Väter einfache, normale Jobs haben, aber Dennis ist noch da, mein kleiner doofer Bruder, der im Spitzboden im Dach wohnt. Da sein Computergehäuse fast ständig auseinander geschraubt ist, denke ich manchmal, vielleicht wohnt er auch in diesem blau fluoreszierenden Tower.

Na ja, und klein ist er eigentlich nicht wirklich, immerhin ist er schon fast einen Kopf größer als ich, obwohl er genau 27 Minuten jünger ist. Bei Jungen sind solche Minuten Altersunterschied gleichbedeutend mit Jahren! Na gut, Monaten wenigstens! Und richtig doof ist er sicherlich auch nicht. Seine letzten Zeugnisse waren eher besser als meine. Aber deswegen kann man sich dennoch nicht mit ihm unterhalten. Es sei denn man wäre ein Alien und könnte mit ihm darüber diskutieren, in welchem Mischungsverhältnis Materie und Antimaterie bei maximaler Energieausbeute ein Raumschiff vorantreiben können. Aber ernsthafte Diskussionen sind ihm einfach zuwider. Ich denke, mit fünfzehn sind Jungen einfach etwas beschränkt.

Mit Naike kann ich auch nicht reden, die ist ja erst zwei. Dabei erzählt sie mir ständig etwas. Das ist zwar noch immer nur eine Andeutung von Sprache, aber immerhin verstehen wir in der Familie meist ungefähr, was sie uns so aufgeregt über die Welt zu berichten weiß. Alle, außer Pa, der ist immer wieder fassungslos, wenn sie etwas sagt und wir darauf antworten. Er ist aber auch zu selten da, um sich an ihren singenden Dialekt zu gewöhnen.

Ist immer noch ungewohnt und ein wenig komisch, so eine kleine Schwester zu haben. Wenn ich mal selbst Kinder habe, dann können die mit ihrer Tante bestimmt eine Menge anfangen, weil sie dann noch ungefähr in ihrem Alter ist, aber mir hilft sie jetzt gar nicht bei meinem Sommer-Blues.

Dazu kommt, dass ich immer wieder auf die Kleine aufpassen muss, wenn Ma zum Yoga ist, oder beim Töpfern, Epilieren oder Spanisch-Kurs. Alles das kann man natürlich nur in der Hauptstadt machen. Denn hier, wo wir wohnen, ist es öde. Sagte ich das schon? Egal, es ist öde.

Als die von der Regierung beschlossen haben, die Hauptstadt umzuziehen und einmal quer durchs Land zu karren, und mein Pa laut und deutlich „Hier” geschrien hat, und gleich hinterher gezogen ist, da war hier ein großes Loch. Davor, also früher, standen hier - glaube ich - Kirschbäume und ganze Karawanen mit Trabbis haben sich hier auf der Landstraße die Reifen platt gestanden, um, wenn es schon keine Bananen gab, wenigstens ein paar heimische Früchte zu bekommen. Wahrscheinlich eher die Fahrer, egal.

Als das Loch wieder zu war, standen hier so niedliche ziegelrote Doppelhäuser, eins wie das andere. Aber immer je zwei Hälften natürlich spiegelverkehrt. Ist euch das schon mal aufgefallen in diesen Doppelhaussiedlungen; wenn ihr beim Nachbarn seid, ist das Klo plötzlich auf der anderen Seite vom Flur! Ich finde das immer irre merkwürdig, obwohl ich doch bei Jessica schon so gut wie zu Hause bin. Jessica wohnt zwei Häuser weiter. Normalerweise, denn jetzt ist sie auf Elba.

Ihr Pa hat einen normalen Beruf. Ist Arzt im Krankenhaus und hilft alten Männern beim Pinkeln, hat Jessica mal gesagt. Ich habe dann nicht weiter nachgefragt, weil ich das auch nicht richtig spannend finde. Immerhin macht er Urlaub mit seiner Familie. Jedes Jahr!

Eigentlich habe ich mir immer einen Vater mit einem tollen Beruf gewünscht. Einen, den man sich vorstellen kann.

In der Grundschule haben wir mal verschiedene Väter bei der Arbeit besucht. Ingrids Pa war Friseur! Der hatte zwar fast keine Haare mehr, aber ganz tolle Frisurenmuster. Wir haben uns da lange aufgehalten, mit den Stühlen Karussell gespielt und uns Farben für unsere Haare ausgedacht.

Peters Vater hatte einen Trecker. Da waren die Jungen natürlich gar nicht mehr von runter zu kriegen. In seiner Not hat der dann alle zum Gülle ausfahren mitgenommen. Danach waren sie wohl etwas weniger begeistert von Traktoren, denke ich.

Mich hat das kleine Kälbchen besonders fasziniert, das am Tag zuvor geboren war. So süß, wirklich, mit diesen langen staksigen Beinen. Und wenn es den Kopf gereckt hat, war es schon größer als ich! Erst einen Tag alt und schon groß genug für die vierte Klasse!

Pa hat sich auch nicht lumpen lassen und alle in sein streng geheimes Ministerium eingeladen. Mir war das so peinlich! Nichts als Aktenordner. Ein Zimmer sah aus wie das andere, und überall waren Ordner, die mit seltsamen Zahlen beschriftet waren. Die Klassenkameraden haben mich noch lange Zeit gefragt: Wenn dein Pa zur Arbeit geht, was macht er dann eigentlich?”

Ganz egal, was er macht. Es ist dafür verantwortlich, dass ich hier bin. Diesen Sommer in diesem öden Neubaugebiet. Seit zwei Jahren, sind wir hier. Überall in der Nachbarschaft ziehen die Leute nach kurzer Zeit wieder aus. Weil sie versetzt werden, oder weil sie ihren Job verlieren. Aber nicht so Pa, nein, er und sein Ministerium sind wie der Fels in der Brandung. Bei uns gegenüber ist die Familie auch schon vor vielen Monaten ausgezogen.

War nicht so richtig schlimm für mich, weil die nur zwei kleine Kinder hatten, so im Alter von Naike und etwas älter. Niemand also, den ich extrem vermisse. Bei Jessica wäre das anders. Die vermisse ich schon, wenn sie im Urlaub ist, und ich nicht.

Habe ich euch schon erzählt, dass wir dieses Jahr nicht in Urlaub fahren? Wir sind da, wo wir auch letztes Jahr waren. Nicht am Mittelmeer! Keine nahtlose Bräune, keine interessanten Erlebnisse, von denen man erzählen kann, wenn die Schule wieder anfängt. Schließlich ist Naike-Hüten nichts, wofür es Punkte gibt in den Pausengesprächen.

So sitze ich ganz gesittet mit Top und Shorts auf unserer gut einsehbaren Terrasse und schmelze in der Sonne. Es ist bereits Mittag, aber Ma hat schon signalisiert, dass es erst am Abend etwas Warmes gibt. Ihr Yoga-Kreis ist irgendwo in der Hauptstadt zu einer Ayurveda-Konferenz gefahren, weil ihr Trainer dort einen Vortrag hält. Dennis ist oben in seinem Zimmer und tötet gerade irgendwelche Aliens an seinem Computer. Ich kann sie durch das geöffnete Dachfenster platzen hören.

Naike planscht in ihrem Swimmingpool aus bunten Gummiwürsten, das auf dem Rasen steht. Sie quiekt laut und vergnüglich und hält das auch sicher noch ein paar Stunden aus. Ganz anders als mein MP3-Player. Der Akku macht schon wieder schlapp...

Bewohner von Doppelhaushälften haben einen 75 Prozent Horizont, denn man kann aus ihnen nur nach drei Seiten raus schauen. Ist zwar eigentlich logisch, aber ich habe am Anfang echt überlegt, aus welchem Zimmer man das Haus von Jessica sehen kann. Das Problem ist, man kann es nicht.

Dafür kann man von der Terrassentür durchs Wohnzimmer, durch den Flur mit der Essecke und die Küche durch das Küchenfenster bis auf die Straße sehen und in den Garten des unbewohnten Nachbarhauses gucken. Normalerweise.

Während ich durch die Terrassentür ins Haus gehe, um meinen Ohren einen neuen Satz Batterien zu gönnen, sehe ich also durch unser Haus hindurch und sehe völlig überraschend - einen Möbelwagen. Er ist wohl gerade angekommen, denn ich sehe Leute, die dessen hintere Türen öffnen und das Entladen vorbereiten.

Also vergesse ich den MP3-Player und die Akkus und laufe an meinem Zimmer vorbei einen Stock weiter in den Spitzboden, wo Dennis sein Unwesen treibt. Als ich durch die Tür komme sehe ich, wie er sich gerade einen neuen ChubbaChup in den Mund schiebt. Der Berg an Einwickelpapier unter seinem Schreibtisch verrät mir, dass es nicht die erste Kalorienbombe ist, die er heute seinem Organismus zuführt.

„Hast du den Lieferwagen gesehen?” rufe ich leicht außer Atem vom Treppe steigen.

„Jo” entgegnet Dennis knapp, um dann zu ergänzen: „Sprinter-Klasse, Hochdach, langer Radstand, Common-Rail-Diesel, Sechszylinder.”

Ich sehe durch das gekippte Dachfenster. Der Lieferwagen glänzt merkwürdig in der Sonne. Irgendwie perlmuttfarben und gänzlich ohne irgendeinen Schriftzug, wie „Karls LKW-Vermietung” oder „Robert Wientje, Lieferwagen ab 5 Euro die Stunde” oder so.

„Merkwürdige Farbe” höre ich mich sagen. Im Hintergrund platzen weiter Aliens und ich weiß auch ohne Dennis anzusehen, dass es mir bisher noch nicht gelungen ist, seine Aufmerksamkeit über einem Grundrauschen zu fesseln.

„Ist keine Serienfarbe”, lautet sein Kommentar nach einer gewissen Zeit, in der offensichtlich sein taktischer Hirnbereich Teile des Sprachzentrums mit Beschlag belegt hatte. Übertriebene Mausaktivität blockiert Zungenfertigkeit. Irgendwann in der Evolution werden fünfzehnjährige Jungen einen eigenen Gehirnbereich angedockt bekommen, um ihren rechten Zeigefinger zu steuern, und dann klappt es auch wieder mit dem Sprechen beim Spielen.

Drei Leute zähle ich, die den Lieferwagen entladen. Zwei von Ihnen sind offensichtlich die Eltern. Der oder die Dritte ist der Größe nach zu urteilen, etwa in unserem Alter. Alle tragen Sie einfarbig weiße Overalls. Kleidsam, aber irgendwie doch auch unpraktisch bei einem Umzug, meine ich.

„Wo die wohl herkommen?”

Ich kann mich gar nicht satt sehen. Es fehlt gerade noch, dass ich mir ein Kissen für die Ellenbogen hole! Aber - endlich passiert hier mal was in unserer Straße. Vielleicht werden die Ferien ja doch gar nicht so öde, wie ich vorhin gedacht hatte. Vielleicht ist deren Tochter ja ganz nett und man kann sich mit ihr unterhalten. Momentan sind sie alle drei allerdings damit beschäftigt, Umzugskartons über den Garten und die Terrassentür ins Haus zu tragen.

„Holland oder Großbritannien!” erhalte ich zur Antwort, ohne dass Dennis auch nur einen Blick von seinem Monitor genommen hatte. Seine verdammte Webcam, schießt es mir durch den Kopf. Was er wohl mit seiner Elektronik noch alles im Blick hat? In dem Moment erhalte ich auch schon die Erklärung, dass die Kombination schwarz-gelb bei den Kennzeichen innerhalb der EU insbesondere für die beiden genannten Länder spräche.

Die Leute sind fleißig wie die Ameisen. Ein Karton nach dem anderen wird über den Rasen, die Terrasse ins Haus getragen und schon ist der Träger wieder beim Lieferwagen und holt den nächsten. Wie eine Ameisenarmee – alles wirkt geplant und präzise. Und alle Kisten sehen gleich aus. Keine Tüten oder Lampenschirme. Ist doch merkwürdig, oder? Sitzen die dann später auf den Kisten? Wo sind die Stühle, Sofas, Betten?

„Wie merkwürdig die Kartons schimmern! Gar nicht so wie Wellpappe. Irgendwie glänzend.” Ich muss wohl laut gedacht haben. Für Dennis war es dennoch ein hinreichender Grund, mir einen Vortrag über Nanotechnologie zu halten. Winzig kleine, sich selbst reproduzierende Kristalle bilden eine riesige Oberfläche, die dadurch eine besondere Kühlwirkung entfaltet. So heizen sich die Gegenstände in den Kisten weniger auf, und man kann die Energie bei der Lagerung reduzieren, was im Sinne von Kyoto durchaus sinnvoll sei.

„Kyoto?”

„Die Selbstverpflichtung einer Vielzahl von Staaten, die so genannten Treibhausgase zu reduzieren.”

Der Perlmutteffekt deute auf einen Selbstreinigungseffekt des Lackes hin, den sich Chemiker vor einiger Zeit von der Lotuspflanze ab geguckt haben, und der ebenfalls ganz im Sinne Umwelt verträglicher Hightech stünde. Wenn man ihn einmal an gestachelt hat, ist mein kleiner Bruder einfach nicht zu bremsen. Er saugt Wissen auf wie ein Schwamm und wenn er wieder ausgedrückt wird, gibt es eine Informationsüberschwemmung! Als es dann um die Bedeutung der Nanotechnologie für das 21. Jahrhundert ging, habe ich mich leise zurückgezogen.

Natürlich hatte er auch keine Erklärung dafür, warum der Lieferwagen nicht beschriftet war. Vielleicht war ja die Lotusfarbe noch nicht trocken, oder was? Und warum sollten Leute ihre Umzugskisten besonders kühlen wollen? Dreieinhalb Tonnen Tiramisu kurz vor dem Umzug noch fertig geworden vielleicht? Eiervorräte für die nächsten hundert Jahre? So schön Dennis’ Erklärungsversuche auch immer sind, sie treffen die Kernfragen fast nie. Was sind das für Leute, die seit heute unsere neuen Nachbarn sind? Das ist doch mal eine spannende Frage, die man diskutieren könnte. Warum ziehen die so komisch um, in einem merkwürdigen Lieferwagen und mit sonderbaren Kisten und ohne Möbel und Lampenschirme.

Bei diesen Gedanken war ich dann schon an meinem Zimmer vorbei gelaufen und fast auf der Terrasse angekommen. Die Akkus hatte ich natürlich inzwischen völlig vergessen.

Und am Allerwichtigsten: Ist deren Tochter halbwegs nett? Und ist es überhaupt eine Tochter, oder muss ich befürchten, dass mich demnächst noch ein nanotechnologisch gebildeter Alien-Jäger mit Info-Müll zutextet?

Draußen quiekte Naike. Der Umzugswagen warweg. Ohne Motorengeräusch, einfach verschwunden. Wie in Luft aufgelöst.

Willkommen Tristesse.

Nachbarn

Ich hatte mich in den letzten drei Tagen komplett zum Affen gemacht. Neugier war eine meiner herausragenden Charaktereigenschaften geworden. Was hatte ich nicht alles angestellt, nur um endlich zu erfahren, was wir für neue Nachbarn haben.

Dummerweise konnte man aus meinem Zimmer nur auf unseren Garten blicken. Das Haus unserer neuen Nachbarn lag genau auf der gegenüberliegenden Seite. Dennis war da im Vorteil, denn sein Spitzboden hat zwei Dachfenster; eines davon genau in der benötigten Richtung. Dabei konnte er alles durch seine Webcam beobachten, ohne auch nur von seinem Schreibtischstuhl aufzustehen. Ich hingegen hatte mir jeden erdenklichen Grund ausgedacht, nur um aus diesem Fenster zu blicken. Gestern hatte ich mich sogar nicht entblödet, ihm anzubieten, sein Zimmer zu saugen.

Der aufgewirbelte Staub würde seinen empfindlichen Geräten nicht gut tun. Ich stand echt total doof da, wie eine Putzwütige, dabei wollte ich doch nur sehen, was dort drüben vor sich geht. Vorgestern habe ich mein Fahrrad nach vorn auf die Straße geholt und ausführlich angefangen zu putzen. Ich und Fahrrad putzen! Aber so konnte ich wenigsten ab und zu einen Blick auf das Nachbarhaus erhaschen. - Nichts. Gar nichts!

Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie dort Kisten hineingetragen wurden, ich hätte schwören können, dass dort kein Mensch wohnt.

Mit Dennis hatte ich kaum ein paar Worte gewechselt, seit ich oben bei ihm war, als der Umzugswagen kam. Mit Ma und Pa war das Thema auch nach wenigen Sätzen durch. Etwa in dem Stil: „So, neue Nachbarn – na, hoffentlich sind die ausdauernder als die letzten. Ist doch gar nicht gut für so eine Immobilie, wenn die Leute ständig kommen und gehen. Aber die scheinen in Ordnung zu sein, sonst hätte ich schon längst ein Memo auf dem Schreibtisch liegen.”

„Ach Engländer. Kinder, da könntet ihr endlich mal was für eure Sprache tun. Freundet euch mit denen an. Die wollen doch auch bestimmt unsere Sprache lernen. Ich sollte sie mal fragen, ob sie Tennis spielt.”

Dann war das Thema abgehakt. Ma war auch viel zu beschäftigt. Ihr Yoga-Kurs hatte gerade Heil-Fasten. Da musste sie pünktlich zu den ausgelassenen Mahlzeiten bei der Gruppe sein. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber Pa schien noch seltener zu Hause zu sein als sonst. Wegen irgendeiner Sicherheitslage mussten die Gullydeckel der Stadt mal wieder verschweißt werden, und da durfte er natürlich nicht fehlen. Irgendeiner musste schließlich die Kontrolle haben.

Langsam begann ich an mir zu zweifeln. Die Trostlosigkeit dieser Sommerferien schien meinem Hirn einen Streich zu spielen. Sicherlich war alles ganz anders, als ich es mir einbildete. Nur wie? Wie anders? Dennis war auf jeden Fall anders! Natürlich hatte er früher auch ganze Nächte lang an seinem Computer gesessen und auf Pixelmonster geschossen. Aber seit dem bewussten Nachmittag war er irgendwie verbissener. So als ob er in seiner Ehre gekränkt wäre und nun verzweifelt versuchte, seine Reputation wiederzuerlangen. Große Worte für das Ego eines fünfzehnjährigen Bruders, ich weiß, aber irgendwie wirkte er auf mich verkniffen und noch unnahbarer als früher.

Blieb mir nur, mich in Geduld zu üben und mich so oft und so unauffällig wie möglich vor dem Nachbargrundstück herumzutreiben. Spülmaschine ausräumen war so eine Aktion. Man konnte prima aus den Küchenfenster sehen dabei. Nur, es gab nichts zu sehen. Nichts!

Tisch decken – das gleiche Problem. Müll rausbringen. Briefkasten leeren. Einkaufen. Irgendwann hätten sie mir bestimmt noch einen Orden spendiert, wenn sie nicht plötzlich auf dem Rasen gestanden hätte, als ich gerade mal wieder zum nahegelegenen Supermarkt wollte, um etwas eigentlich völlig Belangloses zu besorgen. Wir sahen uns schweigend eine Zeit an. Sie hatte ungefähr die gleiche Größe wie ich, war vielleicht ein paar Zentimeter größer und sehr schlank. Das Haar war relativ kurz geschnitten und leuchtete in einem goldenen Blond. Ihre Augen waren blau und strahlten. Ihre Gesichtsfarbe war blass mit einem Hauch rosé an den Wangen, wirkte aber auch ungeschminkt sehr klar und rein. Genauso, wie ihr weißer Overall auf eine unglaubliche Weise blütenrein schien. In dieser Kleidung wirkte sie sehr zierlich.

Wenn ich Weiß trage, habe ich meist schon beim Frühstück den ersten kleinen Fleck auf der Kleidung. Das sind zwar meist nur winzige Spritzer, die außer mir niemand sieht, aber ich bin da sehr pingelig.

Keine von uns schien den Anfang für ein Gespräch machen zu wollen. Doch ich konnte die Augen nicht von ihr lassen und spürte gleichzeitig einen mächtigen Sog, der von ihrem Blick ausging. Irgendetwas hinderte mich daran, den Blick abzuwenden.

‘75A, so nennst Du mich. Du sagst, du bist 75B.

Nein, das ist kein Name, das scheint ein Vergleich zu sein. Was von beiden ist besser?’

Ich drehte mich erschrocken um. Ich hatte keine Stimme gehört. Es war sie! Ihre Gedanken entstanden einfach so in meinem Kopf. Ich konnte sogar sagen, wo in meinem Kopf sich diese Worte gebildet hatten. Rechts und links hinter meinen Schläfen. Das war so, als ob man einen Kopfhörer für Gedanken tragen würde, so klar und dreidimensional waren die Gedanken zu hören. - Obwohl sie doch nicht gesagt worden waren.

‘Ich weiß, ich sollte euch keine Gedanken spenden. Aber ist 75A besser oder schlechter als 75B? Ich kenne mich mit eurem System noch nicht aus?’

Mein Lieblingsteddy war früher aus Frottee gewesen. Bloß, als ich eines Tages mein Lieblingsessen nicht in meinem Bauch behalten hatte und es mit besagtem Lieblingsteddy geteilt hatte, beschloss Ma, dass es Zeit für den Teddy wäre, ein Bad zu nehmen. Also wurde er in die Waschmaschine gesteckt und einer gründlichen Hygienemaßnahme unterzogen. Als es ans Schleudern ging, da wollte es der Zufall, dass er genau vor dem Bullauge der Waschmaschine lag und mich mit großen weit aufgerissenen ängstlichen Augen aus dem Bauch der Waschmaschine heraus anstarrte. Ich habe diesen Blick nie vergessen.

So muss ich nun ebenfalls ausgesehen haben.

„Eigentlich beginnt man mit ‘Hallo’„,

versuchte ich meine Fassung wieder zu gewinnen. Dann wurde ich rot, weil mir klar wurde, dass ich ertappt worden war, wie ich sie offensichtlich zu auffällig gemustert hatte und insgeheim wohl mit Genugtuung festgestellt hatte, dass ich inzwischen besser entwickelt war als sie.

Das war noch eine relativ neue Erfahrung im letzten Jahr gewesen. Jahrelang hatte ich mit wechselnden Gefühlen versucht, die Tatsache, dass meine Freundinnen weiter waren als ich, zu ignorieren, unwichtig zu finden, damit nur heimlich zu hadern, es ganz praktisch beim Sport zu finden, zu ignorieren und schlicht und ergreifend zu verdrängen und aus meinem Leben zu verbannen. Nun war es seit ein paar Monaten jedoch einfach wunderbar und ich war glücklich darüber. - Wäre richtig glücklich gewesen, wenn wir uns in diesem Jahr vielleicht doch ein kleines bisschen Mittelmeer gegönnt hätten, mit Strand, Oben-Ohne und allem, was dazugehört.

Wer will schon topless auf dem Präsentierteller einer gut einsehbaren Terrasse sitzen und später - angezogen - die Nachbarn im Supermarkt treffen? Eben!

‘Oh, ich wusste nicht, dass das so ein wichtiges Thema ist. Ich bin noch eine Knospe, und du bist bereits dabei, eine Blüte zu werden, das wolltest du mir sagen? Annika heißt du, richtig?’

„Du kannst meine Gedanken lesen?”

‘Ja, aber es ist nicht so wie du denkst, ich kann nicht tief in dich hineinsehen. Nur das, was du im Flur hast, kann ich sehen.’

„Im Flur?”

‘Das, was du offen denkst, aber nicht sagst, meine ich. Wie im Eingang zu einem Haus. Nicht dass, was tief verborgen ist, wie im Keller.’

„Wie beruhigend!”

‘Das andere steht deutlich auf deiner Stirn geschrieben und ich müsste wegsehen, um es nicht zu bemerken. Nur eure Wörter sind mir noch fremd. Eigentlich sollte ich euch keine Gedanken spenden, aber ich bin einfach zu neugierig.’

„Da bin ich aber man froh, dass es nicht nur mir so geht. Du hast mich ganz gut überrumpelt. Ist ja auch fies, einem so die Gedanken aus dem Kopf zu ziehen. Das mit 75A tut mir leid. Aber das mit der Knospe und der Blüte hast du schön gesagt. So habe ich mich auch lange Zeit gefühlt. Noch mit vierzehn war das so.”

‘Du bist vierzehn?’

„Nein fünfzehn! Seit fast zwei Monaten. Und du?”

‘Älter, aber lassen wir das im Moment. Wenn es dir übrigens unangenehm ist, laut zu reden, dann kannst du mir deine Gedanken auch im Kopf zusammenstellen, und ich hole sie mir dann ab. Uns ist das Reden mit dem Mund meist sehr unangenehm. Es klingt für uns laut und rüpelhaft.’

Ich musste schmunzeln.

‘Ja, dein Bruder könnte so ein passendes Bild dafür sein, was ich meine. Also sollten wir uns vielleicht auf deine Gedanken statt deiner Worte einigen. Wenn du beides gleichzeitig machst, bekomme ich auf die Dauer Kopfweh, denn du glaubst gar nicht, wie widersprüchlich die Aussagen von Mund und Kopf mitunter sind.’

„Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie du heißt. Und dabei hast du meinen Namen bereits aus meinem Kopf geklaut, und wer weiß was sonst noch alles. Warum kenn ich manche Gedanke von dir und andere nicht?”

‘Nein, geklaut ist er nicht, der Inhalt von deinem Kopf, er ist ja noch da. Wenn wir Gedanken lesen, dann nutzen die sich nicht ab. Gedanken werden besser, wenn man sie teilt. Aber entschuldige, ich habe nicht daran gedacht, dass du nicht meine Gedanken lesen kannst. - Ich heiße Chiòcciola.

Nur die Gedanken, die ich dir schicke sind für dich sichtbar. Entschuldige, aber ich befürchte, du bist klar im Nachteil, bei dieser Art der Unterhaltung.’

„Das sehe ich auch so.”

‘Tut mir leid!’

„Willst du nicht mit zu uns hineinkommen? Ich könnte uns einen Latte Macchiato machen, oder einen Tee.”

‘Nein, danke, das ist lieb gemeint, aber es geht im Moment nicht. Wie gesagt, ich soll euch eigentlich keine Gedanken spenden.’

„Sagt wer?”

Irgendwie war meine Sprachlosigkeit wie weg geblasen und ich war wieder in Kämpferlaune.

‘Du würdest ihn Pa nennen.’

„Wo kommt ihr eigentlich her? Mein Bruder meint aus Holland oder Großbritannien. Aber da irrt er doch wohl ganz offensichtlich, oder?”

‘Du, Annika, das geht jetzt nicht. Entschuldige, aber ich muss gehen. Ich kann mich jetzt nicht auf dich allein konzentrieren. Ich erkläre es dir vielleicht ein anderes Mal. Sei mir nicht böse, bitte. Die Knospe hätte gern die Blüte zur Freundin. - Nicht böse sein, bitte, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich werde an anderer Stelle gebraucht.’

Dann war sie weg, so unauffällig wie sie vorhin plötzlich vor mir stand, war sie im Haus verschwunden.

Hatte ich die ganze Zeit allein vor mich hin geredet? Und überhaupt, welche Bestandteile unserer Unterhaltung waren für andere hörbar gewesen. Ich versuchte, mich zu erinnern. Soweit ich wusste, war alles, was ich zu unserer Unterhaltung beigetragen hatte, von mir auch gesagt worden, nicht nur gedacht. Na ja, das mit der Oberweite vielleicht ausgenommen. Aber hatten andere zuhören können?

Ich tröstete mich ein wenig mit dem Gedanken, dass wir im Moment wahrscheinlich die einzigen aus der Siedlung waren, die nicht auf irgendeiner Insel im Mittelmeer die Füße ins Meer und andere Körperteile in die Sonne hielten.

Dieser Gedanke schaffte mir überraschender Weise diesmal sogar ein wenig Linderung. Trotzdem war ich innerlich ganz schön aufgewühlt. Habe ich das eben wirklich alles mit einem mir wildfremden Menschen besprochen? Das sind doch alles Dinge, über die nicht mal Ma Bescheid wusste.

Gut, sie hatte irgendwie einen Radarblick und konnte nach fünf Stunden Yoga nach Hause kommen um dann gerade nach der Mathearbeit zu fragen, die man letzte Woche versiebt hatte. Deshalb wusste ich auch nie so recht, was sie über mich wusste und was nicht. Ich hoffte natürlich, dass sie meine Gedanken nicht erriet, denn gesprochen hatten wir über so etwas natürlich nie.

Und Pa? Pa? Nein ehrlich, der zählte abends seine Familie durch, und wenn er auf vier plus ihm selbst kam, dann hatte er seiner Fürsorgepflicht Genüge getan.

Eines aber vergaß er fast nie beim Abendessen.

„Was machen eigentlich Eure Praktikumspläne nach den Ferien?”

„Ich möchte gern den Fusionsreaktor in Greifswald ansehen”, sagte Dennis stets.

„Wendelstein 7-X”, meinte Pa dann regelmäßig, „ist zwar kein nachgeordneter Bereich von uns, aber ich kenne im betreffenden Ressort jemanden. Das kriegen wir hin, mein Junge. Erinnere mich bitte noch einmal daran! Und du Annika?”

„Ich habe für Annika eine spannende Praktikumstelle bei meiner Ergotherapeutin in Aussicht. So kann sie in den medizinischen Bereich hineinschnuppern.”

„Medizinischer Bereich, sehr gut. Oder was mit Tieren? Annika, du magst doch Tiere, oder?”

Cool Guess! Da jedes Jahr, seit ich schreiben kann, ein Hund oder eine Katze auf meinem Wunschzettel stand, war das anzunehmen! Aber wollte ich wirklich mein Leben damit verbringen, arme, kleine Katzen zu kastrieren? Ist irgendwie auch öde.

Die Sommerferien waren schon schlimm genug; ich musste auf andere Gedanken kommen. Deshalb dachte ich, dass ich Dennis einen Besuch abstatten könnte. Natürlich würde er eine zensierte Version meines Erlebnisses zu hören bekommen. Es macht einfach keinen Sinn, mit einem pubertierenden Bruder über Dinge wie Körbchengrößen zu reden, wenn ihr versteht, was ich meine.

Als ich halb die Treppe zu seinem Spitzboden hinaufgestiegen war, hörte ich schon sein energisches „Du störst!” - Im Sekundentakt zerlegten sich gerade irgendwelche Aliens und Monster in ihre elementaren Bestandteile.

Da seine Gehirnaktivität ohnehin gerade für den im Raumkampf überlebenswichtigen Zeigefinger benötigt wurde, konnte ich mich ebenso gut auch mit Naike unterhalten.

Ein Gespräch mit Dennis

Irgendwie hatte mich das „Gespräch” mit Chiòcciola ganz schön mitgenommen. Wer ist schon gewohnt, wenn sich jemand bei den intimsten Gedanken einfach selbst bedient, auch dann wenn sie im Flur bereitgestellt sind und quasi auf die Stirn geschrieben sind.

Und dann war es auch noch wieder so weit. Mein Bauch krampfte sich um die Wette mit meinem Kopf. Es kommt bei mir immer alles zusammen. Das Fazit ist, dass ich für ein paar Tage nicht recht ansprechbar war und mich mit ein paar Zeitschriften und einer Wärmflasche in meinem Zimmer eingenistet hatte.

Ich lag also auf meinem Bett und blätterte in Magazinen, die sich mit dem kommenden Herbst mit seinen doofen Brauntönen schon mitten im Sommer beschäftigten, während ich überlegte, ob die Idee mit der Wärmflasche wirklich so intelligent gewesen war, wenn man die sommerlichen Temperaturen berücksichtigt.

Dennis hatte ich nur bei den Mahlzeiten gesehen, oder wenn er mir auf dem Flur über den Weg gelaufen ist. Ich war auch nicht sonderlich erpicht darauf, mit ihm zu reden, nachdem er mich neulich so schroff abgewiesen hatte. Ohnehin war es nicht zu erwarten, dass eine Unterhaltung mehr als drei Sätze beinhaltete, ohne entweder in eine Unterrichtsstunde über globale physikalische Weltzusammenhänge verwandelt zu werden, oder schlicht im Sande zu verlaufen. Mir war im Moment nicht danach zu Mute, den ersten Schritt zu machen, und die Treppe zu ihm hinaufzugehen.

Es klopfte an meiner Tür und Dennis öffnete sie und steckte vorsichtig den Kopf durch den Spalt, noch ehe ich „herein!” rufen konnte.

„Störe ich?”

„Nein. Mir ist nur gerade nicht gut heute.”

„Menstruation?”

„Wenn du es unbedingt thematisieren musst – ja. Nur bitte keine Vorlesung über Humanbiologie jetzt.”

„Schon gut.”

Dennis sah so aus, als ob er das Thema auch ohne meinen Hinweis lieber nicht weiter vertieft hätte. Auch mir war das ganz recht.

Er setzte sich in den Schaukelstuhl, der in meiner Leseecke stand, und sah so aus, als ob er erwartete, dass ich mit irgendeinem beliebigen Thema das Gespräch eröffnete. Diesen Gefallen wollte ich ihm aber nicht tun.

Es dauerte eine ganze Weile, dann erfuhr ich, was Dennis’ Herz bedrückte.

„Er ist wirklich ein Hund! Wirklich! Ich hätte nicht gedacht, dass er mich so einfach kriegt. Es ist, als ob er immer eine zehntel Sekunde im Voraus weiß, was ich als nächstes tue.”

„Wer?”

„Rìccio – er hat meinen HighScore geknackt.”

„Du willst mir sagen, du kommst zu Deiner älteren Schwester und heulst dich aus, weil jemand mehr Aliens abgeschossen hat als du?”

„Es geht nicht um Aliens. Nicht wirklich! Es geht darum – dass – dass er besser ist als ich!”

„Und das passiert dir jetzt zum ersten Mal in Deinem Leben? Im zarten Alter von fünfzehn. Behütetes Kind. Wenn ich nicht gerade am Menstruieren wäre, wie du vorhin so treffend bemerkt hast, dann würde ich dich jetzt ganz doll bedauern.”

„Du musst ja nicht gleich zickig werden. Ich weiß, dass das bescheuert ist von mir. Und glaube mir, ich fange schon an, Gespenster zu sehen. Und da dachte ich, ich bespreche das mal mit Dir. Aber wenn es dir im Moment nicht passt, dann gehe ich wieder. Vielleicht können wir ja ein anderes Mal darüber reden.”

Solch eine lange Dialogfolge hatte ich mit Dennis noch nie. Es muss ihn tief getroffen haben, einmal nicht der Beste zu sein. Klar, auch ich mag es, wenn ich irgendwo richtig gut bin. Aber wenn es mal Platz zwei oder drei ist, dann kann ich mich immer noch darüber freuen. Für Dennis ist der Zweite immer schon der erste Verlierer.

„Da ist nämlich noch etwas.”

„Sprich, kleiner Bruder.”

„Rìccio hat sich kurz nachdem sie hier eingezogen sind, einfach in mein WLAN eingeklinkt und auf meinen Server zugegriffen. Dabei ist mein Master-Password extrem gut und der Server natürlich optimal verschlüsselt. Da sollte so schnell keiner reinkommen dürfen. Selbst ich könnte ein so gesichertes System nur nach mehreren Wochen hacken, wenn ich in der Zeit auf das Schlafen völlig verzichten würde. Aber nach ein paar Stunden. Ich bin schockiert.”

„Gut, dein Funknetz ist gehackt, von Rìccio, unserem neuen Nachbarn, sagst Du. Lassen wir mal dein verletztes Ego aus dem Spiel. Wer ist Rìccio. Der Vater von Chiòcciola?”

„Wer ist Chiòcciola?”

„Chiòcciola ist die Tochter von den neuen Nachbarn. Ich hatte neulich eine sonderbare Unterhaltung mit ihr, wenn man das so nennen kann.”

„Nee, Rìccio ist der Sohn. Dass er eine Schwester hat, habe ich bisher noch nicht von ihm gehört. Aber so intensiv haben wir uns auch noch nicht unterhalten.”

„Was habt ihr denn gemacht?”

Dennis wirkte verlegen.

„Na, so Netzwerkspiele halt.”

„Du meinst, ihr habt gemeinsam arme kleine Aliens platzen lassen?”

„Wenn du das so siehst, ja. Er war immer schneller. Er schien meine Reaktionen vorhersehen zu können und fing mich da ab, wohin ich manövrierte. Es war unfair. Er war einfach um Klassen besser als ich. Ich hatte nicht die geringste Chance.”

„So wie Deine anderen Gegner normalerweise?”

Dennis blickte zwar etwas verlegen, erwiderte aber nichts auf meine Bemerkung.

„Du musst Deine Taktik nicht in den Flur stellen.” sagte ich und versuchte so auszusehen, wie ich mir die Pythia aus dem delphischen Orakel immer vorgestellt habe. Ich weiß nicht, ob das Ergebnis historisch korrekt war, aber, die Wirkung war enorm. In der Wertungsskala von Dennis hatte ich gerade mindestens zehn Punkt gut gemacht.

Deshalb konnte ich ihm auch von meiner Begegnung mit Chiòcciola erzählen. Natürlich ließ ich die Komponenten aus, die meinen pubertierenden Bruder nur verwirrt hätten. Dennis schaute mich mit großen, interessierten Augen an und – man glaubt es kaum – hörte mir ohne Kommentare einfach zu.

„Da ist aber noch etwas.” meinte Dennis dann eine ganze Weile später, nachdem ich meine Erzählung abgeschlossen hatte.

Ich blickte ihn gespannt an.

„Rìccio ist italienisch.”

„Sagtest du nicht, das sind Engländer?”

„Rìccio ist nicht nur italienisch, sondern heißt auch Schnecke! Wer nennt denn seinen Sohn ‘Schnecke’?”

Ich sah ihn wortlos an und schnappte mir mein Smartphone. ‘Leo’ sagte mir gleich, dass Chiòcciola ebenfalls italienisch war.

„Auch die Tochter heißt Schnecke.”

„Wer macht denn so was? Die spinnen, die Römer!”

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„Nette Leute, unsere Nachbarn!”, meinte Pa beim Abendessen ohne Vorwarnung. „Arbeiten zwar nicht für die Regierung, aber zumindest für die UNO.”

Er balancierte eine Rolle Spaghetti auf seiner Gabel in den Mund. Wenn Ma fastet, gibt es für den Rest lediglich schnelle Kohlehydrate mit Pesto.

„Irgend ein Sonderausschuss für die Erarbeitung von Protokollfragen bei interstellaren Besuchen. Mehr könnte er nicht sagen. Alles streng geheim natürlich und vielleicht auch etwas verfrüht. Aber es hat irgendwann natürlich auch Auswirkungen auf den Außenhandel. Muss man also im Auge behalten und gegebenenfalls mal nachhaken.”

„Wenn du meinst mein Schatz...”

„Haben wir denn eigentlich unseren rustikalen Grill noch? Man könnte ja mal gemeinsam angrillen. Was meint ihr, Kinder? Vielleicht haben die auch Kinder in Eurem Alter!”

„Pa, ‘Angrillen’ im Hochsommer? Meinst du nicht, dass das etwas spät ist im Jahr?”, ich hatte mich fast verschluckt und nun mehrere grüne Pesto-Sprenkel auf meinem Top. „Außerdem ist unser Grill nicht rustikal, sondern rostig. Wenn du die beeindrucken willst, benötigen wir schleunigst einen neuen.”

„Am besten einen Weber, mit Gas, Flavour-Bars und Fach für die Gasflasche.”, Dennis war mal wieder bestens informiert.

„Gas, ist das nicht gefährlich?”

Ma war - wie immer - ängstlich. Und da ihr spiritueller Führer auf glühenden Holzkohlen lief, war das auch schließlich in ihren Augen das Maß der Dinge.

„Am Samstag fahren wir in den Baumarkt und lassen uns beraten. So etwas muss es doch irgendwo in Berlin geben, oder?”

Pa hatte mal wieder das Schlusswort, auch wenn es genau genommen mehr eine Frage war.

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Was dann kam, war noch peinlicher! Seit wir hierher gezogen sind und Pa Anrecht auf einen Dienstwagen mit Chauffeur hatte, war das große Auto verkauft worden. Ma hatte noch ihren kleinen sportlichen Zweisitzer, mit dem man auch - mit ein bisschen Geschick - den Wochenendeinkauf erledigen konnte. Das meiste brachten ohnehin die diversen Eismänner tiefgefrorenen vorbei. Und einen Bio-Direktverkauf mit Obst und Gemüse gab es ebenfalls im Ort. Da konnte man mit dem Fahrrad hinfahren.

Nur, einen Gasgrill aus dem Baumarkt bekam man weder aufs Fahrrad, noch in den Zweisitzer von Ma. Und Pa, der immer meinte, im Zweifelsfall kann man ja einen Bus leihen, war viel zu entschlossen, seinen Angrillplan in die Tat umzusetzen.

Also musste Jupp aushelfen. Jupp ist der Fahrer von Pa. Eigentlich ein recht netter Typ, der gelegentlich bei uns einen Kaffee trinkt, wenn er noch vor der Fahrt wegen der wichtigen Dinge, die Pa noch zu erledigen hat, warten muss. Jupp nahm es gelassen. Das war so seine Art. Er war wohl schon zu lange Fahrer im Ministerium, um sich über irgendwelche Sonderlocken noch großartig aufzuregen.

Mir war es nur hochnotpeinlich, als wir mit schwarzer Limousine und Fahrer im Baumarkt aufschlugen. PA steuerte sofort auf die ausgestellten Grills zu und Dennis sogar noch gezielter direkt auf ein ganz spezielles Modell. „Das ist der beste. Der Preis ist auch OK!”, meinte er und hatte den Karton schon in der Hand.

„Halt! Da wird doch noch ein wenig Beratung möglich sein, oder?”, fuhr Pa dazwischen.

Inzwischen hatte sich auch ein entsprechend zertifizierter Ideengeber zu uns gesellt, wie auf seinem Schild zu lesen stand.

„Herr Kurowsky, welches Modell würden Sie uns empfehlen für das Grillvergnügen mit verwöhnten Freunden, bei dem selbstverständlich nicht nur Bratwürste gereicht werden sollen?”

Herr Kurowsky erläuterte die Wichtigkeit einer stufenlosen Temperaturregelung, die insbesondere für maritime Krustentiere unerlässlich sei, das indirekte Grillen, das Flavorisieren mit Aromahölzern, die Verstaubarkeit von Gasflaschen, die spezielle Emaillierung der teilbaren und deshalb Spülmaschinen geeigneten Grillroste, die Auffangschalen für Fett und Grillreste, den separaten Brenner für einen Wok und die beschichtete witterungsbeständige Edelstahlausführung.

Nachdem er bei seinem Rundgang durch die Ausstellung mit seinen Ausführungen soweit gekommen war, blieb er genau vor dem Grill stehen, auf den Dennis schon vor einer halben Stunde gezeigt hatte. Pa schaute Herrn Kurowsky an und sagte: „Gut, den nehmen wir!”

Jupp fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, das gekaufte Geraffel im Kofferraum zu verstauen. Und da die Gasflasche aus Sicherheitsgründen unbedingt hinter den Vordersitzen verstaut werden musste - Jupp ist in solchen Dingen extrem pingelig - hatte ich auf der Rückfahrt kaum noch Platz für meine Beine.

Den Grill hatte Dennis dann schnell aufgebaut, zumindest schneller, als Pa die Anleitung gelesen hatte.

„Na, ihr hättet auf dem Weg ja zumindest noch Bratwürste mitbringen können”, meinte Ma und fuhr mit ihrem Zweisitzer los, das Wesentliche zu besorgen.

Immer, wenn man denkt, der Sommer bringt keine Überraschungen mehr, dann steht man plötzlich neben einem funkelnden Gasgrill und wartet darauf, dass ein Potpourri aus Geflügel- und Sojawürsten langsam Farbe annimmt.

„Das ist jetzt aber nur eine Probe!”, meinte Pa mit Blick auf den Grill. „Unseren neuen Nachbarn werden wir mit so etwas nicht kommen. Das gibt es dann erlesene Fisch- und Langusten-Variationen, gutes Rindfleisch und keine schnöde Bratwurst!”

Angrillen im Garten

Wenn Pa sich einen Plan gemacht hat, dann wird der umgesetzt, Peinlichkeit hin oder her. Die letzten Tage hatte er schon eine Tabelle mit den unterschiedlichen Kerntemperaturen für verschiedenes Grillgut erarbeitet. Damit, so erklärte er es fast jeden Abend beim Abendessen aufs Neue, könne man genau erkennen, wann etwa ein Steak ‘medium rare’ sei.

„Oder man schaut auf die Uhr und dreht es nach vier Minuten um”, meinte Dennis kauend.

Selbstredend war es nicht beim Grill geblieben, sondern es gab nun auch einen neuen Bluetooth-Temperaturfühler, der die besagte Kerntemperatur direkt an das Smartphone schickte. Geführte Apps entschieden dann, ob die von Dennis in die Argumentation eingebrachten vier Minuten um waren, und das Steak nun von der anderen Seite gebräunt werden sollte.

Es folgte eine formlose Einladung und alle, die nicht am Mittelmeer waren, versammelten sich am übernächsten Samstag auf unserer kargen Terrasse mit dem neuen Grill, den Bergen an Entrecôtes, Langustenhälften, Lammkottelets und Fischfilets in ihren Käfigzangen. Genaugenommen war es unsere Familie, Jupp und die neuen Nachbarn.

Ma wollte zwar unbedingt noch Salate machen, aber Pa wies sie energisch zurück: „Heute wird gegrillt. Da kommt nichts auf den Tisch, was irgendwo in der Erde gesteckt hat.”

Einsichtiger zeigte er sich beim Brot, das man - auf dem Grill veredelt - dazu reichen wollte. Gut, Jupp, den er jovialer Weise ebenfalls eingeladen hatte, sollte auf dem Weg noch beim Hofpfister reinspringen und diverse Viertel fränkischer und oberbayrischer herzhafter Brotspezialitäten mitbringen. „Die Scheiben nicht zu dünn schneiden lassen, sonst verbrennt es gleich auf dem Grill!”, gab er ihm noch als Mahnung mit auf den Weg.

Gut, dass Pa auch auf der Grill-Party nicht ohne seinen Anzug erscheinen würde, war vorherzusehen. Der neue Nachbar glich ihm Anzug technisch wie ein Zwilling. Grau, Zweireiher, Weste. Hatten die den selben Schneider?

Alle wussten natürlich, dass Pas handgenähte Maßanzüge nur zum Maßnehmen in einem Berliner Geschäft in Deutschland blieben. Dann wurden die Daten elektronisch in eine vermutlich riesige Fabrik in Hong-Kong geschickt, wo fleißige Chinesinnen ihm einen handgefertigten Maßanzug schneiderten, der, sobald er in Hamburg wieder seinen Container verließ auf magische Art „deutsch” wurde.

Die Vorstellung, dass zwei befreundete Kolleginnen in dieser Fabrik nebeneinander saßen und aus dem gleichen Stoffballen Anzüge für zwei Männer in unserer Straße nähten, amüsierte mich zutiefst.

Die Mutter von Chiòcciola trug einen leichten roten Sommerrock mit weißen floralen Mustern zu einer weißen Bluse, beides von Lena Hoschek. Es stand ihr ausgesprochen gut, wie ich fand. „Viel zu viele Farben und eindeutig zu grell”, meinte Ma später am Abend. „Es stand ihr nicht bei ihrem Teint. Kann nicht jede tragen so etwas.”

Sie war nur sauer, weil Pa sich das ganze Frühjahr nicht für ihre unterschwelligen Berichte über die Fashion Week interessierte, so sehr sie auch mit dem Zaunpfahl wackelte und den Namen Hoschek bei jeder passenden (und auch bei den unpassenden) Gelegenheiten fallen ließ. Junge Designer hatten es ihr angetan. Es war wohl so eine Art Entdeckerfieber, das vorher zu kennen, was künftig Mainstream sein könnte.

Chiòcciola selbst war wie ich gekleidet. Jeans, nicht zu neu, aber figurbetont, T-Shirt mit genau der richtigen Menge Elastan und einem Ausschnitt der so viel verriet, wie Eltern es bei einer Grill-Feier gerade noch zulassen. Ihren Bruder hatte sie zu Dennis’ Bedauern nicht mitgebracht.

Pa fuchtelte mit seiner neuen Grillzange herum und drehte und wendete, was das Zeug hielt. Sein Jackett hatte er abgelegt und eine Grillschürze umgehängt, die ihn auch gleich als den weltbesten Grillmeister auswies, falls jemand ernsthafte Fragen diesbezüglich aufwerfen wollte. Wollte aber niemand.

‘Wir ernähren uns eigentlich überwiegend pflanzlich.’

Die Gedanken in meinem Kopf erschreckten mich. Ich sah Chiòcciola an, und sah dann auf ihre Eltern, die auf unserer Terrasse standen und sich durch die bajuwarischen Brotsorten knabberten.

„Warum sagen sie nichts?”

‘Um uns zuzuhören, muss man ein wenig sensibel sein. Deine Mutter ist sehr wütend, weil meine Mutter so gekleidet ist, wie sie es sich die letzten Tage vorgestellt hat, dass sie passend zu dieser Gelegenheit gekleidet sein könnte. Sehr merkwürdig, oder? Und was auch merkwürdig ist: Sie findet 36 besser als 38; bei dir waren doch die größeren Zahlen besser, oder? Ihr habt ein merkwürdiges Wertesystem!

Und dein Vater würde eher eine dieser Langusten auf dem Grill weinen hören, als zu merken, was rund um ihn passiert. Nein, Mitleid hat er nicht, er hat nur furchtbare Angst, dass ihr Fleisch zäh wird.’

Ich sah sie an und entdeckte, dass sie eine Träne in ihrem Augenwinkel hatte.

„Grill-Partys sind nicht so euer Ding, oder?”

‘Uns reichen in der Regel pflanzliche Aminosäuren völlig. Und wir sind es nicht gewohnt, zu töten, um zu leben. Das ist nicht unsere Lebensweise.

Und Wesen, die mit ihrem Haus verwachsen sind, sind bei uns heilig und werden nicht in Hälften geteilt und auf heißem Eisen dazu gebracht, dass ihr Eiweiß gerinnt.’

„Dann war unsere Einladung wohl nicht so der große Erfolg?”

‘Dein Vater glaubt noch immer daran. Ich weiß bloß nicht, ob dieser Jupp sich mit all den Bergen an Fleisch nicht übernimmt.’

In der Tat; Jupp hatte ursprünglich die Bratwürste und den scharfen Senf vermisst, dann aber Gefallen an Langusten und Chateaubriand gefunden. Dennoch, gegen die Berge, die Pa inzwischen gegrillt hatte, kam auch er nicht an.

Der größte Erfolg dieses Angrillens war, dass niemand sich anmerken ließ, wie sehr es ein Misserfolg war. Unseren neuen Nachbarn jedenfalls hatten wir uns im gewohnt peinlichen Licht präsentiert.

Rìccio und Dennis

Als ich Rìccio das erste Mal bei Dennis im Spitzboden sah, trugen beide eine komische Taucherbrille und fuchtelten wild mit den Armen. Da sie mich offensichtlich nicht sahen, versuchte ich mich möglichst still zu verhalten, um sie ungestört eine Weile beobachten zu können. Es sah einfach zu komisch aus.

Natürlich war das keine Taucherbrille. Dennis hatte mir die letzten Wochen mehrfach von Virtual Reality erzählt und dass man mit Hilfe eines Vorsatzes aus Pappe, den man sich vor den Kopf bindet und an den man vorne sein Smartphone steckt, Computerbilder so dreidimensional sehen kann, dass man glaubt, mitten im Geschehen zu sein. Nur, das Ganze sah wirklich aus wie eine Taucherbrille, bei der man vorn das Glas durch ein Smartphone ersetzt hatte.

Ich räusperte mich, um mich bemerkbar zu machen. Und beide nahmen diese lächerlichen Brillen ab. Was ich dann sah, war gar nicht lächerlich! Solche Freunde hatte Dennis bisher noch nie gehabt. Der sah gar nicht mal so übel aus!

„Darf ich dir Rìccio vorstellen, unseren neuen Nachbarn. Er konnte leider nicht zu unserer fulminanten Grillparty kommen.”

‘Sehr erfreut, meine Schwester hat mir schon viel von dir erzählt. Annika, nicht wahr.’

Bevor ich rot wurde, versuchte ich das Gespräch auf etwas neutraleren Boden zu lenken.

„Was habt ihr denn in der virtuellen Welt bewegt? Ihr habt ja offensichtlich große Dinge hin und hergeschoben, so wie das aussah.”

„Sehr große Dinge sogar. Setz die Maske auf, dann siehst du es.”

Der Anblick war in der Tat bewältigend. Bisher hatte ich Dennis Gefasel von der Virtual Reality in die Ecke seiner üblichen Spinnereien gepackt, aber das war wirklich beeindruckend. Ich sah eine riesige Menge an Sternen und ich konnte sogar meine Hände danach ausstrecken. Obwohl ich ja wusste, dass das alles nur eine optische Täuschung war, konnte ich sie anfassen und bewegen.

„Das ist unsere Milchstraße.”

„Beeindruckend!”

„Der rote Punkt, das sind wir. Das heißt, das ist unsere Sonne.”

‘Und wir versuchen herauszufinden, wo wir jetzt sind im Verhältnis zu dem Ort, von dem wir kommen.’

Ich riss mir die virtuelle Taucherbrille vom Gesicht.

„Von woher ihr kommt?”

‘Ja, wir reisen durch unsere Galaxie. Wir haben Ferien und schauen uns andere Sonnensysteme an. Allerdings sind wir hier gestrandet.’

Alle verreisen im Urlaub, nur ich nicht! Und dann stranden sie ausgerechnet noch da, wo es richtig öde ist!

„Und wieso seid ihr hier gestrandet?”

‘Unser Weltraumhaus hat einen Bedarf gemeldet. Und dann steuert es automatisch einen Planeten an, auf dem es meint, dass dieser Mangel abgestellt werden kann.’

„Wenn ich Rìccio vorhin richtig verstanden habe, dann muss man sich das Ganze als eine Art gigantisches Weltraumwohnmobil vorstellen, mit dem die Familie Urlaubsfahrten durch unsere Milchstraße unternimmt. Ist vielleicht etwas vereinfacht, aber darauf läuft es wohl hinaus.”

‘Es ist einfacher, in Galaxis-Kunde eine gute Note zu bekommen, wenn man sich wichtige Orte aus der Nähe ansieht.’

„Wir sind jetzt aber nicht irgendein wichtiger Ort, den ihr auf eurer Sight-Seeing-Tour unbedingt abhaken musstet?”

‘Nein.’

„Denn, wie ich in den letzten zwei Jahren zu jedem hier gesagt habe: Hier ist es öde!”

‘Ja.’

„Gut, dann sind wir uns ja in diesem Punkt einig.”

„Annika, es ist wohl so, dass sie nicht freiwillig hier sind und eigentlich unsere Hilfe benötigen, um ihre Reise fortzusetzen. Irgendetwas fehlt, und das Raumschiff war intelligent genug, um hier zu landen, weil es vermutet, dass das, was benötigt wird, hier vorhanden ist oder besorgt werden kann.”

‘Wir wissen leider noch nicht, was fehlt, aber dein Bruder hat Recht. Eure Hilfe wäre uns sehr angenehm.’

„Ok, und wo kommt ihr jetzt genau her?”

„Das ist ja unser großes Problem. Unsere Karten von unserer Milchstraße sind nicht gerade aktuell. Denn wir sehen ja nur die Sterne, nachdem ihr Licht über viele Jahre durch den Weltraum gereist ist, bis es zu uns gekommen ist und von unseren Sternwarten fotografiert wurde.”

„Wie lange reist denn das Licht von einem Stern so im Durchschnitt? Ich meine bei Lichtgeschwindigkeit.”

‘Das mit dem Durchschnitt ist schwierig. Das Licht von eurem Stern - ihr nennt ihn Sonne - benötigt acht Minuten, um zu euch zu gelangen. Zum nächsten Stern in unserer Galaxis, die ihr Milchstraße nennt, ist es bei Lichtgeschwindigkeit länger als vier Jahre unterwegs.’

„Wow! Das ist lange. Und wo ihr herkommt, das ist noch weiter weg?”

‘Euer Planet ist an einem Rand der Galaxis. Unserer ist etwa auf der anderen Seite der vielen Sterne.’

„Das klingt recht weit weg.”

‘Ja, sehr weit. Das Licht von unserem Stern benötigt etwa 90.000 Jahre, bis ihr es sehen könnt.’

„Ganz schön weit weg für eine Urlaubsreise!”

‘Wir haben aber auch nicht 90.000 Jahre gebraucht bis hierher. Uns hat ein Trick geholfen, die Reise zu verkürzen.’

„Was Rìccio meint, ist, dass das Weltall nicht überall gleich leer ist. An manchen Stellen ist es leerer, und an anderen Stellen nicht so.”

Ich muss wohl ziemlich verständnislos ausgesehen haben, denn normalerweise lässt Dennis mich deutlich länger zappeln. Vielleicht lag es aber auch daran, das die beiden so dringend nach einer Lösung suchten.

„Als sich das Universum vor etwa 15 Milliarden Jahren mit einem lauten Rums ins Dasein katapultierte, da ist es von Stecknadelkopfgröße in einer zehntel Sekunde schon so groß gewesen wie unsere Milchstraße jetzt ist, und es ist seitdem mit rasender Geschwindigkeit immer weiter gewachsen.”

„Du meinst beim Urknall, ist in nicht mal einer Sekunde bereits ein Raum entstanden, der so groß ist, dass das Licht dann 100.000 Jahre braucht, um von einer Seite zur anderen zu gelangen? Das ist ja Wahnsinn! Wer denkt sich so etwas aus.”

‘Es wird noch unvorstellbarer. Der Raum, der entstanden ist, ist nicht gleichmäßig gefüllt, sondern das Nichts hat mal mehr und mal weniger ‘Nichts’. Und für die subatomaren Partikel ist es nicht egal, ob mehr oder weniger nichts vorhanden ist, sie reagieren darauf unterschiedlich.’

„Subatomare Partikel? Diese Higgs-Dinger, die die in Genf erforschen? Dann seid ihr hier falsch, die gibt es hier nicht. Hier ist es öde!”

„Doch die gibt es überall. In Genf am CERN versucht man sie nur zu erforschen. Aber dort gibt es nicht mehr von ihnen als hier in der brandenburgischen Ödnis.”

‘Stell dir das vor wie Nähte oder Falten im Raum. Dort wo die Falte oder die Naht ist, ist es einfach anders. Und dieses Anderssein hilft uns beim Reisen.’

Ich hatte eine spontane Idee. Ich nahm einen dieser quadratischen Notizzettel vom Denis’ Schreibtisch. Den faltete ich diagonal, und dann in Hälften, drehte ihn um und faltete von der anderen Seite wieder. Nach einer Zeit hielt ich einen niedlichen kleinen Schmetterling in den Händen und alle sahen mich fragend an.

Dann nahm ich einen Stift und markierte auf den Flügeln zwei Punkte nebeneinander. Einen rechts und einen links.

Noch immer fragende Gesichter.

Dann faltete ich den Schmetterling auseinander und die Punkte waren nicht nur auf unterschiedlichen Seiten des Blattes, sondern auch recht weit voneinander entfernt. Der Origami-Kurs zu dem mich Ma damals mit in die Volkshochschule geschleift hatte, war also doch zu etwas nutze.

„Ihr meint, wenn man den Raum geschickt faltet, benötigt man gar nicht 100.000 Jahre, um ans Ende der Milchstraße zu gelangen?”

‘Ja! So funktioniert unsere Reisemethode.’

„Und ihr glaubt, wenn man sich unsere Milchstraße durch eine Taucherbrille ansieht, findet ihr die Falten?”

„Leider nein. Das ist ja unser Problem.”

„Wie macht ihr das denn sonst?”

‘Unser Weltraumhaus macht das sonst für uns. Und das funktioniert im Moment ja nicht.’

„Dann ist die Lösung doch, es wieder zum Funktionieren zu bekommen, oder? 100.000 Jahre alte Sternkarten bringen uns doch nicht weiter.”

‘Ja.’’

„Überlegen wir uns also, was euch fehlt und was diese Ödnis bietet, was ihr so dringend braucht. Und nein, so spontan fällt mir wirklich nichts ein.”

Und dann plärrte Naike auch schon wieder.

Unter Freundinnen

Irgendwie wollte ich natürlich auch eine Version von Chiòcciola hören. Das mit den subatomaren Teilen und dem gefalteten Weltraum verwirrte mich doch weit mehr, als ich Dennis und vielleicht noch mehr Rìccio gegenüber zugeben wollte. Und dann war da ja noch die Sache mit den Lampen. Ich wollte zu gern wissen, wie man so eingerichtet ist, wenn man nur Sachen hat, die in Kisten passen. Schrecklich viele Kisten zwar, aber wer verstaut sein Sofa in einer Kiste beim Umzug? Niemand! Eben.

Was sollte ich sagen? „Kommt Chiòcciola raus zum Spielen?” war ja nicht gerade altersgemäß. Und verabredet war ich auch nicht. Was, wenn ihre Eltern aufmachten. Wollte ich denen meine Gedanken im Flur anbieten? Eher nicht! War schon schlimm genug, wenn Ma erriet, dass ich wieder eine Mathe- oder Physikarbeit verhauen hatte.

Zum Glück war es Chiòcciola, die die Tür öffnete.

‘Annika, schön dich zu sehen!’

„Chiòcciola, schön, dass du da bist. Ich hätte nicht gewusst, was ich deinen Eltern hätte sagen sollen?”

‘Sie hätten ja gewusst, was du willst. Du bist hier wegen der Elementarteilchen und der Lampen.’

„Das ist gemein.”

‘Ein bisschen vielleicht. Aber komm rein.’

Was ich dann sah, haute mich vollends um. Es sah aus wie in einem Einrichtungshaus. Lauter auf einander abgestimmte Möbelstücke, die so arrangiert waren, das sie optimale Wirkung entfalteten. Es sah überhaupt nicht so aus, als ob jemand gerade erst eingezogen war. Und überhaupt, es wirkte seltsam vertraut. Als ob ich diese Couchlandschaft schon mal in diesen Einrichtungsmagazinen gesehen hätte, die Ma gelegentlich liest.

Mit einem Wort: Es war perfekt. Nichts lag rum oder wirkte nicht speziell für diesen Platz bestimmt.

Rìccio war also deutlich weniger schlampig als Dennis, der das Wohnzimmer schon nach kurzer Zeit in einen mobilen Datenumschlagplatz verwandeln konnte. Oder Pa, der mitunter zwischen seinen Börsenblättern kaum noch auszumachen war.

‘Das sind viele Gedanken. Ich brauche eine Weile, um sie zu sortieren. Setz dich also erst einmal.’

Das Sofa war hell und bequem und mit einer Art Alcantara bezogen. Makellosem beigefarbenem Alcantara; sagt ich das schon?

‘Du hast uns nur Kisten hineintragen sehen. Alles, was du hier siehst, war wirklich in diesen Kisten. Unser ganzes Weltraumhaus.’

Ich sah sie staunend an. „Das Weltraumhaus?”

‘Ja Rìccio sagte es ja schon. Wir haben ein Haus, mit dem wir durch den Weltraum reisen.’

„Und wo habt ihr das geparkt? Im Garten? Mit einer Art Tarnnetz vor neugierigen Blicken verborgen?”

‘Du sitzt gerade darauf.’

Ich muss ziemlich dämlich geguckt haben.

‘Alles was du neulich gesehen hast, ist Teil unseres Hauses. Die Kisten, das Fahrzeug, alles, was du nun hier drin siehst. Alles war unser Weltraumhaus und wird es hoffentlich auch wieder werden.’

„Wie kann das gehen?”

‘Unser Haus ist organisch. Und weil es organisch ist, kann es verschiedene Formen annehmen. Neulich war es in mehrere Kisten aufgeteilt. Nun ist es unterschiedliche Möbelstücke. Wir haben eine Anleitung für menschliche Wohnraumgestaltung in dem blauen Gefäß neben eurem Haus gefunden.’

Die Altpapiertonne! Ich wusste doch, dass ich diese Einrichtung schon mal beim Durchblättern gesehen hatte!

‘Wenn wir auf Reisen sind, dann bildet das Material eine schützende Kapsel um uns alle und bringt uns dahin, wo wir hinwollen.’

„Oder in die brandenburgische Ödnis, wenn ein Teil kaputtgegangen ist.”

‘Es ist nichts kaputtgegangen. Es fehlt nur etwas. Ich erwähnte ja schon, das Haus ist organisch. Es benötigt zum Reisen bestimmte Stoffe, um richtig zu funktionieren.’

„Kommen wir zu einem anderen Punkt. Das mit den Elementarteilchen schwirrt mir noch im Kopf herum. Kannst du mir da helfen, oder soll ich lieber deinen Bruder fragen?”

‘Glaubst Du, mein Bruder weiß in den Dingen mehr als ich? Wieso sollte er?’

„Ich weiß nicht.”

‘Weil er ein Junge ist? Das ist eine dumme Idee!’

„Nun, ich mag Physik überhaupt nicht. Dennis hingegen ist da so was von gut. Und bevor ich irgendetwas kapiert habe, sprudelt aus ihm schon die Lösung heraus.”

‘Aber du hast das mit dem gefalteten Raum viel schneller verstanden als Dennis mit seiner Virtual Reality Vorstellung. Manchmal bedeutet Schnelligkeit auch nur, dass man einfach eine vorgefertigte Lösung präsentiert und das Problem nicht von allen Seiten bedacht hat.’

„Du weißt davon?”

‘Rìccio war schwer beeindruckt. Und deine Analyse ist völlig richtig. Wir lösen das Problem nicht mit eurer Technik, sondern wir müssen verstehen, was dem Weltraumhaus fehlt.’

„Wenn etwas, was vorher funktioniert hat, auf einmal nicht mehr funktioniert, dann muss sich ja etwas verändert haben. Schwieriger wäre es, den Fehler zu finden, wenn etwas noch nie funktioniert hat.”

‘Dein Ansatz gefällt mir. Nun aber noch ein paar Sätze zu den Elementarteilchen.

Als das Universum entstand, da gab es für eine Million Jahre noch keine Atome. Nur die Bausteine, aus denen später Atome wurden. Für Atome war es noch viel zu heiß. Diese Bausteine verteilten sich also im neu geschaffenen Raum, aber nicht gleichmäßig. So als ob dir ein Glas Saft umkippt. Die Spritzer sind ja auch nicht überall, sondern viel wahrscheinlicher auf der Tischdecke, deinem neuen T-Shirt und unwahrscheinlicher auf den gut zu reinigenden Fliesen.

Irgendwann sind dann aus manchen dieser Teilchen Atome entstanden, die alles das ausmachen, was wir an Dingen um uns herum kennen. Lampen, Sofas, T-Shirts und Weltraumhäuser.

Andere Teilchen hingegen, haben nicht Neues geschaffen, sondern sind so klein, dass sie praktisch überall sind. Sie gehen zum Beispiel durch die dickste Materie durch. Egal ob Stahl, Titan, Blei, Beton oder Dachziegel, denn sie sind so klein, dass sie direkt durch die Atome rasen. Sie sind immer da und niemand bemerkt sie.

Zumindest nicht direkt. Denn wenn sie durch etwas hindurch gehen, dann erzeugen sie eine Wechselwirkung. Es passiert also etwas mit der Materie, durch die sie hindurchgehen. Und weil sie überall sind, merkt das natürlich keiner, denn es ist für alle einfach völlig normal so.’

„Gut, und in Genf versuchen sie diese Teilchen, die eigentlich immer da sind, aber so schnell und so klein, dass man sie nicht erkennen kann, dennoch zu erforschen?”

‘Genau! Das ist der einzige Zweck dieser gigantischen Maschine. Es ist aber für uns unwichtig, dorthin zu gehen, denn wir kennen die beiden für uns wichtigsten Teilchen ja bereits.’

„Du meinst es gibt neben dem Higgs noch so eine Art Higgs2?”

‘Es sind zwei Elementarteilchen, die für unser Reisen im Weltraum extrem wichtig sind. Eines sorgt dafür, dass ein Atom Gewicht erhält. Und das andere sorgt dafür, dass Zeit vergeht.’

„Und wieso sind die für euch wichtig?”

‘Unser Weltraumhaus sorgt dafür, dass diese Teilchen nicht ins Innere gelangen.’

„Hast du nicht gesagt, die gehen durch alle Atome?”

‘Ja, durch alle Atome wie Butter. Aber unser Haus hat eine Oberfläche, da kann man die gezielt ganz oder teilweise abprallen lassen. Das ist eine uralte Technik, die wir selbst nicht so ganz verstehen. Aber da sie sehr praktisch ist, benutzen wir sie trotzdem. Irgendetwas in der Oberfläche wirkt diesen Teilchen gezielt entgegen und neutralisiert sie teilweise oder ganz.’

„Dann ist euer Raumschiff in Wirklichkeit so eine Art Segelboot? Ihr segelt quasi durch Raum und Zeit?”

‘Der Vergleich gefällt mir. Wir steigen schwerelos von der Planetenoberfläche auf, lassen uns von hilfreichen Planeten oder Sonnen soweit anziehen, wie es nötig ist und warten außerhalb der Zeit darauf, dass wir auf die richtige Falte zusteuern, die uns in eine andere Ecke der Milchstraße katapultiert. Wobei warten nicht ganz richtig ist, denn im Haus haben wir eine andere Zeit als draußen, weil unser Haus ja auch gezielt die Partikel, die für die Zeit zuständig sind, aussperren oder hereinlassen können.’

„Und woher wisst ihr, wo so eine Falte ist?”