Die Chroniken der Fae - Aus Papier und Asche - Ruth Frances Long - E-Book

Die Chroniken der Fae - Aus Papier und Asche E-Book

Ruth Frances Long

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Beschreibung

Izzy traut ihren Augen kaum, als sie mitten in Dublin einen Engel sieht. Oder ist es bloß ein Graffiti? Als sie ein Foto machen will, wird ihr prompt das Handy gestohlen. Und dann überschlagen sich die Ereignisse, denn auf der Jagd nach dem Dieb stolpert sie in eine völlig andere Welt – ins Schattenreich Dubh Linn, wo die Fae über die Menschen wachen und ganz eigene Pläne mit ihnen verfolgen. Besonders mit Izzy: Nach ihrer unfreiwilligen Entdeckung liegt ihr Leben in der Hand des Fae-Kriegers Jinx. Doch auch Jinx entdeckt durch Izzy eine neue Welt – und plötzlich befinden sich die beiden in einem atemberaubenden Wettlauf zwischen den Fronten …

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Seitenzahl: 522

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DIE AUTORIN

Foto: © privat

Ruth Frances Long ist schon ihr ganzes Leben lang Fan von Fantasy und Liebesromanen. Sie studierte am College Englische Literatur, Religionsgeschichte und keltische Kultur und arbeitet jetzt in einer Bibliothek, die auf seltene und außergewöhnliche Bücher spezialisiert ist. Die Bücher sprechen leider nicht so oft mit ihr. Für ihre fantastische Serie»Die Chroniken der Fae« gewann sie den Science Fiction Association Award für Jugendbücher beim Eurocon in St. Petersburg.

Ruth Frances Long

Die Chroniken derFae

Aus Papier und Asche

Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2014 by Ruth Frances Long

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »A Crack in Everything: Welcome to the other side« bei The O’Brien Press, Dublin

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Lektorat: Catherine Beck

Übersetzung: Karen Gerwig

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

MG · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15511-7V003

www.cbt-buecher.de

Für Pat, Diarmuid und Emily

So viele Menschen haben geholfen, dieses Buch zu erschaffen – diese verrückte Geschichte, die nirgends hineinzupassen schien. Ich kann niemals allen danken, aber wenn du daran beteiligt warst: danke! Ein paar Leuten muss ich aber speziell danken:

Dem Künstler oder der Künstlerin des Engel-Graffitos in der South William Street, denn das war die Initialzündung zu dieser Geschichte. Meiner wundervollen, wohlmeinenden Shiny-Shiny-Critique-Gruppe für all das »… oooh, shiny!«. Meiner Agentin Sallyanne Sweeney für ihren Glauben an mich. Der liebreizenden Celine Kiernan für eine besondere Anregung. Allen bei The O’Brien Press und meiner Lektorin Helen, weil sie die Welt und ihre Bewohner verstanden haben, wie es nur wenige konnten.

Und vor allem meinen geduldigen Freunden und meiner Familie. Vor allem Pat, Diarmuid und Emily. Mögen wir ein Leben lang Ausflüge zum Wunschstein machen und Brí unsere (höchst respektvollen) Grüße überbringen.

Izzy hatte gerade den Schalter am Toaster heruntergedrückt, als er mit einem lauten Knall explodierte. Funken sprühten wie bei einem Feuerwerk und stinkender schwarzer Rauch erfüllte die Küche.

Dad fluchte laut – Wörter, die er wirklich nicht vor ihr hätte aussprechen sollen – und sprang vom Küchentisch auf.

»Geh von dem Scheißding weg!«, befahl er und riss den Stecker aus der Steckdose. »Ist dir etwas passiert, Izzy?«

Sie schüttelte den Kopf, während sie versuchte, den beißenden Qualm nicht einzuatmen. »Alles in Ordnung, Dad. Mir geht es gut.« Er sah lustig aus, wie er da mit dem schwingenden Kabel in der Hand stand wie mit einem Pendel und finster den Toaster anstarrte, als hege er schon sein Leben lang einen Groll gegen ihn.

Es war nicht das erste Mal. Sie kannte das schon. Also drückte sie den Knopf der Dunstabzugshaube und öffnete die Fenster, während Dad misstrauisch den Toaster anstupste und darauf wartete, dass er erneut angriff.

Tödliches Schweigen legte sich über die Küche, bis Mum mit der Zeitung raschelte. »Der Technik-Fluch ist eindeutig erblich, was?«

Izzy grinste. An der Stimme ihrer Mutter konnte sie hören, dass diese ein Lachen unterdrückte. Sie konnte nicht anders. Es war lustig.

Dad schnaubte beleidigt. »Deine Tochter ist übrigens unverletzt, da du ja so besorgt bist.«

»Oh, gut! Das ist eine Erleichterung, wie immer. Welches Gerät wird euer beider Zorn als Nächstes zum Opfer fallen?«

Sie faltete die Zeitung zusammen, goss sich die letzte Tasse Kaffee ein und zwinkerte Izzy zu, die am Küchentresen lehnte und ein Kichern unterdrückte. Dad nahm den Toaster, ging an ihr vorbei zur Hintertür und warf ihn auf die Terrasse. Der Toaster schepperte auf die Steine und er knallte die Tür zu.

»So, weg damit. Ein Glück, dass wir ihn los sind. Benutz besser den Grill, Izzy.«

»Den lässt du nicht da draußen!«, protestierte Mum. »Das ist ein Garten, keine Müllkippe!«

»Der Toaster ist tot, Liebling. Lass ihn in Frieden ruhen. Ich bringe ihn später zum Wertstoffhof.« Er stellte die Kanne unter die Kaffeemaschine und drückte auf den roten Knopf. Sie gurgelte fröhlich los.

»Vorsicht!«, sagte Mum.

Von allen Maschinen im Haus, dachte Izzy, konnten sie es sich auf keinen Fall leisten, diese hier zu verlieren. Keiner ihrer Eltern wäre noch in der Lage zu funktionieren. Sie ging zum Kühlschrank und holte sich stattdessen einen Joghurt. Viel sicherer. Sie und Dad standen im Umgang mit elektrischen Geräten auf irgendeine unheimliche Art auf Kriegsfuß. Meistens zerstörten sie sie.

»Ich mache sie nicht kaputt!«, gab Dad zurück. »Die Kaffeemaschine habe ich noch nie kaputt gemacht! Die Kaffeemaschine liebt mich!«

Gott, sie waren so peinlich.

»Halte dich einfach von meinem Laptop fern, David!«, warnte ihn Mum. »Ich glaube, ich könnte nicht noch ein So-etwas-habe-ich-noch-nie erlebt-Gespräch an der Hotline ertragen.«

Daraufhin zog Dad eine theatralische Grimasse.

Izzy verdrehte die Augen zum Himmel, denn im nächsten Moment knutschten sie, obwohl das für alle über einundzwanzig eigentlich streng verboten sein sollte.

Aber wenigstens waren sie glücklich und ignorierten einander nicht kühl oder ließen sich scheiden wie die Eltern der Hälfte ihrer Mitschüler. Sie waren glücklich und sie freute sich für die beiden.

Auch wenn sie todpeinlich waren.

»Ich zieh mich mal besser an«, sagte Dad. »Izzy, soll ich dich mitnehmen? Ich fahre zum Tempel des Mammon.«

Sie verzog das Gesicht. Das riesige Einkaufszentrum in Dundrum nannte sich selbst nicht »Shopping Centre«, sondern »Town Centre«. Und Dad sagte nicht einmal das. Er hatte seine eigene Meinung zu Einkaufszentren. Eine Meinung mit Großbuchstaben, Zitaten, Unterstreichungen und Kursiven. Was wahrscheinlich der Grund war, warum er in letzter Zeit kaum genug Aufträge hatte, um über die Runden zu kommen. Man sollte meinen, während einer Rezession wäre ein Architekt ein bisschen vorsichtig, wessen Gebäude er kritisierte. Aber so war Dad nun mal.

Das Problem war: Sie gab ihm recht. Sie war die einzige Teenagerin, die sie kannte, die das Einkaufzentrum hasste.

»Nein, danke. Ich dachte mir, ich mache mich später auf den Weg in die Stadt. Dylans Band hat heute Nachmittag einen Gig.«

Die Stadt war nichts von Menschen Gemachtes oder Geplantes. Die Stadt war das Zentrum von Dublin, einem ungeschriebenen Gesetz nach ein Gebiet, das sich selbst geschaffen hatte, organisch und sorglos gewachsen war – ein schmuddeliges, an den Nähten ausgefranstes Paradies, geteilt durch einen Fluss. Mit schmalen Gassen, die aus der Besiedlung durch die Wikinger übrig geblieben waren, und den herrschaftlichen Prachtstraßen der Wide Street Commission.

Izzy liebte Dublin, liebte es, einfach herumzulungern, Sträßchen entlang oder über die Plätze mit den Eisengeländern zu schlendern, Straßenmusikern zu lauschen, Straßenkunst anzuschauen und Schaufensterbummel zu machen. In der Stadt konnte man einfach abhängen, manchmal um Freunde zu treffen, manchmal allein. Der Sommer war dafür der Himmel.

Sie hätte das Stadtzentrum inzwischen eigentlich wie ihre Westentasche kennen sollen, und doch fand sie immer wieder etwas Neues. Das machte seine Magie aus – die Stadt war ein Labyrinth, ein Mischmasch aus öffentlichen und geheimen Plätzen aus zahllosen Epochen, im Laufe von tausend Jahren zusammengequetscht, immer neu, immer alt.

»Oh, wo spielen sie?«, fragte Mum eifrig. Zu eifrig.

Izzy hatte sich immer noch nicht vom letzten Mal erholt, als ihre Eltern bei einem von Dylans Gigs aufgetaucht waren. Marianne liebte es, das immer wieder durchzukauen. Izzy kannte Dylan schon so lange, dass ihre Eltern ihn anscheinend weniger als Izzys Freund, sondern vielmehr wie ein eigenes Kind betrachteten.

»Nur so ein Promo-Ding. Nichts Großes. Da seid ihr sowieso bei der Arbeit. Es ist am Nachmittag«, sprudelte sie hastig hervor und ergriff die Gelegenheit zur Flucht, bevor sie nach noch mehr Einzelheiten fragen konnten … zum Beispiel wann genau und wo.

***

Die DART ratterte die Schienen entlang, grün und hässlich. Der Zug war die Lebensader für alle, die in den Außenbezirken der Stadt wohnten, ein Weg, aus den vorstädtischen Küstengebieten herauszukommen und die Krümmung der Bucht entlang direkt ins Herz der Stadt zu fahren. Izzy schaute aus dem Fenster, statt Musik zu hören oder mit ihrem Handy zu spielen wie ihre Mitreisenden. Das heimtückische Sandwatt des Sandymount-Strands, von James Joyce so geliebt, erstreckte sich hinter der Mauer, und das Meer rauschte dagegen, mit weißen Schaumkronen in den Wellen, die sich an den überspülten Sandbänken brachen. Wind kam auf, aber der Himmel war immer noch klar und blau. So schön war der Sommer nicht immer. Normalerweise war er für seinen Regen berühmt, aber nicht in diesem Jahr. Dieses Jahr war er golden und schön, wie eine Kindheitserinnerung an vergangene Sommer. Er veränderte die ganze Gegend.

Izzy drängte sich an der Pearse Station aus der Bahn und mischte sich unter die Massen, die das Gefälle zur Straße hinabströmten. Sie wanderte am Rand des Trinity College entlang, wich Touristen aus, die sich um ihre Busse ballten, und Bettlern, die Papp-Kaffeebecher hielten.

»Bisschen Kleingeld, Kumpel?«, murmelte jemand auf Höhe ihrer Knie, und sie sah gelbe Zähne in einem schmutzigen Gesicht aufblitzen. Ein stechender Blick traf sie und stoppte sie abrupt. Ihr stockte der Atem, aber sie konnte sich nicht rühren. Es war, als hielte sie jemand mit eisernem Griff im Nacken fest. »Bisschen Kleingeld, Schätzchen?«, fragte er wieder, jetzt mit noch breiterem Grinsen.

Jemand drängte sich zwischen sie, unterbrach die Verbindung, und Izzy konnte sich wieder bewegen. Mit eckigen Bewegungen eilte sie weiter, überquerte die Straße und versuchte, nicht auszusehen, als liefe sie davon. Es gab nichts, vor dem sie davonlaufen musste. Nur ein alter Kerl, der Geld wollte. Aber das Herz hämmerte ihr von innen gegen die Rippen.

Es beruhigte sich erst, als sie die Grafton Street erreichte, wo sie vor der Bank zwischen den Einkäufern und Sprachstudenten stehen blieb, die einem ziemlich mürrischen Straßenmusikanten zuschauten, der Gitarre spielte wie ein spanischer Meister. Und sie stand dazwischen und hatte Panik. Wirklich dumm. Sie ließ doch sonst auch nicht zu, dass ihre Fantasie mit ihr durchging. Dad sagte ihr immer, dass die Dinge waren, wie sie waren. Niemand musste sich etwas Schlimmeres vorstellen. Es war nur ein alter Bettler gewesen, und ihre hyperaktive Vorstellungskraft.

Izzy wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging und der Lärm und die Gespräche, das Gelächter und die Rufe sie umspülten. Die Straße war überall voller Farben und Geräusche, wie greifbare Energie. Sie schlenderte an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei, ohne hineinzugehen. Es war kein Tag zum Shoppen, selbst wenn sie Geld übrig gehabt hätte. Dies war einfach nur ein Tag für sie selbst. Wenn man älter wurde, waren die Schulferien nicht mehr wie früher. Sie arbeitete jede Stunde, die sie aufbringen konnte, im Café am Ende ihrer Straße, während die meisten ihrer Freunde damit zufrieden waren, den Sommer einfach zu verschwenden. Na ja, vielleicht war das nicht ganz fair. Teilzeit- und Ferienjobs waren heutzutage nicht leicht zu bekommen.

Trotzdem hätte sich Marianne, Dylans Schwester und Izzys Klassenkameradin und Arbeitskollegin, nicht wie eine Primadonna aufführen müssen.

Sie schaute gerade ins Fenster des Kamerageschäfts und lechzte nach einer SLR, die sie sich niemals auch nur im Traum würde leisten können, als sie in der Spiegelung der Scheibe plötzlich wieder den Bettler sah. Er saß auf der anderen Straßenseite in einem Hauseingang, umgeben von Pappkartonstücken und einer eklig aussehenden Decke. Derselbe Typ. Da war sie sicher. Vor Schreck wurde sie ganz starr.

Er rührte sich nicht, reglos wie eine dieser lebenden Statuen in der Fußgängerzone, und starrte sie nur mit Augen an, die das Licht auf eine seltsam metallische Art einfingen. Er war allerdings nicht golden oder silbern angemalt. Falls er überhaupt eine Farbe hatte, war es »Schmutz«.

Es war wirklich derselbe, den sie vorhin auf der Nassau Street gesehen hatte. Er grinste auf dieselbe Art und hielt ihren Blick fest, als wollte er sie hypnotisieren und hier fixieren. Wie eine Kobra mit ihrer Beute.

Der Lastwagen der Straßenreinigung rumpelte vorbei und brach den Zauber. Izzy schüttelte sich und drehte sich abrupt um, jetzt, da sie sich plötzlich wieder bewegen konnte. Er war fort. Als wäre er nie da gewesen. Keine Spur mehr von ihm. Nur ein leerer Hauseingang, eine zusammengeknüllte Decke und ein paar zerrissene Pappkartons. Da war überhaupt niemand.

Izzy schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie es sich eingebildet, irgendeine Lichtspiegelung im Fenster. Da war nichts.

Aber am Ende der Straße meinte sie, ihn wieder zu sehen, wie er bei dem ausladenden grauen Bogen des Tors zum St. Stephen’s Green herumlungerte. Izzy wandte sich ab, verzog das Gesicht und wünschte, es wäre ein Polizist in der Nähe. Das Gruseln begleitete sie.

Als das Telefon in ihrer Tasche klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen. Während sie es herausfischte, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie es beinahe fallen gelassen hätte. Sie warf einen Blick über die Schulter. Wieder war er verschwunden und eine laute Gruppe Touristen stand stattdessen da und verglich bunt gemusterte Stadtkarten.

»Lass mich raten.« Dylans Stimme klang tief vor Belustigung. »Du machst Sightseeing.«

Ja, sie sah etwas. Aber nichts Gutes.

Sie schaute sich um, halb in der Erwartung, dass der Bettler wieder da sein würde, halb mit der Befürchtung, ihn irgendwo zu entdecken.

Ihre Stimme zitterte. »Wie kann ich hier Sightseeing machen? Ich kenne doch schon alles.«

Dylan bemerkte ihren Tonfall nicht. Er lachte. »Ja, klar! Du kannst überall Sightseeing machen, Izzy. Vor allem hier. Ich kenne dich. Okay, dann läufst du in der Stadt herum, schaust dir die Gebäude an und tust so, als würdest du einen Einkaufsbummel machen?«

Erwischt.

Oder wenigstens hatte sie das getan, bevor sie sich möglicherweise einen Stalker angelacht hatte.

»Bist du in der Stadt?«, fragte sie, wobei sie seine Frage absichtlich nicht beantwortete. Das belustigte ihn noch mehr. Sie konnte es in seiner Stimme hören.

»Bin gerade angekommen. Also kommst du?«

»Jetzt?« Sie konnte nicht gleichzeitig reden und auf die Uhr schauen. Sie versuchte, das Telefon zwischen Schulter und Kinn einzuklemmen und ihr Handgelenk so zu drehen, dass sie die Uhr sehen konnte. Nach zwei. Mist, wie war das passiert?

Maris Stimme erklang im Hintergrund, sie sagte etwas davon, dass Izzy immer zu spät käme – was eine Lüge war, wenn sie die Arbeit meinte –, dann lachte sie. Izzy kannte dieses Lachen. Es war das kokette Findest du nicht auch, dass ich umwerfend bin?-Lachen, das sie für die Jungs reservierte, die sie aus irgendwelchen Gründen gut fand. Wie den Bassisten aus Dylans Band.

»Bald«, sagte Dylan. »Du kommst doch, oder?« Er unterbrach sich, bevor sie antworten konnte, sagte etwas zu den anderen, das sie nicht recht verstehen konnte, dann war er wieder da. »Ich muss los. Der Soundcheck fängt an. Hör zu, das dauert nicht mal den ganzen Nachmittag. Wir holen uns was zu essen und gehen vielleicht später in einen Club?«

Izzy runzelte die Stirn. Als könnte sie sich das leisten. Allerdings hätte sie es nur zu gern getan. Es war so lange her, seit sie mit Dylan weg gewesen war. Mit den Jungs von der Band kamen sie überall hinein und darauf zählte Mari vermutlich. Dylan war zwei Jahre älter als seine Schwester und Izzy, war mit der Schule fertig und fing gerade an zu studieren. Mit ihm abzuhängen – peinlicher musikfanatischer Nerd-Bruder oder nicht –, eröffnete Mari eine ganze Welt an Möglichkeiten.

»Ich muss nach Hause«, murmelte sie, obwohl sie sich wünschte, sie könnte unbekümmert »Ja« sagen und nicht an die Konsequenzen denken. »Ich muss morgen früh arbeiten und habe es meinen Eltern versprochen. Aber jetzt komme ich vorbei. Bin gleich da.«

Es war nicht weit bis zur Exchequer Street. Sie hatte noch massenhaft Zeit. Sie musste nur seitlich am Einkaufszentrum vorbei, dann am Theater und die South William Street entlang. Höchstens zehn Minuten.

Sie war schon halb dort, als das Handy wieder klingelte.

Sie versuchte gleichzeitig, das Telefon aus der Tasche zu fischen und den Pulks von Nachmittagseinkäufern auszuweichen, die sie wahrscheinlich bloß in den Boden gestampft hätten und weitergegangen wären, wenn sie angehalten hätte. Stolpernd taumelte sie drei Anzugträgern in der Mittagspause und ein paar Touristen aus dem Weg, die sich eindeutig verirrt hatten und mit bunten Karten hantierten, die wie Segel flatterten. Dann sprang sie die Stufen zu einem Designgeschäft hinauf.

»Wo bleibst du denn?«, blaffte Marianne, ohne auch nur Hallo oder irgendetwas in der Art zu sagen.

»Ich bin unterwegs.«

»Ich stehe hier ganz allein rum. Die anderen fummeln alle an der Tonanlage herum und machen tierischen Lärm. Beeil dich!«

Wieder lief ihr wie von Spinnenfingern ein kalter Schauder über den Rücken, als sie erneut das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Sie schaute sich um, sah aber niemanden. Keine Spur von dem gruseligen Typen. Wo war er jetzt?

»Ich bin in ein oder zwei Minuten da.« Natürlich würde Mari es aushalten, einmal fünf Minuten allein und nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Vielleicht aber auch nicht. Das war Mari, wie sie leibte und lebte.

»Na los, Izzy! Ich kenne sonst niemanden. Beeil dich! Oh, sie fangen an.«

Die Verbindung brach ab und Izzy verdrehte die Augen.

Ich habe Dylan versprochen, dass ich komme.

Marianne war selbst in ihren besten Momenten eine Zicke, jedenfalls ein bisschen. Sie könne nicht anders, sagte sie immer. So sei sie einfach. Eine praktische Ausrede, aber andererseits konnte sich Izzy auch nicht an eine Zeit erinnern, in der sie Mari und Dylan nicht gekannt hatte oder in der Mari nicht der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gewesen wäre. Obwohl sie in dieselbe Klasse gingen, hatten sie nur miteinander zu tun, weil sie sich schon immer kannten. Abgesehen davon hatten sie einfach nicht viel gemeinsam. Mari war in letzter Zeit verrückt nach Jungs, und Izzy verstand nie, was an den Jungs, denen Mari hinterherrannte, so toll sein sollte. Um ehrlich zu sein, stand Izzy Dylan weit näher als Mari. Und Schwester oder nicht – oft genug tat sogar Dylan so, als würde er Mari nicht kennen. Meistens verstand Izzy das auch nur zu gut. Mari wollte in der Schule auch nichts von ihr wissen. Mari war … na ja, eben Mari.

Izzy steckte das Handy wieder in die Tasche und blickte auf, um eine Lücke in dem Meer von Leuten zu finden, in die sie schlüpfen konnte. Ihr Blick fiel auf das Graffito an der Wand in dem Gässchen.

Es war direkt neben ihr, auf einer Seite von einem Geländer abgeschnitten und auf der anderen von einer Mülltonne. Ungefähr drei Meter hoch und schlicht in Schwarz und Weiß gezeichnet. Ein weiblicher Engel. Die Gestalt kauerte da, die Hände nervös vor sich verschränkt, auf den Zehenspitzen balancierend, die Flügel hinter sich ausgebreitet, als würde sie jeden Moment abheben. Sie schaute über die Schulter direkt Izzy an und ihre Augen bohrten sich in ihre Seele.

Als Izzy genauer hinsah, war das Gesicht verschmiert, verschwommene Wimperntusche wie am Morgen danach, halb auf den Kissen und halb auf den Wangen. Sie sah aus, als hätte sie geweint. Schlimmer noch – sie sah verängstigt aus.

Gefesselt von dem Bild ging Izzy darauf zu und wich dabei den anderen Fußgängern aus, bis sie in die Gasse schlüpfen konnte. Sie zwängte sich an der Mülltonne vorbei, versuchte, weder einzuatmen noch sich vorzustellen, was sie womöglich an ihre Kleidung brachte. Sogar ihre Eltern würden möglicherweise Fragen stellen, denn sie hatte die Jacke erst seit zwei Wochen.

Als sie näher an die Wand herantrat, streifte ihr Stiefel irgendetwas – einen Aschehaufen, als hätte jemand einen Stapel Zeitungen direkt hier verbrannt. Izzy beugte sich vor und berührte den Engel. Ein Schauder lief ihre Finger hinauf und den Arm entlang. Die Engelsfigur schaute herab wie Mona Lisa. Sie machte diese Sache mit den Augen, und ihr Blick folgte Izzy, egal wo sie stand.

Eine warnende Unruhe schlängelte sich an ihrer Wirbelsäule hinab, und Izzy machte erschrocken einen Schritt rückwärts und krachte gegen die Mülltonne, sodass die auf ihren Rädern auf den Bürgersteig rollte.

Irgendjemand schrie sie an, fluchte und beförderte die Tonne mit einem Fußtritt zurück in die Gasse, bevor er weiterging. Sie wühlte ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Kamera ein. Das Handy machte dieses übertrieben laute und falsche Blendengeräusch, als sie ein Foto machte.

Etwas Hartes knallte gegen ihren Rücken, stieß sie nach vorn, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie krachte mit rudernden Armen mit dem Gesicht voran gegen die Wand, und das schwarz-weiße Graffito verschwamm ihr vor den Augen. Dasselbe Etwas schnappte ihr das Telefon direkt aus der Hand. Ein stechender Schmerz fuhr ihr den Arm herab, wie Drähte unter der Haut. Ohne nachzudenken, rappelte sie sich auf und rannte hinter der watschelnden Gestalt her, die sich durch die Gasse entfernte.

Der gruslige Kerl.

Sie durfte das Handy nicht verlieren. Das ging einfach nicht. Das dumme Ding war zu teuer gewesen.

Er drehte sich zu ihr um; sein schmutzverschmiertes Gesicht wirkte wie zerknülltes Zeitungspapier. Derselbe Typ, den sie vorhin gesehen hatte, der alte Bettler, der sie verfolgt und auf eine Gelegenheit wie diese gewartet hatte.

Abrupt blieb er stehen und drehte sich zur Seite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Und er grinste wieder. Ein schreckliches, gelbzahniges Grinsen, viel zu breit für sein Gesicht.

Sein Anblick flackerte wie ein alter Film, eine Wochenschauaufnahme aus einer längst vergangenen Ära. Dann verschwand er. Als er vom Kopf her zu verblassen begann, blinzelte Izzy mit offenem Mund.

Er verschwand direkt vor ihren Augen.

Ausgeschlossen!

Izzy stürzte auf ihn zu, griff dahin, wo er gestanden hatte, und ihre Finger schlossen sich um den zerschlissenen Saum eines schmutzigen Wollmantels, kurz bevor sich der Schimmer der Unsichtbarkeit auch seiner bemächtigte. Sie spürte, wie sie nach vorn gerissen wurde, ihre Füße lösten sich vom Boden und sie taumelte hinter ihm in die Gasse.

Ein Schwall heiße Luft traf Izzys ganzen Körper; er kam aus dem Nichts, als wäre sie gerade unter dem Gebläse einer Ladentür hindurchgegangen. Doch diese Luft stank nach verbranntem Papier und Asche und nahm ihr den Atem. Ihr Blick flackerte, die Farben um sie herum kehrten sich um und hämmerten ihr verzerrte Bilder ins Gehirn wie eine Migräne.

Sie knallte auf Kopfsteinpflaster. Die Gasse, die nach nichts als einer Sackgasse ausgesehen hatte, öffnete sich vor ihr, nur streckenweise beleuchtet von flackerndem Licht, die Wände und Steine glitschig von einer Substanz, die ihnen einen regenbogenfarbigen Schimmer verlieh. Die Gasse verschob sich, kam und ging, und alles war falsch …

Die Tasche rutschte ihr von der Schulter, die Hälfte ihrer Sachen schlitterte über den Gassenboden. Der alte Mann sprach eine lyrische Sprache, die sie nicht verstand, und versuchte, ihr seinen Mantel zu entreißen. Aus seinem Tonfall und Blick schloss sie, dass er fluchte.

Wut gab Izzy ihre Stimme zurück und zwang sie, wieder zu handeln.

»Gib es mir zurück!«, schrie sie.

Er zielte einen Fußtritt in ihr Gesicht, traf aber nicht. Ganz plötzlich wurde er zurückgerissen, als hätte ihn etwas aus der Dunkelheit im Genick gepackt und geschüttelt. Es war dunkel hier; die Schatten waren so schwarz, wie sie an einem Sommernachmittag gar nicht sein dürften. Izzys Blick verschwamm und ein schrilles Winseln schnitt wie ein Messer durch ihren Kopf. Gleichzeitig hörte sie jemanden sprechen.

»Was bei allen sieben Höllen soll das, Mistle? Hast du sie mitgebracht?«

»Ich wollte nichts Böses, Jinx! Sie kam hinter mir rein!«

Ein leises Knurren grollte durch die Luft. Es jagte einen Schauder über Izzys Haut und ihr Magen machte einen Satz. Sie ließ den Mantel los und drückte sich auf die Knie hoch. Ihr Gehirn torkelte und schlingerte übelkeiterregend in ihrem Schädel herum, wenn sie sich bewegte.

Gehirnerschütterung? Das konnte sein. Sie war hart genug gegen die Wand geknallt.

Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn verschwinden sehen hatte. Das musste eine Gehirnerschütterung sein. Ihr Magen zog sich zusammen und ein süßlicher Geschmack füllte ihren Mund. Sie würde sich übergeben.

Lieber Gott, das ging nicht. Galle brannte in ihrer Kehle, doch sie zwang sie wieder hinunter und rappelte sich hoch.

»Verschwinde, du Dummkopf!«, sagte die Stimme namens Jinx.

War er hinter ihr? Wie war er hinter sie gekommen? Nannte er sie einen Dummkopf? Nein, er sprach mit dem alten Mann. »Geh nicht hier auf Beutezug! Ich habe dich oft genug gewarnt! Du …«

»Mein Handy«, sagte Izzy, bevor es zu spät war. »Er hat mein Handy gestohlen!«

Kurz herrschte Schweigen. Sie versuchte, sich auf Jinx zu konzentrieren, doch er stand im Schatten – und hier in der engen Gasse, von deren Existenz sie bisher nichts gewusst hatte, waren die Schatten wirklich sehr dunkel. Sie hatten sich um ihn gelegt, verbargen ihn vor Blicken. »Gib es zurück!«

»Aber es gehört mir! Ich hab getan, was ich musste. Es ist hübsch. Es gehört mir!«

»Gib es zurück!« Jinx’ Stimme war drohend, wie das Grollen eines Tigers am Rande eines Albtraums. Sogar Izzy machte einen Schritt rückwärts.

Mit einem unartikulierten Gebrüll, das das kriecherische Verhalten von eben Lügen strafte, warf Mistle das Handy nach ihr. Es krachte auf das Kopfsteinpflaster und zersprang in unzählige Teile.

Mistle schenkte ihr keinen weiteren Blick. Er lief einfach davon, rannte durch die Schatten und die gewundene Gasse entlang, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Seine Schritte verhallten. In der Ferne plärrte eine Autohupe.

Dann wurde es still.

Bis auf ein sanftes Heben und Senken, da jemand atmete.

»Du solltest auch nicht hier sein«, sagte die Stimme namens Jinx. Eine merkwürdig melodische Stimme und so tief, dass sie in ihr nachhallte. Aber nicht freundlich. Man konnte sie auf keinen Fall als freundlich bezeichnen.

In Izzy erwachte das Temperament. Kein »Geht es dir gut?«, kein »Hat er dir etwas getan?«. Mit finsterem Blick suchte sie ihn in den Schatten. Ihre Sicht wurde wieder normal. Sie konnte wieder sehen – beinahe. Angestrengt blinzelnd versuchte sie, sich auf ihn zu konzentrieren.

»Mir geht es prima, danke!«, blaffte sie. »Es ist nichts passiert.«

Lügnerin. Sie hatte überall Schmerzen. Ganz zu schweigen von ihrem beschädigten Stolz. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Jeder wusste, dass man Diebe nicht in Gassen verfolgte. Instinkt war eine Sache, aber was, wenn er ein Messer gehabt hätte? Was, wenn er Freunde gehabt hätte?

Ein vager Umriss, der Jinx sein musste, ragte über ihr auf. Groß, breit. Und beängstigend, sagten ihr ihre Instinkte, ein bisschen zu spät vielleicht. Das hier war so was von nicht der richtige Ort.

Sie kniete sich hin und versuchte, ihre Sachen einzusammeln. Ihr Notizbuch war von irgendetwas Matschigem überzogen. Sie versuchte, es wegzuwischen, aber es klebte hartnäckig daran. Abkratzen brachte auch nichts, genauso wenig wie das zerknüllte Taschentuch, das sie fand.

Ihr Schluchzen kam völlig überraschend. Dicke Tropfen fielen aus ihren Augen und platschten zwischen den Müll. Ihre Sachen purzelten ihr aus den zitternden Händen, als sie versuchte, sie in ihre Tasche zu stopfen.

»Hier«, sagte Jinx ruhig und überraschend nett.

Als sie aufblickte, sah sie zwei aneinandergelegte Hände mit langen Fingern. Maskuline Hände, aber elegant, wie von einem Künstler. Sie hielten die zerbrochenen Reste ihres Handys. »Es ist wohl nicht mehr brauchbar.«

Der entschuldigende Ton brachte sie dazu, aufmerksam aufzublicken, und das Erste, was sie sah, waren seine Augen. Scharf wie Rasierklingen, konnte man sagen, und von derselben Farbe. Hell strahlender Stahl, der die Dunkelheit durchschnitt. Und nicht ganz … normal …

Er neigte den Kopf zur Seite und musterte sie genauso aufmerksam wie sie ihn. Sie blinzelte, und die Welt schien sich abrupt um sie herum zusammenzuziehen. Die Illusion verschob sich, wie der Schimmer eines Hitzeflimmerns im Hochsommer, und plötzlich waren seine Augen grau und nicht mehr wie Stahl. Sein blasses Gesicht wurde von langen schwarzen Haaren umrahmt, seidig und glänzend. Es juckte sie in den Fingern, ihm übers Gesicht zu streichen.

Seine Augen standen leicht schräg, katzenhaft, und verschmierter Guyliner verlieh ihrem Grau diese seltsam metallische Anmutung. Nein, kein Eyeliner. Schatten um seine Augen, geworfen von dichten schwarzen Wimpern. Tattoos bedeckten seine rechte Halsseite, küssten die Unterseite seines Kiefers und verschwanden unter dem engen schwarzen T-Shirt, das er trug. Sie erschienen wieder, zogen sich an seinen Armen nach unten, und sie fragte sich, wohin sie noch weitergingen. Der Gedanke daran, was wohl unter seinen Klamotten war, ließ sie fürchterlich erröten. Ein Nasenstecker blinzelte sie an, ein Silberring umschloss eine seiner hohen und eleganten Augenbrauen, und eine Reihe von Ohrringen zog sich seitlich an einem spitzen Ohr nach oben.

Das ist kein Mensch, der ist nicht echt, dachte sie noch einmal, wie eines dieser verrückten Aliendinger in den Filmen, die sich Dylan immer anschaute, oder etwas von Mangas Inspiriertes, wie eine stilisierte Zeichnung, und das Bild verschob sich, wurde wieder normal.

Der Schock gaukelte ihr Dinge vor. Das war alles. Oder die Gehirnerschütterung, die sie wahrscheinlich hatte.

Oder vielleicht einfach der möglicherweise tödliche Anfall von Dummheit, der sie urplötzlich zu überwältigen schien.

Immer noch gepierct, immer noch tätowiert, immer noch unerträglich gut aussehend, aber weniger … Alien? Sie schüttelte den Kopf; sie musste ihn unbedingt wieder klarbekommen. Tief Luft holen half nicht.

Sie schloss die Augen, versuchte es noch einmal und fand ihr Herz wieder, das in ihrer Brust hämmerte. Sie atmete, spürte, wie es sich beruhigte, und schaute ihn wieder an. Normal. Alles war normal. Oder so normal, wie es eben sein konnte, wenn man mit einem tätowierten Fremden in einer nach Pisse stinkenden Gasse kniete.

Trotzdem nahm sie die Einzelteile ihres Handys nicht. Falls sie sich durch den Schock Dinge einbildete, war das schlimm genug, aber sie kniete immer noch vor einem Typen, von dem ihre Mutter einen Schlaganfall bekommen hätte.

»Nimm es!«, sagte er. In seiner Stimme lag ein singender Klang, von dem sie wusste, dass sie ihn hätte erkennen müssen. Es war ein alter Akzent, den sie aber nicht verorten konnte. Und dennoch … von weit weg kam er auch nicht. Sie musste ihn kennen. »Vielleicht kannst du es reparieren lassen?«

Reparieren. Ja, klar. Hatte er sich das Ding mal angeschaut? Sie versuchte, mit den Schultern zu zucken. »Es ist nur ein Handy. Ich … ich kann mir ein neues kaufen.« Es sah nicht gerade aus, als wäre genug davon übrig, damit sich eine Reparatur lohnte. »Nicht mehr brauchbar«, war eine Untertreibung. Dank der Wirkung, die sie und ihr Dad auf elektronische Geräte hatten, hatte sie schon genug gesehen, um zu erkennen, wenn etwas komplett hinüber war. Trotzdem hielt sie ihm ihre Tasche hin und er ließ die Stücke hineinfallen.

Jinx erhob sich und ragte wieder hoch über ihr auf. Breitschultrig, schmalhüftig, perfekt proportioniert.

»Ich bin Izzy«, sagte sie und bereute es sofort.

Er schenkte ihr einen verwirrten Blick und starrte sie lange an, als könnte er in ihr Inneres schauen. »Jinx«, sagte er schließlich. »Ist alles in Ordnung?«

Da wurde Izzy bewusst, dass sie immer noch zu seinen Füßen auf dem Boden kauerte. Irgendetwas zuckte in ihr und sie sprang so schnell auf, dass ein Teil von ihr überrascht war, dass man keine Sehne reißen hörte. Alles in ihrem Kopf verschwamm, und das merkwürdige Glühen, das sie gespürt hatte, als sie den Engel berührte, wallte in ihr auf.

»Ja, mir … mir geht es gut …«

Die Welt verschwamm ebenfalls. Ihre Haut dehnte sich zu eng über ihren Knochen und ihre Brust steckte in einer Schraubzwinge. Sie spürte, wie ihr der Boden entgegenkam, dann hielt eine Hand sie am Arm fest. Stark, aber behutsam. Besorgt, aber zurückhaltend.

»Langsam. Du bist zu schnell aufgestanden.«

Izzy konnte ihn nur wie eine Idiotin anstarren. Jedes Wort, das sie hätte sagen wollen, erstarb in ihrer Kehle. Normalerweise fiel ihr immer innerhalb von einer Sekunde etwas ein, leicht und nonchalant, manchmal sogar lustig. Aber jetzt nicht. Jinx ließ sie los; seine Hand blieb in der Nähe ihres Arms, um sie wieder auffangen zu können, wenn es nötig sein sollte. Aber er bewegte sich, als wollte er sie nicht länger als unbedingt nötig berühren.

O mein Gott, reiß dich zusammen!, versuchte ihr Gehirn dem Rest von ihr zu befehlen. Steh nicht nur da wie eine Schwachsinnige, die den heißen Typen angafft! Tu was, sag was– irgendwas!

»Ja, ich … danke. Ich …« Sehr gut, Izzy! Wirklich gut! Doch das Gefühl der Unruhe ging nicht vorbei. Sie schaute sich um, erwartete halb, den grusligen alten Mistle wieder herumschleichen zu sehen.

»Vielleicht solltest du dich setzen«, sagte er mit einer Vorsicht, die sein Macho-Image Lügen strafte. Wahrscheinlich hatte er Angst, sie könnte vor seinen Füßen zusammenbrechen. Oder sich auf ihn erbrechen, dachte sie, als sich ihr Magen unheilvoll drehte.

»Ich weiß nicht, ob der Kaffee hier so gut ist, aber die Bestuhlung sieht nicht so super aus.« Sie versuchte zu lachen, aber es kam falsch und verzerrt heraus. Sie konnte sehen, wie sein Blick hart wurde.

Gott, glaubte er, sie flirtete mit ihm? Ein Geräusch wie echtes Gelächter trieb durch ihren Hinterkopf und machte sich über sie lustig.

Flirtete sie etwa?

»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, fragte Jinx. »Deine Eltern oder eine Freundin?«

Meine Eltern? Na, vielen Dank! »Nein. Ehrlich. Ich bin mit Freunden verabredet.«

Er runzelte die Stirn, verkniff sich eine Bemerkung und nickte dann. »Ich begleite dich hin.«

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, legte er auf höchst altmodische Art die Hand um ihren Arm und geleitete sie aus der Gasse, wobei er sie nur losließ, um sie an der Mülltonne vorbeizulassen.

Wieder ging dieser merkwürdige Schimmer in der Luft über sie hinweg, und als sie hindurchgegangen waren, war das Sonnenlicht heller. Ihre Haut saugte die Wärme mit unerwarteter Erleichterung auf.

Draußen auf der Straße schien sich die Menge von selbst vor Jinx zu teilen. Oder vielleicht mieden ihn auch alle nur. Im Sonnenlicht sah er nicht mehr halb so grimmig aus. Sie war dumm gewesen; Panik und ihre Fantasie hatten ihr wilde Bilder von ihm vorgegaukelt. Die langen Haare, Piercings und Tattoos machten ihn aber trotzdem nicht gerade zu einem Konformisten.

Sie warf einen Blick auf seinen Arm, während er sie die South William Street hinunterführte, wobei seine Füße zwischen dem schmalen Gehweg und der Straße wechselten und er auf dem Bordstein oder daneben ging, wie es gerade nötig war, völlig im Einklang mit diesem Ort und der Welt. Seine Tattoos waren nicht schwarz, wie sie gedacht hatte, sondern in einem tiefen Indigoblau. Windungen und Spiralen bedeckten seine Haut in einer Art Tribal-Muster, gemischt mit keltischen Knoten. Es war kompliziert und schön und hob sich stark von seiner glatten Porzellanhaut und den straffen Muskeln darunter ab.

»Wo hast du die machen lassen?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn, dann folgte er ihrem Blick und schnaubte kurz und abwertend, als wäre da nichts Bewunderungswürdiges. »Die hab ich schon lange. Es gibt heutzutage nur noch wenige, die so was richtig hinbekommen.« Er klang fast erleichtert.

Izzy stolperte über einen hochstehenden Pflasterstein, und er musste sie wieder auffangen, bevor sie fiel. Seine Berührung jagte ihr einen Schauer über den ganzen Körper und ließ den warmen Funken wieder aufsteigen, was auch immer es war, das sie da überfallen hatte. Aber es war nicht angenehm. Am liebsten hätte sie sich losgerissen und sich die Haut gerieben, wo er sie berührt hatte, bis sie wund war. Verärgert über sich selbst und seine Schweigsamer-Held-Attitüde schüttelte sie ihn ab.

»Mir geht es gut, ehrlich! Du musst nicht mit mir kommen.«

Jinx blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte auf sie herab. Die anderen Fußgänger flossen um sie herum wie Wasser um einen Felsen, ihre Gespräche klangen gedämpft und entfernt. Selbst das Summen des Verkehrs klang schwächer, während sie ihn anschaute. Sie hörte nur ihren Atem, ein und aus, und das Hämmern ihres Herzens.

»Wo wolltest du hin?«, fragte er; sein Geduldsfaden wurde langsam dünner. Er hob die Hand in den Nacken und massierte sich die verspannten Muskeln.

»Das Musikgeschäft in der Exchequer Street. Denzion spielen um …« Sie schaute auf die Uhr. »Oder wenigstens haben sie um zwei gespielt.«

Jinx lachte wieder dieses abfällige Schnauben, das Izzy die Nackenhaare aufstellte. »Denzion, ja? Na ja, vielleicht hattest du ja doch Glück, dass du darum herumgekommen bist.«

Sie hätte zu gern Maris Gesicht gesehen, wenn sie das gehört hätte. In letzter Zeit war Dylans Band ihr einziges Gesprächsthema. Natürlich nicht wegen ihres Bruders. Sie stand auf den Bassisten und war so wild entschlossen, etwas mit ihm anzufangen, dass sie alle zu jedem Gig und öffentlichen Auftritt der Band mitschleppte. Nicht dass es Izzy gestört hätte.

»Kein Fan, was?« Sie fühlte sich ein bisschen schuldig. Aber Dylan würde es verstehen, oder? Nun, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Dafür waren Jungs zu stolz. Aber abgesehen von ihm war die Band wirklich ziemlich schrecklich. Vor allem der Idiot am Bass. Wie war noch mal sein Name? Meine Güte, Marianne nannte ihn doch oft genug.

»Nicht besonders«, sagte Jinx, doch seine Stimme wurde weicher, und man konnte echten Humor heraushören. »Aber der Gitarrist kann spielen«, sagte er nach kurzem Schweigen.

Izzys Atem beruhigte sich wieder. Dylan, er meinte Dylan. Das linderte ihre Schuldgefühle ein bisschen.

»Das stimmt. Aber die anderen …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wenigstens scheinst du ein bisschen Geschmack zu haben, wenn es schon am gesunden Menschenverstand fehlt. Was hattest du überhaupt in der Gasse zu suchen?«

Als würde sie sich nicht schon genug für ihren Leichtsinn schämen! Sie hätte es besser wissen müssen, auch bei Tageslicht und mitten in einer Stadt. Aber als sie den Engel gesehen hatte, hatte sie nicht nachgedacht. Stattdessen hatte sie Bilder von Kunstprojekten in der Schule vor Augen gehabt und dass sie ihn irgendwie verwenden könnte. Sie hatte nur ein Foto machen wollen. Materialsammlung und so. Es war so ein dummer Grund, wenn sie jetzt darüber nachdachte.

»Ich wollte den Engel sehen«, flüsterte sie zutiefst beschämt.

»Einen Engel?« Sein Gesicht wurde ernst. »Also von Engeln sollten sich kleine Mädchen auch fernhalten.«

»Kleine…?«

Aber Jinx lächelte, ein breites Lächeln, und zu ihrer noch größeren Verlegenheit und Empörung wurde ihr klar, dass er sie neckte.

»Oh …« Sie hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft und wäre davongestürmt, aber das hätte ihn nur bestätigt, oder? Dass sie nur ein kleines Mädchen war, das sich selbst Probleme einhandelte? »Sehr lustig!«, knurrte sie. »Was ist das überhaupt für ein Engel?«

Jinx schüchterte sie mit einem finsteren Blick ein.

Die Leute können dich nur einschüchtern, wenn du es zulässt, Isabel.

Das sagte Mum immer. Auch wenn ihr die Businessanzüge, die Mehrfachabschlüsse und der MBA vermutlich dabei halfen. Egal. Izzy blieb standhaft.

»Also?«, fragte sie noch mal und stemmte die Hände in die Hüften, dass ihre Ellbogen links und rechts abstanden. Er würde nicht antworten.

»Bist du nicht schon spät dran?«

Sie konnte es mit etwas anderem versuchen. »Was ist Mistle?«

Beim Klang des Namens des Landstreichers verzog sich Jinx’ Oberlippe höhnisch. »Das ist jemand, den du auf keinen Fall wiedersehen willst. Er ist bestenfalls ein unbedeutender Dieb. Halte dich fern, Izzy! Mistle und seinesgleichen sind Abschaum.«

»Und was ist mit deinesgleichen?«

Jinx schnaubte und ging weiter die enge Straße entlang. Izzy eilte ihm nach, sie hatte Mühe, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Für einen verdammten Goth war er ganz schön schnell. Und sie hatte gedacht, hier gäbe es nur Emo-Möchtegern-Vampire.

Er blieb an der Kreuzung der Exchequer Street stehen; die schwarz gestrichene Fassade des Musikladens lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Stadt drehte sich um sie beide, Autos, Fußgänger, Fahrräder, all diese Leben wirbelten vorbei.

»Also, hier sind wir. Viel Spaß.«

Ein leicht misstönender Lärm aus Schlagzeug und Gitarren dröhnte aus der Tür und Izzy verzog das Gesicht. Jinx’ Glucksen brachte sie dazu, zu ihm aufzublicken.

»Bist du ein Experte oder so was?«

Zu ihrer Überraschung flackerte ein Lächeln über seine Lippen. »So was«, erwiderte er. »Pass auf dich auf. Ich gehe besser mal.«

Sie nickte und presste die Lippen zusammen. »Danke«, flüsterte sie, und seine Augen wurden groß vor Überraschung.

Fast genauso schnell wurde Jinx’ Gesichtsausdruck wieder hart. »Gern geschehen«, knurrte er. »Also los. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen um dich.«

So weit kam es noch.

Sie wartete noch einen Augenblick, schaute in sein schön geschnittenes Gesicht hinauf. Er sah ihr tief in die Augen, unverwandt, und eine Sekunde lang fragte sie sich, ob er sich vorbeugen und sie küssen würde. Es war nicht weit. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, war sie in Reichweite. Er musste nur seinen langen Hals beugen und den Kopf senken.

Seine Lippen teilten sich, und bevor sie wusste, was sie tat, ließ sie zu, dass sich ihre Augenlider flatternd schlossen, und reckte ihm das Gesicht entgegen.

Aber er küsste sie nicht. Stattdessen seufzte er fast unhörbar. »Ich muss gehen.«

Schock und Scham durchfluteten sie wie Eiswasser. Sie wandte sich ab, ging über die Straße auf die Tür zu, den Kopf gesenkt, und versuchte, das brennende Schamgefühl zu dämpfen.

Jinx’ Stimme driftete über den Straßenlärm hinweg: »Auf Wiedersehen, Izzy!«

Sie drehte sich um, als sie auf den Bürgersteig trat, und erhaschte einen letzten Blick auf ihn. Er stand reglos da und starrte sie an. Nur noch einen Augenblick lang, dann wandte er sich ab. Das Sonnenlicht flackerte hinter ihm auf, blendete sie, und dann war er fort.

Jinx ließ Izzy widerstrebend gehen. Sie überquerte die Straße, ein kleines, schmächtiges Ding mit schulterlangen roten Haaren, die im Sonnenlicht zu leuchtend wirkten, um ganz natürlich zu sein, und flitzte zwischen dem Verkehr und anderen Menschen hindurch. Als sie auf der anderen Seite war und einen Blick über die Schulter warf, hatte er den Glamour schon um sich gezogen, indem er sich seitlich zur Sonne drehte, um für menschliche Augen unsichtbar zu sein.

Das Mädchen blieb im Eingang des Musikgeschäfts stehen und schaute zu ihm zurück, fast als könnte sie – na ja, ihn nicht sehen, aber vielleicht immer noch spüren? Konnte das sein? Vielleicht ein Hauch altes Blut? Es hatte ausgesehen, als könnte sie durch seinen Glamour blicken, nur für einen Augenblick oder zwei. Aber das war in der heutigen Zeit nicht mehr möglich, wo sich Fae und Menschen kaum noch begegneten, ganz zu schweigen davon, sich zu mischen. Das alte Blut war größtenteils ausgestorben.

Seine Instinkte regten sich, das tief sitzende, alte Wissen von Jäger und Gejagtem, intuitiv und ursprünglich. Er stand still wie eine Statue; die Menschenmenge des späten Nachmittags floss um ihn herum. Licht brach durch eine weit entfernte Wolkenlücke und fiel auf sie. Es machte sie glühend – besonders. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie außergewöhnlich war. Und das brachte ihn mehr aus der Fassung, als er sagen konnte. Mistle hatte sie schließlich auch schon bemerkt, und es brauchte etwas ganz Besonderes, damit er aus der Flasche kroch, in der er sich gerade ertränkte.

Nicht einmal Jinx’ Glamour hatte so bei ihr gewirkt, wie er sollte. Sterbliche Mädchen erröteten und wurden nervös, flehten um seine Aufmerksamkeit, sobald er sie einmal berührt hatte. Ein Fae konnte das Blut eines Menschen immer zum Kochen bringen. Es war der Lauf der Dinge.

Aber sie hatte dagegen angekämpft. Sie hatte so sehr gekämpft. Allem Anschein nach hatte es sie kaum beeinflusst … na ja, bis zum Ende zumindest.

Warum hatte er diesen Augenblick nicht ausgenutzt? Er atmete langsam aus, zwang seinen Körper, sich zu entspannen. Sie hatte wie etwas anderes ausgesehen, etwas, das größer war als sie selbst. Altes Blut, alte Seele, alt und mächtig. Doch sie war es nicht. Sie war nur ein Mädchen.

Jinx wartete, bis sie seufzte und sich abwandte. Sie verschwand im Inneren. Die Sonne glitt hinter die Wolken und seine Welt wirkte wieder dunkler und kälter.

Zufall, sagte er sich. Nichts weiter.

Aber das war eine menschliche Entschuldigung. Das Problem war, dass es so etwas in der Welt der Übergänge, die alle Fae bewohnten, selten gab.

Verwirrt ging er nach Hause zurück, bahnte sich geschickt einen Weg durch die Fußgängermassen, die ihn nicht sehen konnten. Ein kleiner Trick, einfach gemacht, der das Leben aber sehr erleichterte. Er musste ihre Aufmerksamkeit nur auf etwas anders lenken – egal was –, während er gleichzeitig in ihnen Abscheu davor weckte, ihm zu nahe zu kommen. Gerade genug, damit sie ihm nicht im Weg waren.

Von der Gasse aus war es ein kleiner Schritt in das Sídhe-Gebiet, in dem sein Zuhause lag, ein Teil eines größeren Netzwerks aus Sídhe-Wegen, aus denen Dubh Linn bestand. Die Fae-Stadt lag von der Menschenwelt leicht nach links versetzt, überlagerte sie, lauerte in den Schatten und an vergessenen Orten, an den Kreuzungspunkten, wo die beiden zusammentrafen, und all den Orten, die sich sein Volk über die Jahrhunderte angeeignet hatte. Sie war schmuddelig und prächtig, voll von Dingen, die niemals waren, den unruhigen Träumen einer alkoholdurchtränkten Nacht. Dass der Glanz an manchen Stellen schon ziemlich abgerieben war, überraschte nicht. Dubh Linn war nichts für Unvorsichtige.

Er war plötzlich froh, dass er ihr den Weg nach draußen gezeigt hatte.

Der Club war fast leer. Jetzt, da alle Lichter brannten, hatte er seine Rätselhaftigkeit verloren und sah nur noch schäbig aus. Nicht zu vergleichen mit den Höhlen der alten Zeiten, sagten die Älteren gern, seine Matriarchin Holly am geringschätzigsten. Jinx wusste es nicht und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Das Leben in einem Loch im Boden, meilenweit vom Arsch der Welt entfernt, reizte ihn nicht. Er hatte schon immer in der Stadt gewohnt, so wie die meisten Fae, die er kannte. Die Zeiten hatten sich geändert – noch ein Lieblingszitat unter seinen Ältesten, aber was das anging, war er froh darüber.

Auf das Geräusch einer sich öffnenden Tür hin drehte er sich um. Dort standen die Magpies, Seite an Seite, und versperrten jeden Fluchtweg. Sie sahen gleich aus, wie immer in makelloses Schwarz-Weiß gekleidet, den scharfen Blick auf ihn und nur auf ihn gerichtet.

»Ach, da ist er ja«, sagte Mags und strich sich die glänzenden schwarzen Haare aus der Stirn.

»Schwierig zu finden, unser Jinx«, stimmte Pie zu.

»Was wollt ihr?«, fragte er mit einer nervösen Bewegung, die er nicht verbergen konnte. »Silver ist nicht hier. Der Club hat noch nicht geöffnet.« Und falls Silver sie erwischte, wie sie sich ohne Erlaubnis in ihrem Revier herumtrieben, würde sie ihnen das Fell über die Ohren ziehen. Sie war für diese Höhle verantwortlich.

Mags legte den Kopf schief und lächelte sein herzloses Lächeln. »Oh, wir sind nicht auf der Suche nach Gesellschaft. Noch nicht jedenfalls. Der Rat trifft sich im Casino zu einem Parley. Deine Anwesenheit wird verlangt.«

Er erstarrte und musterte sie eindringlich. Das konnte keine Lüge sein. Nicht mal die Magpies würden so etwas riskieren. Der Rat arbeitete auf einer Basis des gegenseitigen Misstrauens und des Abscheus – Feinde unter einem sehr brüchigen Waffenstillstand –, die es irgendwie schaffte, das Gleichgewicht zwischen all den verschiedenen Sippen zu erhalten. Das Wort des Rats war Gesetz – oder einem tatsächlichen Gesetz zumindest so nahe, wie es sein Volk befolgen würde. Wenn sich also der Rat versammelte und speziell seine Anwesenheit verlangte … das konnte nicht gut sein. Die Magpies dienten nur einem Mitglied des Rats, dem Amadán, und Jinx war ihm nicht zur Treue verpflichtet, wofür er ewig dankbar war. Aber ein Ruf des Rats … Was wollten sie? Was wollte Holly? Die Matriarchin seiner Sippe war nicht von der geduldigen Sorte. Sie würde außer sich sein, wenn er sie vor den anderen Mitgliedern beschämte. Vor allem, wenn Brí da war. Es war kein Geheimnis, dass die beiden einander hassten. Und es war kein Geheimnis, dass Jinx in Brís Höhle geboren und danach Holly übergeben worden war. Brí hatte ihn genauso unverrückbar gekennzeichnet, wie Holly das getan hatte, und hatte ihm statt Tattoos und Piercings eine Geis auferlegt, um sein Schicksal zu besiegeln. Die Matriarchinnen hinterließen immer ihr Zeichen.

Er hatte keine Wahl, er musste hin. Wenn er Holly öffentlich bloßstellte, konnte er sich auch gleich für den Rest seines kurzen und armseligen Lebens verstecken.

»Tja, dann wollen wir sie mal nicht warten lassen, oder?«, fragte er, als machte es ihm nicht das Geringste aus.

Mags lachte, als sich Jinx an ihm vorbeidrängte und ihn dabei an der Schulter anrempelte, weil keiner von beiden ausweichen wollte.

»Braver Hund«, murmelte Pie höhnisch, als sie ihm aus der Höhle folgten.

Jinx spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

***

Die Sídhe-Wege wanden sich zwischen der Menschen- und der Fae-Welt, zu keiner gehörig und beiden innewohnend, mal innerhalb, mal außerhalb von Zeit und Raum, sich hier Minuten borgend, um sie wann auch immer zurückzuzahlen. Es machte das Reisen schneller, konnte aber auch die Zeit durcheinanderbringen, sodass eine Stunde wie ein Tag erschien oder eine Woche nicht länger als eine Stunde. Reisende mussten wissen, was sie taten, und selbst dann, dachte Jinx, als sie aus einem schimmernden Hitzeflimmern in das Abend- statt ins Nachmittagslicht traten, selbst dann konnte man sich zu leicht irren.

Pie fluchte und schaute auf die Uhr, deren Zeiger herumwirbelten, um die Realität einzuholen. »Na los, wir sind spät dran!«

Jinx beschleunigte sein Tempo nicht, als sie über den Rasen auf das kleine neoklassizistische Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert zugingen, das schnell vom Rat der Aes Sídhe übernommen worden war, damit es in einem neutralen Teil des Sídhe-Gebiets lag. Gestohlen, würden manche sagen, oder geborgt. Aus einer Welt herausgerissen und in eine andere entführt, aber nicht fort. Nicht im eigentlichen Sinne. Es transzendierte hierhin und dorthin, balancierte auf der Kante zwischen beiden Welten. Die Aes Sídhe liebten schöne und trügerische Dinge und es passte auf diese Beschreibung. Das Casino war nur jeweils ungefähr fünfzehn Meter lang und breit und sah von außen aus wie ein einziger Raum, enthielt aber sechzehn Zimmer auf drei Stockwerken und Myriaden von Sinnestäuschungen. Man konnte den Namen mit »Kleines Haus« übersetzen, obwohl »Freudenhaus« der Sache eigentlich näher kam. Es war nie zum Spielen benutzt worden. Na ja, zumindest nicht um Geld.

Die drei passierten ungesehen das Rinnsal von unvorsichtigen Touristen, die die Stufen zur Rezeption hinuntergingen – und die sie kaum bemerkten, ganz zu schweigen von etwas Seltsamem um sie herum. Dann stiegen sie auf der Nordseite die Stufen zu der riesigen verwitterten Eichentür hinauf. Innerhalb der Vertäfelung lag die tatsächliche Tür von normalerer Größe und sie öffnete sich auf ihre Berührung hin. In der Haupthalle überquerten sie den reich verzierten Boden und Pie öffnete die mittlere von drei polierten Mahagonitüren. Die Luft schimmerte. Jinx folgte Pie, Mags übernahm die Nachhut, und sie traten durch ein Portal, das in die Substanz des Gebäudes eingebaut war. Doch da dieser Ort vollständig aus Illusionen gebaut war, führte die Tür irgendwo anders hin. Die Welt verschob sich fast unmerklich, erschauerte wie ein Hund mit einem Floh auf dem Rücken, und das Casino veränderte sich mit ihr, immer noch prächtig und kunstvoll verziert, doch jetzt ewig neu, aus reinem Gold statt vergoldet und überwältigend in seiner Schönheit. Dieses Casino, auf der Fae-Seite der Welten, glitzerte und beherbergte einen Bankettsaal, weit größer, als es in dem Gebäude außerhalb von Dubh Linn möglich war.

Doch im Inneren war alles möglich.

Lichter schwebten unter der verspiegelten Decke, umkreisten einander, beleuchteten den Saal und den Tisch, der seine Mitte dominierte und dessen Oberfläche mit Einlegearbeiten aus seltenen Hölzern in komplizierten, filigranen Mustern verziert war, die das Auge Lügen straften. Die drei Gestalten, die um den Tisch saßen, nahmen die Pracht ihrer Umgebung nicht wahr. Neben jeder von ihnen stand ein leerer Stuhl, der die Grenzen und Distanz zwischen ihnen markierte. Der ausladendste Stuhl von allen, am Kopf des Tisches, war ebenfalls unbesetzt.

Die Magpies fielen hinter Jinx zurück, als er den Raum betrat. Silver lächelte von ihrem Platz an der seidenbespannten Wand herüber, ihre Haare schillerten in dem bewegten Licht, der Blick ihrer blassgrauen Augen schoss wachsam zu Holly. Ihre Matriarchin geruhte noch nicht, Jinx zu bemerken. Sie fütterte den Fae, der zu ihren Füßen saß, mit duftenden Fleischstücken. Sie neckte ihn, ließ das Essen über ihm baumeln, bevor sie ihm erlaubte, es mit dem Mund zu nehmen.

Er war ebenfalls einer der Aes Sídhe, aus dem Hochadel der Fae, doch das verschonte ihn nicht. Rote Striemen von ihrer Gerte zogen sich über seinen Rücken, und er bebte in einer Mischung aus Demütigung und Verzweiflung, während sie ihn fütterte. Seine Hände blieben fest auf das polierte Parkett gepresst. Es war schwer, Mitleid mit ihm zu haben. Die meisten der Aes Sídhe, die Jinx in der Vergangenheit je einen Hauch Aufmerksamkeit geschenkt hatten, hatten ihn verspottet und lächerlich gemacht. Doch es wurde nicht besser davon, einen von ihnen nun so gebrochen zu sehen. Es erinnerte ihn nur daran, was Holly ihm im Lauf der Jahre angetan hatte. Sie liebte es, ihre Macht über ihre Untertanen zu demonstrieren, vor allem bei denen, die sie verärgerten. Sie führte ihre Macht wie ein Skalpell. Oder wie einen Knüppel, wenn es ihr passte.

Er fragte sich, was der arme Tor angestellt hatte. Er wollte es nicht wissen.

Jinx hatte Mühe, kein finsteres Gesicht zu ziehen, während er ihr zuschaute und darauf wartete, dass sie ihn bemerkte. Sie war seine Matriarchin: Bis sie das tat, existierte er für niemand anderen im Raum. Er nutzte die Zeit, um die anderen Mitglieder des Rats zu studieren, die heute anwesend waren. Nur drei Mitglieder waren gekommen, die drei, die einander mehr hassten als der Rest. Dennoch kamen sie und trafen sich. Hauptsächlich um zu zeigen, dass sie einander nicht fürchteten – obwohl sie es taten. Jinx hatte den Verdacht, dass das für sie auch nicht mehr Sinn ergab als für ihn.

Brís wildes rotes Haar stand im Kontrast zu Hollys glattem blonden Bob. Sie raschelte mit Papieren und schaute überall hin, nur nicht auf Jinx. Brí war so schön und schrecklich wie alle anderen Aes Sídhe, aber normalerweise sehr zurückgezogen.

Einen Moment lang sah sie so vertraut aus, dass etwas in ihm schmerzte und er nur zu ihr gehen und ihr dienen wollte. Er war geboren, um ihre Kreatur zu sein, das lag ihm im Blut. Sein Vater war zwischen ihr und der Familie zerrissen gestorben, die er niemals hätte haben sollen. Und selbst als Jinx von Brí als Bezahlung für die verlorene Ehre an Holly übergeben worden war, hatte sie ihn im selben Moment verflucht und ihm eine Geis auferlegt, die ihn bei allem, was er tat, auf Messers Schneide gehen ließ – eine Geis, die ihn in einem Wimpernschlag versklaven oder töten konnte. Eine Verpflichtung. Das war der höfliche Ausdruck dafür. Wenn die Sídhe sich dazu herabließen, höflich zu sein.

Ihr Hund. Für immer. Auch wenn er das jetzt eigentlich nicht mehr war. Der Drang war zu stark. Es lag einem im Blut. Das passierte jedem Rudeltier, jedem Hundeartigen. Und obwohl er Hollys Eigentum war, obwohl ihre Zauber und Siegel ihn fester an seine Aes-Sídhe-Form banden, würde der Hund nicht komplett zum Schweigen zu bringen sein. Er wollte heraus. Immer.

Die einzige andere Person am Tisch war Amadán selbst, dem Anschein nach ein alter Mann, aber in Wahrheit nicht so verletzlich. Er regierte allein, ohne eine Matriarchin, und seine Anhänger – wie die Magpies – musste man fürchten.

Von Donn war natürlich nichts zu sehen, aber er kam überhaupt nicht mehr. Jinx konnte sich nicht erinnern, wann er einmal teilgenommen hatte. Allerdings hielten sie ihm seinen Platz frei – sie würden es nicht wagen, es nicht zu tun. Donn war der Mächtigste von ihnen, so sagte es die Überlieferung, der Älteste und Undurchsichtigste, der Bewohner der Dunkelheit. Jinx hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Er kannte nicht viele, die ihn je gesehen hatten.

Íde, die Matriarchin der Berge, war seit Jahren nicht gekommen. Nicht, seit ihr Geliebter Wild direkt hier am Tisch von unbekannter Hand vergiftet gestorben war. Sie hatten Wild nicht ersetzt, weil Íde es nicht erlaubte.

Und die Seanchaí, die Geschichtenerzählerin, wie sie manchmal genannt wurde, war nicht mehr Teil des Rats. Sie verließ ihr Herrenhaus nie und war zufrieden damit, dort zu sitzen und sich mit der Zukunft und der Vergangenheit aufzuhalten statt mit dem Jetzt. Ihr Platz am Kopf des Tisches würde nie wieder benutzt werden.

Also bestand der Rest des Rats aus der Hälfte des Rats. Sie regierten alle Fae in Dubh Linn, jede Art, von den höchsten bis zu den niedersten, und erhielten einen brüchigen Frieden aufrecht. Manchmal mit harter Hand, andere Male spürte man sie überhaupt nicht.

Es war keine Freundschaft, nicht mal eine Zweckfreundschaft. Diese Versammlung war so ungefähr das Einzige, was sie alle vom offenen Krieg abhielt, und auch wenn sie ihrem Zweck schon länger diente, als er denken konnte, machte es die Atmosphäre trotzdem nicht angenehmer. Niemand konnte einen Groll hegen wie ein Angehöriger der Aes Sídhe, des Adels der Fae. Heiß oder kalt – sie befanden sich immer noch im Krieg, und das bedeutete, dass List, Spionage und eine Vielfalt von bunten Mordversuchen zu erwarten waren. Natürlich. Wilds Tod hatte das gezeigt. So waren die Aes Sídhe seit Anbeginn der Zeiten.

Gleichzeitig hieß das aber nicht, dass sie sich nicht treffen und kaltblütig zivilisiert sein konnten. Nun ja, beinahe zivilisiert. Scharfe Worte und gegenseitiges Übertreffen waren einfach ebenfalls Waffen in diesem tödlichsten aller Spiele.

»Ach«, sagte Holly endlich. »Es wurde auch Zeit, dass du kommst.«

Jinx neigte respektvoll den Kopf. »Es ist wunderbar, dich zu sehen, Großmutter.« Er klang sogar, als meinte er es ernst.

Doch Holly ließ sich nicht täuschen. Sie funkelte ihn an. »Wahrscheinlich gar keine schlechte Idee, diese Beziehung zu erwähnen, Jinx.«

»Andererseits«, unterbrach sie Brí, deren klare, lebhafte Stimme im Raum widerhallte, »vielleicht auch doch. Wenn man bedenkt, dass er das Kind einer Verräterin ist.«

»Das Produkt einer Verräterin und eines Mörders«, sagte Amadán mit einem Glucksen. »Eine sehr ungewöhnliche Ahnentafel für einen Bastard.«

Ach ja, seine Mutter die Verräterin und sein Vater der Mörder. Es lief immer wieder auf sie hinaus. Jinx kämpfte darum, den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. Er hatte seine Eltern nicht einmal gekannt, lebte aber täglich mit ihrem Erbe und den Intrigen eben des Rats, vor dem er jetzt stand.

»Nur solange er nie vor meiner Tür steht.« Brí schenkte sich noch ein Glas Wein ein. »Dann kommt das Blut heraus. Auf mehr als eine Art.«

Sie alle kannten sich mit Blut aus – und mit dem Vergießen desselben allemal.

Holly knurrte etwas wie einen Fluch, stand auf und trat ihren knienden Sklaven aus dem Weg. Der landete hart, sein Gesicht traf hörbar auf dem Parkett auf, dann lag er still und versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken.

Sie ignorierten ihn. Diese Freundlichkeit kam doch ein wenig unerwartet. Anscheinend war es außer Holly hier niemandem wichtig, ihn zu erniedrigen.

Sie stolzierte auf Jinx zu, und er schaffte es beinahe, nicht zu zucken, als sie vor ihm stehen blieb und ihn so fest ins Gesicht schlug, dass sein Kopf zur Seite gerissen wurde und die Haut brannte.

Jinx hob den Kopf, hielt den Blick aber sorgfältig abgewandt. Ehrerbietig. Unterwürfig.

»Ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte sie.

»Wie du befiehlst, Großmutter.«

Sie hob erneut die Hand, bog die Finger, wie um Krallen auszufahren. »Sei vorsichtig, Junge, oder das hier könnte schnell sehr lästig werden. Blutsverwandtschaft oder nicht, ich schulde dir nichts. Meine Quellen berichten mir, dass heute ein Engel gefallen ist, ganz in der Nähe von Silvers Höhle. Vielleicht sogar direkt vor ihrer Tür. Wir wollen den Funken, der zurückgeblieben ist, Jinx. Er wird die Machtsteine ein Jahrzehnt oder länger stärken. Besorge ihn mir, so schnell du kannst.«

Ein Funke? Tja, danach hungerten sie alle. Der Duft der Macht, der Geschmack des Göttlichen … das machte jeden der Aes Sídhe gierig wie die Wölfe. Die Macht, die man aus einem davon ziehen konnte, was man damit anstellen konnte, die Magie, die Wissende und Skrupellose damit ausüben konnten … Aber das hing nicht von ihm ab. Er besaß keinen Machtstein oder so was, um den Funken hineinzulegen. Er wüsste überhaupt nicht, was er mit einem Funken anfangen sollte.

Aber sie schon. Jede Höhle enthielt einen Machtstein und sie waren von zentraler Bedeutung für die Macht der Aes Sídhe. Sogar Silver besaß einen, auch wenn er nicht so mächtig war wie der ihrer Mutter. Holly hätte das nie erlaubt. Sie mussten genährt werden. Das war das Problem. Träume, Schrecken, die Millionen Gefühle, die man Menschen abringen konnte, waren die üblichste Energie, die hineingegossen wurde – aber das Licht eines Engels war das Mächtigste von allen.

»Kein Problem.« Er versuchte nicht mal, die Erleichterung in seiner Stimme zu verbergen. Und er hatte gedacht, sie wollte etwas Schwieriges. Wenn er nichts weiter tun musste, als die traurigen Überreste eines gefallenen Engels aufzulesen und …