Die Clans der Wildnis - Delia Golz - E-Book

Die Clans der Wildnis E-Book

Delia Golz

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Beschreibung

Der Gladiator Atos hat keinerlei Erinnerungen an sein altes Leben. Als er jedoch die Arena verlässt und auf die Clans der Wildnis stößt, gerät er unfreiwillig in Machtkämpfe und Intrigen, während seine düstere Vergangenheit ihn einholt. Atos erfährt Dinge über sich, die er lieber nicht gewusst hätte - aber gleichzeitig wird ihm klar, dass das Schicksal aller Clans auch in seinen Händen liegt. Gemeinsam mit Amishas Widerstand bereitet er sich auf den letzten und entscheidenden Kampf gegen Morigan vor...

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Im­pres­s­um

1. Auf­la­ge 2022Co­py­right © 2022 De­lia GolzISBN: 9783740704902TWEN­TY­SIX – der Self-Pu­blis­hing-Ver­lagEine Ko­ope­ra­ti­on zwi­schen der Ver­lags­grup­peRan­dom Hou­se und BoD – Books on De­mand

Um­schlag­ge­stal­tung: Sa­bi­ne Pös­tin­ger,in­spi­ri­ted books Gra­fik­de­sign

Lek­to­rat/Kor­rek­to­rat: Ma­lin Golz

Bild­nach­weis: stock.ad­o­be.com

E-Book Kon­ver­tie­rung: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Alle Rech­te vor­be­hal­ten. Das vor­lie­gen­de Werk darf we­der in sei­ner Ge­samt­heit noch in sei­nen Tei­len ohne vor­he­ri­ge schrift­li­che Zu­stim­mung der Recht­e­in­ha­ber in wel­cher Form auch im­mer ver­öf­fent­licht wer­den. Das be­trifft ins­be­son­de­re je­doch nicht aus­schließ­lich elek­tro­ni­sche, me­cha­ni­sche, phy­si­sche, au­dio­vi­su­el­le oder an­der­wei­ti­ge Re­pro­duk­ti­on oder Spei­che­rung und/oder Über­tra­gung des Wer­kes so­wie Über­set­zun­gen. Da­von aus­ge­nom­men sind kur­ze Aus­zü­ge, die zum Zwe­cke der Re­zen­si­on ent­nom­men wer­den.

Bi­blio­gra­fi­sche In­for­ma­ti­on der Deut­schen Na­ti­o­nal­bi­blio­thek: Die Deut­sche Na­ti­o­nal­bi­blio­thek ver­zeich­net die­se Pu­bli­ka­ti­on in der Deut­schen Na­ti­o­nal­bi­blio­gra­fie; de­tail­lier­te bi­blio­gra­fi­sche Da­ten sind im In­ter­net über dnb.d-nb.de ab­ruf­bar.

De­lia Golz liebt es schon seit ih­rer Kind­heit, sich Ge­schich­ten aus­zu­den­ken und ei­ge­ne Wel­ten zu er­schaf­fen. Mit der Ver­öf­fent­li­chung der High-Fan­ta­sy-Tri­lo­gie »Die Clans der Wild­nis« hat sie sich einen lang er­sehn­ten Traum er­füllt. Sie lebt mit ih­rem Le­bens­ge­fähr­ten und ih­ren zwei Kat­zen in der Nähe von Köln. In ih­rer Frei­zeit liebt sie Fahr­rad­tou­ren durch die Na­tur, Rei­sen und das Bo­gen­schie­ßen.

Pro­log

Ich sit­ze ab­seits von den spie­len­den Kin­dern und zeich­ne mit dem Fin­ger Mus­ter in den san­di­gen Bo­den. Im­mer wie­der hebe ich den Blick und be­ob­ach­te sehn­süch­tig mei­ne Al­ters­ge­nos­sen, traue mich je­doch nicht, zu ih­nen zu ge­hen.

Plötz­lich höre ich ein spöt­ti­sches La­chen hin­ter mir und im nächs­ten Mo­ment wird mein klei­nes Kunst­werk zer­stört. Em­pört schaue ich auf und bli­cke ge­ra­de­wegs in Ai­ne­as’ ge­mein grin­sen­des Ge­sicht.

»War­um hast du das ge­tan?«, fra­ge ich wü­tend und rap­pe­le mich auf. Ob­wohl wir im glei­chen Al­ter sind, über­ragt er mich um eine Hand­breit.

»Weil es mir Spaß macht«, sagt Ai­ne­as bloß hä­misch und ver­schränkt die Arme vor der Brust.

»Lass ge­fäl­ligst Atos in Ruhe«, höre ich dann eine ver­trau­te Stim­me ne­ben uns und kann im Au­gen­win­kel einen rot­blon­den Haar­schopf auf­leuch­ten se­hen.

Ai­ne­as und ich dre­hen uns gleich­zei­tig um, und ich atme er­leich­tert auf, als ich mei­ne Freun­din Isi­da er­ken­ne. Sie fun­kelt Ai­ne­as streit­lus­tig an, doch die­ser lacht bloß amü­siert auf.

»Wie nied­lich, dass Atos sich von ei­nem Mäd­chen hel­fen las­sen muss.« Im nächs­ten Mo­ment macht er einen Satz nach vor­ne und stößt Isi­da hart zu Bo­den.

Wut steigt in mir auf und ich stür­ze mich, ohne wei­ter nach­zu­den­ken, auf ihn. Ge­mein­sam fal­len wir zu Bo­den und je­der von uns ver­sucht, die Ober­hand zu ge­win­nen. Ai­ne­as schafft es ein­mal, mir sei­ne Faust ins Ge­sicht zu ram­men, doch plötz­lich wird er jäh von mir her­un­ter­ge­ris­sen.

Keu­chend set­ze ich mich auf und re­gis­trie­re et­was be­nom­men, dass sich Ai­ne­as’ Va­ter mit vor Zorn ge­röte­tem Ge­sicht vor sei­nem Sohn auf­ge­baut hat.

»Du Nichts­nutz!«, brüllt er, wor­auf­hin der Jun­ge einen Schritt zu­rück­weicht. Doch sein Va­ter ist noch nicht fer­tig. »Dass du es nö­tig hast, dich mit un­wür­di­gen Geg­nern zu prü­geln«, knurrt er und packt sei­nen Sohn fest am Kra­gen.

Ai­ne­as at­met hek­tisch und scheint gro­ße Angst zu ha­ben. Mit ei­nem Mal habe ich Mit­leid mit ihm und wür­de am liebs­ten ein­grei­fen, doch ich kann mich nicht rüh­ren.

Im nächs­ten Mo­ment ver­passt der Mann sei­nem Sohn eine schal­len­de Ohr­fei­ge. Ent­setzt schla­ge ich mir die Hand vor den Mund, wäh­rend Ai­ne­as völ­lig be­we­gungs­los da­steht und sich mit gla­si­gen Au­gen die Wan­ge hält.

»Ich hof­fe, das war dir eine Leh­re«, sagt sein Va­ter mit plötz­lich samt­wei­cher Stim­me. Er legt den Kopf schief und be­trach­tet sei­nen Sohn, der vol­ler Furcht zu sei­nem Va­ter auf­schaut.

Nach­dem der Mann ein letz­tes Mal mit dem Kopf ge­schüt­telt hat, dreht er sich um und ent­fernt sich mit schwe­ren Schrit­ten von uns. Isi­da und ich tau­schen einen be­stürz­ten Blick aus und be­ob­ach­ten dann Ai­ne­as, wie er lang­sam zu sich kommt. Er schwankt kurz und scheint einen Au­gen­blick zu brau­chen, um sich zu fan­gen. Doch dann dreht er sich lang­sam zu uns um, und sein Blick ist so vol­ler Hass, dass ich zu­sam­men­zu­cke.

»Das wer­det ihr be­reu­en«, sagt er lei­se und be­wegt sich dann mit zitt­ri­gen Schrit­ten in die Rich­tung, in der sich un­ser Ne­ben­la­ger be­fin­det.

Erst als er ver­schwun­den ist, lau­fe ich zu Isi­da, die noch im­mer dort sitzt, wo Ai­ne­as sie zu Bo­den ge­sto­ßen hat. Schwei­gend neh­men wir uns an den Hän­den und trot­ten tie­fer in den Wald hin­ein. Ob­wohl der Früh­ling be­reits weit fort­ge­schrit­ten ist, ist der Bo­den von Frost über­zo­gen. Trotz­dem frie­ren wir nicht, denn wir sind die Käl­te ge­wöhnt.

»Das eben…«, be­gin­ne ich zö­ger­lich, aber Isi­da schüt­telt schnell den Kopf. »Lass uns nicht dar­über re­den.«

Dar­auf­hin brei­tet sich auf ih­rem Ge­sicht ein Lä­cheln aus. »Lass uns Fan­gen spie­len«, sagt sie fröh­lich, und mit ei­nem Mal ist der Vor­fall mit Ai­ne­as ver­ges­sen.

La­chend tol­len wir durch das Un­ter­holz und sprin­gen über schma­le Bä­che. Über­g­lü­ck­lich lau­fe ich hin­ter mei­ner Freun­din her und weiß, dass mein Le­ben wun­der­voll ist.

Ka­pi­tel 1

Mit fes­ten Schrit­ten gehe ich den nur schumm­rig be­leuch­ten­den Gang ent­lang, wäh­rend das Ge­räusch von to­sen­dem ­Ap­plaus im­mer nä­her kommt.

Dann blei­be ich schließ­lich vor dem Aus­gang ste­hen und war­te, dass es be­ginnt. Ein letz­tes Mal schlie­ße ich mei­ne Au­gen, kon­zen­trie­re mich auf mei­ne At­mung und tas­te nach der Waf­fe an mei­ner Sei­te. Es ist bloß ein Schwert, denn noch habe ich nicht ge­nug Be­rühmt­heit er­langt, um ge­fähr­li­che­re Waf­fen ge­brau­chen zu dür­fen.

Und dann kün­digt end­lich ein lau­tes Knar­ren an, dass sich die Klap­pe öff­net. Glei­ßen­des Licht fällt auf mein Ge­sicht und macht mich einen Au­gen­blick lang blind.

Als ich die ers­ten Schrit­te in die Are­na ma­che, schwillt der Ap­plaus zu ei­nem oh­ren­be­täu­ben­den Dröh­nen an. Kurz steigt Ner­vo­si­tät in mir auf, doch als ich das Schwert zie­he und mei­nen Geg­ner ins Vi­sier neh­me, wird es von ei­ner Mi­schung aus Blut­durst und blin­der Wut er­setzt. Lang­sam gehe ich auf den mus­kel­be­pack­ten Mann zu, der mich mit spöt­tisch hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en an­sieht.

»Was ha­ben sie denn da für einen mick­ri­gen Bur­schen ge­schickt?«, fragt er pro­vo­kant und ver­fällt dann in schal­len­des Ge­läch­ter.

Wü­tend flet­sche ich die Zäh­ne und dann gibt es kein Hal­ten mehr. Blitz­schnell hebe ich mein Schwert und stür­ze mich auf den Hü­nen, der mei­nen Hieb nur mit Mühe pa­rie­ren kann. Die Klin­ge prallt an sei­ner Streit­axt ab und über­rascht tau­melt er zu­rück. Nur am Ran­de be­kom­me ich mit, wie das Pu­bli­kum tobt, denn nun bin ich völ­lig in mei­nem Rausch ge­fan­gen.

Ich gebe dem Geg­ner nicht die Ge­le­gen­heit, sich zu er­ho­len, und stür­ze mich so­fort wie­der auf ihn. Mei­ne Hie­be ge­hen so ge­zielt und vol­ler Kraft, dass ich es mehr­mals schaf­fe, mei­nem Ge­gen­über Ver­let­zun­gen zu­zu­fü­gen. Ich be­mer­ke, dass sich auf sei­ner Stirn Schweiß­per­len bil­den, wäh­rend das Blut aus sei­nen Wun­den her­aus­spru­delt. Ich kann je­des De­tail ge­sto­chen scha­rf se­hen.

Mitt­ler­wei­le wer­den die Be­we­gun­gen des Hü­nen lang­sa­mer und un­be­hol­fe­ner, doch ich spü­re kei­nen Tri­umph. Ge­nau ge­nom­men spü­re ich nichts als Käl­te und blin­den Hass.

Im nächs­ten Mo­ment hole ich aus und sto­ße mein Schwert mit ei­nem lau­ten Brül­len mit­ten in das Herz mei­nes Geg­ners. Kurz ist in sei­nen Au­gen bloß Über­ra­schung zu le­sen, bis die­se sich in pu­res Ent­set­zen ver­wan­delt – er hat be­grif­fen, dass er nun ster­ben wird.

Die Men­ge fällt in einen be­geis­ter­ten Ap­plaus, wäh­rend ich mit ei­nem leich­ten Lä­cheln die letz­ten gur­geln­den Atem­zü­ge des Man­nes be­ob­ach­te. Dann bricht er zu­sam­men und bleibt völ­lig reg­los am Bo­den lie­gen.

Es kommt mir wie eine Ewig­keit vor, in der ich nur da­ste­he und die Lei­che an­star­re. Wes­halb spü­re ich nichts? Kein Be­dau­ern, kein Mit­leid und auch kei­nen Tri­umph. Fast schon an­ge­ekelt wen­de ich mich schließ­lich von ihm ab und be­kom­me nur am Ran­de mit, dass ein Mann an­ge­lau­fen kommt, um mei­nen Sieg zu ver­kün­den. Ich las­se ab­we­send mei­nen Blick über die Men­ge glei­ten, die mich be­wun­dernd an­blickt und sich schon auf den nächs­ten Kampf freut.

Dann wer­de ich zu­rück in mei­nen Kä­fig ge­führt und da­bei in Ket­ten ge­legt wie ein wil­des Tier. Ver­schie­de­ne Men­schen, von de­nen ich nicht weiß, wo­her sie kom­men, klop­fen mir beim Vor­bei­ge­hen auf die Schul­ter.

Plötz­lich wer­de ich un­sanft zu Bo­den ge­sto­ßen. Ich blei­be ein­fach lie­gen und star­re an die graue De­cke. Ob sich wohl so der Tod an­fühlt?

»Du hast also über­lebt«, höre ich eine knur­ren­de Stim­me aus dem Kä­fig ne­ben mir. Lang­sam dre­he ich den Kopf und schaue völ­lig aus­drucks­los den Mann an, der mich aus dunk­len Au­gen be­trach­tet.

»Hät­te ich nicht ge­dacht«, sagt er ge­häs­sig. »Du bist doch fast noch ein Jun­ge. Und mick­rig noch dazu.«

Ich spa­re mir eine Ant­wort und wen­de den Blick wie­der ge­gen die De­cke. Sol­che Be­mer­kun­gen höre ich im­mer wie­der, seit ich in die Are­na als Gla­di­a­tor ver­kauft wur­de. Das Selt­sa­me ist, dass ich mich nicht an mei­ne Ver­gan­gen­heit er­in­nern kann. Selbst mei­nen Na­men weiß ich nicht mehr.

Mein Le­ben be­steht nur noch aus Ge­walt und die­ser furcht­ba­ren Lee­re, die ich ein­fach nicht ver­trei­ben kann.

Wir sit­zen ge­mein­sam auf ei­nem Baum­stamm am Ran­de ei­ner Schlucht und be­ob­ach­ten, wie die Son­ne am Ho­ri­zont un­ter­geht. Es sieht so aus, als wür­de der Him­mel Feu­er fan­gen, und die­ser An­blick jagt mir eine woh­li­ge Gän­se­haut über den Rü­cken.

Doch mög­li­cher­wei­se könn­te das auch an mei­ner Freun­din lie­gen, die dicht ne­ben mir sitzt. Am liebs­ten wür­de ich den Arm um sie le­gen, aber ich traue mich nicht.

»Hast du auch da­von ge­hört?«, fragt sie mit ih­rer me­lo­di­schen Stim­me.

»Was meinst du?«, fra­ge ich und dre­he den Kopf zu ihr. So­fort schießt mir die Röte in die Wan­gen, als ich in ihre wun­der­vol­len moos­grü­nen Au­gen bli­cke.

»Die Sa­che mit der Krie­ge­rin Amis­ha. Sie ge­hör­te zum Clan des schnel­len Le­o­par­den und soll ihre See­le eben­falls an einen mäch­ti­gen Dä­mon ver­kauft ha­ben. Nun geht das Ge­rücht um, dass sie einen Wi­der­stand ge­gen Mo­ri­gan plant.«

»Ja, da­von habe ich auch ge­hört«, er­wi­de­re ich nach­denk­lich. Dass mir die gan­ze Sa­che nicht be­son­ders ver­trau­ens­wür­dig vor­kommt, ver­schwei­ge ich je­doch.

Plötz­lich springt mei­ne Freun­din auf und blickt mich mit auf­ge­regt fun­keln­den Au­gen an. »Was hältst du da­von, wenn wir uns ihr an­schlie­ßen?«

Ver­dutzt bli­cke ich zu ihr auf und schüt­te­le dann lang­sam den Kopf. »Ich weiß nicht. Sind wir da­für nicht noch viel zu jung?«

Em­pört ver­schränkt sie die Arme. »Wir sind doch bei­de schon sech­zehn Jah­re alt. Wir sind längst kei­ne Kin­der mehr.«

Ich seuf­ze schwer und über­le­ge fie­ber­haft, wie ich ihr die­se Idee aus­re­den kann. Doch dann zieht mich mei­ne Freun­din auf die Bei­ne und ver­schränkt ihre Arme hin­ter mei­nem Nacken. So­fort fängt mein Herz wie wild an zu schla­gen, als ich ihr Ge­sicht so nah vor mei­nem sehe und den blu­mi­gen Duft ih­rer Haa­re wahr­neh­me.

»Das wäre ein un­glaub­li­ches Aben­teu­er«, sagt mei­ne Freun­din lä­chelnd.

Ich hal­te er­schro­cken die Luft an, als sie mich ganz nah zu sich zieht und mir einen sanf­ten Kuss auf die Lip­pen haucht. Als sie dann einen Schritt zu­rück geht und mich an­blickt, kann ich sie bloß mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an­schau­en.

»Ich … ähm …«, stam­me­le ich und wür­de mir da­für am liebs­ten selbst einen Tritt ge­ben.

»Tu es für mich«, sagt mei­ne Freun­din lei­se und streicht sich eine ih­rer rot­blon­den Haar­sträh­nen hin­ter das Ohr.

Als ich sie so an­bli­cke, weiß ich mit ei­nem Mal, dass ich ihr nichts ab­schla­gen kann.

»Na gut«, sage ich des­we­gen ent­schlos­sen. »Schlie­ßen wir uns ihr an!«

Keu­chend rei­ße ich die Au­gen auf und set­ze mich ruck­ar­tig auf. Lang­sam fin­de ich mei­ne Ori­en­tie­rung wie­der und be­grei­fe, dass ich zu­rück in mei­nen Kä­fig ge­sperrt wur­de. Dut­zen­de an­de­re Män­ner be­fin­den sich eben­falls in die­sem Raum, und die Luft ist von lau­tem Schna­r­chen er­füllt.

Ver­wirrt rei­be ich mir die Au­gen und be­mer­ke, dass mir ein selt­sa­mes Ge­fühl in den Kno­chen steckt – das Ge­fühl von Glück ge­paart mit Furcht. Dass ich zu sol­chen Emo­ti­o­nen fä­hig bin, wun­dert mich zu­tiefst.

Doch was war das über­haupt? Ein Traum oder so­gar eine Er­in­ne­rung? Wenn ich an die­ses Mäd­chen zu­rück­den­ke, bin ich mir si­cher, dass ich es ken­ne. Zu­dem war es mei­ne ei­ge­ne Stim­me, mit der ich ge­spro­chen habe. Aber war­um kann ich mich an all dies nicht von al­lein er­in­nern oder die Zu­sam­men­hän­ge ver­ste­hen?

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich das ers­te Mal, seit ich in die Are­na ver­kauft wur­de, rich­tig ge­schla­fen habe. Den­noch kehrt nun wie­der die­se un­end­li­che Lee­re in mein In­ne­res ein, und ich neh­me sie fast schon er­leich­tert in Emp­fang. Die Fra­ge, was nicht mit mir stimmt, ver­schwin­det trotz­dem nicht aus mei­nem Kopf.

Ne­ben­ein­an­der auf­ge­reiht und in Ket­ten ge­legt sit­ze ich zu­sam­men mit den an­de­ren Gla­di­a­to­ren auf dem Fo­rum. Wir die­nen bloß zur Un­ter­hal­tung, da­mit die Men­schen uns be­gaf­fen und ab­schät­zen kön­nen.

Vor al­lem Män­ner, die re­gel­mä­ßig Wet­ten über die Kämp­fe ab­schlie­ßen, be­trach­ten uns prü­fend. Da­bei blei­ben ihre Au­gen oft be­son­ders lan­ge an mir hän­gen und sie wir­ken di­rekt in­ter­es­sier­ter.

»Ich habe ihn ein­mal kämp­fen se­hen«, höre ich ein­mal einen zu sei­nem Be­glei­ter flüs­tern. »Auch wenn er nicht so aus­sieht, ist er ein be­ein­dru­cken­der Krie­ger.«

Mich las­sen die­se Ge­sprä­che kalt und ich bli­cke bloß des­in­ter­es­siert in die Fer­ne. Da­bei kommt mir im­mer wie­der die­se rät­sel­haf­te Vi­si­on in den Sinn und die­ses Mäd­chen, das es ir­gend­wie schafft, so et­was wie Ge­füh­le in mir zu we­cken.

Was habe ich da­mals für ein Le­ben ge­führt und wann ist es so au­ßer Kon­trol­le ge­ra­ten, dass ich hier ge­en­det bin?

Ir­gend­wann blei­ben zwei jun­ge Frau­en vor mir ste­hen und tu­scheln ein­an­der auf­ge­regt et­was zu. Doch ich kann je­des Wort von ih­nen ver­ste­hen. »Schau dir die­sen Kör­per an«, sagt die eine schwär­me­risch.

Die an­de­ren Män­ner und ich tra­gen bloß Ho­sen, da­mit man un­se­re Kraft bes­ser ein­schät­zen kann. Lang­sam steigt Wut in mir auf und ich bal­le un­auf­fäl­lig die Fäus­te. Als die bei­den Frau­en mei­nen Blick auf­fan­gen, in den ich mei­nen gan­zen Hass ste­cke, kön­nen sie plötz­lich nicht schnell ge­nug von mir weg­kom­men.

Als sie end­lich ver­schwun­den sind, ver­schrän­ke ich die Arme und leh­ne mich ge­gen die Mau­er, an die wir an­ge­ket­tet wor­den sind. Ich lege den Kopf in den Nacken und bli­cke in den strah­lend blau­en Him­mel, der kei­ner­lei Emo­ti­o­nen in mir weckt. Die Men­schen um mich her­um blen­de ich er­folg­reich aus und ver­sin­ke in mei­nen Ge­dan­ken.

»Du da, Bur­sche«, höre ich plötz­lich eine Män­ner­stim­me und weiß so­fort, dass sie an mich ge­rich­tet ist.

Lang­sam sen­ke ich den Kopf und bli­cke den bär­ti­gen Mann, der vor mir steht, mit aus­drucks­lo­ser Mie­ne an.

»Wie bist du in der Are­na ge­lan­det?«, fragt er nun und be­trach­tet mich mit zu­sam­men­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en.

Ich zu­cke bloß mit den Schul­tern und spa­re mir eine Ant­wort. Ein Ge­spräch ist mo­men­tan das Letz­te, wor­auf ich Lust habe. Der Mann lässt je­doch nicht lo­cker.

»Du stammst von ei­nem der Clans«, sagt er und mit ei­nem Mal ist mein In­ter­es­se doch ge­weckt.

»Wie meinst du das?«, fra­ge ich. Mei­ne Stim­me fühlt sich ein­ge­ros­tet an, denn ich habe schon lan­ge kein Wort mehr ge­spro­chen.

»Ich er­ken­ne es so­fort an dei­nem Aus­se­hen«, sagt der Frem­de und be­trach­tet mich prü­fend. »Weiß­blon­des Haar, hel­le Haut und ein schma­ler Kör­per­bau. Ohne Zwei­fel stammst du vom Clan des wei­ßen Hirsches. Nur dei­ne Au­gen sind ein we­nig dunk­ler als üb­lich.«

Einen Mo­ment lang star­re ich ihn bloß sprach­los an, bis ich ge­häs­sig den Kopf schütt­le. »Du hast doch kei­ne Ah­nung. Wo­her soll ein Stadt­mensch das so ge­nau wis­sen?«

»Ich bin ein rei­sen­der Händ­ler«, er­klärt der Mann und wirkt nicht be­lei­digt über mei­ne schrof­fen Wor­te. »Ich habe viel mit den Clans zu tun und eure Merk­ma­le sind wirk­lich ein­zig­ar­tig.«

Eure Merk­ma­le. Wie kann er sich so si­cher sein? Ist da viel­leicht wirk­lich et­was Wah­res dran? Erst jetzt fällt mir auf, dass ich über die Clans Be­scheid weiß, ohne mich an ir­gen­d­et­was aus mei­ner Ver­gan­gen­heit zu er­in­nern.

Und ich weiß plötz­lich, dass der Händ­ler recht hat. Ver­wun­dert be­trach­te ich mei­ne Hän­de, die deut­lich blas­ser sind als die der Men­schen um mich her­um. Dann rei­ße ich mir ein Haar aus und be­trach­te es in der Son­ne. Es ist bei­na­he schnee­weiß. Mit gro­ßen Au­gen bli­cke ich zu dem Händ­ler auf, der nun zu­frie­den wirkt.

Dann run­zelt er je­doch nach­denk­lich die Stirn. »Wie kommt es, dass du dich nicht er­in­nern kannst? Wur­dest du als klei­nes Kind ent­führt?«

Ich schüt­te­le ge­dan­ken­ver­lo­ren den Kopf und den­ke an die Vi­si­on zu­rück. Wenn das wirk­lich ein Aus­schnitt aus mei­nem Le­ben ge­we­sen ist, war ich dort schon sech­zehn Jah­re alt. Und die Sze­ne hat sich ein­deu­tig in ei­nem Cl­an­re­vier ab­ge­spielt.

»Nein«, sage ich knapp und be­grei­fe, dass ich mit die­sem frem­den Mann nicht wei­ter dar­über re­den möch­te.

Also ver­schrän­ke ich wie­der ab­wei­send die Arme vor der Brust und bli­cke ihn kühl an. Be­schwich­ti­gend hebt er die Hän­de, und plötz­lich tritt ein Aus­druck von Furcht in sei­ne Au­gen.

»Du … bist …«, stam­melt er und macht einen Schritt zu­rück.

Ich mer­ke, dass nun auch die Bli­cke an­de­rer Men­schen auf mir ru­hen und zie­he ver­wirrt die Au­gen­brau­en zu­sam­men. Was hat die­ser plötz­li­che Stim­mungs­wech­sel zu be­deu­ten? Der Händ­ler schaut mich noch ein letz­tes Mal ab­wer­tend an und ver­schwin­det dann in der Men­schen­men­ge.

Die nächs­ten Stun­den, in de­nen wir in der sen­gen­den Hit­ze sit­zen, kann ich nur noch an die­se Be­geg­nung den­ken. Was hat der Mann in mir ge­se­hen, das ihn so er­schreckt hat? Wäh­rend wir in dem ver­git­ter­ten Kar­ren zu­rück in die Are­na ge­fah­ren wer­den, spü­re ich, dass ich von den an­de­ren Gla­di­a­to­ren im­mer wie­der ver­stoh­len be­trach­tet wer­de.

»Ich hof­fe, mit dir wer­de ich mich noch an­le­gen kön­nen«, höre ich dann eine dunk­le Stim­me.

Mein Blick ver­fins­tert sich und ich pres­se mei­ne Lip­pen auf­ein­an­der. Hier an die­sem Ort muss ich mich zu­sam­men­rei­ßen.

Schließ­lich kommt der Wa­gen zum Ste­hen und ich bin fast schon er­leich­tert, als wir an un­se­ren Ket­ten her­aus­ge­zerrt wer­den. Ich weiß, dass mor­gen er­neut ein Kampf statt­fin­det, und dass ich die­ses Mal ge­gen meh­re­re Geg­ner kämp­fen wer­de. Ich kann es kaum er­war­ten und den­ke schon jetzt an all das Blut und die schmerz­ver­zerr­ten Ge­sich­ter mei­ner Op­fer.

Nie­mand von ih­nen wird auch nur eine ge­rin­ge Chan­ce ge­gen mich ha­ben.

Der Mor­gen ver­läuft sehr hek­tisch. Stän­dig hu­schen Skla­ven an mei­nem Kä­fig vor­bei, um die Waf­fen zu schär­fen und sie den rich­ti­gen Gla­di­a­to­ren zu­zu­tei­len. Ich weiß, dass die­ser Kampf et­was Be­son­de­res ist, da dies­mal so­gar Men­schen aus an­de­ren Städ­ten an­ge­reist kom­men und wil­de Tie­re als Geg­ner her­ge­schafft wer­den. Es ist mir gleich, ge­gen wen ich kämp­fen muss, so­lan­ge ich end­lich wie­der mein Ver­lan­gen nach Ge­walt stil­len kann.

Mir wird eine Schüs­sel mit Was­ser hin­ge­stellt, und als ich nach un­ten bli­cke, be­mer­ke ich, dass ich mich in der Ober­flä­che leicht spie­ge­le. So­fort hocke ich mich hin und gehe mit mei­nem Ge­sicht ganz nah an die Was­ser­o­ber­flä­che.

Tat­säch­lich – ich sehe ge­nau so aus, wie der Händ­ler mich be­schrie­ben hat: hel­le Haut, weiß­blon­des Haar und dun­kel­graue Au­gen. Of­fen­sicht­lich bin ich noch sehr jung und ich fra­ge mich, ob sich mei­ne Vi­si­on so­gar erst vor Kur­z­em ab­ge­spielt hat.

Nach­denk­lich be­trach­te ich mein ernst aus­se­hen­des Ge­sicht. Es ist fast so, als wür­de ich einen Frem­den an­se­hen, und plötz­lich habe ich den Drang, die Was­ser­schüs­sel um­zu­sto­ßen. Mit ei­nem lau­ten Schep­pern fällt sie ge­gen die ei­ser­nen Git­ter­stä­be und zer­bricht in vie­le klei­ne Tei­le.

»Neu­es Was­ser wirst du nicht be­kom­men«, höre ich die wü­ten­de Stim­me ei­nes Man­nes, der ge­ra­de da­bei ist, einen der Kämp­fer aus sei­nem Kä­fig zu ho­len.

Grim­mig bli­cke ich ihn an und hof­fe, bald selbst an der Rei­he zu sein. Doch ich muss noch eine ge­fühl­te Ewig­keit war­ten, bis der Mann schließ­lich vor mei­nem Kä­fig auf­taucht.

»Du bist dran«, sagt er über­f­lüs­si­ger­wei­se, ehe er die Tür öff­net und mir die Ket­ten an­legt.

Ein Lä­cheln brei­tet sich auf mei­nen Lip­pen aus und so­fort kann ich die Leu­te, die mich be­ob­ach­ten, tu­scheln hö­ren. Bei ei­nem Blick in die an­de­ren Kä­fi­ge stel­le ich fest, dass der Mann, wel­cher mich am Tag zu­vor noch her­aus­for­dern woll­te, nicht mehr da ist. Ent­we­der wur­de er schon um­ge­bracht oder war­tet als Geg­ner auf mich.

Wie­der wer­de ich durch den mitt­ler­wei­le ver­trau­ten schumm­ri­gen Gang ge­führt und das ers­te Mal vor ei­nem Kampf to­ben die Ge­füh­le in mir. Doch statt Furcht ist es pure Vor­freu­de.

Als die Klap­pe dies­mal hoch­ge­las­sen wird, stür­me ich so­fort los und re­gis­trie­re ne­ben­bei mei­ne Geg­ner. Es sind noch mehr, als ich er­war­tet habe. Ein Dut­zend Män­ner mit den ver­schie­dens­ten Waf­fen geht auf­ein­an­der los, und schon jetzt ist der Bo­den blut­ge­tränkt. Mei­ne Be­geis­te­rung könn­te nicht grö­ßer sein.

Ich stür­ze mich auf den nächst­bes­ten Geg­ner, einen stäm­mi­gen Mann mitt­le­ren Al­ters, der zwei Dol­che in der Hand hält, und rei­ße ihn zu Bo­den. Erst jetzt fällt mir auf, dass mir kei­ne Waf­fe ge­ge­ben wur­de, doch ich weiß, dass mir das nicht im Weg ste­hen wird. Of­fen­sicht­lich sind mei­ne Nah­kampf­tech­ni­ken gut aus­ge­prägt, denn ich weiß in­stink­tiv, was zu tun ist.

Wäh­rend der Mann ver­sucht, sich zu weh­ren, pa­cke ich sein Ge­nick und bre­che es mit ei­ner schnel­len, sau­be­ren Be­we­gung. Ich kann die Be­geis­te­rung des Pu­bli­kums über die­ses Ge­met­zel hö­ren, und am Ran­de be­kom­me ich mit, dass im­mer wie­der neue Gla­di­a­to­ren in die Are­na ge­schickt wer­den, um das Blut­bad am Lau­fen zu hal­ten.

Ich las­se den to­ten Geg­ner, nach­dem ich mir die Dol­che ge­nom­men habe, acht­los fal­len und gehe auf den nächs­ten Mann los. Er pa­riert tap­fer mei­ne Hie­be, aber schafft es den­noch nicht, ge­gen mich an­zu­kom­men. Ich ram­me ihm einen der Dol­che in den Hals und sto­ße ihn dann mit ei­nem kräf­ti­gen Tritt von mir.

Er reißt die Au­gen weit auf und presst sich die Hand auf die Wun­de. Doch das hilft ihm nicht.

Ein Grin­sen brei­tet sich auf mei­nem Ge­sicht aus und ver­wan­delt sich schließ­lich in ein be­geis­ter­tes La­chen. Mit aus­ge­streck­ten Ar­men dre­he ich mich im Kreis und ge­ni­e­ße den An­blick von ro­her Ge­walt. Ich kann ein paar ver­stör­te Bli­cke auf mir spü­ren, doch es macht mich so­gar noch glü­ck­li­cher. Wann habe ich mich das letz­te Mal so le­ben­dig ge­fühlt?

Zu spät be­mer­ke ich, dass ein Mann auf mich zu­ge­lau­fen kommt und mich dann hart zu Bo­den stößt.

Und mit ei­nem Mal än­dert sich die Re­a­li­tät.

Ich keu­che er­schro­cken auf, als mich je­mand hef­tig von hin­ten schubst und ich auf den moos­be­deck­ten Wald­bo­den fal­le. Schnell dre­he ich mich um und bli­cke ge­ra­de­wegs in Ai­ne­as’ tri­um­phie­rend lä­cheln­des Ge­sicht.

Doch mir fällt so­fort sein grau­en­vol­ler Zu­stand auf. Sein gan­zes Ge­sicht ist mit Blut­er­güs­sen über­sät und ein Auge ist stark an­ge­schwol­len. Sei­ne Arme sind vol­ler Wun­den und die Hose ist an man­chen Stel­len zer­ris­sen. Mei­ne Wut wan­delt sich so­fort in Ent­set­zen und Mit­leid.

»Was ist pas­siert?«, fra­ge ich, wäh­rend ich mich auf­rap­pe­le.

Ai­ne­as wirkt einen Mo­ment lang über mei­ne Re­ak­ti­on ver­un­si­chert. Sein Mund öff­net und schließt sich wie­der, so als wäre er kurz da­vor, mir al­les zu er­zäh­len. Doch dann ver­dun­kelt sich sei­ne Mie­ne und er gibt mir einen wei­te­ren Schubs.

Dies­mal bin ich vor­be­rei­tet und kann mich auf den Bei­nen hal­ten. Ich ver­su­che, wie­der Wut zu ver­spü­ren, aber es ge­lingt mir nicht.

»Wir müs­sen et­was da­ge­gen un­ter­neh­men«, sage ich und bal­le die Hän­de zu Fäus­ten.

Ai­ne­as lacht je­doch nur und blickt mich dann her­ab­las­send an. »Halt den Mund«, sagt er ge­fähr­lich lei­se und geht einen Schritt auf mich zu.

Vol­ler Ent­set­zen sehe ich eine Klin­ge in sei­ner Hand auf­blit­zen. Nun spü­re ich doch Angst vor die­sem un­be­re­chen­ba­ren Jun­gen. Er hat mir schon oft weh ge­tan, aber noch nie hat er mich der­art be­droht.

»Ai­ne­as«, sage ich be­schwich­ti­gend und gehe vor­sich­tig einen Schritt zu­rück. »Ich kann dir hel­fen. Wir kön­nen da­für sor­gen, dass du in ei­nem an­de­ren La­ger le­ben darfst.«

Das wa­ren of­fen­sicht­lich die falschen Wor­te, denn sein Ge­sicht ver­zerrt sich vor Wut und Schmerz. »Es ist zu spät«, sagt er durch zu­sam­men­ge­bis­se­ne Zäh­ne und hebt den Dolch.

Plötz­lich ver­än­dert sich die Um­ge­bung und ich be­fin­de mich al­lein im Wald. Eine tie­fe Dun­kel­heit um­gibt mich und Ai­ne­as ist ver­schwun­den.

In­stink­tiv weiß ich, dass es die Nacht nach dem Vor­fall ist und ich ei­ner Ge­stalt heim­lich aus dem La­ger ge­folgt bin. Dann habe ich je­doch ihre Spur ver­lo­ren und irre nun rast­los her­um. Ich ken­ne mich hier gut aus und muss kei­ne Angst ha­ben, mich zu ver­ir­ren; doch ich bin noch nicht be­reit, in das La­ger zu­rück­zu­keh­ren.

Plötz­lich schre­cke ich we­gen ei­nes spit­zen Schreis zu­sam­men, der aus ei­ni­ger Ent­fer­nung zu mir dringt. Ohne nach­zu­den­ken lau­fe ich in die­se Rich­tung und muss mich schon bald durch dich­tes, mit Frost über­zo­ge­nes Di­ckicht kämp­fen. Ob­wohl mei­ne Aus­dau­er gut trai­niert ist, fan­ge ich schon bald vor An­stren­gung an zu keu­chen. Oder ist es die Auf­re­gung? Je wei­ter ich in den dunk­len Wald vor­drin­ge, des­to grö­ßer wird die Furcht, die mich mit kal­ten Fin­gern packt.

Und dann kann ich plötz­lich im schwa­chen Mond­licht eine Ge­stalt er­ken­nen, die sich über et­was am Bo­den beugt. Beim Nä­her­kom­men weiß ich, dass es sich um Ai­ne­as han­delt, der mit sei­nem Dolch einen be­we­gungs­lo­sen Kör­per be­a­r­bei­tet. Ich hal­te mir er­schro­cken die Hand vor den Mund und muss die Übel­keit un­ter­drü­cken, als mir klar wird, dass es sich um die Lei­che ei­nes Men­schen han­delt.

Wäh­rend ich einen Schritt zu­rück­wei­che, tre­te ich ver­se­hent­lich auf einen Ast, und so­fort schnellt Ai­ne­as’ Kopf in mei­ne Rich­tung.

»Du schon wie­der«, knurrt er und kommt dann mit lang­sa­men Schrit­ten auf mich zu.

Er hält ir­gend­ein klum­pi­ges Et­was in der Hand, doch ich kann nicht er­ken­nen, wor­um es sich han­delt. We­nigs­tens hat er den Dolch lie­gen las­sen. Ich tau­me­le rü­ck­wärts, aber weiß, dass ich nicht weg­lau­fen kann, selbst wenn mei­ne Bei­ne mir ge­hor­chen wür­den.

»Bist du mir etwa ge­folgt?«, fragt Ai­ne­as lau­ernd. Sein Ge­sicht ist blut­ver­schmiert und wirkt im Mond­licht bei­na­he dä­mo­nisch.

»Ich wuss­te nicht, dass du es bist«, stam­me­le ich und bli­cke auf den Ge­gen­stand in sei­ner Hand. Plötz­lich wird mir mit Grau­en klar, wor­um es sich han­delt.

Als Ai­ne­as mei­ne vor Schreck auf­ge­ris­se­nen Au­gen sieht, brei­tet sich ein Grin­sen auf sei­nem Ge­sicht aus.

»Es ge­hört mei­ner Mut­ter«, sagt er be­tont bei­läu­fig und be­ob­ach­tet genüss­lich mein wach­sen­des Ent­set­zen. »Sie war ein­ver­stan­den, sich mit mir zu tref­fen. Of­fen­sicht­lich hat­te sie doch ein schlech­tes Ge­wis­sen, mit die­sem Wi­der­ling in die Stadt ge­gan­gen zu sein und mich hier zu­rück­zu­las­sen.«

Plötz­lich ver­schwin­det das Grin­sen aus sei­nem Ge­sicht, und ich kann einen An­flug von un­ter­drück­tem Schmerz er­ken­nen. »Kei­ne Ah­nung, ob ihr Herz mir et­was brin­gen wird. Ob sie mich wirk­lich ge­liebt hat. Doch was bleibt mir an­de­res üb­rig? Sie ist der ein­zi­ge Mensch, der in­fra­ge käme.«

Er fängt wie ver­rückt an zu la­chen, wäh­rend ihm Trä­nen die Wan­gen her­un­ter­lau­fen. Es en­det in ei­nem Schluch­zen, und ich kann se­hen, dass er das Herz sei­ner Mut­ter fest um­klam­mert hält, wäh­rend ihm das Blut den Arm her­un­ter­läuft. In mir to­ben die Ge­füh­le, und ich weiß nicht, ob ich weg­lau­fen oder auf Ai­ne­as zu­ge­hen soll.

»Bit­te tu das nicht«, pres­se ich schließ­lich her­vor. »Schließ dich nicht Mo­ri­gan an.«

Kurz blickt er mich sprach­los an, doch dann fängt er wie­der an zu la­chen. »Du hast wirk­lich nichts be­grif­fen«, sagt er kopf­schüt­telnd. »Ich will es doch. Es ist der ein­zi­ge Ort, wo ich hin­ge­hö­re.«

Kurz kann ich Be­dau­ern in sei­nen Au­gen auf­fla­ckern se­hen, aber so schnell, wie es ge­kom­men ist, ver­schwin­det es auch wie­der.

»Und nun geh«, sagt er mit fins­te­rem Blick. »Sonst wirst du der Nächs­te sein. Ich habe dich heu­te schon ein­mal ver­schont und das wird nicht noch ein­mal pas­sie­ren.«

Ich weiß so­fort, dass er es ernst meint, und wer­fe ihm einen letz­ten trau­ri­gen Blick zu. Dann wir­be­le ich her­um und lau­fe so schnell ich kann in das La­ger zu­rück.

Ein Schrei dringt aus mei­ner Keh­le, als ich mich mit ei­nem un­barm­her­zi­gen Ruck wie­der in der Ge­gen­wart be­fin­de. Es scheint kaum Zeit ver­gan­gen zu sein, denn das Ge­met­zel um mich her­um ist noch im­mer in vol­lem Gan­ge.

Stöh­nend rap­pe­le ich mich auf und füh­le mich un­end­lich er­schöpft. Mei­ne Geg­ner ha­ben noch nicht be­merkt, dass ich noch lebe. Es sind nicht mehr so vie­le üb­rig wie zu­vor, und of­fen­sicht­lich wer­den kei­ne neu­en Män­ner mehr da­zu­ge­schickt.

Mir ist klar, dass ich es nun zu Ende brin­gen muss, auch wenn von mei­nem vor­he­ri­gen Rausch nichts mehr zu spü­ren ist. Schwan­kend grei­fe ich nach der nächst­bes­ten Waf­fe, ei­nem lan­gen Schwert, und gehe auf mei­nen ers­ten Geg­ner zu. Er hat mich noch nicht be­merkt und so ist es mir ein Leich­tes, die Klin­ge von hin­ten durch sein Herz zu sto­ßen.

Nun wir­beln die rest­li­chen fünf Män­ner zu mir her­um, und im nächs­ten Mo­ment bin ich von Geg­nern um­ringt. Ver­bis­sen kämp­fe ich ge­gen sie an, doch ich bin nicht ganz bei der Sa­che. Brül­lend fuch­te­le ich mit dem Schwert und schaf­fe es, einen wei­te­ren Mann um­zu­brin­gen. Zwei an­de­re sind in ei­nem Kampf ge­gen­ein­an­der ver­wi­ckelt, wäh­rend die üb­ri­gen bei­den es auf mich ab­ge­se­hen ha­ben.

Lang­sam kehrt mei­ne Ener­gie zu­rück und all­mäh­lich macht mir das Ge­met­zel wie­der Spaß. Mit flie­ßen­den Be­we­gun­gen stre­cke ich bei­de Män­ner auf ein­mal nie­der und stür­ze mich dann auf mei­nen letz­ten Geg­ner, der so­eben sei­nem Wi­der­sa­cher einen Dolch in die Brust ge­sto­ßen hat. Der gro­ße, mus­ku­lö­se Mann wirkt un­end­lich bru­tal und scheint eben­so Spaß am Tö­ten zu ha­ben wie ich. Als er mich ent­deckt, ver­zieht sich sein Mund zu ei­nem brei­ten Grin­sen.

»Nun gibt es wohl nur noch uns bei­de«, sagt er bei­na­he schon sanft und leckt sich über die mit Blut be­netz­ten Lip­pen.

Wir um­krei­sen uns lau­ernd, wäh­rend er sei­nen ge­fähr­lich blit­zen­den Mor­gen­s­tern schwingt. Das Pu­bli­kum scheint den Atem an­zu­hal­ten, denn kaum ein Laut ist zu hö­ren. Und dann lau­fe ich auf mei­nen Geg­ner zu, wäh­rend ich flink sei­nem An­griff aus­wei­che. Mir wird so­fort klar, dass er zwar stark, aber da­für sehr lang­sam ist.

Ich lä­che­le tri­um­phie­rend und um­run­de sei­nen mäch­ti­gen Kör­per so schnell, dass er nicht hin­ter­her­kommt. Dann sprin­ge ich mit ei­nem Satz auf sei­nen Rü­cken und um­klam­me­re den bul­li­gen Hals. Das Schwert habe ich fal­len ge­las­sen, denn es dürs­tet mich da­nach, ihn mit blo­ßen Hän­den zu tö­ten. Soll die Men­ge et­was zu se­hen be­kom­men. Der Mann dreht sich vor Wut brül­lend um sei­ne ei­ge­ne Ach­se, doch schafft es nicht, mich ab­zu­schüt­teln, wäh­rend ich ihm er­bar­mungs­los die Luft ab­schnü­re. Sein Atem geht im­mer rö­cheln­der und schließ­lich lässt er sich zu Bo­den fal­len, so­dass er mich un­ter sei­nem mäch­ti­gen Kör­per be­gräbt.

Aber ich las­se mich da­durch nicht auf­hal­ten. Die Be­we­gun­gen des Man­nes wer­den im­mer schwä­cher und sei­ne Arme fan­gen an zu zu­cken, bis sie schließ­lich er­schlaf­fen. Ich las­se noch nicht los, bis ich mir ganz si­cher bin, dass er nicht mehr am Le­ben ist. Nun schwillt der Ap­plaus der Men­ge wie­der an, doch ich bin mir si­cher, dass er ein we­nig zö­ger­li­cher ist als sonst.

Mit grim­mi­ger Mie­ne klop­fe ich mir den Staub von der Klei­dung und war­te nicht dar­auf, dass mich je­mand ab­holt. Die Klap­pe öff­net sich, als ich da­vor ste­hen blei­be, und mit fes­ten Schrit­ten gehe ich zu­rück zu mei­nem Kä­fig. Wie­der kann ich vie­le Bli­cke auf mir spü­ren, doch ich will nichts an­de­res als mei­ne Ruhe ha­ben – bis zum nächs­ten Kampf, denn der Tag ist noch nicht vor­bei.

Mir wird eine Stun­de ge­gönnt, in der ich nichts an­de­res ma­che als zu grü­beln, bis ich wie­der ab­ge­holt wer­de. Dies­mal be­fin­den sich nur zwei wei­te­re Gla­di­a­to­ren in der Are­na, aber wir wer­den nicht auf­ein­an­der los­ge­las­sen. Auf ir­gen­d­et­was war­ten wir noch, und das lässt mich lang­sam un­ru­hig wer­den. Was für eine Über­ra­schung könn­te auf uns zu­kom­men?

Mein gan­zer Kör­per ver­steift sich, als eine wei­te­re Klap­pe ge­öff­net und das Ge­heim­nis ge­lüf­tet wird. Ich fan­ge an zu zit­tern, wäh­rend ich die drei Le­o­par­den be­ob­ach­te, die et­was un­si­cher in die Are­na pir­schen.

Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen star­re ich sie an und be­mer­ke, dass sich auch ihre Bli­cke auf mich rich­ten. Ganz ohne Ag­gres­si­vi­tät ru­hen sie auf mir, und ich weiß mit ei­nem Mal, dass ich das nicht kann. Ich kann sie auf kei­nen Fall tö­ten.

Mir und den an­de­ren bei­den Män­nern wer­den Spee­re in die Hand ge­drückt, doch ich be­kom­me es kaum mit. Jede Fa­ser mei­nes Kör­pers sträubt sich da­ge­gen, ein Kraft­tier zu tö­ten. Wie­der weiß ich in­stink­tiv, dass das ge­gen mei­ne Na­tur geht und ich mir das nie­mals ver­zei­hen könn­te.

Dann wird das Si­gnal ge­ge­ben, dass der Kampf be­ginnt. Die Le­o­par­den wei­chen fau­chend zu­rück, als die Män­ner mit er­ho­be­nen Spee­ren auf sie zu­ge­hen. Ich kann nichts wei­ter tun, als sie stumm und vol­ler Ent­set­zen an­zu­schau­en. Män­ner brül­len mir Be­feh­le zu, aber ich bin nicht in der Lage, sie zu be­fol­gen. Schließ­lich wer­den die Raub­kat­zen so sehr in Be­dräng­nis ge­bracht, dass ih­nen nur noch der An­griff bleibt.

Wie in Tran­ce be­ob­ach­te ich, wie sie sich auf die Män­ner stür­zen und sich in ih­ren Glied­ma­ßen ver­bei­ßen. Ich zu­cke zu­sam­men, als der ers­te Le­o­pard nie­der­ge­streckt wird, und ma­che un­will­kür­lich einen Schritt auf das Ge­sche­hen zu.

Wes­halb ge­horcht mein Kör­per mir nicht mehr? Ich möch­te ge­gen die Män­ner kämp­fen, die Le­o­par­den be­schüt­zen. Das schmerz­er­füll­te Jau­len der Raub­kat­zen geht mir durch Mark und Bein.

Dann schaf­fe ich es end­lich, mich zu be­we­gen. Mit ei­nem wü­ten­den Brül­len sto­ße ich den ers­ten Mann auf Sei­te, der so­eben ver­sucht hat, sei­nen Speer in den nächs­ten Le­o­par­den zu ram­men. Er tau­melt, fällt je­doch nicht hin und dreht sich schließ­lich wü­tend fun­kelnd zu mir.

»Hast du ein Pro­blem?«, fährt er mich an und er­hebt dann sei­ne Waf­fe ge­gen mich. »Die Le­o­par­den sind zu­erst dran!«, brüllt er und sticht nach mir.

Mei­ne Be­we­gun­gen sind selt­sam lahm, und so schaf­fe ich es nur knapp, aus­zu­wei­chen. Ir­gen­d­et­was läuft hier ent­setz­lich falsch; ich kann mir nicht er­klä­ren, war­um ich mich so be­nom­men füh­le. Wie­der wei­che ich nur knapp dem Speer aus, wäh­rend ich hin­ter mir den Kampf to­ben höre.

Plötz­lich blickt mein Ge­gen­über auf einen Punkt hin­ter mir, und ein hä­mi­sches Grin­sen brei­tet sich in sei­nem Ge­sicht aus.

Viel zu lang­sam dre­he ich mich um und das Letz­te, was ich sehe, ist eine Speer­spit­ze, die ge­nau auf mein Ge­sicht zu­schnellt.

Ka­pi­tel 2

Ich ver­neh­me selt­sa­me, längst ver­ges­se­ne Ge­räu­sche, und al­les kommt mir ge­dämpft vor.

Fühlt sich so etwa der Tod an?

Blin­zend schaf­fe ich es, mei­ne Au­gen zu öff­nen, kann je­doch noch nichts er­ken­nen. Erst jetzt be­mer­ke ich den bes­ti­a­li­schen Ge­stank, der mich ein­hüllt und zu über­wäl­ti­gen droht.

Nein, das ist ganz si­cher nicht der Tod.

Lang­sam bil­den sich Um­ris­se, und ich glau­be, mensch­li­che Ge­stal­ten zu er­ken­nen. Dann sto­ße ich einen er­schro­cke­nen Laut aus und krie­che rü­ck­wärts, als mir be­wusst wird, wo ich mich be­fin­de. Über­all, ne­ben und un­ter mir, lie­gen un­zäh­li­ge Lei­chen, die teil­wei­se schon an­fan­gen zu ver­we­sen. Sie alle wur­den acht­los in die Gru­be ge­wor­fen, in der auch ich mich be­fin­de.

Das Mas­sen­grab der Are­na.

Ob­wohl ich dach­te, kaum noch Emo­ti­o­nen ver­spü­ren zu kön­nen, emp­fin­de ich gren­zen­lo­ses Grau­en. Hat man mich für tot er­klärt? Doch wie konn­te ich das über­le­ben? Wenn ich mich rich­tig er­in­ne­re, hat man mir einen Speer mit­ten ins Ge­sicht ge­sto­ßen!

Ver­schie­de­ne Er­klä­run­gen schie­ßen mir durch den Kopf, doch sie alle kom­men mir sehr weit her­ge­holt vor. Ein ein­zi­ger Ge­dan­ke hebt sich im­mer wie­der her­vor, aber ich ver­drän­ge ihn er­folg­reich. Ich be­schlie­ße, mich zu­erst dar­auf zu kon­zen­trie­ren, aus die­sem grau­en­haf­ten Loch her­aus­zu­kom­men.

Selt­sa­mer­wei­se füh­le ich mich kaum noch be­nom­men und schaf­fe es nach meh­re­ren Ver­su­chen, bis an den Rand zu sprin­gen. Er­leich­tert klet­te­re ich aus der Gru­be und sau­ge die fri­sche Luft in mich auf. Erst jetzt wird mir be­wusst, was die­ses Ge­räusch war: das lau­te Zwit­schern der Vö­gel, von dem ich längst ver­ges­sen habe, dass es exis­tiert. Ein Ge­fühl brei­tet sich in mir aus, das ich zu­erst nicht zu­ord­nen kann, bis ich er­ken­ne, dass es pure Freu­de ist.

Lä­chelnd dre­he ich mich im Kreis und schlie­ße die Au­gen. Vie­le ver­schie­de­ne Ge­rü­che wir­ken auf mich ein, und ein lau­tes Jauch­zen ent­weicht mei­ner Keh­le.

Schließ­lich habe ich mich so weit be­ru­higt, dass ich an­fan­ge, die Um­ge­bung ge­nau­er zu be­trach­ten. Die Gru­be, aus der ich so­eben ge­klet­tert bin, be­fin­det sich auf ei­ner gro­ßen Wie­se am Wald­rand. Auf der an­de­ren Sei­te kann ich in der Fer­ne die Um­ris­se der Stadt­mau­er aus­ma­chen. Bei die­sem An­blick wer­de ich von neu­em Hass er­füllt, und mit ei­nem Mal kann ich nicht mehr schnell ge­nug von hier weg­kom­men.

Ich gebe mir selbst das Ver­spre­chen, nie wie­der an die­sen Ort zu­rück­zu­keh­ren, also wen­de ich mich dem Wald zu und be­we­ge mich mit ent­schlos­se­nen Schrit­ten dar­auf zu.

Schon bald be­mer­ke ich, dass er nicht wie der Wald aus mei­nen Vi­si­o­nen ist. Die Bäu­me se­hen an­ders aus und nir­gend­wo ist eine Spur von Frost zu er­ken­nen. Ge­nau ge­nom­men ist die Luft hier sehr warm, wenn auch deut­lich an­ge­neh­mer als in der Stadt. In mei­nen Vi­si­o­nen war der Wald durch­zo­gen mit plät­schern­den Bä­chen, und zu­dem rag­ten über­all Fel­sen aus dem hü­ge­li­gen Bo­den.

Mir fällt auf, dass ich bei dem Ge­dan­ken dar­an Sehn­sucht be­kom­me, so als wür­de in mir der Drang wach­sen, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren. Wann habe ich an­ge­fan­gen, wie­der so vie­le Emo­ti­o­nen zu spü­ren? Ich weiß nicht, ob es mich be­ängs­ti­gen oder mir ge­fal­len soll.

Im­mer wei­ter gehe ich in den Wald hin­ein und ver­su­che, mich zu er­in­nern – doch ver­geb­lich. Of­fen­sicht­lich er­lau­ben es mir nur die Vi­si­o­nen, einen Blick in die Ver­gan­gen­heit zu wer­fen.

Plötz­lich fühlt es sich an, als ob ich be­ob­ach­tet wer­de, doch ich be­schlie­ße, mir nichts an­mer­ken zu las­sen. Ich bin über­zeugt, dass ich es mit der Per­son auf­neh­men kann, ganz egal, wer es ist.

Im nächs­ten Mo­ment höre ich ein Ra­scheln und lei­se Schrit­te im Un­ter­holz. Nun bin ich in völ­li­ger Alarm­be­reit­schaft und bli­cke mich un­auf­fäl­lig um. Tat­säch­lich kann ich schon bald eine klei­ne Ge­stalt aus­ma­chen, die hin­ter ei­nem Busch kau­ert und mich be­ob­ach­tet. Ich run­ze­le die Stirn, als ich er­ken­ne, dass es sich um ein Kind han­delt. Ganz egal, ob es aus der Stadt oder von den Clans stammt, es be­fin­det sich viel zu weit weg von sei­nem Zu­hau­se.

»Du da«, rufe ich mit rau­er Stim­me, die mir noch im­mer nicht ganz ge­horcht. »Wo sind dei­ne El­tern?«

Das Kind zuckt er­tappt zu­sam­men und scheint zu über­le­gen, ob es ant­wor­ten oder weg­lau­fen soll. Schließ­lich kommt es zö­ger­lich aus sei­nem Ver­steck und blickt mich schüch­tern an. Es ist ein klei­ner Jun­ge von höchs­tens sechs Jah­ren mit brau­nen, in alle Rich­tun­gen ab­ste­hen­den Haa­ren. In­stink­tiv weiß ich, dass es sich um ein Mit­glied vom Clan des grau­en Wolfes han­delt, ohne mich an de­ren ge­nau­en Merk­ma­le er­in­nern zu kön­nen.

»Ich bin heim­lich da­von­ge­lau­fen«, gibt er ver­le­gen zu. »Mei­ne El­tern wa­ren auf der Jagd, und ich woll­te ih­nen fol­gen. Aber dann habe ich mich ver­irrt.«

Eine ein­sa­me Trä­ne läuft sei­ne Wan­ge hin­un­ter, und ich kann Ver­zweif­lung aus sei­nem Blick le­sen. Dann schaut er je­doch hoff­nungs­voll zu mir auf. »Einen wie dich habe ich schon ge­se­hen. Du kommst aus dem kal­ten Wald, hab ich Recht?«

Sei­ne brau­nen Au­gen wer­den groß vor Neu­gier­de, und mit ei­nem Mal möch­te ich da­von­lau­fen. Ei­ner­seits habe ich das un­er­klär­li­che Ge­fühl, eine Ge­fahr für die­sen klei­nen Jun­gen dar­zu­stel­len, doch an­de­rer­seits kann ich ihn hier auch nicht al­lein las­sen. Zu­dem kommt mir der Ge­dan­ke, dass er zu der Wie­se ge­lan­gen könn­te, und wenn er dort auf das Mas­sen­grab trifft … Nein, ich muss ihm auf je­den Fall hel­fen.

»Wir su­chen ge­mein­sam nach dei­nem La­ger«, sage ich des­we­gen, las­se mei­ne Stim­me je­doch ab­wei­send klin­gen. Der Jun­ge soll nicht auf die Idee kom­men, mir Fra­gen stel­len zu kön­nen.

So­fort strah­len sei­ne Au­gen, und er greift nach mei­ner Hand. Am liebs­ten wür­de ich sie zu­rück­zie­hen, aber statt­des­sen las­se ich mich, wenn auch wi­der­stre­bend, mit­zie­hen.

»Aus die­ser Rich­tung bin ich ge­kom­men«, er­klärt er mir mit sei­ner hel­len Stim­me. »Aber es sind schon Stun­den ver­gan­gen, seit ich mich ver­irrt habe.« Wie­der fla­ckert Angst in sei­ner Mie­ne auf, doch we­nigs­tens fängt er nicht an zu wei­nen.

Ich kann nur schwer ein ge­nerv­tes Seuf­zen un­ter­drü­cken, denn so habe ich mir mei­ne ers­ten Mo­men­te in der Frei­heit nicht vor­ge­stellt. Ich be­schlie­ße, ein­fach im­mer wei­ter in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung der Stadt zu ge­hen. Auch wenn wir nicht di­rekt auf das La­ger sto­ßen, so läuft uns si­cher­lich ir­gend­wann ein Jagd­trupp über den Weg.

»War­um schaust du die gan­ze Zeit so böse?«, fragt der Jun­ge plötz­lich und blickt mich wie­der neu­gie­rig an.

Am liebs­ten wür­de ich ihn ge­nervt an­fah­ren, doch ich rei­ße mich zu­sam­men und zu­cke mit den Schul­tern. »Ich habe eine schwe­re Zeit hin­ter mir. Aber du soll­test auf­hö­ren, Fra­gen zu stel­len.«

Den Jun­gen schei­nen mei­ne letz­ten Wor­te nicht zu in­ter­es­sie­ren. »Und du re­dest auch so selt­sam«, fährt er fort. »So als wäre dir al­les egal.«

Nun wer­de ich doch wü­tend und schüt­te­le sei­ne klei­ne Hand ab. »Neu­gier­de kann ge­fähr­lich sein«, knur­re ich und gehe dann ein paar Schrit­te vor.

»Fol­ge mir«, sage ich ab­wei­send und bli­cke mich nicht nach dem Jun­gen um. Mein Rü­cken ver­steift sich, als ich plötz­lich ein lei­ses Schluch­zen hin­ter mir höre. Nein, ich darf kein Mit­leid spü­ren, er ist es doch selbst schuld. Je frü­her er wie­der bei sei­nen El­tern ist, des­to bes­ser.

Das Schluch­zen will al­ler­dings nicht ver­stum­men, und so dre­he ich mich doch nach dem Kind um. Sei­ne Un­ter­lip­pe bebt, und mit gla­si­gen Au­gen blickt er zu mir auf. Am liebs­ten wür­de ich mich wie­der um­dre­hen und wei­ter­ge­hen, aber dann hal­te ich ihm mei­ne Hand hin, wel­che der Jun­ge nach kur­z­em Zö­gern er­greift.

»Stell bit­te ein­fach kei­ne Fra­gen mehr«, sage ich mög­lichst freund­lich, und der Jun­ge nickt schnie­fend.

So ge­hen wir eine Wei­le fried­lich durch den Wald, aber ihm kommt noch im­mer nichts be­kannt vor. Den­noch fängt er bald an, spie­le­risch um mich her­um­zuhüp­fen und fröh­lich zu la­chen. Es ver­setzt mir einen Stich, denn es weckt Ge­füh­le in mir, die ich nicht so recht zu­ord­nen kann.

Er­in­ne­re ich mich wie­der an et­was? Habe auch ich als Kind so aus­ge­las­sen ge­spielt?

Wie­der greift der Jun­ge nach mei­ner Hand und zieht mich hin­ter sich her. »Ich hei­ße üb­ri­gens Viko, und du?«, fragt er grin­send, wor­auf­hin ich ihm einen mah­nen­den Blick zu­wer­fe.

»Stimmt«, sagt er klein­laut. »Kei­ne Fra­gen.«

Ich ni­cke und ver­schrän­ke dann die Arme vor der Brust, wäh­rend Viko ein Stück vor­läuft. Wo­hin wird mein Weg ge­hen, wenn ich den Jun­gen in sein La­ger ge­bracht habe? Viel­leicht soll­te ich zu mei­nem ei­ge­nen Clan zu­rück­keh­ren, doch bin ich dort über­haupt will­kom­men? Mög­li­cher­wei­se ha­ben sie mich aus ir­gend­ei­nem Grund ver­sto­ßen und ich bin so in der Are­na ge­lan­det. Ich wünsch­te, ich wür­de durch wei­te­re Vi­si­o­nen Kla­r­heit be­kom­men, aber lei­der kann ich sie nicht kon­trol­lie­ren.

Plötz­lich höre ich weit ent­fern­te Schrit­te im Un­ter­holz, die nicht von Viko stam­men. Der Jun­ge läuft so­fort alar­miert zu mir und krallt sich in mei­nem schwa­r­zen Hemd fest, an wel­chem noch die Blut­fle­cken von dem Kampf zu er­ken­nen sind.

»Ich hof­fe, das sind mei­ne Clan­ge­fähr­ten«, flüs­tert er und drückt sich noch en­ger an mich.

Ich bli­cke wach­sam in die Rich­tung, aus der das Ge­räusch kommt, bis sich schließ­lich zwei hoch­ge­wach­se­ne und breit ge­bau­te Män­ner aus dem Di­ckicht lö­sen. Sie bei­de ha­ben lan­ge ge­floch­te­ne Bär­te und grim­mig drein­bli­cken­de Ge­sich­ter. Den­noch ver­spü­re ich kei­ne Angst, son­dern bloß Arg­wohn.

»Da ist er ja«, sagt der äl­te­re der bei­den mit dunk­ler Stim­me und be­deu­tet Viko, zu ih­nen zu kom­men. Der Jun­ge wirkt er­leich­tert, blickt dann je­doch un­si­cher zu mir auf.

»Möch­test du nicht mit­kom­men?«, fragt er mit leuch­ten­den Au­gen. »Ich mag dich näm­lich.«

Ich möch­te so­fort ab­leh­nen, doch plötz­lich kann ich die schwe­re Pran­ke des äl­te­ren Man­nes auf mei­ner Schul­ter spü­ren.

»Ja, komm mit uns. Wir wür­den dir au­ßer­dem ger­ne ei­ni­ge Fra­gen stel­len«, sagt er freund­lich, aber ich kann deut­lich das Miss­trau­en aus sei­ner Stim­me her­aus­hö­ren. Er blickt mir prü­fend in die Au­gen und scheint dort et­was zu fin­den, was ihm über­haupt nicht ge­fällt.

Viko scheint von dem Miss­trau­en nichts zu be­mer­ken, denn er schaut mit leuch­ten­den Au­gen zu mir auf und klatscht be­geis­tert in die Hän­de. Ich über­le­ge, ob ich die­ses An­ge­bot – oder viel­mehr den Be­fehl – aus­schla­gen kann, doch an­der­seits bin ich auch neu­gie­rig.

»Na gut«, sage ich schließ­lich und die Män­ner ni­cken grim­mig.

Der Äl­te­re be­deu­tet mir, zwi­schen ih­nen zu ge­hen, so als be­fürch­te er, dass ich weg­lau­fe. Wir fal­len in ein erns­tes Schwei­gen, wäh­rend Viko mun­ter drauf­los­plap­pert.

»Und dann habe ich mich plötz­lich ver­irrt«, be­en­det er sei­ne Er­zäh­lung über sein klei­nes Aben­teu­er. »Wäre der net­te Mann nicht auf­ge­taucht, wäre ich si­cher­lich ge­stor­ben.«

»Das be­zweif­le ich«, mur­melt der jün­ge­re Krie­ger in sei­nen Bart und wirft mir er­neut einen ab­leh­nen­den Blick zu.

Ich schaue bloß aus­drucks­los in die Fer­ne und igno­rie­re das feind­se­li­ge Ver­hal­ten. Die Gleich­gül­tig­keit kehrt all­mäh­lich zu­rück, und ich kann mich nicht mal mehr an den fei­nen Son­nen­strah­len er­freu­en, die durch das Blät­ter­dach fal­len.

»Bald bricht die Nacht ein«, sagt der äl­te­re Mann fins­ter. »Bis da­hin soll­ten wir das La­ger er­reicht ha­ben.«

»Wer­den wir einen Wolf tref­fen?«, fragt Viko auf­ge­regt, wor­auf­hin bei­de Män­ner lei­se seuf­zen.

»Wenn du gro­ßes Glück hast«, sagt der Jün­ge­re schließ­lich ge­dul­dig. »Aber mach dir kei­ne zu gro­ßen Hoff­nun­gen.«

»Ei­nes Ta­ges wer­de ich ein gro­ßer Krie­ger sein«, sagt Viko schließ­lich an mich ge­wandt und reckt stolz das Kinn. »Dann wer­de ich je­den Tag Wöl­fe se­hen. Bist du auch ein Krie­ger?«

Ich wer­fe ihm einen kur­z­en mah­nen­den Blick zu und er beißt sich er­tappt auf die Lip­pe, aber nun scheint auch das In­ter­es­se der Män­ner ge­weckt zu sein. Sie bli­cken mich prü­fend an, und nun kann ich ih­nen eine Ant­wort nicht ver­wei­gern. Ich be­schlie­ße, dass es am bes­ten ist, zu lü­gen.

»Ja«, sage ich knapp, doch das scheint den Män­nern nicht zu rei­chen. »Wie lan­ge schon?«, fragt der Äl­te­re mit ei­nem selt­sa­men Glit­zern in den Au­gen.

»Ein paar Jah­re«, sage ich aus­wei­chend und den­ke dann an mei­ne Vi­si­on zu­rück. »Seit ich sech­zehn bin.«

Die Män­ner schei­nen ent­täuscht zu sein, so als hät­ten sie mit ei­ner falschen Ant­wort ge­rech­net. »Und in wel­chem La­ger?«, folgt so­fort die nächs­te Fra­ge.

Ich ver­su­che, zu im­pro­vi­sie­ren und auf mein in­stink­ti­ves Wis­sen zu­rück­zu­grei­fen. »In ei­nem Ne­ben­la­ger«, sage ich mög­lichst bei­läu­fig. »In der Nähe des Ge­bir­ges.«

»Und wie ist dein Name?«, kommt schließ­lich die Fra­ge, die mich zu­sam­men­zu­cken lässt.

»Ja, das möch­te ich auch wis­sen«, mischt sich Viko fröh­lich ein.

»So vie­le Fra­gen«, sage ich mög­lichst ge­las­sen. »Ich wer­de sie euch noch alle be­ant­wor­ten, doch der Tag war an­stren­gend.«

Ich kann se­hen, dass die Män­ner wü­tend wer­den, aber vor Viko rei­ßen sie sich zu­sam­men.

»Dann bin ich mal ge­spannt, was du uns noch zu er­zäh­len hast«, sagt der Äl­te­re ge­reizt.

Die Däm­me­rung ist be­reits weit fort­ge­schrit­ten, doch die Män­ner wer­den nach und nach im­mer ent­spann­ter.

Bald ver­kün­det Viko mit strah­len­den Au­gen: »Hier ken­ne ich mich schon aus. Darf ich vor­lau­fen?«

»Nein«, sagt der jün­ge­re Mann so­fort streng. »Auch auf die­sem kur­z­en Stück kann noch viel pas­sie­ren.«

Also bleibt der Jun­ge schmol­lend bei uns und tritt wü­tend klei­ne Stein­chen vor sich her.

»Wir sind gleich da«, ver­kün­det der Äl­te­re schließ­lich und wirft mir dann einen mah­nen­den Blick zu. »Wenn du auch nur einen falschen Schritt machst, wirst du die Kon­se­quen­zen spü­ren. Ich weiß ge­nau, was du bist, auch wenn du ver­suchst, es zu über­spie­len.«

Ich bli­cke ihn über­rascht an. Wie kann er wis­sen, wer ich bin, wenn ich es doch selbst nicht weiß?

»Wo­von re­dest du?«, fra­ge ich be­tont gleich­gül­tig, wäh­rend ich von gan­zem Her­zen hof­fe, eine zu­frie­den­stel­len­de Ant­wort zu be­kom­men.

Der Mann lacht je­doch bloß hä­misch und schüt­telt dann den Kopf. Den Rest des Weges wer­de ich, ab­ge­se­hen von Viko, völ­lig igno­riert.

Als wir aus dem Un­ter­holz her­vor­tre­ten, kann ich zu­erst nicht er­ken­nen, wo sich das La­ger be­fin­den soll. Dann glei­tet mein Blick wie von selbst nach oben, und ich er­ken­ne stau­nend eine Viel­zahl von Baum­häu­sern, die sich gut ge­tarnt fast in den Wip­feln be­fin­det.

Viko läuft so­fort los und wirft sich in die Arme ei­ner Frau, die au­gen­blick­lich auf uns zu­ge­stürmt kommt.

»Mein Sohn!«, ruft sie halb schimp­fend und halb wei­nend. Sie schließt den Jun­gen in die Arme und ver­gräbt ihr Ge­sicht in sei­nen Haa­ren.

Auf dem ers­ten Blick wirkt sie nicht ge­ra­de wie eine ty­pisch für­sorg­li­che Mut­ter, denn mit ih­rem mus­ku­lö­sen Kör­per­bau und den wil­den Haa­ren sieht sie viel­mehr wie eine furcht­ein­flö­ßen­de Krie­ge­rin aus. Doch of­fen­sicht­lich trügt das Aus­se­hen, denn ihr Ver­hal­ten spricht für sich. Ge­ra­de gibt sie ih­rem Sohn einen fes­ten Kuss auf die Wan­ge und wen­det sich dann den bei­den Män­nern zu.

»Wo habt ihr ihn ge­fun­den? Geht es ihm gut?« Ihre Stim­me zit­tert noch im­mer, und ich kann ihre dun­kel­brau­nen Au­gen ver­däch­tig glit­zern se­hen.

»Ja«, er­greift Viko das Wort. »Weil der Mann dort bei mir war.« Er deu­tet auf mich, und nun scheint die Frau mich zu be­mer­ken. Sie blickt mich kurz prü­fend an, und ich ver­su­che, mög­lichst freund­lich aus­zu­se­hen.

Schein­bar schei­te­re ich dar­in kläg­lich, denn so­fort zeich­nen sich in ih­rem Ge­sicht Ent­set­zen und Ab­scheu ab. Sie greift nach Viko und drückt ihn fest an sich.

»Hal­te dich von mei­nem Sohn fern«, faucht sie, und so­fort ver­steift sich mein Kör­per. Was wis­sen die­se Men­schen bloß über mich, was ich nicht weiß? Wes­halb ver­ab­scheu­en sie mich, aber nen­nen mir nicht den Grund?

»Kei­ne Sor­ge, Briah. Mor­gen wer­den wir ihn be­fra­gen«, murrt der äl­te­re Mann. »Und bis da­hin wer­den wir ihn ein­sper­ren und im Auge be­hal­ten.«

Viko blickt mich trau­rig an und scheint wie ich eben­so we­nig zu ver­ste­hen, was hier vor sich geht.

Die Män­ner zer­ren mich grob mit sich, und ich las­se sie ge­wäh­ren, ob­wohl ich mir si­cher bin, es mit ih­nen auf­neh­men zu kön­nen. Sie füh­ren mich zu ei­ner Strick­lei­ter, wel­che von ei­ner Frau, die oben auf ei­ner Platt­form steht, her­un­ter­ge­las­sen wur­de. Ohne dass sie mir den Be­fehl ge­ben, klet­te­re ich nach oben und war­te ge­dul­dig dar­auf, dass die an­de­ren mir fol­gen.

Als auch Viko und sei­ne Mut­ter oben an­ge­kom­men sind, winkt der Jun­ge mir nie­der­ge­schla­gen zu. Dann ge­hen sie ge­mein­sam über eine Hän­ge­brü­cke zu ei­nem der Baum­häu­ser und ver­schwin­den dar­in.

»Fol­ge mir«, sagt der äl­te­re Mann ab­wei­send und deu­tet auf eine Hän­ge­brü­cke in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung.

Das Baum­haus, wel­ches sich dort be­fin­det, sieht deut­lich aus­la­den­der aus, und es sind kei­ne Fens­ter zu se­hen. Es ist mir je­doch gleich­gül­tig, wenn man mich da­für end­lich in Ruhe lässt. Zu­dem hof­fe ich, dass man mich end­lich in das Ge­heim­nis mei­ner Ver­gan­gen­heit ein­weiht, wenn ich alle Be­feh­le wi­der­stands­los be­fol­ge.

Das Be­dürf­nis nach Ge­walt und Blut hat­te ich seit dem ver­häng­nis­vol­len Kampf nicht mehr – so­bald ich hin­ge­gen an die Le­o­par­den den­ken muss, die in der Are­na ihr Le­ben las­sen muss­ten, ver­spü­re ich Schmerz und Ab­scheu.

Als ich das Baum­haus be­tre­te und die Tür hin­ter mir ge­schlos­sen wird, leh­ne ich mich ge­gen die kah­le Wand und star­re in die schwa­r­ze Dun­kel­heit. Die Luft ist schwül und ab­ge­stan­den, aber in mir herrscht den­noch eine end­lo­se Käl­te. Ich schlie­ße die Au­gen und ver­su­che, je­den Ge­dan­ken aus mei­nem Kopf zu ver­drän­gen.

Und end­lich ge­lingt es mir.

»Ich bin so auf­ge­regt«, flüs­tert mei­ne Freun­din mir zu. »Un­ser ers­ter Un­ter­richt als Krie­ger­schü­ler!«

Ich stim­me ihr vol­ler Vor­freu­de zu, und wie von selbst wan­dert mein Blick zu Ai­ne­as. Sei­ne Mie­ne wirkt un­ge­wöhn­lich hei­ter, und zum ers­ten Mal scheint er sich wirk­lich auf et­was zu freu­en. Auch der an­de­re Schü­ler, der in un­se­rem Al­ter ist, kann es kaum er­war­ten, dass der Krie­ger er­scheint, der uns heu­te un­ter­rich­ten wird.

Bald schon kön­nen wir sei­ne statt­li­che Ge­stalt von wei­tem auf uns zu­ge­hen se­hen. Er ist aus ei­nem an­de­ren Ne­ben­la­ger zu uns ge­kom­men, da bei uns haupt­säch­lich Fa­mi­li­en le­ben, in de­nen die El­tern kei­ne ak­ti­ven Krie­ger mehr sind.

»Gu­ten Tag, Kin­der. Mein Name ist Kli­on«, sagt der Mann freund­lich, als er vor uns steht, und blickt je­den von uns ab­schät­zend an.

Als sein Blick an Ai­ne­as hän­gen bleibt, der zu mei­ner Über­ra­schung ziem­lich ner­vös aus­sieht, run­zelt er die Stirn.

»Ich ken­ne dei­nen Va­ter«, sagt Kli­on, und so­fort schwin­det jeg­li­che Ge­fühls­re­gung aus Ai­ne­as’ Ge­sicht.

»Nun stellt euch in Zwei­er­grup­pen auf«, be­fiehlt der Mann, ohne die­se Re­ak­ti­on zu be­ach­ten. »Ich möch­te se­hen, was ihr im Grund­un­ter­richt ge­lernt habt. Ver­sucht, den Part­ner zu Bo­den zu wer­fen, wäh­rend die­ser ver­sucht, sich zu ver­tei­di­gen.«

Mei­ne Freun­din und ich tau­schen einen be­geis­ter­ten Blick und stel­len uns dann ein­an­der ge­gen­über auf. Im Au­gen­win­kel kann ich se­hen, dass Ai­ne­as es uns mit dem an­de­ren Jun­gen gleich­tut. »Dann zeigt mir, was ihr könnt«, gibt Kli­on uns das Si­gnal zum Start.

»Ich grei­fe zu­erst an«, sagt mei­ne Freun­din grin­send, und ich gehe so­fort in die Ver­tei­di­gungs­stel­lung. Ich weiß, dass sie flink und er­bar­mungs­los im Kampf ist.

Zwar ha­ben wir im Grund­un­ter­richt nur die nö­tigs­ten Tech­ni­ken ge­lernt, doch ich kann mir schon un­ge­fähr aus­ma­len, wie sie sich in ei­nem ech­ten Ge­fecht ver­hal­ten wür­de.

Ihre rot­blon­den Haa­re wir­beln um ihr Ge­sicht, als sie eine schnel­le Be­we­gung auf mich zu­macht. Sie ver­sucht, ihre Hand in mei­nen Bauch zu ram­men, doch wie ich es ge­lernt habe, ma­che ich einen ra­schen Schritt zur Sei­te und pa­cke ihre Arme. Mei­ne Freun­din schafft es al­ler­dings, sich von mir zu lö­sen, und so ste­hen wir wie­der schwer at­mend vor­ein­an­der.

Wir zu­cken zu­sam­men, als wir das lau­te Brül­len un­se­res Men­tors hö­ren. »Du wirst ihn noch um­brin­gen!«

Wir wir­beln bei­de her­um und be­ob­ach­ten ent­setzt, wie Kli­on Ai­ne­as von sei­nem Part­ner her­un­ter­zerrt. Er hat ihn of­fen­sicht­lich fest auf den Bo­den ge­drückt und ist da­bei zu grob vor­ge­gan­gen.

»Ich woll­te doch nur be­wei­sen, dass ich ein gu­ter Krie­ger wäre«, ver­sucht sich Ai­ne­as zu recht­fer­ti­gen, und ich kann zum ers­ten Mal so et­was wie Angst und Schuld­be­wusst­sein in sei­nen Au­gen se­hen.

Der Mann schüt­telt je­doch ver­ächt­lich den Kopf und macht eine weg­wer­fen­de Hand­be­we­gung. »Ich habe von An­fang an ge­wusst, dass so et­was pas­sie­ren wird«, sagt er mit zu Schlit­zen ver­eng­ten Au­gen. »Du bist nicht da­für ge­eig­net, Krie­ger zu wer­den.«

»Bit­te, ich wer­de be­wei­sen, dass ich es bes­ser kann«, sagt Ai­ne­as fle­hend.

Ich tau­sche mit mei­ner Freun­din einen be­stürz­ten Blick, als sich in den Au­gen des Jun­gen Trä­nen sam­meln. Wir kön­nen ihn zwar bei­de nicht lei­den, doch die Aus­bil­dung zum Krie­ger scheint das Ers­te zu sein, was ihm wirk­lich wich­tig ist.

»Kei­ne Dis­kus­si­on«, sagt Kli­on un­nach­gie­big. »Ich möch­te dich in die­ser Grup­pe nicht mehr se­hen. Geh zu­rück in das La­ger.«

Ai­ne­as reißt vor Ent­set­zen die Au­gen weit auf und öff­net den Mund, um noch et­was zu sa­gen, doch dann ballt er die Hän­de zu Fäus­ten und stürmt wort­los da­von.

»So eine furcht­ba­re Fa­mi­lie«, mur­melt Kli­on und wen­det sich dann wie­der an uns. »Das, was ich bei euch bei­den ge­se­hen habe, sah viel­ver­spre­chend aus. Isi­da und Atos, ihr wer­det si­cher­lich sehr gute Schü­ler.«

Ich öff­ne die Au­gen und sehe zu­nächst nichts an­de­res als Dun­kel­heit.

Erst lang­sam er­in­ne­re ich mich, dass ich mich in dem Baum­haus be­fin­de, und als ich mich kon­zen­trie­re, kann ich Licht durch ei­ni­ge Rit­zen der Bret­ter­wän­de leuch­ten se­hen. An­schei­nend ist es wie­der Tag, und si­cher­lich wird man mich bald ho­len kom­men.

Ein Lä­cheln brei­tet sich auf mei­nen Lip­pen aus, was ein un­ge­wohn­tes Ge­fühl für mich ist. Nun ken­ne ich end­lich mei­nen Na­men.

Doch die Sa­che mit Ai­ne­as hin­ter­lässt einen bit­te­ren Nach­ge­schmack. Wäre al­les an­ders ge­kom­men, wenn er Krie­ger­schü­ler ge­blie­ben wäre? Ich schät­ze, dass sich die­se Vi­si­on nur we­ni­ge Jah­re vor sei­nem Ver­rat ab­ge­spielt hat. Man hat ihm nicht ein­mal die Chan­ce ge­ge­ben, bes­ser als sein Va­ter zu wer­den, und lang­sam kann ich fast ver­ste­hen, dass Ai­ne­as so grau­sam ge­wor­den ist.

Doch in mei­nem Le­ben schien al­les per­fekt zu lau­fen, war­um also be­fin­de ich mich der­zeit nicht glü­ck­lich in mei­nem ei­ge­nen Clan? Hat es et­was mit dem Be­schluss zu tun, mich mei­ner Freun­din zu­lie­be Amis­has Wi­der­stand an­zu­schlie­ßen?

Ich zie­he die Knie an mei­nen Kör­per her­an und ver­gra­be mein Ge­sicht dar­in. Mein Kopf schwirrt von all den Ge­dan­ken, die mich quä­len. Die­se Stil­le und Dun­kel­heit im fens­ter­lo­sen Baum­haus ma­chen es nicht ge­ra­de bes­ser.

Erst eine ge­fühl­te Ewig­keit spä­ter kann ich end­lich Schrit­te hö­ren, und kurz dar­auf wird die Tür ge­öff­net. Glei­ßen­de Son­nen­strah­len er­hel­len den Raum und er­in­nern mich einen schreck­li­chen Mo­ment lang an die Zeit in der Are­na, kurz vor mei­nen Kämp­fen.

»Komm mit«, be­fiehlt der Krie­ger, den ich nicht ken­ne. Er gleicht den bei­den Män­nern, die ich am Vor­tag ken­nen ge­lernt habe, und ich bin mir si­cher, dass er mir ge­gen­über eben­so feind­se­lig ist.

Ohne et­was zu er­wi­dern, ste­he ich auf und tre­te in die schwü­le Mor­gen­luft. Ich fol­ge dem Mann über meh­re­re Hän­ge­brü­cken, bis wir zu ei­nem gro­ßen Baum­haus ge­lan­gen, das of­fen­sicht­lich das Zen­trum bil­det. Mir ist auf­ge­fal­len, dass die Baum­häu­ser wie ein Ring um die Lich­tung an­ge­ord­net sind, in de­ren Mit­te sich eine La­ger­feu­er­stel­le be­fin­det. Man kann je­des ein­zel­ne Baum­haus über Hän­ge­brü­cken er­rei­chen, ohne hin­un­ter auf den Bo­den zu müs­sen.

Als wir nun den gro­ßen Raum be­tre­ten, ent­de­cke ich so vie­le Men­schen, dass mir so­fort un­wohl wird. Ich ver­su­che, mei­ne Gleich­gül­tig­keit zu­rück­zu­ho­len, doch es will mir nicht ge­lin­gen.

»Setz dich«, sagt eine alte Frau mit hüft­lan­gen Haa­ren, die mit grau­en Sträh­nen durch­zo­gen sind, und deu­tet auf ein Sitz­kis­sen ge­gen­über der Grup­pe, die sich mitt­ler­wei­le eben­falls nie­der­ge­las­sen hat.

Ich möch­te wi­der­spre­chen, doch das wür­de wohl zur Fol­ge ha­ben, dass ich auf mei­ne quä­len­den Fra­gen kei­ne Ant­wor­ten er­hal­te. Also be­fol­ge ich den Be­fehl der Frau und wei­che den vie­len Bli­cken aus, die mich be­ob­ach­ten.

»Nun ver­ra­te uns doch erst mal dei­nen Na­men«, sagt die alte Frau freund­lich, aber ich kann deut­lich er­ken­nen, dass auch sie mir ge­gen­über Miss­trau­en emp­fin­det. Ich bin froh, die­se Fra­ge end­lich be­ant­wor­ten zu kön­nen.

»Atos«, sage ich und muss bei dem Klang mei­nes Na­mens un­will­kür­lich lä­cheln.

»Und, Atos«, sagt die Alte und blickt mich prü­fend an, »du stammst von dem Clan des wei­ßen Hirsches?«

Ich ni­cke und las­se mei­nen Blick über die vie­len feind­se­li­gen Au­gen­paa­re schwei­fen.

»Ich fra­ge mich nur«, sagt die Frau be­tont bei­läu­fig, »wie­so du ent­schie­den hast, dei­nen Clan auf so grau­sa­me Wei­se zu ver­ra­ten.«

Ich zu­cke zu­sam­men und möch­te et­was sa­gen, doch mei­ne Stim­me ver­sagt. Was meint sie da­mit? Das klingt fast so, als ob …

»Mei­nen Clan ver­ra­ten?«, kräch­ze ich und schüt­te­le dann den Kopf. Nein, das kann nicht sein.

»Ja«, ant­wor­tet die Frau kühl. »Es ist nicht zu über­se­hen. Die Un­s­terb­li­chen kön­nen uns nicht mehr täu­schen.«

»Wie bit­te?«, keu­che ich, und mein gan­zer Kör­per ver­krampft sich.

»Gib es doch ein­fach zu.« Die Stim­me der Al­ten ist nun zu ei­nem Fau­chen ge­wor­den. »Du hast dei­nen Clan ver­las­sen, um dich Mo­ri­gan an­zu­schlie­ßen.«

Ka­pi­tel 3

»Nein«, sage ich zer­streut. »Das kann nicht sein.«

Die Men­schen, die mir ge­gen­über­sit­zen, schau­en mich teils ver­wirrt und teils wü­tend an. Die alte Frau da­ge­gen zieht die Au­gen­brau­en hoch und be­ob­ach­tet mich prü­fend. »Du bist nicht wie die an­de­ren«, stellt sie schließ­lich fest. »Du hast et­was … Rast­lo­ses an dir.«

»Ich ge­hö­re nicht zu Mo­ri­gans Clan«, sage ich in­brüns­tig. »Das wür­de be­deu­ten, dass ich un­s­terb­lich wäre.«

Doch als ich dar­über nach­den­ke, er­gibt plötz­lich al­les einen Sinn. Dass ich eine töd­li­che Kopf­ver­let­zung über­lebt habe. Die­se tie­fe Emo­ti­ons­lo­sig­keit, die mich so häu­fig be­fällt. Mein Hun­ger nach Ge­walt und die Fä­hig­keit, es mit je­dem Geg­ner auf­zu­neh­men, ohne je­mals müde zu wer­den. Doch war­um? Wie­so habe ich mich ent­schie­den, mei­nen Clan der­art zu ver­ra­ten? Das wür­de be­deu­ten, dass ich kein Stück bes­ser als Ai­ne­as bin.

Und dann wird mir mit Ent­set­zen klar, dass auch ich eine Per­son, die mich lieb­te, ge­op­fert ha­ben muss. So­fort kommt mir Isi­da in den Sinn und mei­ne El­tern, an die ich mich zu mei­nem Be­dau­ern nicht er­in­nern kann. Ich schüt­te­le un­auf­hör­lich den Kopf und ver­gra­be dann mein Ge­sicht in den Hän­den.