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Der Gladiator Atos hat keinerlei Erinnerungen an sein altes Leben. Als er jedoch die Arena verlässt und auf die Clans der Wildnis stößt, gerät er unfreiwillig in Machtkämpfe und Intrigen, während seine düstere Vergangenheit ihn einholt. Atos erfährt Dinge über sich, die er lieber nicht gewusst hätte - aber gleichzeitig wird ihm klar, dass das Schicksal aller Clans auch in seinen Händen liegt. Gemeinsam mit Amishas Widerstand bereitet er sich auf den letzten und entscheidenden Kampf gegen Morigan vor...
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Impressum
1. Auflage 2022Copyright © 2022 Delia GolzISBN: 9783740704902TWENTYSIX – der Self-Publishing-VerlagEine Kooperation zwischen der VerlagsgruppeRandom House und BoD – Books on Demand
Umschlaggestaltung: Sabine Pöstinger,inspirited books Grafikdesign
Lektorat/Korrektorat: Malin Golz
Bildnachweis: stock.adobe.com
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
Alle Rechte vorbehalten. Das vorliegende Werk darf weder in seiner Gesamtheit noch in seinen Teilen ohne vorherige schriftliche Zustimmung der Rechteinhaber in welcher Form auch immer veröffentlicht werden. Das betrifft insbesondere jedoch nicht ausschließlich elektronische, mechanische, physische, audiovisuelle oder anderweitige Reproduktion oder Speicherung und/oder Übertragung des Werkes sowie Übersetzungen. Davon ausgenommen sind kurze Auszüge, die zum Zwecke der Rezension entnommen werden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.
Delia Golz liebt es schon seit ihrer Kindheit, sich Geschichten auszudenken und eigene Welten zu erschaffen. Mit der Veröffentlichung der High-Fantasy-Trilogie »Die Clans der Wildnis« hat sie sich einen lang ersehnten Traum erfüllt. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Katzen in der Nähe von Köln. In ihrer Freizeit liebt sie Fahrradtouren durch die Natur, Reisen und das Bogenschießen.
Ich sitze abseits von den spielenden Kindern und zeichne mit dem Finger Muster in den sandigen Boden. Immer wieder hebe ich den Blick und beobachte sehnsüchtig meine Altersgenossen, traue mich jedoch nicht, zu ihnen zu gehen.
Plötzlich höre ich ein spöttisches Lachen hinter mir und im nächsten Moment wird mein kleines Kunstwerk zerstört. Empört schaue ich auf und blicke geradewegs in Aineas’ gemein grinsendes Gesicht.
»Warum hast du das getan?«, frage ich wütend und rappele mich auf. Obwohl wir im gleichen Alter sind, überragt er mich um eine Handbreit.
»Weil es mir Spaß macht«, sagt Aineas bloß hämisch und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Lass gefälligst Atos in Ruhe«, höre ich dann eine vertraute Stimme neben uns und kann im Augenwinkel einen rotblonden Haarschopf aufleuchten sehen.
Aineas und ich drehen uns gleichzeitig um, und ich atme erleichtert auf, als ich meine Freundin Isida erkenne. Sie funkelt Aineas streitlustig an, doch dieser lacht bloß amüsiert auf.
»Wie niedlich, dass Atos sich von einem Mädchen helfen lassen muss.« Im nächsten Moment macht er einen Satz nach vorne und stößt Isida hart zu Boden.
Wut steigt in mir auf und ich stürze mich, ohne weiter nachzudenken, auf ihn. Gemeinsam fallen wir zu Boden und jeder von uns versucht, die Oberhand zu gewinnen. Aineas schafft es einmal, mir seine Faust ins Gesicht zu rammen, doch plötzlich wird er jäh von mir heruntergerissen.
Keuchend setze ich mich auf und registriere etwas benommen, dass sich Aineas’ Vater mit vor Zorn gerötetem Gesicht vor seinem Sohn aufgebaut hat.
»Du Nichtsnutz!«, brüllt er, woraufhin der Junge einen Schritt zurückweicht. Doch sein Vater ist noch nicht fertig. »Dass du es nötig hast, dich mit unwürdigen Gegnern zu prügeln«, knurrt er und packt seinen Sohn fest am Kragen.
Aineas atmet hektisch und scheint große Angst zu haben. Mit einem Mal habe ich Mitleid mit ihm und würde am liebsten eingreifen, doch ich kann mich nicht rühren.
Im nächsten Moment verpasst der Mann seinem Sohn eine schallende Ohrfeige. Entsetzt schlage ich mir die Hand vor den Mund, während Aineas völlig bewegungslos dasteht und sich mit glasigen Augen die Wange hält.
»Ich hoffe, das war dir eine Lehre«, sagt sein Vater mit plötzlich samtweicher Stimme. Er legt den Kopf schief und betrachtet seinen Sohn, der voller Furcht zu seinem Vater aufschaut.
Nachdem der Mann ein letztes Mal mit dem Kopf geschüttelt hat, dreht er sich um und entfernt sich mit schweren Schritten von uns. Isida und ich tauschen einen bestürzten Blick aus und beobachten dann Aineas, wie er langsam zu sich kommt. Er schwankt kurz und scheint einen Augenblick zu brauchen, um sich zu fangen. Doch dann dreht er sich langsam zu uns um, und sein Blick ist so voller Hass, dass ich zusammenzucke.
»Das werdet ihr bereuen«, sagt er leise und bewegt sich dann mit zittrigen Schritten in die Richtung, in der sich unser Nebenlager befindet.
Erst als er verschwunden ist, laufe ich zu Isida, die noch immer dort sitzt, wo Aineas sie zu Boden gestoßen hat. Schweigend nehmen wir uns an den Händen und trotten tiefer in den Wald hinein. Obwohl der Frühling bereits weit fortgeschritten ist, ist der Boden von Frost überzogen. Trotzdem frieren wir nicht, denn wir sind die Kälte gewöhnt.
»Das eben…«, beginne ich zögerlich, aber Isida schüttelt schnell den Kopf. »Lass uns nicht darüber reden.«
Daraufhin breitet sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. »Lass uns Fangen spielen«, sagt sie fröhlich, und mit einem Mal ist der Vorfall mit Aineas vergessen.
Lachend tollen wir durch das Unterholz und springen über schmale Bäche. Überglücklich laufe ich hinter meiner Freundin her und weiß, dass mein Leben wundervoll ist.
Mit festen Schritten gehe ich den nur schummrig beleuchtenden Gang entlang, während das Geräusch von tosendem Applaus immer näher kommt.
Dann bleibe ich schließlich vor dem Ausgang stehen und warte, dass es beginnt. Ein letztes Mal schließe ich meine Augen, konzentriere mich auf meine Atmung und taste nach der Waffe an meiner Seite. Es ist bloß ein Schwert, denn noch habe ich nicht genug Berühmtheit erlangt, um gefährlichere Waffen gebrauchen zu dürfen.
Und dann kündigt endlich ein lautes Knarren an, dass sich die Klappe öffnet. Gleißendes Licht fällt auf mein Gesicht und macht mich einen Augenblick lang blind.
Als ich die ersten Schritte in die Arena mache, schwillt der Applaus zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Kurz steigt Nervosität in mir auf, doch als ich das Schwert ziehe und meinen Gegner ins Visier nehme, wird es von einer Mischung aus Blutdurst und blinder Wut ersetzt. Langsam gehe ich auf den muskelbepackten Mann zu, der mich mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen ansieht.
»Was haben sie denn da für einen mickrigen Burschen geschickt?«, fragt er provokant und verfällt dann in schallendes Gelächter.
Wütend fletsche ich die Zähne und dann gibt es kein Halten mehr. Blitzschnell hebe ich mein Schwert und stürze mich auf den Hünen, der meinen Hieb nur mit Mühe parieren kann. Die Klinge prallt an seiner Streitaxt ab und überrascht taumelt er zurück. Nur am Rande bekomme ich mit, wie das Publikum tobt, denn nun bin ich völlig in meinem Rausch gefangen.
Ich gebe dem Gegner nicht die Gelegenheit, sich zu erholen, und stürze mich sofort wieder auf ihn. Meine Hiebe gehen so gezielt und voller Kraft, dass ich es mehrmals schaffe, meinem Gegenüber Verletzungen zuzufügen. Ich bemerke, dass sich auf seiner Stirn Schweißperlen bilden, während das Blut aus seinen Wunden heraussprudelt. Ich kann jedes Detail gestochen scharf sehen.
Mittlerweile werden die Bewegungen des Hünen langsamer und unbeholfener, doch ich spüre keinen Triumph. Genau genommen spüre ich nichts als Kälte und blinden Hass.
Im nächsten Moment hole ich aus und stoße mein Schwert mit einem lauten Brüllen mitten in das Herz meines Gegners. Kurz ist in seinen Augen bloß Überraschung zu lesen, bis diese sich in pures Entsetzen verwandelt – er hat begriffen, dass er nun sterben wird.
Die Menge fällt in einen begeisterten Applaus, während ich mit einem leichten Lächeln die letzten gurgelnden Atemzüge des Mannes beobachte. Dann bricht er zusammen und bleibt völlig reglos am Boden liegen.
Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, in der ich nur dastehe und die Leiche anstarre. Weshalb spüre ich nichts? Kein Bedauern, kein Mitleid und auch keinen Triumph. Fast schon angeekelt wende ich mich schließlich von ihm ab und bekomme nur am Rande mit, dass ein Mann angelaufen kommt, um meinen Sieg zu verkünden. Ich lasse abwesend meinen Blick über die Menge gleiten, die mich bewundernd anblickt und sich schon auf den nächsten Kampf freut.
Dann werde ich zurück in meinen Käfig geführt und dabei in Ketten gelegt wie ein wildes Tier. Verschiedene Menschen, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen, klopfen mir beim Vorbeigehen auf die Schulter.
Plötzlich werde ich unsanft zu Boden gestoßen. Ich bleibe einfach liegen und starre an die graue Decke. Ob sich wohl so der Tod anfühlt?
»Du hast also überlebt«, höre ich eine knurrende Stimme aus dem Käfig neben mir. Langsam drehe ich den Kopf und schaue völlig ausdruckslos den Mann an, der mich aus dunklen Augen betrachtet.
»Hätte ich nicht gedacht«, sagt er gehässig. »Du bist doch fast noch ein Junge. Und mickrig noch dazu.«
Ich spare mir eine Antwort und wende den Blick wieder gegen die Decke. Solche Bemerkungen höre ich immer wieder, seit ich in die Arena als Gladiator verkauft wurde. Das Seltsame ist, dass ich mich nicht an meine Vergangenheit erinnern kann. Selbst meinen Namen weiß ich nicht mehr.
Mein Leben besteht nur noch aus Gewalt und dieser furchtbaren Leere, die ich einfach nicht vertreiben kann.
Wir sitzen gemeinsam auf einem Baumstamm am Rande einer Schlucht und beobachten, wie die Sonne am Horizont untergeht. Es sieht so aus, als würde der Himmel Feuer fangen, und dieser Anblick jagt mir eine wohlige Gänsehaut über den Rücken.
Doch möglicherweise könnte das auch an meiner Freundin liegen, die dicht neben mir sitzt. Am liebsten würde ich den Arm um sie legen, aber ich traue mich nicht.
»Hast du auch davon gehört?«, fragt sie mit ihrer melodischen Stimme.
»Was meinst du?«, frage ich und drehe den Kopf zu ihr. Sofort schießt mir die Röte in die Wangen, als ich in ihre wundervollen moosgrünen Augen blicke.
»Die Sache mit der Kriegerin Amisha. Sie gehörte zum Clan des schnellen Leoparden und soll ihre Seele ebenfalls an einen mächtigen Dämon verkauft haben. Nun geht das Gerücht um, dass sie einen Widerstand gegen Morigan plant.«
»Ja, davon habe ich auch gehört«, erwidere ich nachdenklich. Dass mir die ganze Sache nicht besonders vertrauenswürdig vorkommt, verschweige ich jedoch.
Plötzlich springt meine Freundin auf und blickt mich mit aufgeregt funkelnden Augen an. »Was hältst du davon, wenn wir uns ihr anschließen?«
Verdutzt blicke ich zu ihr auf und schüttele dann langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Sind wir dafür nicht noch viel zu jung?«
Empört verschränkt sie die Arme. »Wir sind doch beide schon sechzehn Jahre alt. Wir sind längst keine Kinder mehr.«
Ich seufze schwer und überlege fieberhaft, wie ich ihr diese Idee ausreden kann. Doch dann zieht mich meine Freundin auf die Beine und verschränkt ihre Arme hinter meinem Nacken. Sofort fängt mein Herz wie wild an zu schlagen, als ich ihr Gesicht so nah vor meinem sehe und den blumigen Duft ihrer Haare wahrnehme.
»Das wäre ein unglaubliches Abenteuer«, sagt meine Freundin lächelnd.
Ich halte erschrocken die Luft an, als sie mich ganz nah zu sich zieht und mir einen sanften Kuss auf die Lippen haucht. Als sie dann einen Schritt zurück geht und mich anblickt, kann ich sie bloß mit weit aufgerissenen Augen anschauen.
»Ich … ähm …«, stammele ich und würde mir dafür am liebsten selbst einen Tritt geben.
»Tu es für mich«, sagt meine Freundin leise und streicht sich eine ihrer rotblonden Haarsträhnen hinter das Ohr.
Als ich sie so anblicke, weiß ich mit einem Mal, dass ich ihr nichts abschlagen kann.
»Na gut«, sage ich deswegen entschlossen. »Schließen wir uns ihr an!«
Keuchend reiße ich die Augen auf und setze mich ruckartig auf. Langsam finde ich meine Orientierung wieder und begreife, dass ich zurück in meinen Käfig gesperrt wurde. Dutzende andere Männer befinden sich ebenfalls in diesem Raum, und die Luft ist von lautem Schnarchen erfüllt.
Verwirrt reibe ich mir die Augen und bemerke, dass mir ein seltsames Gefühl in den Knochen steckt – das Gefühl von Glück gepaart mit Furcht. Dass ich zu solchen Emotionen fähig bin, wundert mich zutiefst.
Doch was war das überhaupt? Ein Traum oder sogar eine Erinnerung? Wenn ich an dieses Mädchen zurückdenke, bin ich mir sicher, dass ich es kenne. Zudem war es meine eigene Stimme, mit der ich gesprochen habe. Aber warum kann ich mich an all dies nicht von allein erinnern oder die Zusammenhänge verstehen?
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich das erste Mal, seit ich in die Arena verkauft wurde, richtig geschlafen habe. Dennoch kehrt nun wieder diese unendliche Leere in mein Inneres ein, und ich nehme sie fast schon erleichtert in Empfang. Die Frage, was nicht mit mir stimmt, verschwindet trotzdem nicht aus meinem Kopf.
Nebeneinander aufgereiht und in Ketten gelegt sitze ich zusammen mit den anderen Gladiatoren auf dem Forum. Wir dienen bloß zur Unterhaltung, damit die Menschen uns begaffen und abschätzen können.
Vor allem Männer, die regelmäßig Wetten über die Kämpfe abschließen, betrachten uns prüfend. Dabei bleiben ihre Augen oft besonders lange an mir hängen und sie wirken direkt interessierter.
»Ich habe ihn einmal kämpfen sehen«, höre ich einmal einen zu seinem Begleiter flüstern. »Auch wenn er nicht so aussieht, ist er ein beeindruckender Krieger.«
Mich lassen diese Gespräche kalt und ich blicke bloß desinteressiert in die Ferne. Dabei kommt mir immer wieder diese rätselhafte Vision in den Sinn und dieses Mädchen, das es irgendwie schafft, so etwas wie Gefühle in mir zu wecken.
Was habe ich damals für ein Leben geführt und wann ist es so außer Kontrolle geraten, dass ich hier geendet bin?
Irgendwann bleiben zwei junge Frauen vor mir stehen und tuscheln einander aufgeregt etwas zu. Doch ich kann jedes Wort von ihnen verstehen. »Schau dir diesen Körper an«, sagt die eine schwärmerisch.
Die anderen Männer und ich tragen bloß Hosen, damit man unsere Kraft besser einschätzen kann. Langsam steigt Wut in mir auf und ich balle unauffällig die Fäuste. Als die beiden Frauen meinen Blick auffangen, in den ich meinen ganzen Hass stecke, können sie plötzlich nicht schnell genug von mir wegkommen.
Als sie endlich verschwunden sind, verschränke ich die Arme und lehne mich gegen die Mauer, an die wir angekettet worden sind. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke in den strahlend blauen Himmel, der keinerlei Emotionen in mir weckt. Die Menschen um mich herum blende ich erfolgreich aus und versinke in meinen Gedanken.
»Du da, Bursche«, höre ich plötzlich eine Männerstimme und weiß sofort, dass sie an mich gerichtet ist.
Langsam senke ich den Kopf und blicke den bärtigen Mann, der vor mir steht, mit ausdrucksloser Miene an.
»Wie bist du in der Arena gelandet?«, fragt er nun und betrachtet mich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ich zucke bloß mit den Schultern und spare mir eine Antwort. Ein Gespräch ist momentan das Letzte, worauf ich Lust habe. Der Mann lässt jedoch nicht locker.
»Du stammst von einem der Clans«, sagt er und mit einem Mal ist mein Interesse doch geweckt.
»Wie meinst du das?«, frage ich. Meine Stimme fühlt sich eingerostet an, denn ich habe schon lange kein Wort mehr gesprochen.
»Ich erkenne es sofort an deinem Aussehen«, sagt der Fremde und betrachtet mich prüfend. »Weißblondes Haar, helle Haut und ein schmaler Körperbau. Ohne Zweifel stammst du vom Clan des weißen Hirsches. Nur deine Augen sind ein wenig dunkler als üblich.«
Einen Moment lang starre ich ihn bloß sprachlos an, bis ich gehässig den Kopf schüttle. »Du hast doch keine Ahnung. Woher soll ein Stadtmensch das so genau wissen?«
»Ich bin ein reisender Händler«, erklärt der Mann und wirkt nicht beleidigt über meine schroffen Worte. »Ich habe viel mit den Clans zu tun und eure Merkmale sind wirklich einzigartig.«
Eure Merkmale. Wie kann er sich so sicher sein? Ist da vielleicht wirklich etwas Wahres dran? Erst jetzt fällt mir auf, dass ich über die Clans Bescheid weiß, ohne mich an irgendetwas aus meiner Vergangenheit zu erinnern.
Und ich weiß plötzlich, dass der Händler recht hat. Verwundert betrachte ich meine Hände, die deutlich blasser sind als die der Menschen um mich herum. Dann reiße ich mir ein Haar aus und betrachte es in der Sonne. Es ist beinahe schneeweiß. Mit großen Augen blicke ich zu dem Händler auf, der nun zufrieden wirkt.
Dann runzelt er jedoch nachdenklich die Stirn. »Wie kommt es, dass du dich nicht erinnern kannst? Wurdest du als kleines Kind entführt?«
Ich schüttele gedankenverloren den Kopf und denke an die Vision zurück. Wenn das wirklich ein Ausschnitt aus meinem Leben gewesen ist, war ich dort schon sechzehn Jahre alt. Und die Szene hat sich eindeutig in einem Clanrevier abgespielt.
»Nein«, sage ich knapp und begreife, dass ich mit diesem fremden Mann nicht weiter darüber reden möchte.
Also verschränke ich wieder abweisend die Arme vor der Brust und blicke ihn kühl an. Beschwichtigend hebt er die Hände, und plötzlich tritt ein Ausdruck von Furcht in seine Augen.
»Du … bist …«, stammelt er und macht einen Schritt zurück.
Ich merke, dass nun auch die Blicke anderer Menschen auf mir ruhen und ziehe verwirrt die Augenbrauen zusammen. Was hat dieser plötzliche Stimmungswechsel zu bedeuten? Der Händler schaut mich noch ein letztes Mal abwertend an und verschwindet dann in der Menschenmenge.
Die nächsten Stunden, in denen wir in der sengenden Hitze sitzen, kann ich nur noch an diese Begegnung denken. Was hat der Mann in mir gesehen, das ihn so erschreckt hat? Während wir in dem vergitterten Karren zurück in die Arena gefahren werden, spüre ich, dass ich von den anderen Gladiatoren immer wieder verstohlen betrachtet werde.
»Ich hoffe, mit dir werde ich mich noch anlegen können«, höre ich dann eine dunkle Stimme.
Mein Blick verfinstert sich und ich presse meine Lippen aufeinander. Hier an diesem Ort muss ich mich zusammenreißen.
Schließlich kommt der Wagen zum Stehen und ich bin fast schon erleichtert, als wir an unseren Ketten herausgezerrt werden. Ich weiß, dass morgen erneut ein Kampf stattfindet, und dass ich dieses Mal gegen mehrere Gegner kämpfen werde. Ich kann es kaum erwarten und denke schon jetzt an all das Blut und die schmerzverzerrten Gesichter meiner Opfer.
Niemand von ihnen wird auch nur eine geringe Chance gegen mich haben.
Der Morgen verläuft sehr hektisch. Ständig huschen Sklaven an meinem Käfig vorbei, um die Waffen zu schärfen und sie den richtigen Gladiatoren zuzuteilen. Ich weiß, dass dieser Kampf etwas Besonderes ist, da diesmal sogar Menschen aus anderen Städten angereist kommen und wilde Tiere als Gegner hergeschafft werden. Es ist mir gleich, gegen wen ich kämpfen muss, solange ich endlich wieder mein Verlangen nach Gewalt stillen kann.
Mir wird eine Schüssel mit Wasser hingestellt, und als ich nach unten blicke, bemerke ich, dass ich mich in der Oberfläche leicht spiegele. Sofort hocke ich mich hin und gehe mit meinem Gesicht ganz nah an die Wasseroberfläche.
Tatsächlich – ich sehe genau so aus, wie der Händler mich beschrieben hat: helle Haut, weißblondes Haar und dunkelgraue Augen. Offensichtlich bin ich noch sehr jung und ich frage mich, ob sich meine Vision sogar erst vor Kurzem abgespielt hat.
Nachdenklich betrachte ich mein ernst aussehendes Gesicht. Es ist fast so, als würde ich einen Fremden ansehen, und plötzlich habe ich den Drang, die Wasserschüssel umzustoßen. Mit einem lauten Scheppern fällt sie gegen die eisernen Gitterstäbe und zerbricht in viele kleine Teile.
»Neues Wasser wirst du nicht bekommen«, höre ich die wütende Stimme eines Mannes, der gerade dabei ist, einen der Kämpfer aus seinem Käfig zu holen.
Grimmig blicke ich ihn an und hoffe, bald selbst an der Reihe zu sein. Doch ich muss noch eine gefühlte Ewigkeit warten, bis der Mann schließlich vor meinem Käfig auftaucht.
»Du bist dran«, sagt er überflüssigerweise, ehe er die Tür öffnet und mir die Ketten anlegt.
Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus und sofort kann ich die Leute, die mich beobachten, tuscheln hören. Bei einem Blick in die anderen Käfige stelle ich fest, dass der Mann, welcher mich am Tag zuvor noch herausfordern wollte, nicht mehr da ist. Entweder wurde er schon umgebracht oder wartet als Gegner auf mich.
Wieder werde ich durch den mittlerweile vertrauten schummrigen Gang geführt und das erste Mal vor einem Kampf toben die Gefühle in mir. Doch statt Furcht ist es pure Vorfreude.
Als die Klappe diesmal hochgelassen wird, stürme ich sofort los und registriere nebenbei meine Gegner. Es sind noch mehr, als ich erwartet habe. Ein Dutzend Männer mit den verschiedensten Waffen geht aufeinander los, und schon jetzt ist der Boden blutgetränkt. Meine Begeisterung könnte nicht größer sein.
Ich stürze mich auf den nächstbesten Gegner, einen stämmigen Mann mittleren Alters, der zwei Dolche in der Hand hält, und reiße ihn zu Boden. Erst jetzt fällt mir auf, dass mir keine Waffe gegeben wurde, doch ich weiß, dass mir das nicht im Weg stehen wird. Offensichtlich sind meine Nahkampftechniken gut ausgeprägt, denn ich weiß instinktiv, was zu tun ist.
Während der Mann versucht, sich zu wehren, packe ich sein Genick und breche es mit einer schnellen, sauberen Bewegung. Ich kann die Begeisterung des Publikums über dieses Gemetzel hören, und am Rande bekomme ich mit, dass immer wieder neue Gladiatoren in die Arena geschickt werden, um das Blutbad am Laufen zu halten.
Ich lasse den toten Gegner, nachdem ich mir die Dolche genommen habe, achtlos fallen und gehe auf den nächsten Mann los. Er pariert tapfer meine Hiebe, aber schafft es dennoch nicht, gegen mich anzukommen. Ich ramme ihm einen der Dolche in den Hals und stoße ihn dann mit einem kräftigen Tritt von mir.
Er reißt die Augen weit auf und presst sich die Hand auf die Wunde. Doch das hilft ihm nicht.
Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus und verwandelt sich schließlich in ein begeistertes Lachen. Mit ausgestreckten Armen drehe ich mich im Kreis und genieße den Anblick von roher Gewalt. Ich kann ein paar verstörte Blicke auf mir spüren, doch es macht mich sogar noch glücklicher. Wann habe ich mich das letzte Mal so lebendig gefühlt?
Zu spät bemerke ich, dass ein Mann auf mich zugelaufen kommt und mich dann hart zu Boden stößt.
Und mit einem Mal ändert sich die Realität.
Ich keuche erschrocken auf, als mich jemand heftig von hinten schubst und ich auf den moosbedeckten Waldboden falle. Schnell drehe ich mich um und blicke geradewegs in Aineas’ triumphierend lächelndes Gesicht.
Doch mir fällt sofort sein grauenvoller Zustand auf. Sein ganzes Gesicht ist mit Blutergüssen übersät und ein Auge ist stark angeschwollen. Seine Arme sind voller Wunden und die Hose ist an manchen Stellen zerrissen. Meine Wut wandelt sich sofort in Entsetzen und Mitleid.
»Was ist passiert?«, frage ich, während ich mich aufrappele.
Aineas wirkt einen Moment lang über meine Reaktion verunsichert. Sein Mund öffnet und schließt sich wieder, so als wäre er kurz davor, mir alles zu erzählen. Doch dann verdunkelt sich seine Miene und er gibt mir einen weiteren Schubs.
Diesmal bin ich vorbereitet und kann mich auf den Beinen halten. Ich versuche, wieder Wut zu verspüren, aber es gelingt mir nicht.
»Wir müssen etwas dagegen unternehmen«, sage ich und balle die Hände zu Fäusten.
Aineas lacht jedoch nur und blickt mich dann herablassend an. »Halt den Mund«, sagt er gefährlich leise und geht einen Schritt auf mich zu.
Voller Entsetzen sehe ich eine Klinge in seiner Hand aufblitzen. Nun spüre ich doch Angst vor diesem unberechenbaren Jungen. Er hat mir schon oft weh getan, aber noch nie hat er mich derart bedroht.
»Aineas«, sage ich beschwichtigend und gehe vorsichtig einen Schritt zurück. »Ich kann dir helfen. Wir können dafür sorgen, dass du in einem anderen Lager leben darfst.«
Das waren offensichtlich die falschen Worte, denn sein Gesicht verzerrt sich vor Wut und Schmerz. »Es ist zu spät«, sagt er durch zusammengebissene Zähne und hebt den Dolch.
Plötzlich verändert sich die Umgebung und ich befinde mich allein im Wald. Eine tiefe Dunkelheit umgibt mich und Aineas ist verschwunden.
Instinktiv weiß ich, dass es die Nacht nach dem Vorfall ist und ich einer Gestalt heimlich aus dem Lager gefolgt bin. Dann habe ich jedoch ihre Spur verloren und irre nun rastlos herum. Ich kenne mich hier gut aus und muss keine Angst haben, mich zu verirren; doch ich bin noch nicht bereit, in das Lager zurückzukehren.
Plötzlich schrecke ich wegen eines spitzen Schreis zusammen, der aus einiger Entfernung zu mir dringt. Ohne nachzudenken laufe ich in diese Richtung und muss mich schon bald durch dichtes, mit Frost überzogenes Dickicht kämpfen. Obwohl meine Ausdauer gut trainiert ist, fange ich schon bald vor Anstrengung an zu keuchen. Oder ist es die Aufregung? Je weiter ich in den dunklen Wald vordringe, desto größer wird die Furcht, die mich mit kalten Fingern packt.
Und dann kann ich plötzlich im schwachen Mondlicht eine Gestalt erkennen, die sich über etwas am Boden beugt. Beim Näherkommen weiß ich, dass es sich um Aineas handelt, der mit seinem Dolch einen bewegungslosen Körper bearbeitet. Ich halte mir erschrocken die Hand vor den Mund und muss die Übelkeit unterdrücken, als mir klar wird, dass es sich um die Leiche eines Menschen handelt.
Während ich einen Schritt zurückweiche, trete ich versehentlich auf einen Ast, und sofort schnellt Aineas’ Kopf in meine Richtung.
»Du schon wieder«, knurrt er und kommt dann mit langsamen Schritten auf mich zu.
Er hält irgendein klumpiges Etwas in der Hand, doch ich kann nicht erkennen, worum es sich handelt. Wenigstens hat er den Dolch liegen lassen. Ich taumele rückwärts, aber weiß, dass ich nicht weglaufen kann, selbst wenn meine Beine mir gehorchen würden.
»Bist du mir etwa gefolgt?«, fragt Aineas lauernd. Sein Gesicht ist blutverschmiert und wirkt im Mondlicht beinahe dämonisch.
»Ich wusste nicht, dass du es bist«, stammele ich und blicke auf den Gegenstand in seiner Hand. Plötzlich wird mir mit Grauen klar, worum es sich handelt.
Als Aineas meine vor Schreck aufgerissenen Augen sieht, breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
»Es gehört meiner Mutter«, sagt er betont beiläufig und beobachtet genüsslich mein wachsendes Entsetzen. »Sie war einverstanden, sich mit mir zu treffen. Offensichtlich hatte sie doch ein schlechtes Gewissen, mit diesem Widerling in die Stadt gegangen zu sein und mich hier zurückzulassen.«
Plötzlich verschwindet das Grinsen aus seinem Gesicht, und ich kann einen Anflug von unterdrücktem Schmerz erkennen. »Keine Ahnung, ob ihr Herz mir etwas bringen wird. Ob sie mich wirklich geliebt hat. Doch was bleibt mir anderes übrig? Sie ist der einzige Mensch, der infrage käme.«
Er fängt wie verrückt an zu lachen, während ihm Tränen die Wangen herunterlaufen. Es endet in einem Schluchzen, und ich kann sehen, dass er das Herz seiner Mutter fest umklammert hält, während ihm das Blut den Arm herunterläuft. In mir toben die Gefühle, und ich weiß nicht, ob ich weglaufen oder auf Aineas zugehen soll.
»Bitte tu das nicht«, presse ich schließlich hervor. »Schließ dich nicht Morigan an.«
Kurz blickt er mich sprachlos an, doch dann fängt er wieder an zu lachen. »Du hast wirklich nichts begriffen«, sagt er kopfschüttelnd. »Ich will es doch. Es ist der einzige Ort, wo ich hingehöre.«
Kurz kann ich Bedauern in seinen Augen aufflackern sehen, aber so schnell, wie es gekommen ist, verschwindet es auch wieder.
»Und nun geh«, sagt er mit finsterem Blick. »Sonst wirst du der Nächste sein. Ich habe dich heute schon einmal verschont und das wird nicht noch einmal passieren.«
Ich weiß sofort, dass er es ernst meint, und werfe ihm einen letzten traurigen Blick zu. Dann wirbele ich herum und laufe so schnell ich kann in das Lager zurück.
Ein Schrei dringt aus meiner Kehle, als ich mich mit einem unbarmherzigen Ruck wieder in der Gegenwart befinde. Es scheint kaum Zeit vergangen zu sein, denn das Gemetzel um mich herum ist noch immer in vollem Gange.
Stöhnend rappele ich mich auf und fühle mich unendlich erschöpft. Meine Gegner haben noch nicht bemerkt, dass ich noch lebe. Es sind nicht mehr so viele übrig wie zuvor, und offensichtlich werden keine neuen Männer mehr dazugeschickt.
Mir ist klar, dass ich es nun zu Ende bringen muss, auch wenn von meinem vorherigen Rausch nichts mehr zu spüren ist. Schwankend greife ich nach der nächstbesten Waffe, einem langen Schwert, und gehe auf meinen ersten Gegner zu. Er hat mich noch nicht bemerkt und so ist es mir ein Leichtes, die Klinge von hinten durch sein Herz zu stoßen.
Nun wirbeln die restlichen fünf Männer zu mir herum, und im nächsten Moment bin ich von Gegnern umringt. Verbissen kämpfe ich gegen sie an, doch ich bin nicht ganz bei der Sache. Brüllend fuchtele ich mit dem Schwert und schaffe es, einen weiteren Mann umzubringen. Zwei andere sind in einem Kampf gegeneinander verwickelt, während die übrigen beiden es auf mich abgesehen haben.
Langsam kehrt meine Energie zurück und allmählich macht mir das Gemetzel wieder Spaß. Mit fließenden Bewegungen strecke ich beide Männer auf einmal nieder und stürze mich dann auf meinen letzten Gegner, der soeben seinem Widersacher einen Dolch in die Brust gestoßen hat. Der große, muskulöse Mann wirkt unendlich brutal und scheint ebenso Spaß am Töten zu haben wie ich. Als er mich entdeckt, verzieht sich sein Mund zu einem breiten Grinsen.
»Nun gibt es wohl nur noch uns beide«, sagt er beinahe schon sanft und leckt sich über die mit Blut benetzten Lippen.
Wir umkreisen uns lauernd, während er seinen gefährlich blitzenden Morgenstern schwingt. Das Publikum scheint den Atem anzuhalten, denn kaum ein Laut ist zu hören. Und dann laufe ich auf meinen Gegner zu, während ich flink seinem Angriff ausweiche. Mir wird sofort klar, dass er zwar stark, aber dafür sehr langsam ist.
Ich lächele triumphierend und umrunde seinen mächtigen Körper so schnell, dass er nicht hinterherkommt. Dann springe ich mit einem Satz auf seinen Rücken und umklammere den bulligen Hals. Das Schwert habe ich fallen gelassen, denn es dürstet mich danach, ihn mit bloßen Händen zu töten. Soll die Menge etwas zu sehen bekommen. Der Mann dreht sich vor Wut brüllend um seine eigene Achse, doch schafft es nicht, mich abzuschütteln, während ich ihm erbarmungslos die Luft abschnüre. Sein Atem geht immer röchelnder und schließlich lässt er sich zu Boden fallen, sodass er mich unter seinem mächtigen Körper begräbt.
Aber ich lasse mich dadurch nicht aufhalten. Die Bewegungen des Mannes werden immer schwächer und seine Arme fangen an zu zucken, bis sie schließlich erschlaffen. Ich lasse noch nicht los, bis ich mir ganz sicher bin, dass er nicht mehr am Leben ist. Nun schwillt der Applaus der Menge wieder an, doch ich bin mir sicher, dass er ein wenig zögerlicher ist als sonst.
Mit grimmiger Miene klopfe ich mir den Staub von der Kleidung und warte nicht darauf, dass mich jemand abholt. Die Klappe öffnet sich, als ich davor stehen bleibe, und mit festen Schritten gehe ich zurück zu meinem Käfig. Wieder kann ich viele Blicke auf mir spüren, doch ich will nichts anderes als meine Ruhe haben – bis zum nächsten Kampf, denn der Tag ist noch nicht vorbei.
Mir wird eine Stunde gegönnt, in der ich nichts anderes mache als zu grübeln, bis ich wieder abgeholt werde. Diesmal befinden sich nur zwei weitere Gladiatoren in der Arena, aber wir werden nicht aufeinander losgelassen. Auf irgendetwas warten wir noch, und das lässt mich langsam unruhig werden. Was für eine Überraschung könnte auf uns zukommen?
Mein ganzer Körper versteift sich, als eine weitere Klappe geöffnet und das Geheimnis gelüftet wird. Ich fange an zu zittern, während ich die drei Leoparden beobachte, die etwas unsicher in die Arena pirschen.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich sie an und bemerke, dass sich auch ihre Blicke auf mich richten. Ganz ohne Aggressivität ruhen sie auf mir, und ich weiß mit einem Mal, dass ich das nicht kann. Ich kann sie auf keinen Fall töten.
Mir und den anderen beiden Männern werden Speere in die Hand gedrückt, doch ich bekomme es kaum mit. Jede Faser meines Körpers sträubt sich dagegen, ein Krafttier zu töten. Wieder weiß ich instinktiv, dass das gegen meine Natur geht und ich mir das niemals verzeihen könnte.
Dann wird das Signal gegeben, dass der Kampf beginnt. Die Leoparden weichen fauchend zurück, als die Männer mit erhobenen Speeren auf sie zugehen. Ich kann nichts weiter tun, als sie stumm und voller Entsetzen anzuschauen. Männer brüllen mir Befehle zu, aber ich bin nicht in der Lage, sie zu befolgen. Schließlich werden die Raubkatzen so sehr in Bedrängnis gebracht, dass ihnen nur noch der Angriff bleibt.
Wie in Trance beobachte ich, wie sie sich auf die Männer stürzen und sich in ihren Gliedmaßen verbeißen. Ich zucke zusammen, als der erste Leopard niedergestreckt wird, und mache unwillkürlich einen Schritt auf das Geschehen zu.
Weshalb gehorcht mein Körper mir nicht mehr? Ich möchte gegen die Männer kämpfen, die Leoparden beschützen. Das schmerzerfüllte Jaulen der Raubkatzen geht mir durch Mark und Bein.
Dann schaffe ich es endlich, mich zu bewegen. Mit einem wütenden Brüllen stoße ich den ersten Mann auf Seite, der soeben versucht hat, seinen Speer in den nächsten Leoparden zu rammen. Er taumelt, fällt jedoch nicht hin und dreht sich schließlich wütend funkelnd zu mir.
»Hast du ein Problem?«, fährt er mich an und erhebt dann seine Waffe gegen mich. »Die Leoparden sind zuerst dran!«, brüllt er und sticht nach mir.
Meine Bewegungen sind seltsam lahm, und so schaffe ich es nur knapp, auszuweichen. Irgendetwas läuft hier entsetzlich falsch; ich kann mir nicht erklären, warum ich mich so benommen fühle. Wieder weiche ich nur knapp dem Speer aus, während ich hinter mir den Kampf toben höre.
Plötzlich blickt mein Gegenüber auf einen Punkt hinter mir, und ein hämisches Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus.
Viel zu langsam drehe ich mich um und das Letzte, was ich sehe, ist eine Speerspitze, die genau auf mein Gesicht zuschnellt.
Ich vernehme seltsame, längst vergessene Geräusche, und alles kommt mir gedämpft vor.
Fühlt sich so etwa der Tod an?
Blinzend schaffe ich es, meine Augen zu öffnen, kann jedoch noch nichts erkennen. Erst jetzt bemerke ich den bestialischen Gestank, der mich einhüllt und zu überwältigen droht.
Nein, das ist ganz sicher nicht der Tod.
Langsam bilden sich Umrisse, und ich glaube, menschliche Gestalten zu erkennen. Dann stoße ich einen erschrockenen Laut aus und krieche rückwärts, als mir bewusst wird, wo ich mich befinde. Überall, neben und unter mir, liegen unzählige Leichen, die teilweise schon anfangen zu verwesen. Sie alle wurden achtlos in die Grube geworfen, in der auch ich mich befinde.
Das Massengrab der Arena.
Obwohl ich dachte, kaum noch Emotionen verspüren zu können, empfinde ich grenzenloses Grauen. Hat man mich für tot erklärt? Doch wie konnte ich das überleben? Wenn ich mich richtig erinnere, hat man mir einen Speer mitten ins Gesicht gestoßen!
Verschiedene Erklärungen schießen mir durch den Kopf, doch sie alle kommen mir sehr weit hergeholt vor. Ein einziger Gedanke hebt sich immer wieder hervor, aber ich verdränge ihn erfolgreich. Ich beschließe, mich zuerst darauf zu konzentrieren, aus diesem grauenhaften Loch herauszukommen.
Seltsamerweise fühle ich mich kaum noch benommen und schaffe es nach mehreren Versuchen, bis an den Rand zu springen. Erleichtert klettere ich aus der Grube und sauge die frische Luft in mich auf. Erst jetzt wird mir bewusst, was dieses Geräusch war: das laute Zwitschern der Vögel, von dem ich längst vergessen habe, dass es existiert. Ein Gefühl breitet sich in mir aus, das ich zuerst nicht zuordnen kann, bis ich erkenne, dass es pure Freude ist.
Lächelnd drehe ich mich im Kreis und schließe die Augen. Viele verschiedene Gerüche wirken auf mich ein, und ein lautes Jauchzen entweicht meiner Kehle.
Schließlich habe ich mich so weit beruhigt, dass ich anfange, die Umgebung genauer zu betrachten. Die Grube, aus der ich soeben geklettert bin, befindet sich auf einer großen Wiese am Waldrand. Auf der anderen Seite kann ich in der Ferne die Umrisse der Stadtmauer ausmachen. Bei diesem Anblick werde ich von neuem Hass erfüllt, und mit einem Mal kann ich nicht mehr schnell genug von hier wegkommen.
Ich gebe mir selbst das Versprechen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren, also wende ich mich dem Wald zu und bewege mich mit entschlossenen Schritten darauf zu.
Schon bald bemerke ich, dass er nicht wie der Wald aus meinen Visionen ist. Die Bäume sehen anders aus und nirgendwo ist eine Spur von Frost zu erkennen. Genau genommen ist die Luft hier sehr warm, wenn auch deutlich angenehmer als in der Stadt. In meinen Visionen war der Wald durchzogen mit plätschernden Bächen, und zudem ragten überall Felsen aus dem hügeligen Boden.
Mir fällt auf, dass ich bei dem Gedanken daran Sehnsucht bekomme, so als würde in mir der Drang wachsen, nach Hause zurückzukehren. Wann habe ich angefangen, wieder so viele Emotionen zu spüren? Ich weiß nicht, ob es mich beängstigen oder mir gefallen soll.
Immer weiter gehe ich in den Wald hinein und versuche, mich zu erinnern – doch vergeblich. Offensichtlich erlauben es mir nur die Visionen, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.
Plötzlich fühlt es sich an, als ob ich beobachtet werde, doch ich beschließe, mir nichts anmerken zu lassen. Ich bin überzeugt, dass ich es mit der Person aufnehmen kann, ganz egal, wer es ist.
Im nächsten Moment höre ich ein Rascheln und leise Schritte im Unterholz. Nun bin ich in völliger Alarmbereitschaft und blicke mich unauffällig um. Tatsächlich kann ich schon bald eine kleine Gestalt ausmachen, die hinter einem Busch kauert und mich beobachtet. Ich runzele die Stirn, als ich erkenne, dass es sich um ein Kind handelt. Ganz egal, ob es aus der Stadt oder von den Clans stammt, es befindet sich viel zu weit weg von seinem Zuhause.
»Du da«, rufe ich mit rauer Stimme, die mir noch immer nicht ganz gehorcht. »Wo sind deine Eltern?«
Das Kind zuckt ertappt zusammen und scheint zu überlegen, ob es antworten oder weglaufen soll. Schließlich kommt es zögerlich aus seinem Versteck und blickt mich schüchtern an. Es ist ein kleiner Junge von höchstens sechs Jahren mit braunen, in alle Richtungen abstehenden Haaren. Instinktiv weiß ich, dass es sich um ein Mitglied vom Clan des grauen Wolfes handelt, ohne mich an deren genauen Merkmale erinnern zu können.
»Ich bin heimlich davongelaufen«, gibt er verlegen zu. »Meine Eltern waren auf der Jagd, und ich wollte ihnen folgen. Aber dann habe ich mich verirrt.«
Eine einsame Träne läuft seine Wange hinunter, und ich kann Verzweiflung aus seinem Blick lesen. Dann schaut er jedoch hoffnungsvoll zu mir auf. »Einen wie dich habe ich schon gesehen. Du kommst aus dem kalten Wald, hab ich Recht?«
Seine braunen Augen werden groß vor Neugierde, und mit einem Mal möchte ich davonlaufen. Einerseits habe ich das unerklärliche Gefühl, eine Gefahr für diesen kleinen Jungen darzustellen, doch andererseits kann ich ihn hier auch nicht allein lassen. Zudem kommt mir der Gedanke, dass er zu der Wiese gelangen könnte, und wenn er dort auf das Massengrab trifft … Nein, ich muss ihm auf jeden Fall helfen.
»Wir suchen gemeinsam nach deinem Lager«, sage ich deswegen, lasse meine Stimme jedoch abweisend klingen. Der Junge soll nicht auf die Idee kommen, mir Fragen stellen zu können.
Sofort strahlen seine Augen, und er greift nach meiner Hand. Am liebsten würde ich sie zurückziehen, aber stattdessen lasse ich mich, wenn auch widerstrebend, mitziehen.
»Aus dieser Richtung bin ich gekommen«, erklärt er mir mit seiner hellen Stimme. »Aber es sind schon Stunden vergangen, seit ich mich verirrt habe.« Wieder flackert Angst in seiner Miene auf, doch wenigstens fängt er nicht an zu weinen.
Ich kann nur schwer ein genervtes Seufzen unterdrücken, denn so habe ich mir meine ersten Momente in der Freiheit nicht vorgestellt. Ich beschließe, einfach immer weiter in die entgegengesetzte Richtung der Stadt zu gehen. Auch wenn wir nicht direkt auf das Lager stoßen, so läuft uns sicherlich irgendwann ein Jagdtrupp über den Weg.
»Warum schaust du die ganze Zeit so böse?«, fragt der Junge plötzlich und blickt mich wieder neugierig an.
Am liebsten würde ich ihn genervt anfahren, doch ich reiße mich zusammen und zucke mit den Schultern. »Ich habe eine schwere Zeit hinter mir. Aber du solltest aufhören, Fragen zu stellen.«
Den Jungen scheinen meine letzten Worte nicht zu interessieren. »Und du redest auch so seltsam«, fährt er fort. »So als wäre dir alles egal.«
Nun werde ich doch wütend und schüttele seine kleine Hand ab. »Neugierde kann gefährlich sein«, knurre ich und gehe dann ein paar Schritte vor.
»Folge mir«, sage ich abweisend und blicke mich nicht nach dem Jungen um. Mein Rücken versteift sich, als ich plötzlich ein leises Schluchzen hinter mir höre. Nein, ich darf kein Mitleid spüren, er ist es doch selbst schuld. Je früher er wieder bei seinen Eltern ist, desto besser.
Das Schluchzen will allerdings nicht verstummen, und so drehe ich mich doch nach dem Kind um. Seine Unterlippe bebt, und mit glasigen Augen blickt er zu mir auf. Am liebsten würde ich mich wieder umdrehen und weitergehen, aber dann halte ich ihm meine Hand hin, welche der Junge nach kurzem Zögern ergreift.
»Stell bitte einfach keine Fragen mehr«, sage ich möglichst freundlich, und der Junge nickt schniefend.
So gehen wir eine Weile friedlich durch den Wald, aber ihm kommt noch immer nichts bekannt vor. Dennoch fängt er bald an, spielerisch um mich herumzuhüpfen und fröhlich zu lachen. Es versetzt mir einen Stich, denn es weckt Gefühle in mir, die ich nicht so recht zuordnen kann.
Erinnere ich mich wieder an etwas? Habe auch ich als Kind so ausgelassen gespielt?
Wieder greift der Junge nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. »Ich heiße übrigens Viko, und du?«, fragt er grinsend, woraufhin ich ihm einen mahnenden Blick zuwerfe.
»Stimmt«, sagt er kleinlaut. »Keine Fragen.«
Ich nicke und verschränke dann die Arme vor der Brust, während Viko ein Stück vorläuft. Wohin wird mein Weg gehen, wenn ich den Jungen in sein Lager gebracht habe? Vielleicht sollte ich zu meinem eigenen Clan zurückkehren, doch bin ich dort überhaupt willkommen? Möglicherweise haben sie mich aus irgendeinem Grund verstoßen und ich bin so in der Arena gelandet. Ich wünschte, ich würde durch weitere Visionen Klarheit bekommen, aber leider kann ich sie nicht kontrollieren.
Plötzlich höre ich weit entfernte Schritte im Unterholz, die nicht von Viko stammen. Der Junge läuft sofort alarmiert zu mir und krallt sich in meinem schwarzen Hemd fest, an welchem noch die Blutflecken von dem Kampf zu erkennen sind.
»Ich hoffe, das sind meine Clangefährten«, flüstert er und drückt sich noch enger an mich.
Ich blicke wachsam in die Richtung, aus der das Geräusch kommt, bis sich schließlich zwei hochgewachsene und breit gebaute Männer aus dem Dickicht lösen. Sie beide haben lange geflochtene Bärte und grimmig dreinblickende Gesichter. Dennoch verspüre ich keine Angst, sondern bloß Argwohn.
»Da ist er ja«, sagt der ältere der beiden mit dunkler Stimme und bedeutet Viko, zu ihnen zu kommen. Der Junge wirkt erleichtert, blickt dann jedoch unsicher zu mir auf.
»Möchtest du nicht mitkommen?«, fragt er mit leuchtenden Augen. »Ich mag dich nämlich.«
Ich möchte sofort ablehnen, doch plötzlich kann ich die schwere Pranke des älteren Mannes auf meiner Schulter spüren.
»Ja, komm mit uns. Wir würden dir außerdem gerne einige Fragen stellen«, sagt er freundlich, aber ich kann deutlich das Misstrauen aus seiner Stimme heraushören. Er blickt mir prüfend in die Augen und scheint dort etwas zu finden, was ihm überhaupt nicht gefällt.
Viko scheint von dem Misstrauen nichts zu bemerken, denn er schaut mit leuchtenden Augen zu mir auf und klatscht begeistert in die Hände. Ich überlege, ob ich dieses Angebot – oder vielmehr den Befehl – ausschlagen kann, doch anderseits bin ich auch neugierig.
»Na gut«, sage ich schließlich und die Männer nicken grimmig.
Der Ältere bedeutet mir, zwischen ihnen zu gehen, so als befürchte er, dass ich weglaufe. Wir fallen in ein ernstes Schweigen, während Viko munter drauflosplappert.
»Und dann habe ich mich plötzlich verirrt«, beendet er seine Erzählung über sein kleines Abenteuer. »Wäre der nette Mann nicht aufgetaucht, wäre ich sicherlich gestorben.«
»Das bezweifle ich«, murmelt der jüngere Krieger in seinen Bart und wirft mir erneut einen ablehnenden Blick zu.
Ich schaue bloß ausdruckslos in die Ferne und ignoriere das feindselige Verhalten. Die Gleichgültigkeit kehrt allmählich zurück, und ich kann mich nicht mal mehr an den feinen Sonnenstrahlen erfreuen, die durch das Blätterdach fallen.
»Bald bricht die Nacht ein«, sagt der ältere Mann finster. »Bis dahin sollten wir das Lager erreicht haben.«
»Werden wir einen Wolf treffen?«, fragt Viko aufgeregt, woraufhin beide Männer leise seufzen.
»Wenn du großes Glück hast«, sagt der Jüngere schließlich geduldig. »Aber mach dir keine zu großen Hoffnungen.«
»Eines Tages werde ich ein großer Krieger sein«, sagt Viko schließlich an mich gewandt und reckt stolz das Kinn. »Dann werde ich jeden Tag Wölfe sehen. Bist du auch ein Krieger?«
Ich werfe ihm einen kurzen mahnenden Blick zu und er beißt sich ertappt auf die Lippe, aber nun scheint auch das Interesse der Männer geweckt zu sein. Sie blicken mich prüfend an, und nun kann ich ihnen eine Antwort nicht verweigern. Ich beschließe, dass es am besten ist, zu lügen.
»Ja«, sage ich knapp, doch das scheint den Männern nicht zu reichen. »Wie lange schon?«, fragt der Ältere mit einem seltsamen Glitzern in den Augen.
»Ein paar Jahre«, sage ich ausweichend und denke dann an meine Vision zurück. »Seit ich sechzehn bin.«
Die Männer scheinen enttäuscht zu sein, so als hätten sie mit einer falschen Antwort gerechnet. »Und in welchem Lager?«, folgt sofort die nächste Frage.
Ich versuche, zu improvisieren und auf mein instinktives Wissen zurückzugreifen. »In einem Nebenlager«, sage ich möglichst beiläufig. »In der Nähe des Gebirges.«
»Und wie ist dein Name?«, kommt schließlich die Frage, die mich zusammenzucken lässt.
»Ja, das möchte ich auch wissen«, mischt sich Viko fröhlich ein.
»So viele Fragen«, sage ich möglichst gelassen. »Ich werde sie euch noch alle beantworten, doch der Tag war anstrengend.«
Ich kann sehen, dass die Männer wütend werden, aber vor Viko reißen sie sich zusammen.
»Dann bin ich mal gespannt, was du uns noch zu erzählen hast«, sagt der Ältere gereizt.
Die Dämmerung ist bereits weit fortgeschritten, doch die Männer werden nach und nach immer entspannter.
Bald verkündet Viko mit strahlenden Augen: »Hier kenne ich mich schon aus. Darf ich vorlaufen?«
»Nein«, sagt der jüngere Mann sofort streng. »Auch auf diesem kurzen Stück kann noch viel passieren.«
Also bleibt der Junge schmollend bei uns und tritt wütend kleine Steinchen vor sich her.
»Wir sind gleich da«, verkündet der Ältere schließlich und wirft mir dann einen mahnenden Blick zu. »Wenn du auch nur einen falschen Schritt machst, wirst du die Konsequenzen spüren. Ich weiß genau, was du bist, auch wenn du versuchst, es zu überspielen.«
Ich blicke ihn überrascht an. Wie kann er wissen, wer ich bin, wenn ich es doch selbst nicht weiß?
»Wovon redest du?«, frage ich betont gleichgültig, während ich von ganzem Herzen hoffe, eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen.
Der Mann lacht jedoch bloß hämisch und schüttelt dann den Kopf. Den Rest des Weges werde ich, abgesehen von Viko, völlig ignoriert.
Als wir aus dem Unterholz hervortreten, kann ich zuerst nicht erkennen, wo sich das Lager befinden soll. Dann gleitet mein Blick wie von selbst nach oben, und ich erkenne staunend eine Vielzahl von Baumhäusern, die sich gut getarnt fast in den Wipfeln befindet.
Viko läuft sofort los und wirft sich in die Arme einer Frau, die augenblicklich auf uns zugestürmt kommt.
»Mein Sohn!«, ruft sie halb schimpfend und halb weinend. Sie schließt den Jungen in die Arme und vergräbt ihr Gesicht in seinen Haaren.
Auf dem ersten Blick wirkt sie nicht gerade wie eine typisch fürsorgliche Mutter, denn mit ihrem muskulösen Körperbau und den wilden Haaren sieht sie vielmehr wie eine furchteinflößende Kriegerin aus. Doch offensichtlich trügt das Aussehen, denn ihr Verhalten spricht für sich. Gerade gibt sie ihrem Sohn einen festen Kuss auf die Wange und wendet sich dann den beiden Männern zu.
»Wo habt ihr ihn gefunden? Geht es ihm gut?« Ihre Stimme zittert noch immer, und ich kann ihre dunkelbraunen Augen verdächtig glitzern sehen.
»Ja«, ergreift Viko das Wort. »Weil der Mann dort bei mir war.« Er deutet auf mich, und nun scheint die Frau mich zu bemerken. Sie blickt mich kurz prüfend an, und ich versuche, möglichst freundlich auszusehen.
Scheinbar scheitere ich darin kläglich, denn sofort zeichnen sich in ihrem Gesicht Entsetzen und Abscheu ab. Sie greift nach Viko und drückt ihn fest an sich.
»Halte dich von meinem Sohn fern«, faucht sie, und sofort versteift sich mein Körper. Was wissen diese Menschen bloß über mich, was ich nicht weiß? Weshalb verabscheuen sie mich, aber nennen mir nicht den Grund?
»Keine Sorge, Briah. Morgen werden wir ihn befragen«, murrt der ältere Mann. »Und bis dahin werden wir ihn einsperren und im Auge behalten.«
Viko blickt mich traurig an und scheint wie ich ebenso wenig zu verstehen, was hier vor sich geht.
Die Männer zerren mich grob mit sich, und ich lasse sie gewähren, obwohl ich mir sicher bin, es mit ihnen aufnehmen zu können. Sie führen mich zu einer Strickleiter, welche von einer Frau, die oben auf einer Plattform steht, heruntergelassen wurde. Ohne dass sie mir den Befehl geben, klettere ich nach oben und warte geduldig darauf, dass die anderen mir folgen.
Als auch Viko und seine Mutter oben angekommen sind, winkt der Junge mir niedergeschlagen zu. Dann gehen sie gemeinsam über eine Hängebrücke zu einem der Baumhäuser und verschwinden darin.
»Folge mir«, sagt der ältere Mann abweisend und deutet auf eine Hängebrücke in der entgegengesetzten Richtung.
Das Baumhaus, welches sich dort befindet, sieht deutlich ausladender aus, und es sind keine Fenster zu sehen. Es ist mir jedoch gleichgültig, wenn man mich dafür endlich in Ruhe lässt. Zudem hoffe ich, dass man mich endlich in das Geheimnis meiner Vergangenheit einweiht, wenn ich alle Befehle widerstandslos befolge.
Das Bedürfnis nach Gewalt und Blut hatte ich seit dem verhängnisvollen Kampf nicht mehr – sobald ich hingegen an die Leoparden denken muss, die in der Arena ihr Leben lassen mussten, verspüre ich Schmerz und Abscheu.
Als ich das Baumhaus betrete und die Tür hinter mir geschlossen wird, lehne ich mich gegen die kahle Wand und starre in die schwarze Dunkelheit. Die Luft ist schwül und abgestanden, aber in mir herrscht dennoch eine endlose Kälte. Ich schließe die Augen und versuche, jeden Gedanken aus meinem Kopf zu verdrängen.
Und endlich gelingt es mir.
»Ich bin so aufgeregt«, flüstert meine Freundin mir zu. »Unser erster Unterricht als Kriegerschüler!«
Ich stimme ihr voller Vorfreude zu, und wie von selbst wandert mein Blick zu Aineas. Seine Miene wirkt ungewöhnlich heiter, und zum ersten Mal scheint er sich wirklich auf etwas zu freuen. Auch der andere Schüler, der in unserem Alter ist, kann es kaum erwarten, dass der Krieger erscheint, der uns heute unterrichten wird.
Bald schon können wir seine stattliche Gestalt von weitem auf uns zugehen sehen. Er ist aus einem anderen Nebenlager zu uns gekommen, da bei uns hauptsächlich Familien leben, in denen die Eltern keine aktiven Krieger mehr sind.
»Guten Tag, Kinder. Mein Name ist Klion«, sagt der Mann freundlich, als er vor uns steht, und blickt jeden von uns abschätzend an.
Als sein Blick an Aineas hängen bleibt, der zu meiner Überraschung ziemlich nervös aussieht, runzelt er die Stirn.
»Ich kenne deinen Vater«, sagt Klion, und sofort schwindet jegliche Gefühlsregung aus Aineas’ Gesicht.
»Nun stellt euch in Zweiergruppen auf«, befiehlt der Mann, ohne diese Reaktion zu beachten. »Ich möchte sehen, was ihr im Grundunterricht gelernt habt. Versucht, den Partner zu Boden zu werfen, während dieser versucht, sich zu verteidigen.«
Meine Freundin und ich tauschen einen begeisterten Blick und stellen uns dann einander gegenüber auf. Im Augenwinkel kann ich sehen, dass Aineas es uns mit dem anderen Jungen gleichtut. »Dann zeigt mir, was ihr könnt«, gibt Klion uns das Signal zum Start.
»Ich greife zuerst an«, sagt meine Freundin grinsend, und ich gehe sofort in die Verteidigungsstellung. Ich weiß, dass sie flink und erbarmungslos im Kampf ist.
Zwar haben wir im Grundunterricht nur die nötigsten Techniken gelernt, doch ich kann mir schon ungefähr ausmalen, wie sie sich in einem echten Gefecht verhalten würde.
Ihre rotblonden Haare wirbeln um ihr Gesicht, als sie eine schnelle Bewegung auf mich zumacht. Sie versucht, ihre Hand in meinen Bauch zu rammen, doch wie ich es gelernt habe, mache ich einen raschen Schritt zur Seite und packe ihre Arme. Meine Freundin schafft es allerdings, sich von mir zu lösen, und so stehen wir wieder schwer atmend voreinander.
Wir zucken zusammen, als wir das laute Brüllen unseres Mentors hören. »Du wirst ihn noch umbringen!«
Wir wirbeln beide herum und beobachten entsetzt, wie Klion Aineas von seinem Partner herunterzerrt. Er hat ihn offensichtlich fest auf den Boden gedrückt und ist dabei zu grob vorgegangen.
»Ich wollte doch nur beweisen, dass ich ein guter Krieger wäre«, versucht sich Aineas zu rechtfertigen, und ich kann zum ersten Mal so etwas wie Angst und Schuldbewusstsein in seinen Augen sehen.
Der Mann schüttelt jedoch verächtlich den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe von Anfang an gewusst, dass so etwas passieren wird«, sagt er mit zu Schlitzen verengten Augen. »Du bist nicht dafür geeignet, Krieger zu werden.«
»Bitte, ich werde beweisen, dass ich es besser kann«, sagt Aineas flehend.
Ich tausche mit meiner Freundin einen bestürzten Blick, als sich in den Augen des Jungen Tränen sammeln. Wir können ihn zwar beide nicht leiden, doch die Ausbildung zum Krieger scheint das Erste zu sein, was ihm wirklich wichtig ist.
»Keine Diskussion«, sagt Klion unnachgiebig. »Ich möchte dich in dieser Gruppe nicht mehr sehen. Geh zurück in das Lager.«
Aineas reißt vor Entsetzen die Augen weit auf und öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, doch dann ballt er die Hände zu Fäusten und stürmt wortlos davon.
»So eine furchtbare Familie«, murmelt Klion und wendet sich dann wieder an uns. »Das, was ich bei euch beiden gesehen habe, sah vielversprechend aus. Isida und Atos, ihr werdet sicherlich sehr gute Schüler.«
Ich öffne die Augen und sehe zunächst nichts anderes als Dunkelheit.
Erst langsam erinnere ich mich, dass ich mich in dem Baumhaus befinde, und als ich mich konzentriere, kann ich Licht durch einige Ritzen der Bretterwände leuchten sehen. Anscheinend ist es wieder Tag, und sicherlich wird man mich bald holen kommen.
Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus, was ein ungewohntes Gefühl für mich ist. Nun kenne ich endlich meinen Namen.
Doch die Sache mit Aineas hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Wäre alles anders gekommen, wenn er Kriegerschüler geblieben wäre? Ich schätze, dass sich diese Vision nur wenige Jahre vor seinem Verrat abgespielt hat. Man hat ihm nicht einmal die Chance gegeben, besser als sein Vater zu werden, und langsam kann ich fast verstehen, dass Aineas so grausam geworden ist.
Doch in meinem Leben schien alles perfekt zu laufen, warum also befinde ich mich derzeit nicht glücklich in meinem eigenen Clan? Hat es etwas mit dem Beschluss zu tun, mich meiner Freundin zuliebe Amishas Widerstand anzuschließen?
Ich ziehe die Knie an meinen Körper heran und vergrabe mein Gesicht darin. Mein Kopf schwirrt von all den Gedanken, die mich quälen. Diese Stille und Dunkelheit im fensterlosen Baumhaus machen es nicht gerade besser.
Erst eine gefühlte Ewigkeit später kann ich endlich Schritte hören, und kurz darauf wird die Tür geöffnet. Gleißende Sonnenstrahlen erhellen den Raum und erinnern mich einen schrecklichen Moment lang an die Zeit in der Arena, kurz vor meinen Kämpfen.
»Komm mit«, befiehlt der Krieger, den ich nicht kenne. Er gleicht den beiden Männern, die ich am Vortag kennen gelernt habe, und ich bin mir sicher, dass er mir gegenüber ebenso feindselig ist.
Ohne etwas zu erwidern, stehe ich auf und trete in die schwüle Morgenluft. Ich folge dem Mann über mehrere Hängebrücken, bis wir zu einem großen Baumhaus gelangen, das offensichtlich das Zentrum bildet. Mir ist aufgefallen, dass die Baumhäuser wie ein Ring um die Lichtung angeordnet sind, in deren Mitte sich eine Lagerfeuerstelle befindet. Man kann jedes einzelne Baumhaus über Hängebrücken erreichen, ohne hinunter auf den Boden zu müssen.
Als wir nun den großen Raum betreten, entdecke ich so viele Menschen, dass mir sofort unwohl wird. Ich versuche, meine Gleichgültigkeit zurückzuholen, doch es will mir nicht gelingen.
»Setz dich«, sagt eine alte Frau mit hüftlangen Haaren, die mit grauen Strähnen durchzogen sind, und deutet auf ein Sitzkissen gegenüber der Gruppe, die sich mittlerweile ebenfalls niedergelassen hat.
Ich möchte widersprechen, doch das würde wohl zur Folge haben, dass ich auf meine quälenden Fragen keine Antworten erhalte. Also befolge ich den Befehl der Frau und weiche den vielen Blicken aus, die mich beobachten.
»Nun verrate uns doch erst mal deinen Namen«, sagt die alte Frau freundlich, aber ich kann deutlich erkennen, dass auch sie mir gegenüber Misstrauen empfindet. Ich bin froh, diese Frage endlich beantworten zu können.
»Atos«, sage ich und muss bei dem Klang meines Namens unwillkürlich lächeln.
»Und, Atos«, sagt die Alte und blickt mich prüfend an, »du stammst von dem Clan des weißen Hirsches?«
Ich nicke und lasse meinen Blick über die vielen feindseligen Augenpaare schweifen.
»Ich frage mich nur«, sagt die Frau betont beiläufig, »wieso du entschieden hast, deinen Clan auf so grausame Weise zu verraten.«
Ich zucke zusammen und möchte etwas sagen, doch meine Stimme versagt. Was meint sie damit? Das klingt fast so, als ob …
»Meinen Clan verraten?«, krächze ich und schüttele dann den Kopf. Nein, das kann nicht sein.
»Ja«, antwortet die Frau kühl. »Es ist nicht zu übersehen. Die Unsterblichen können uns nicht mehr täuschen.«
»Wie bitte?«, keuche ich, und mein ganzer Körper verkrampft sich.
»Gib es doch einfach zu.« Die Stimme der Alten ist nun zu einem Fauchen geworden. »Du hast deinen Clan verlassen, um dich Morigan anzuschließen.«
»Nein«, sage ich zerstreut. »Das kann nicht sein.«
Die Menschen, die mir gegenübersitzen, schauen mich teils verwirrt und teils wütend an. Die alte Frau dagegen zieht die Augenbrauen hoch und beobachtet mich prüfend. »Du bist nicht wie die anderen«, stellt sie schließlich fest. »Du hast etwas … Rastloses an dir.«
»Ich gehöre nicht zu Morigans Clan«, sage ich inbrünstig. »Das würde bedeuten, dass ich unsterblich wäre.«
Doch als ich darüber nachdenke, ergibt plötzlich alles einen Sinn. Dass ich eine tödliche Kopfverletzung überlebt habe. Diese tiefe Emotionslosigkeit, die mich so häufig befällt. Mein Hunger nach Gewalt und die Fähigkeit, es mit jedem Gegner aufzunehmen, ohne jemals müde zu werden. Doch warum? Wieso habe ich mich entschieden, meinen Clan derart zu verraten? Das würde bedeuten, dass ich kein Stück besser als Aineas bin.
Und dann wird mir mit Entsetzen klar, dass auch ich eine Person, die mich liebte, geopfert haben muss. Sofort kommt mir Isida in den Sinn und meine Eltern, an die ich mich zu meinem Bedauern nicht erinnern kann. Ich schüttele unaufhörlich den Kopf und vergrabe dann mein Gesicht in den Händen.