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Vier Clans. Zwei Brüder. Eine Prophezeiung. Als die Clans der Wildnis von den Stadtmenschen angegriffen werden, weiß der junge Schamanenschüler Ascian, dass es nun so weit ist: Die Prophezeiung, die besagt, dass er seine Heimat beschützen wird, geht nun in Erfüllung. Allerdings ahnt er nicht, dass sein Zwillingsbruder Cadoc, der kurz nach ihrer Geburt entführt wurde, einzig dazu erzogen wurde, die Clans zu vernichten. So entbrennt ein erbitterter Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit - doch schon bald ist nicht mehr sicher, wer auf welcher Seite steht.
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Delia Golz wurde 1995 geboren und lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei Katzen in der Nähe von Köln.
Neben dem Schreiben liebt sie Fahrradtouren durch die Natur, das Lesen und das Reisen.
Sie ist gelernte Glasgraveurin, arbeitet jedoch mittlerweile hauptberuflich mit viel Freude als Tagesmutter.
Mehr als hundert Jahre sind vergangen,
seit der Tyrann Morigan gefallen ist
und Amisha gemeinsam mit allen Unsterblichen
den Kontinent verlassen hat.
Die Clans der Wildnis lebten lange Zeit in Frieden,
doch nun bahnt sich eine neue Gefahr an …
Dieses Buch kann unabhängig von der Trilogie
»Die Clans der Wildnis« gelesen werden
und es wird kein Vorwissen benötigt.
PROLOG
KAPITEL 1
Ascian
Cadoc
KAPITEL 2
Jasira
Cadoc
KAPITEL 3
Ascian
Levana
KAPITEL 4
Jasira
Ascian
KAPITEL 5
Cadoc
Jasira
KAPITEL 6
Cadoc
Ascian
Levana
KAPITEL 7
Jasira
Cadoc
KAPITEL 8
Jasira
Cadoc
KAPITEL 9
Ascian
Levana
Cadoc
KAPITEL 10
Jasira
Cadoc
KAPITEL 11
Ascian
Levana
KAPITEL 12
Jasira
Cadoc
KAPITEL 13
Levana
Ascian
KAPITEL 14
Cadoc
Jasira
KAPITEL 15
Ascian
Levana
KAPITEL 16
Cadoc
Jasira
KAPITEL 17
Ascian
Levana
Cadoc
KAPITEL 18
Jasira
Ascian
KAPITEL 19
Levana
Cadoc
KAPITEL 20
Ascian
Jasira
Levana
KAPITEL 21
Cadoc
KAPITEL 22
Jasira
Levana
Ascian
KAPITEL 23
Cadoc
Ascian
KAPITEL 24
Jasira
Levana
KAPITEL 25
Ascian
Levana
KAPITEL 26
Levana
Ascian
KAPITEL 27
Cadoc
Ascian
KAPITEL 28
Jasira
Levana
KAPITEL 29
Cadoc
Jasira
KAPITEL 30
Levana
Ascian
KAPITEL 31
Jasira
Cadoc
KAPITEL 32
Ascian
Levana
Jasira
EPILOG
Ascian
DANKSAGUNG
»Sie ist sehr schwach«, sagt Taesera, die Schamanin meines Clans, ernst. Mit hektischen Bewegungen sucht sie verschiedene Kräuter zusammen.
»Wird sie es schaffen?«, frage ich und blicke voller Sorge auf meine Gefährtin Leysa hinab, die sich vor Schmerzen krümmt. Ich zucke zusammen, als ein Schrei aus ihrer Kehle dringt.
»Gib ihr diese Kräuter.« Taesera drückt mir ein Säckchen in die Hand. »Die sollten den Schmerz ihrer Wehen etwas abmildern. Ich muss mich nun auf die Geburt der Zwillinge konzentrieren, denn es könnte jeden Moment so weit sein.«
Ich nicke stumm, und mit einem Mal fühlt sich mein Hals völlig ausgetrocknet an. Leysas Gesicht ist leichenblass und ich habe das Gefühl, dass sie nicht mehr bei Bewusstsein ist.
»Sie verliert viel Blut«, murmelt Taesera. »Doch ich kann keine Magie anwenden, ehe die Babys geboren sind.«
Kaum hat sie das gesagt, reißt Leysa die Augen auf, und ihr Körper bebt unter der nächsten Wehe. Sie drückt meine Hand so fest, dass es sich anfühlt, als würden meine Finger jeden Moment brechen.
»Ja, so ist es gut«, sagt die Schamanin. »Ich kann bereits den Kopf sehen.«
Leysa schreit erneut auf, und ich bin mir sicher, dass sie es nicht mehr länger ertragen wird.
Doch dann, nach einer furchtbaren Zeit des Hoffens und Bangens, hält Taesera endlich ein rotes, schreiendes Geschöpf in den Händen, das sie mir mit einem flüchtigen Lächeln in die Arme legt. Kurz bin ich völlig von dem Anblick meines Sohnes gefangen und vergesse die Welt um mich herum – bis mich das schmerzerfüllte Stöhnen meiner Gefährtin jäh in die Wirklichkeit zurückreißt. Und dann ist da plötzlich noch ein Baby, völlig identisch mit seinem Bruder. Ich bemerke kaum, wie Taesera mir auch meinen zweiten Sohn in die Arme drückt, denn mir ist voller Schrecken bewusst geworden, dass Leysa die Augen geschlossen hat und kein Leben mehr in ihrem Gesicht auszumachen ist.
Während die Zwillinge in meinen Armen schreien und nach ihrer Mutter verlangen, legt die Schamanin ihre Hände auf Leysas Herz. Weiße Strahlen dringen in den Körper meiner Gefährtin, und kurz habe ich die Hoffnung, dass Taesera sie retten kann – bis ich die Resignation in ihrem Blick sehe.
»Nein«, keuche ich, als die Schamanin zurücktritt und mich traurig anschaut.
»Es tut mir unendlich leid, Audon«, sagt sie, ehe sie zu den Zwillingen blickt. »Doch du musst nun für die beiden stark sein. Sie sind die Zukunft vom Clan des großen Adlers, das kann ich spüren.«
»Ich kann das nicht«, antworte ich mit erstickter Stimme, reiche ihr die noch immer schreienden Babys und laufe davon. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer das reglose Gesicht meiner Gefährtin und das viele Blut, das ihr geschwächter Körper verloren hat.
Ich laufe immer weiter, aus der Höhle hinaus, bis ich von eisiger Winterluft eingehüllt werde. Und so stehe ich da, mitten in einem Wirbel aus Schneeflocken, und schreie meinen ganzen Kummer heraus. Wie kann das Schicksal so grausam sein und mir die Frau nehmen, die ich liebe? Wie soll ich es schaffen, ohne sie zwei Kinder großzuziehen?
Nach einiger Zeit legt sich eine warme Hand auf meine Schulter. Mit verweintem Gesicht drehe ich mich um und blicke in das traurige Gesicht von Taesera. »Ich habe die Zwillinge Daedara anvertraut. Zum Glück kann sie beiden von ihrer Milch geben, jetzt, wo ihr eigenes Kind alt genug ist. Meine Kräuter werden ihr dabei helfen.«
Ich nicke, und Erleichterung mischt sich unter meine grenzenlose Verzweiflung.
»Eure Kinder brauchen Namen«, sagt Taesera sanft.
»Leysa hatte sich bereits welche ausgesucht«, erwidere ich mit brüchiger Stimme und schließe kurz die Augen, um nicht wieder von der Traurigkeit überwältigt zu werden. »Ascian und Cadoc sollen sie heißen.«
Taesera lächelt. »Dann soll es so sein.«
Plötzlich zucken wir gleichzeitig zusammen, denn unsere Körper werden von einer unbändigen Energie durchströmt, was nur heißen kann, dass sich unser Krafttier in der Nähe befindet. Ich weiche erschrocken zurück, als ein Schatten vom verschneiten Himmel schießt und sich kurz darauf ein mächtiger Adler auf Taeseras Schulter niederlässt. Völlig überwältigt blicken wir ihn an, denn es kommt überaus selten vor, dass sich ein Krafttier auf diese Weise zeigt.
»Er möchte mir etwas mitteilen«, raunt Taesera wie in Trance.
Sie schließt die Augen, und ich beobachte gebannt, wie sie völlig von der Vision überwältigt wird. Ihre Lider flattern und ihr ganzer Körper versteift sich. Und dann reißt sie ihre Augen auf, und ich bemerke schockiert, dass nur das Weiß zu sehen ist.
Mit rauer Stimme beginnt Taesera zu sprechen: »Zwei werden es sein, das Licht und die Dunkelheit. Gemeinsam mit der Vereinigung der Vier haben sie die Macht, die Clans zu retten.«
Mit einem ohrenbetäubenden Schrei stößt sich der Adler von Taeseras Schulter ab und erhebt sich in die Lüfte. Ich kann sie gerade noch auffangen, als ihre Beine nachgeben und sie benommen in sich zusammensackt.
»Das war eine Prophezeiung«, sagt sie schließlich kaum hörbar und blickt zu mir auf. »Eine Prophezeiung für deine Söhne. Ich muss sofort den Ratsmitgliedern und dem Anführer Bescheid geben.«
Schwerfällig richtet sich Taesera auf und humpelt zum Höhleneingang. Ich blicke ihr stumm nach, ehe ich noch tiefer in die Nacht trete – in die Dunkelheit, die von nun an mein steter Begleiter sein wird.
»Audon, wach auf«, reißt mich eine panische Stimme aus dem Schlaf. Mittlerweile sind drei Tage seit der Geburt meiner Söhne vergangen, und es war die erste Nacht, in der ich Ruhe finden konnte. »Cadoc ist fort!«
Sofort richte ich mich auf und bin mit einem Mal hellwach. In Daedaras Miene ist das blanke Entsetzen geschrieben.
»Was sagst du da?«, frage ich alarmiert. »Wie konnte Cadoc verschwinden?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet die junge Frau und kämpft mit den Tränen. »Ich bin von entfernten Schritten wach geworden, und als ich in die Betten der Zwillinge geschaut habe, war Cadoc fort.«
In meinem Kopf gehe ich alle logischen Erklärungen durch, doch keine von ihnen scheint wirklich plausibel zu sein. »Sicherlich ist es nur ein Missverständnis«, sage ich und klinge dabei überzeugter, als ich mich fühle. »Vielleicht hat Taesera ihn geholt, um seine Gesundheit zu überprüfen.«
Daedara nickt, aber wirkt nicht weniger verzweifelt als zuvor.
Und so eilen wir los, um das gesamte Lager zu durchsuchen und allen Bewohnern Bescheid zu geben. Doch egal, wie lange wir suchen, Cadoc ist nirgendwo zu finden. Auch Taesera hat keine Ahnung, wo er sein könnte – aber ich kann ihr ansehen, dass sie einen Verdacht hat.
Irgendwann, als ich vor Verzweiflung nicht mehr klar denken kann, spreche ich sie darauf an. »Ich bin mir sicher, dass du ahnst, wo Cadoc ist. Bitte sag es, ganz egal, wie schlimm es ist.«
Die Schamanin schließt für einen Moment die Augen, ehe sie mir ernst ins Gesicht blickt. »Wie du weißt, habe ich den Ratsmitgliedern von der Prophezeiung erzählt. Bei einem von ihnen, Kuron, konnte ich eine Dunkelheit spüren, die mich zutiefst beunruhigt hat. Ich habe mir eingeredet, dass es bloß Einbildung war, doch nun bin ich mir nicht mehr sicher.«
Ich schlucke schwer und es fühlt sich so an, als würde mein Herz kalt und schwer wie Stein werden. »Du denkst also, dass er Cadoc etwas angetan hat? Und dass es etwas mit der Prophezeiung zu tun hat?«
Taesera senkt betrübt den Blick, und das reicht mir als Antwort.
»Wenn ich diesen Verräter in die Finger bekomme …«, knurre ich und mit einem Mal wird meine Verzweiflung von blanker Wut abgelöst.
Taesara legt mir ihre Hand auf die Schulter und blickt mich eindringlich an. »Wir müssen Cadoc um jeden Preis wiederfinden. Wenn die Prophezeiung wahr ist – und davon bin ich überzeugt – stehen den Clans schlimme Zeiten bevor. Und wenn deine beiden Söhne nicht vereint sind, fürchte ich, dass wir keine Chance haben.«
Gemeinsam mit meiner besten Freundin Jasira streife ich durch ein kleines Tal, in dessen Mitte ein See im Sonnenlicht glitzert. Die Luft ist warm und kündigt den Sommer an.
»Wie war dein heutiger Schamanenunterricht?«, durchbricht Jasira irgendwann die friedliche Stille und rempelt mich spielerisch an.
Als ich sie mit falscher Empörung anfunkele, streicht sie sich lächelnd eine ihrer honigblonden Strähnen hinter das Ohr. Kurz bin ich von diesem Anblick abgelenkt und muss mich zusammenreißen, um es mir nicht anmerken zu lassen.
»Taesera war streng wie immer«, antworte ich und zucke betont gleichgültig mit den Schultern. »Aber ich mache Fortschritte. Mittlerweile beherrsche ich alle Heilungszauber.«
Jasira nickt anerkennend. »Du wirst eines Tages ein würdiger Nachfolger für deine Tante sein. Ein Glück, dass du die Magie geerbt hast, obwohl du nicht ihr direkter Nachfahre bist.«
Aus irgendeinem Grund verspüre ich bei ihren Worten Widerwillen. Zwar bin stolz auf meine Stellung als Schamanenschüler, doch manchmal lastet die Verantwortung schwer auf meinen Schultern. Die meisten Schamanen haben mehrere Kinder, unter denen sie ihren Nachfolger wählen können, doch Taesera hat nur mich, den Sohn ihres Bruders. Wenn ich es vermassle, leidet der ganze Clan des großen Adlers darunter.
»Lass uns zum See gehen«, wechsle ich hastig das Thema und laufe voraus.
Ich höre, dass Jasira mir folgt, und beschleunige meine Schritte noch weiter. In diesem Moment fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Noch ehe ich das Ufer erreiche, hat Jasira mich überholt. Während ich schon völlig aus der Puste bin, strotzt sie noch vor Energie. Jasira geht häufig auf die Jagd und hat vor Kurzem ihre Kriegerausbildung abgeschlossen, wodurch sie deutlich trainierter ist als ich. Kein Wunder, da ich die meiste Zeit in Taeseras Räumlichkeiten hocke und die Anwendung von Magie übe.
»Du enttäuschst mich«, sagt Jasira grinsend und zieht sich ihre leichten Lederstiefel aus, um mit den Füßen ins Wasser zu gehen. Ich beuge mich währenddessen schnaubend nach vorne und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen. »Komm her«, ruft Jasira amüsiert.
Um mich nicht noch mehr zu blamieren, folge ich ihr in das kühle Wasser. Ich kremple meine dünne Stoffhose hoch und genieße das leise Plätschern der Wellen, die auf das Ufer treffen. Unter meinen Füßen spüre ich Steine und Algen. Ich zucke zusammen, als ich plötzlich von Wassertropfen eingehüllt werde, und bemerke, dass Jasira mich nassgespritzt hat.
»Na warte«, sage ich grinsend und gebe die Attacke zurück.
Meine Freundin schreit erschrocken auf, als sie von dem eiskalten Nass getroffen wird. Dann watet sie auf mich zu und reißt mich einfach mit sich ins Wasser. Prustend und lachend versuchen wir wieder auf die Beine zu kommen, doch immer, wenn es einer von uns schafft, schubst der andere ihn wieder ins Wasser.
»Ich ergebe mich!«, rufe ich irgendwann atemlos und lasse mir von Jasira hochhelfen, die triumphierend lächelt. Doch dieser Ausdruck ändert sich, als ich fasziniert in ihre braunen Augen blicke, die in der Sonne die Farbe von Bernstein angenommen haben.
Und dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und mache das, was ich mir schon seit langer Zeit gewünscht habe: Ich gehe einen Schritt auf Jasira zu und drücke meine Lippen auf ihre. Zunächst versteift sich ihr Körper und sie wirkt überrumpelt, doch im nächsten Moment erwidert sie den Kuss. Es ist noch viel überwältigender, als ich es mir ausgemalt habe. Obwohl wir uns seit unserer Kindheit kennen, fühlt es sich völlig richtig an, so als würden unsere Körper zueinander gehören. Gerade möchte ich Jasira noch enger an mich ziehen, als eine vertraute Stimme nach mir ruft.
»Ascian! Wo steckst du?«
Augenblicklich lösen wir uns voneinander, und ich seufze auf. »Warum ausgerechnet jetzt?«
Jasira weicht meinem Blick aus und errötet. Dann erscheint auch schon Iyan, mein bester Freund, in unserem Sichtfeld. Als er uns entdeckt, fährt er sich erleichtert durch das wellige, schwarze Haar und läuft auf uns zu. »Hast du eine Ahnung, wie lange ich dich gesucht habe? Taesera möchte dir eine neue Lektion beibringen.« Er stutzt, als er bemerkt, dass irgendetwas zwischen Jasira und mir vorgefallen ist, und runzelt die Stirn. »Alles in Ordnung bei euch? Habt ihr euch gestritten?«
Ich räuspere mich und erwidere: »Nein, uns ist bloß kalt. Wie du siehst, sind wir ein bisschen nass geworden.«
Jasira hat sich mittlerweile wieder völlig verschlossen und blickt an Iyan vorbei in die Ferne. Ich bin einer der wenigen Menschen, denen sie sich öffnet.
»Ich muss jetzt leider gehen«, sage ich zu ihr.
Ich versuche, meinen Blick Bände sprechen zu lassen, doch sie scheint es nicht zu bemerken und nickt bloß stumm. Widerwillig wende ich mich von ihr ab und verlasse gemeinsam mit Iyan das Tal in Richtung unseres Lagers.
»Ich verstehe einfach nicht, wie du dich mit Jasira so gut verstehen kannst«, sagt Iyan irgendwann. »Sie ist so ein seltsamer Mensch.«
Ich wusste schon immer, dass die beiden sich nicht leiden können, und mittlerweile ermüdet es mich, sie voreinander zu verteidigen. Ich bin es leid, zwischen ihnen zu stehen.
»Lass gut sein«, erwidere ich abweisend. »Du kennst sie einfach nicht so gut wie ich.«
Damit ist das Thema für mich erledigt, und auch wenn Iyan nicht zufrieden ist, hält er zum Glück den Mund.
Schließlich gelangen wir an den Höhleneingang und werden von zwei Wachen mit einem Nicken begrüßt. Ich muss mich überwinden, das Lager zu betreten, denn ich würde am liebsten draußen unter dem strahlend blauen Himmel bleiben – und zu Jasira gehen, um den Kuss zu wiederholen. Während ich durch die schummrigen Höhlengänge zu Taeseras Räumlichkeiten gehe, denke ich nochmal über das Geschehene nach – ein angenehmes Kribbeln erfüllt mich. Schon lange habe ich mir gewünscht, dass zwischen Jasira und mir mehr als Freundschaft entsteht, und nun scheint es endlich wahr zu werden.
»Da bist du ja endlich«, ertönt Taeseras raue Stimme, noch ehe ich ihren Raum betreten habe.
»Ich war draußen, um die Sonne zu genießen«, erkläre ich knapp, denn ich habe nicht vor, mich zu rechtfertigen. Auch als Schamanenschüler steht mir Freizeit zu.
»Wir beginnen heute mit Tarnmagie«, sagt meine Tante ohne Umschweife und zeigt auf einen Blätterhaufen, der auf dem Höhlenboden aufgetürmt wurde. »Deine Aufgabe ist es, dich auf die Blätter zu legen und deinen Körper mit ihnen verschmelzen zu lassen, sodass er die Farben der Umgebung annimmt. Du wirst zwar auch dann nicht völlig unsichtbar sein, wenn dir die Magie tadellos gelingt, aber man wird dich zumindest aus der Ferne nicht erkennen können.«
Ich nicke und folge ihren Anweisungen. Ich schließe meine Augen und weiß, dass mein Körper nun von dem grünen Licht meiner Magie eingehüllt wird. Doch obwohl mir bewusst ist, dass ich meine Aufgabe ernst nehmen muss, kann ich mich nicht darauf konzentrieren. Schon bald höre ich Taeseras ungeduldiges Schnaufen. »Das Einzige, was ich sehe, ist ein Blätterhaufen und ein überaus sichtbarer Junge darauf.«
Ich öffne die Augen wieder und setze mich auf. Ich hasse es, wenn Taesera mich trotz meiner siebzehn Jahre wie ein Kind behandelt.
»Heute bin ich wohl nicht bei der Sache«, murmle ich, auch wenn ich weiß, dass sie mich nicht einfach aufgeben lassen wird.
Doch zu meinem Erstaunen wird ihre Miene sanft, und sie setzt sich neben mich. »Mir ist klar, dass die Verantwortung überwältigend ist. Doch du kennst die Prophezeiung und weißt, was mit deinem Bruder geschehen ist. Du bist die einzige Hoffnung der Clans, und ich spüre, dass sich derzeit etwas Schreckliches zusammenbraut.«
Mein Körper versteift sich, so wie immer, wenn jemand Cadoc oder die Prophezeiung erwähnt.
»Ich schaffe das«, entgegne ich abweisend, auch wenn ich von Selbstzweifeln geplagt werde.
Niemand weiß, worum es sich bei dieser Gefahr handelt. Doch egal, was es ist, ich werde es nicht allein bewältigen können. Taesera denkt, dass es ausreicht, wenn ich doppelt so hart trainiere wie die normalen Schamanenschüler – doch die unausgesprochene Tatsache ist, dass ich mich unvollständig fühle. Obwohl ich mich nicht an Cadoc erinnern kann, spüre ich seine Abwesenheit mit jedem Atemzug. Er war schon immer ein Teil von mir, noch ehe mein Vater mir von ihm erzählt hat. Doch auch, wenn alle davon überzeugt sind, glaube ich nicht daran, dass Cadoc tot ist. Ich weiß nicht, woher diese Gewissheit kommt, aber ich bin mir sicher, dass er irgendwo da draußen ist.
»Na los, du kannst gehen«, reißt mich Taesera aus meinen Gedanken und wedelt mit der Hand in Richtung des Ausgangs. »Das wird heute nichts mehr. Genieße den Tag und versuche den Kopf freizubekommen.«
Ich mustere meine Mentorin skeptisch, denn ich habe Sorge, dass es ein Test ist. Noch nie hat sie mich einfach so gehen lassen. Doch ihre sonst so strengen grauen Augen blicken mich nun voller Liebe an, und in diesem Moment wird mir wieder bewusst, dass sie mich gemeinsam mit meinem Vater und Iyans Mutter Daedara großgezogen hat.
»Danke«, antworte ich zögerlich und klopfe mir die Blätter von meinem dunkelgrauen Hemd.
»Jetzt geh schon, bevor ich es mir wieder anders überlege«, sagt Taesera mit gutmütiger Strenge, und das lasse ich mir diesmal nicht zweimal sagen.
Geradewegs laufe ich zum See, wo ich hoffentlich Jasira finde. Doch schon von Weitem kann ich sehen, dass ich kein Glück habe. Das Tal liegt verlassen in der flirrenden Nachmittagssonne. Nur drei Enten watscheln gemächlich durch das hohe Gras zum Ufer. Dennoch mache ich mich auf den Weg in das Tal, das nur über einen schmalen Pfad erreicht werden kann, welcher steil einen Berg hinabführt. Da ich ein Mitglied vom Clan des großen Adlers und im Hochgebirge zuhause bin, bereitet mir das Hinabsteigen keine Schwierigkeiten.
Am Seeufer angekommen gehe ich unschlüssig in die Hocke. Ich fahre mit der Hand über die Wasseroberfläche und verwische mein Spiegelbild. Mit einem Mal frage ich mich, ob es sich so anfühlen würde, Cadoc gegenüberzustehen. Wäre es so, als würde ich in mein eigenes Abbild blicken? Hat er die gleichen Sommersprossen, grünen Augen und dunklen rotbraunen Haare? Oder würde ich mich nicht in ihm wiedererkennen?
Niedergeschlagen seufze ich und bereue es nun, den Unterricht unterbrochen zu haben. Denn nun bin ich allein mit meiner Sehnsucht nach einem Menschen, den ich nicht kenne – und der vermutlich trotz meiner Hoffnung längst nicht mehr lebt.
Mit lautlosen Schritten folge ich meinem Meister, der wie eine Spinne von Schatten zu Schatten huscht. Dabei müssen wir uns nicht verstecken, denn wir wurden an diesen Ort bestellt.
Nachdem wir einen langen, von Fackeln erhellten Gang hinter uns gebracht haben, betreten wir einen prunkvollen Saal, der von mehrreihigen Bänken gesäumt ist. In der Mitte steht ein Pult aus Marmor. Meine Augen huschen über die zwanzig Senatoren, die in edle Togen gekleidet sind. Wenige Wimpernschläge später habe ich sie alle abgeschätzt, wie es mir mein Meister beigebracht hat.
»Sei gegrüßt, Erebus«, sagt einer der Männer, den ich gleich für den Anführer gehalten habe, und kommt auf uns zu. Ich erinnere mich daran, dass sein Name Titus ist. Er schüttelt meinem Meister die Hand und mustert mich von oben bis unten. »Der Junge wirkt blass und kränklich«, stellt er naserümpfend fest. »Sieh zu, dass er mehr isst.«
Erebus deutet eine Verbeugung an, ohne dass sein verschlagenes Lächeln verrutscht. Seine schwarzen Augen glitzern im schummrigen Kerzenlicht, was sein spinnenhaftes Aussehen noch verstärkt.
»Dann ist es also bereits beschlossen?«, fragt er mit seiner rauen Stimme und reibt sich die Hände.
Titus scheint seinen Fehler bemerkt zu haben und schüttelt mit einem strengen Gesichtsausdruck den Kopf. »Zunächst müssen alle Formalitäten geklärt werden.« Nun blickt er wieder zu mir und verengt die Augen. »Und wir müssen herausfinden, ob der Bursche für diese wichtige Aufgabe geeignet ist. Ja, er sieht dem Schamanenschüler sehr ähnlich, aber möglicherweise reicht das nicht. Wie ist dein Name, Junge?«
Ohne zu zögern, antworte ich mit ausdrucksloser Stimme, so wie mein Meister es mir beigebracht hat. »Ich habe keinen Namen.«
Der Mann lacht gehässig auf. »Gute Arbeit, Erebus. Nun, dann sprechen wir über die Formalitäten. Wie du bereits weißt, wirst du prächtig dafür entlohnt werden, wenn du es schaffst, dass dein Junge die Aufgabe erfolgreich abschließt. Und dafür ist noch eine Menge Übung nötig, denn abgesehen von seinem Aussehen gleicht er dem Schamanenschüler kaum. Die Verwechslung darf auf keinen Fall auffliegen.«
Zustimmendes Gemurmel ertönt von den Bänken, und als ich zu den Männern blicke, fällt mir auf, dass sie mich wie ein Stück Vieh abschätzen. Es macht mir nichts aus, denn ich bin es gewohnt, so behandelt zu werden. Solange mein Meister es gutheißt, muss es richtig sein.
»Der Junge wird nicht scheitern«, sagt Erebus, was mich mit Stolz erfüllt.
»Dann wäre das geklärt«, antwortet Titus und lächelt breit. »Nun, Junge ohne Namen, du wirst von jetzt an Ascian heißen.«
Gemeinsam durchqueren mein Meister und ich die dunklen Straßen der Stadt. Feiner Nieselregen benetzt mein Gesicht, sodass ich meine schwarze Kapuze tiefer herunterziehe. Das Ratsgebäude der Senatoren liegt schon weit hinter uns, und dennoch schaffe ich es nicht, meine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Ich muss aufpassen, dass Erebus es nicht bemerkt, denn bei solchen Angelegenheiten kennt er keine Gnade. Doch noch wichtiger ist, dass ich ihn nicht enttäuschen darf.
Immer wieder keimt die Frage in mir auf, wer dieser Schamanenschüler sein könnte, aber irgendwann schaffe ich es endlich, diesen Gedanken zu verdrängen und mich auf die Finsternis der Nacht zu konzentrieren. Mein Körper scheint mit der Dunkelheit zu verschmelzen, was mir mittlerweile sogar noch besser gelingt als Erebus. Das harte Training, das ich bereits seit meiner frühesten Kindheit absolvieren musste, hat sich gelohnt.
Schließlich gelangen wir vor ein graues kastenförmiges Gebäude, das in einem augenscheinlich verlassenen Außenbezirk der Stadt liegt. Ich weiß, dass der Senat dafür gesorgt hat, dass keine gewöhnlichen Bürger hierherziehen, denn in diesem Viertel werden dunkle Pläne geschmiedet und vorbereitet. Und ich bin einer davon. Schon früh wusste ich von meiner Aufgabe, jedoch hat man mir nie Details verraten – dies scheint sich nun allmählich zu ändern. Euphorie breitet sich in mir aus, als ich daran denke, wie stolz ich Erebus machen werde, wenn ich den Plan erfolgreich durchführe. Ich werde nicht scheitern. Ich darf nicht scheitern.
Wir betreten das graue Gebäude, in dem ich seit meiner frühesten Kindheit lebe, und ich gehe geradewegs zu meiner Kammer. Nur wenn Erebus es erlaubt, darf ich sie verlassen. Doch ich weiß, dass wir diese Nacht noch eine Mission haben, und bereite mich schon mal darauf vor. Ich lege mir den Gürtel mit Wurfmessern an, befestige jeweils einen Dolch im Inneren meiner Stiefel und spanne die kleine Armbrust, die ich später an meinen Rücken befestigen werde. Mit den Waffen an meinem Körper fühle ich mich gleich besser – es hat mir zutiefst widerstrebt, sie für den Besuch im Senatsgebäude abzulegen.
Bald schon kann ich die Schritte von Erebus hören, auch wenn er sich wie immer beinahe lautlos bewegt. Als er in meine Kammer tritt und bemerkt, dass ich bereit bin, nickt er zufrieden, was mich innerlich triumphieren lässt.
»Du kennst deine Aufgabe?«, fragt er, woraufhin ich ihn erstaunt anblicke. Sofort verengen sich seine Augen, denn ich sollte meine Emotionen nicht so offen zeigen. Schnell konzentriere ich mich darauf, mein Gesicht ausdruckslos werden zu lassen.
»Ich werde die Mission allein ausführen?«, frage ich schließlich so monoton wie möglich.
»Du bist nun bereit, auch ohne mich rauszugehen«, sagt Erebus wohlwollend. »Du hast es oft genug bewiesen. Zudem müssen wir testen, ob du für deine große Aufgabe bereit bist.«
Ich werde von Stolz erfüllt und nicke überzeugt. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Meister.«
»Dann geh nun. Du weißt, was zu tun ist.«
Nach seinen Worten schwinge ich mich ohne zu zögern durch das Fenster meiner Kammer und komme beinahe lautlos auf dem regennassen Steinboden auf. Ich werde eins mit der Nacht und finde ohne Schwierigkeiten mein Ziel. Es ist das Reichenviertel der Stadt, in dem auch die meisten Senatoren in prachtvollen Villen leben. Erebus hat mir bei einem unserer Streifzüge gezeigt, in welchem Haus die Person wohnt, um die ich mich gleich kümmern werde.
Zunächst vergewissere ich mich, dass mich niemand beobachtet, und suche mir dann einen Weg durch die makellos gestutzten Hecken des Grundstücks. Wie erwartet stehen vor der Eingangstür zwei Wachen, aber ich bin weit genug entfernt, um ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen. Ich umrunde die Villa, welche aus sandfarbenen Steinen erbaut wurde, und deren Dach aus rostroten Ziegeln besteht. Ich husche von Fenster zu Fenster, nur um festzustellen, dass sich die Schlafräume wohl im oberen Stockwerk befinden.
Also suche ich nach einem Balkon und werde auch schnell fündig. Dass Kletterpflanzen an dieser Stelle nach oben ranken, erleichtert mein Vorhaben noch zusätzlich. Flink hangele ich mich an dem Gewächs nach oben und erreiche ohne Schwierigkeiten das schmiedeeiserne Geländer. Ich presse mich an die Steinwand, denn durch die teils gläserne Balkontür schimmert schwaches Kerzenlicht. Bei einem vorsichtigen Blick ins Innere entdecke ich meine Zielperson. Ich erkenne den alten, mageren Mann sofort, denn er war ebenfalls im Ratssaal der Senatoren anwesend.
Probeweise drehe ich am Knauf der Balkontür – und tatsächlich ist sie nicht abgeschlossen. Der Alte scheint sich also trotz seiner vielen Feinde sicher zu fühlen – oder verlässt sich blind auf seine nutzlosen Wachen am Eingang.
Lautlos wie eine Katze betrete ich das Gemach und mustere den Schlafenden für eine Weile. Ich weiß nicht, weshalb er beseitigt werden soll, doch wenn mein Meister es befiehlt, muss es richtig sein. Also zücke ich meinen Dolch, dessen schwarze Klinge im Mondlicht aufblitzt, und beuge mich über den Mann. Mit einer geübten Bewegung lasse ich den Dolch über seinen Hals fahren, sodass die Kehle sauber durchgeschnitten wird. Der Alte reißt die Augen auf und drückt röchelnd die Hände auf die Wunde. Stumm beobachte ich seinen Todeskampf, wohl wissend, dass er keine Chance hat, ihn zu gewinnen. Das scheint auch der Mann zu begreifen, als sich mit einem letzten gurgelnden Laut unsere Blicke treffen, ehe seine Augen ausdruckslos werden. Sein Kopf sackt beiseite und auf der weißen Decke unter ihm breitet sich langsam ein roter Fleck aus.
Ohne jegliches Gefühl schaue ich auf die Leiche hinab und spüre keinen Triumph dabei, die Mission ohne Zwischenfall hinter mich gebracht zu haben. Doch ich empfinde gleichzeitig keine Trauer über das verlorene Menschenleben. Das Leben, das ich gestohlen habe.
Routiniert stecke ich meinen Dolch zurück in die Halterung und verlasse die nun verwaiste Villa, um zu meinem Meister zurückzukehren.
Schon bei Sonnenaufgang breche ich auf, um auf die Jagd zu gehen. Es ist die einzige Tätigkeit, bei der ich nicht nachdenken und zudem keinen Menschen begegnen muss. Verträumt beobachte ich, wie die Wipfel der Berge in Morgenlicht getaucht werden und es beinahe so wirkt, als würden sie brennen. Ich durchquere einen kleinen Nadelwald, dessen Bäume sich in den felsigen Boden krallen, und halte aufmerksam Ausschau nach Kaninchen oder Rehen.
Lange Zeit bleibt meine Suche jedoch erfolglos, und irgendwann schaffen es meine tobenden Gedanken wieder, meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Die ganze Nacht habe ich bereits wach gelegen und konnte nicht aufhören, über den Kuss mit Ascian nachzudenken. Ob es ein Fehler war, den ich schon bald bereuen werde? Ja, ich kann nicht leugnen, dass ich schon lange mehr für ihn empfinde als Freundschaft. Doch was ist, wenn ich es vermassle und ihn verliere? Er ist die einzige Person, die mich nicht für völlig seltsam hält – selbst meiner Mutter kann ich manchmal ansehen, dass sie mich nicht versteht.
Ich weiß, dass ich sehr abweisend wirke und oft Menschen von mir stoße, wenn sie sich mit mir unterhalten wollen. Ich habe stets das Gefühl, Verurteilung in ihren Gesichtern zu lesen, denn es ist bis heute nicht klar, ob der Adler mein Krafttier ist und ich überhaupt in meinen Clan gehöre. Normalerweise zeigt sich schnell, welchem Krafttier man zugehörig ist – auch, wenn man, wie ich, Vorfahren aus allen vier Clans hat. Doch bei mir verhält es sich anders, und das kann sich niemand erklären. Manchmal, wenn ein Adler in der Nähe ist, fließt dieses euphorische Gefühl, von dem alle reden, durch meine Adern. Aber dann ist es so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen ist.
Ich seufze tief und versuche, meine Gedanken wieder auf die Jagd zu wenden. Tatsächlich habe ich Glück und höre in einiger Entfernung ein Rascheln aus einer Brombeerhecke. Während ich mich heranpirsche und einen Pfeil aus meinen Rückenköcher ziehe, entdecke ich ein kleines graues Kaninchen, welches ahnungslos an einem Blatt knabbert. Langsam und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, lege ich den Pfeil an den Bogen und ziele auf das Tier. Ich presse konzentriert meine Lippen aufeinander und mache mich bereit, loszulassen.
Doch dann blickt das Kaninchen mich geradewegs mit seinen sanften dunklen Augen an, was mich meine Waffe unwillkürlich wieder sinken lässt. Was ist bloß in mich gefahren? Als ich einen leisen und frustrierten Fluch ausstoße, sucht das Kaninchen endlich das Weite. Ich rede mir ein, dass diese Beute ohnehin nicht nötig gewesen wäre, da unser Clan derzeit gut mit Nahrung versorgt ist. Dennoch ärgere ich mich darüber, dass mich die wirren Gedanken selbst bei der Jagd verfolgen.
Rastlos laufe ich noch eine Weile weiter, bis ich den kleinen Wald verlasse und auf einen schmalen Pfad gelange, an dem auf einer Seite ein steiler Abgrund klafft. Ein falscher Schritt und ein furchtbarer Tod wäre mir gewiss. Dennoch genieße ich den Ausblick, der sich mir nun bietet. Ich habe eine herrlich klare Sicht auf das Hochgebirge und kann in der Ferne sogar die Ausläufer der Savanne entdecken, wo der Clan des schnellen Leoparden heimisch ist. Ich war als Kind bereits dort und schon damals fasziniert von dem wilden Dschungel und den Weiten der goldenen Savanne. Einmal glaubte ich sogar, eine Verbindung mit einem nahenden Leoparden zu spüren.
Ich wende mich wieder von diesem überwältigenden Anblick ab und folge mit vorsichtigen Schritten dem Pfad. Dabei streiche ich mit der Hand über die Felswand, die auf der anderen Seite neben mir aufragt. Ich weiß, dass ich keinen Halt mehr finden könnte, wenn der Boden unter mir nachgäbe, doch ich genieße das raue Gefühl des Felsens unter meinen Fingerspitzen.
Ich folge dem Pfad in die Höhe immer weiter, bis ich endlich auf der Spitze des Berges angekommen bin. Eine kühle Brise bauscht mein leichtes Leinenkleid auf, und ich bin froh, eine Hose darunter zu tragen, da ich allmählich zu frösteln beginne. Die Temperaturen an diesem Ort sind deutlich kühler als im Tal.
Als ich mich auf dem Gipfel umschaue, entdecke ich eine Lagerfeuerstelle und einige Baumstümpfe, die darum gereiht worden sind. Also haben meine Clankameraden diesen Ort schon besucht, was mich jedoch nicht verwundert. Ich bezweifle, dass es einen Ort im Hochgebirge gibt, der noch nicht von uns erkundet wurde.
Während ich den Blick abermals über die fernen Berge wandern lasse, werde ich mit einem Mal von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt, an diesem Ort leben zu dürfen – bis diese augenblicklich von Traurigkeit ersetzt wird. Was ist, wenn der Adler wirklich nicht mein Krafttier ist und ich gezwungen bin, in einem anderen Clan zu leben? In der Savanne könnte ich mich vielleicht noch wohlfühlen, aber es graut mir bei dem Gedanken, im kalten Wald beim Clan des weißen Hirsches oder im warmen Wald beim Clan des grauen Wolfes zu leben. Auch diese Reviere habe ich bereits besucht und mich dort fehl am Platz gefühlt.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich plötzlich einen fernen Schrei vernehme – doch er stammt nicht von einem Menschen. Meine Augen weiten sich, als ich am Horizont einen Adler kreisen sehe, der sich allmählich in meine Richtung bewegt. Mit ganzer Kraft konzentriere ich mich darauf, eine Bindung mit ihm aufzubauen, auch wenn diese eigentlich von selbst kommen sollte. Ich schließe sogar die Augen und balle meine Hände zu Fäusten, während jede Faser meines Körpers hofft, etwas zu spüren. Doch da ist nichts.
Während ich meine Augen wieder öffne, rechne ich damit, dass der Adler weggeflogen ist und ich deswegen keine Verbindung wahrnehme. Als ich den Kopf jedoch in den Nacken lege, sehe ich, dass er direkt über mir kreist. Tränen schießen mir in die Augen, denn nun bin ich mir sicher: Ich bin kein vollwertiges Mitglied vom Clan des großen Adlers.
Ich stürme blindlings los und achte kaum auf meine Umgebung. Als ich keuchend und weinend im Nadelwald stehen bleibe, weiß ich nicht, wie ich den gefährlichen Pfad unbeschadet hinter mich gebracht habe. Vermutlich habe ich es nur meinen Instinkten zu verdanken, nicht in die Tiefe gestürzt zu sein. Schniefend reibe ich mir über die tränennassen Wangen und setze mich auf einen Felsbrocken.
Ich weiß nicht, wie ich Ascian je wieder gegenübertreten kann, denn nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir eine Zukunft haben. Er muss für den Clan des großen Adlers da sein, während ich nicht mehr hierhergehöre. Es wäre zwar nicht verboten, als seine Gefährtin weiterhin hier zu leben, aber ich glaube nicht, dass ich das unter diesen Umständen möchte. Ich will nicht von Ascian abhängig sein, auch wenn ich weiß, dass ich ihm voll und ganz vertrauen kann.
Als die Sonne bereits hoch am Himmel steht, raffe ich mich endlich auf, in das Lager zurückzukehren. Ich muss mit Ascian reden und ihm sagen, was passiert ist. Und ihn überzeugen, dass er ohne mich besser dran ist.
Als der Höhleneingang in mein Sichtfeld gelangt, sehe ich gerade noch, wie Iyan im Dickicht verschwindet. Ich runzele die Stirn, denn auch wenn nichts daran ungewöhnlich ist, dass er allein unterwegs ist, kommt es mir irgendwie verdächtig vor. Instinktiv weiß ich, dass Ascians bester Freund etwas vorhat, wobei er nicht gesehen werden möchte. Ich möchte ihm gerade folgen, doch da sehe ich im Augenwinkel, dass eine Person auf mich zukommt.
»Jasira«, ruft Ascian und bleibt mit strahlenden Augen vor mir stehen. »Ich habe dich schon überall gesucht.«
Ihn so glücklich zu sehen, lässt mein Herz noch schwerer werden. Wie immer wirkt er so unschuldig und liebenswürdig mit seinem sommersprossigen Gesicht und den stets fröhlich funkelnden grünen Augen. Und ich werde es sein, die sein Herz bricht, weil ich nicht weiß, wo ich hingehöre.
»Ascian, wir müssen reden«, sage ich mit rauer Stimme und weiche seinem Blick aus. Dennoch bemerke ich, wie seine Stimmung augenblicklich sinkt und er mich besorgt mustert.
Mit gesenktem Kopf entferne ich mich vom Höhleneingang, während Ascian mir folgt, bis ich zwischen mehreren Felsen einen geschützten Ort gefunden habe. Ich setze mich in das Gras und hasse mich schon jetzt für das, was ich Ascian gleich sagen werde.
»Ist es wegen dem Kuss?«, platzt es schließlich aus ihm heraus. »Habe ich dich bedrängt? Fühlst du überhaupt mehr als Freundschaft für mich?«
Gegen meinen Willen muss ich bei seiner Flut an Fragen lächeln und verspüre wieder dieses warme Gefühl, das ich seit langem in seiner Gegenwart empfinde. Ich deute auf eine Stelle neben mich, auf die sich Ascian dann mit unsicherem Blick setzt.
»Nein, du hast mich nicht bedrängt, und ich fand den Kuss wunderschön«, stelle ich klar und merke, dass ich bei der Erinnerung rot werde.
Ascian atmet erleichtert auf und nimmt meine Hand. »Worum geht es dann? Um die Unsicherheiten wegen deines Krafttieres?«
Ich beiße mir ertappt auf die Lippe. Ascian kennt mich einfach zu gut.
»Ja und nein«, antworte ich zögerlich. »Ich weiß nun, dass der Adler mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mein Krafttier ist. Und darum kann ich nicht mehr hierbleiben.«
Die Augen meines Freundes weiten sich entsetzt, aber ich bin noch nicht fertig. »Der eigentliche Grund, weshalb ich mit dir reden will, ist, dass wir es bei Freundschaft belassen sollten. Zumindest vorerst, bis ich weiß, wer ich überhaupt bin.«
Ohne etwas zu erwidern, zieht mich Ascian in eine feste Umarmung, in die ich mich voller Erleichterung sinken lasse. Meine größte Angst war, dass er mich nach meinen Worten hassen würde. Ich schließe die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, und atme Ascians vertrauten Duft nach Wald und Kräutern aus Taeseras Höhle ein.
Irgendwann löst sich Ascian vorsichtig aus der Umarmung. Er streicht sich eine Strähne seines dunklen Haares aus der Stirn und blickt mich ernst an. »Egal was passiert – versprich mir, dass wir uns nicht verlieren.«
Ich nicke voller Überzeugung. »Natürlich. Du weißt, dass ich alles für dich tun würde.«
Ascian lächelt, und er blickt mich so voller Liebe an, dass es wehtut.
Wieder stehe ich mit Erebus im Ratssaal und höre mir die weiteren Schritte des großen Planes an. Mittlerweile weiß ich, dass ich den Platz von diesem Ascian einnehmen soll. Angeblich sehe ich ihm sehr ähnlich, auch wenn ich bezweifle, dass sein Umfeld so blind ist, darauf reinzufallen. Dennoch werde ich mein Bestes geben, um Erebus nicht zu enttäuschen.
»Jodan, trete vor«, befiehlt Titus irgendwann, als die grundlegenden Förmlichkeiten besprochen sind.
Ein großer, hagerer Mann steht von seinem Sitzplatz auf, und ich bemerke nicht zum ersten Mal, dass er anders als die anderen Senatoren aussieht – genau genommen nicht mal wie ein Bewohner der Stadt. Er hat tiefschwarzes Haar, das mit silbergrauen Strähnen durchzogen ist, blasse Haut und stechend graue Augen. Seine Haltung ist unsicher, so als würde er sich unter den Blicken der anderen Senatoren nicht wohlfühlen. Auch fällt mir auf, dass er es vermeidet, zu mir zu schauen.
»Berichte uns, Jodan, ob der Junge ohne Namen eine gute Kopie von diesem Schamanenschüler abgeben würde«, sagt Titus mit seiner aalglatten Stimme und blickt herablassend zu dem Angesprochenen.
»Nun, ich habe Ascian zuletzt vor einem Jahr gesehen«, stammelt Jodan und räuspert sich. Wieder ist ihm deutlich sein Unwohlsein anzumerken.
Endlich blickt er zu mir, auch wenn es ihn offensichtlich seine ganze Überwindung kostet. Ich glaube, dass schlechtes Gewissen in seinen Augen aufblitzt, und frage mich allmählich, ob er überhaupt dem Senat angehört.
»Aber dennoch kann ich sehen, dass die beiden sich sehr gleichen«, fährt er fort, als er neuen Mut geschöpft hat. »Allerdings ist die Haut von Ca… ich meine, von diesem Jungen, deutlich bleicher. Ascian sieht zudem wohlgenährter aus und wirkt viel offener und fröhlicher. Ich würde sogar sagen, dass er noch eine kindliche Naivität beibehalten hat, wenn sich das nicht mittlerweile geändert hat.«
Titus nickt wohlwollend. »Danke, Jodan, du kannst dich wieder setzen. Bei Gelegenheit werden wir erneut auf dein Wissen zugreifen.«
Erleichtert zieht sich der Mann zurück, und ich frage mich unwillkürlich, wo dieser Ascian lebt, wenn der fremdaussehende Mann der Einzige ist, der ihn kennt. Schnell konzentriere ich mich wieder auf das Gespräch, denn es ist mir verboten, über solche Dinge nachzudenken, die mich nichts angehen. Erebus wird entscheiden, was ich wissen sollte und was nicht.
»Wann wird die Mission beginnen?«, fragt mein Meister mit seiner leisen, rauen Stimme.
Titus blickt ihn genervt an, woraufhin sich eiskalte Wut in mir breitmacht – eines der wenigen Gefühle, die ich zulassen darf, wenn sie Erebus nützen.
»Da dein Junge Brutus erfolgreich beseitigt hat, ist nun niemand mehr da, der uns Steine in den Weg legt«, stellt der Senator fest. »Also wird es bald schon so weit sein. Vielleicht schon in wenigen Wochen. Und bis dahin siehst du zu, dass du deinem Jungen ordentlich zu essen gibst und er die Sonne sieht. Außerdem bringst du ihm bei, nach außen hin nicht so mürrisch und emotionslos zu wirken. Und nun geht.«
Titus macht eine abwertende Handbewegung in unsere Richtung, woraufhin meine Wut wieder zu kochen beginnt. Ich blicke zu meinem Meister, denn ich warte auf seinen Befehl, diesen arroganten Senator anzugreifen. Doch zu meiner Überraschung deutet er eine unterwürfige Verbeugung an und gibt mir ein Zeichen, dass wir nun gehen. Für einen winzigen Augenblick habe ich das Bedürfnis, mich seinem Befehl zu widersetzen, und das erschreckt mich zutiefst. Hastig folge ich Erebus, um nicht weiter darüber nachzudenken und den rebellischen Impuls im Keim zu ersticken.
Als ich noch ein Kind war, gab es immer wieder Phasen, in denen ich meinem Meister widersprochen habe, und das habe ich teuer bezahlt. Jedes noch so kleinste Aufbegehren wurde mir ausgetrieben. Und mittlerweile ist mir nichts wichtiger als meine Treue zu Erebus. Das sage ich mir immer wieder in Gedanken, während ich ihm durch die Gänge folge.
Als wir das Senatsgebäude verlassen haben und in eine dunkle Gasse eingebogen sind, bleibt mein Meister ruckartig stehen.
»Schau mich an, Junge«, raunt er so leise, dass seine Stimme beinahe in den Geräuschen der Nacht untergeht. Seine tiefschwarzen Augen mustern mich eingehend, als ich seinem Befehl gehorche. »Du wirst diese Mission erfolgreich absolvieren. Seit ich dich bei mir aufgenommen habe, wurdest du auf diese Aufgabe vorbereitet, also wirst du alles dafür tun, um mich nicht zu enttäuschen. Es ist wichtig, dass du Folgendes weißt: Zwar kümmert sich der Senat darum, dass alles organisiert wird, doch unser eigentlicher Auftraggeber ist König Nainor.«
Für einen kurzen Moment bin ich überrascht. Wenn mich der König höchstpersönlich auf diese Mission schickt, ist sie sogar noch wichtiger, als ich bisher angenommen habe.
»Morgen werde ich dir weitere Details nennen«, fährt Erebus fort und blickt sich misstrauisch um. »Hier ist allerdings nicht der richtige Ort dafür. Wer weiß, ob diese Wilden nicht Späher in die Stadt geschickt haben.«
»Wer sind diese Wilden?«, wage ich zu fragen und hoffe, nicht zu weit gegangen zu sein.
Tatsächlich wirkt Erebus kurz verärgert, aber scheint ausnahmsweise über mein eigensinniges Verhalten hinwegzusehen. »So viel kann ich dir schon mal verraten: In der Wildnis, weit außerhalb der Zivilisation, leben vier barbarische Clans, die es nur darauf abgesehen haben, uns Stadtmenschen zu schaden.«
Ich nicke, denn nun weiß ich endlich, um wen es bei meiner Mission vermutlich gehen wird.
»Und nun komm, Junge«, sagt Erebus. »Morgen musst du zum ersten Mal tagsüber wach bleiben. Du solltest also nun schlafen gehen.«
Ein Anflug von Widerwillen breitet sich in mir aus, denn ich bewege mich gerne im Schutz der Nacht. Dennoch werde ich meinem Meister nicht widersprechen und nicke gehorsam.
Ich wache bereits früh am Morgen auf. Als mir wieder einfällt, dass ich mich gleich von Jasira verabschieden muss, werde ich von Trauer überwältigt. Am liebsten würde ich einfach alles stehen und liegen lassen, um mit ihr zu gehen, doch ich weiß, dass ich das dem Clan des großen Adlers nicht antun kann. Ich bin Taeseras Erbe und dadurch wiegt meine Verantwortung schwer – von der Prophezeiung, die mir Tag und Nacht durch die Gedanken kreist, ganz zu schweigen.
Seufzend erhebe ich mich von meinem Bett, ziehe mir ein luftiges schwarzes Hemd sowie kurze Hosen an und verlasse mein Zimmer, das nur durch einen Vorhang vom fackelerhellten Gang getrennt wird. Die Schlafräume wurden vor unzähligen Jahren in die Felswände gehauen, doch der Rest der Höhle ist naturbelassen.
Lustlos laufe ich zum Eingang, wo ich mit Jasira verabredet bin. Nur wenige Clanmitglieder werden ebenfalls dort sein, um sie zu verabschieden, denn sie hat nicht viele Freunde und Verwandte in diesem Lager. Als ich ins Freie trete, stehen dort tatsächlich nur ihre Mutter und Taesera sowie unser Anführer, der vor zwei Tagen in das Hauptlager zurückgekehrt ist. Er hatte eine Reise durch die Nebenlager unternommen, um nach dem Rechten zu sehen, was zu seinen regelmäßigen Aufgaben zählt.
Er ist ein Mann mittleren Alters mit dunkelbraunem Haar und stets ernst blickenden grünen Augen. In seiner Hand hält er die Zügel eines schwarzen Pferdes, das bereits fertig gesattelt ist und Jasira auf ihrer Reise begleiten wird. Jasira selbst ist jedoch noch nicht hier, und nachdem ich mich zu der kleinen Gruppe gesellt habe, spreche ich zuerst ihre Mutter an. Ich weiß, dass sie kein enges Verhältnis zu ihrer Tochter hat, und bin gespannt, was sie über ihr Vorhaben denkt.
»Wird Jasira zuerst zu ihrem Vater reisen?«, frage ich, denn darüber habe ich mit meiner Freundin noch nicht gesprochen.
Ihre Mutter winkt ab, und man merkt gleich, was sie von ihrem ehemaligen Gefährten hält, der vor vielen Jahren in seine Heimat bei dem Clan des weißen Hirsches zurückgekehrt ist. »Wer weiß, ob er Jasira überhaupt noch erkennt. Er schien ja nicht viel Interesse an seiner Tochter zu haben und hat die ganze Arbeit mir überlassen.«
Die Frau schüttelt verbittert den Kopf, wobei sich eine der lockigen braunen Strähnen aus ihrem Zopf löst. Ich weiß, dass sie damals sehr jung Mutter geworden ist und mit der Erziehung von Jasira völlig überfordert war. Das hat mir zumindest mein Vater erzählt, aber das wäre definitiv eine Erklärung für das kühle Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.
Irgendwann tritt endlich auch Jasira ins Freie und ich muss mich beherrschen, um ihr nicht sofort freudig entgegenzulaufen. Sie sieht so wunderschön aus mit ihrem zurückhaltenden Lächeln und den locker hochgesteckten blonden Haaren, die in der Morgensonne golden glänzen. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, als sie geradewegs auf mich zugeht und mich in die Arme schließt.
»Dich werde ich am meisten vermissen, aber sag das nicht den anderen«, raunt sie scherzhaft in mein Ohr.
Für einen Moment ziehe ich in Erwägung, sie einfach zu küssen, doch damit täte ich weder ihr noch mir einen Gefallen. Also löse ich mich widerwillig von ihr und lächle sie traurig an. »Pass auf dich auf und bring dich nicht in Schwierigkeiten.«
»Das sagt der Richtige«, sagt sie grinsend und gibt mir einen freundschaftlichen Stoß gegen die Schulter. Dann wendet sie sich an die anderen, weicht jedoch dem Blick ihrer Mutter aus. »Ich danke euch, dass ich in diesem Clan zuhause sein konnte, obwohl nie klar war, ob der Adler mein Krafttier ist. Doch nun muss ich herausfinden, ob ich eine Verbindung zum weißen Hirsch aufbauen kann.«
Sie winkt ein letztes Mal, wobei sie nur mich anschaut, befestigt ihre Taschen am Sattel und schwingt sich auf den Rücken des Pferdes. Dann lenkt sie das Tier auf den Pfad und entfernt sich immer weiter von uns, was mit einem Mal tiefe Verzweiflung in mir auslöst. Ich möchte ihr hinterherlaufen, ihr sagen, dass sie hierbleiben soll. Aber ich weiß: Egal, was ich tun würde, ich kann sie hier nicht festhalten.
Und so blicke ich Jasira lange Zeit hinterher, während die anderen längst in die Höhle zurückgekehrt sind, und wende mich erst ab, als meine Freundin nicht mehr zu sehen ist.
Lustlos übe ich vor dem Höhleneingang den Tarnzauber, der mir noch immer nicht zufriedenstellend gelingen will. Mittlerweile sind schon fünf Tage vergangen, seit Jasira aufgebrochen ist.
Irgendwann, als ich etliche Male vergebens versucht habe, meine Magie erfolgreich heraufzubeschwören, tritt Iyan aus einem nahen Wald. Als er mich entdeckt, kommt es mir so vor, als würde er für einen Moment ertappt dreinblicken. Dann erscheint jedoch das übliche schiefe Grinsen auf seinem Gesicht und er kommt auf mich zu.
»Was tust du denn hier draußen?«, fragt er, woraus ich schließe, dass mein Tarnzauber kein bisschen gewirkt hat. »Solltest du nicht bei Taesera in der Höhle sein?«
Meine Schultern sacken mutlos nach unten, und ich kicke frustriert einen Stein weg. »Ich übe Magie, aber es gelingt mir einfach nicht. Ich muss immer wieder an Jasira denken.«
Mir ist bewusst, dass es keine gute Idee ist, mit Iyan über sie zu reden, aber ich muss meine Gedanken einfach loswerden.
Überraschenderweise wirkt mein Freund ausnahmsweise mitfühlend, obwohl es um Jasira geht. »Ich habe schon länger gemerkt, dass du Gefühle für sie hast. Und darum finde ich es umso verwerflicher, dass sie nun einfach gegangen ist.«
Es war klar, dass Iyan nun doch die Situation nutzt, um Jasira schlechtzumachen. Aber um ehrlich zu sein, bin auch ich ein wenig wütend auf sie, auch wenn ich weiß, dass es unfair ist. Sie möchte herausfinden, wer sie ist, und dabei sollte ich ihr nicht im Weg stehen. Und doch wünscht sich der egoistische Teil von mir, dass sie beim Clan des großen Adlers geblieben wäre.
»Wie wäre es«, unterbricht Iyan mit einem schelmischen Lächeln meine Gedanken, »wenn wir beide auf eine heimliche Patrouille gehen? Sicherlich wird Taesera es nicht merken.«
Sein Angebot klingt verlockend, aber ich bin hin- und hergerissen. Ich sollte nicht schon wieder so schnell aufgeben, denn schließlich geht es um das Wohl unseres Clans. Doch wenn ich so darüber nachdenke … Wofür bräuchte ich überhaupt diesen dämlichen Tarnzauber? Heilmagie ist um einiges wichtiger, und die beherrsche ich beinahe perfekt.
»Also gut«, sage ich und zwinge mich dazu, eine heitere Miene aufzusetzen. »Wo möchtest du denn auf Patrouille gehen? Soweit ich weiß, wurden schon in alle Richtungen Krieger ausgesendet.«
Iyan zuckt unbekümmert mit den Schultern. »Dann lass es uns einfach einen Streifzug nennen. Wir dürfen uns nur nicht beim Nichtstun erwischen lassen.«
Ich bin kurz davor, mich doch gegen das Schwänzen zu entscheiden, aber Iyan ist bereits in die Richtung des Waldes gegangen, aus dem er eben gekommen ist.
»Was hast du eigentlich gemacht, bevor du mich getroffen hast?«, frage ich ihn. Mir fällt auf, dass er meinem Blick ausweicht.
Für einen kurzen Moment kommt es mir so vor, als würde er etwas vor mir verbergen. Doch das ist Iyan, mein bester Freund, seit ich denken kann, und eigentlich schon mein Bruder. Seine Mutter hat dabei geholfen, mich großzuziehen, sodass es sich für mich so anfühlt, als wären sie meine Familie.
Also denke ich mir nichts weiter dabei, als Iyan betont gleichgültig mit den Schultern zuckt und sagt: »Ich sollte eigentlich an einer Patrouille teilnehmen, aber habe verschlafen. Ich wollte den Kriegern folgen, doch habe sie nirgendwo gefunden.«
Nun dreht er sich wieder von mir weg und folgt einem schmalen Pfad, der sich durch dichtes Unterholz schlängelt. Irgendwann beginnt mein Nacken zu kribbeln, und trotz des warmen Wetters fröstele ich. Etwas stimmt nicht, doch ich komme nicht darauf, was es sein könnte.
»Vielleicht sollte ich doch zurückgehen und weiterlernen«, rufe ich Iyan zu, denn mittlerweile bin ich weit zurückgefallen.
Mein Freund wirbelt herum und sagt ein wenig zu schnell: »Nein, bleib bitte bei mir.« Er stutzt und scheint selbst zu bemerken, wie seltsam er sich verhält. Er atmet tief durch und schließt für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnet und zu mir blickt, wirkt er traurig. »Ich muss dir etwas erzählen, was sonst niemand mitbekommen darf. Möglicherweise stecke ich in Schwierigkeiten und brauche deine Hilfe.«
Ich reibe mir die Arme, denn das Frösteln hört einfach nicht auf. Immer wieder sage ich mir, dass ich Iyan vertrauen kann und er wohl wirklich meine Hilfe braucht. Und doch weiß ich instinktiv, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.
»Es tut mir leid, aber ich muss nun wirklich zurück«, sage ich unsicher und versuche, nicht auf den enttäuschten Ausdruck in Iyans Gesicht zu achten.
Sicherlich wird sich das bald schon als ein Missverständnis herausstellen und wir können über diese Situation lachen, aber nun drängt erst mal alles in mir, die Flucht zu ergreifen. Doch gerade, als ich mich umdrehe, um den Rückweg anzutreten, stellt sich mir eine fremde Person in den Weg.
»Du gehst nirgendwo hin«, sagt ein bedrohlich wirkender Mann, dessen Gesicht beinahe vollständig verhüllt ist.
Panisch weiche ich zurück und möchte zu Iyan laufen, um an seiner Seite zu kämpfen, aber als ich den eiskalten Blick meines besten Freundes sehe, bleibe ich ruckartig stehen. Nein, das kann nicht sein. Iyan kann mich unmöglich derart verraten. Und doch kann ich es nicht mehr leugnen, als er auf mich zukommt, meine Arme packt und sie hinter meinem Rücken festhält. Ich bin nicht in der Lage, mich zu wehren, auch wenn eine Stimme in meinem Kopf ruft, dass ich es tun muss. Die Enttäuschung über Iyans Verrat nimmt mich völlig gefangen, und es kommt mir so vor, als würde ich diese ganze absurde Situation aus der Perspektive eines Außenstehenden betrachten.
Erst als der fremde Mann auf mich zukommt und einen Lappen mit einer übelriechenden Flüssigkeit tränkt, geht endlich ein Ruck durch meinen Körper und ich erwache aus der Starre. Ich konzentriere mich auf meine Magie, die ich bis zu meinen Händen leite und schließlich gegen meinen besten Freund einsetze. Es ist kein starker Abwehrzauber, aber Iyan lässt mich mit einem schmerzerfüllten Schrei los. Ich zögere keinen Moment, stoße ihn ins Unterholz und laufe los, so schnell ich kann. Das Geräusch von Schritten hinter mir verrät, dass der Fremde die Verfolgung aufgenommen hat, und so erhöhe ich meine Geschwindigkeit noch weiter.