Die coolen Jungs stehen jetzt hinterm Tor - Mikis Wesensbitter - E-Book

Die coolen Jungs stehen jetzt hinterm Tor E-Book

Mikis Wesensbitter

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Beschreibung

Für Mikis und seine Freunde Kai und Wenzel beginnt die neunte Klasse und ein Fußballjahr, das sie niemals vergessen werden. Aber natürlich besteht das Leben nicht nur aus Fußball. Schließlich darf man mit 15 endlich in die Disko, hat weniger Probleme beim Zigarettenkauf und ist auch viel interessanter für Mädchen. Und so warten nicht nur viele neue Abenteuer auf die drei, sondern auch Wehrkundeunterricht, die erste große Liebe, der ABV. Und Chemie Leipzig … Nach „An der Mittellinie stehen die coolen Jungs“ erzählt Mikis Wesensbitter nun die Geschichte vom 1. FC Union -Fanclub „Oberspree/Süd“ weiter und beantwortet wichtige Fragen: Kann man dem Friseur trauen? Muss man sich den Mund mit Kernseife auswaschen, wenn man mit jemandem von der Stasi angestoßen hat? Und vor allem: Darf man mit Frauen knutschen, die Weinrot tragen? Ein Coming-of-Age-Roman mit viel Fußballromantik, Freundschaft und Herz. Und die wohl authentischste literarische Reise in die letzten Jahre der DDR.

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EPUB

Seitenzahl: 385

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Mikis Wesensbitter wurde 1968 geboren und geht seit 40 Jahren zu Union. Lange genug also, um zu wissen, dass Gewinnen nicht alles ist, dass auch ein Abstieg niemals das Ende ist und vor allem, dass Union viel mehr ist als Fußball!

Nach zehn Jahren in der Musikbranche wechselte Mikis Wesensbitter zum Journalismus und arbeitet seitdem für diverse Magazine. In seiner Freizeit fotografiert er Bier, pflegt einen Balkonkasten mit heiligem Aufstiegsrasen aus der Alten Försterei und träumt davon, aufs Land zu ziehen, wenn er groß ist.

Mit „Die coolen Jungs stehen jetzt hinterm Tor“ entführt Mikis die Leser nun zum vierten Mal in die seltsame und skurrile Welt des real existierenden Sozialismus. In ein Land voll mit Uniformen, Kittelschürzen und rustikalen Ausdrucksformen. In ein Land voller Zwänge und gleichzeitig voller Freiräume, in dem Freundschaft immer wichtiger war als Geld und in dem den Schülern Eselsohren gewachsen sind, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Also zumindest hat er das seinen Kindern immer erzählt.

Von Mikis Wesensbitter sind zuvor in der Edition Subkultur erschienen:

„Wir hatten ja nüscht im Osten  … nich ma Spaß“

„Hört Franka eigentlich noch Black Metal?“

„Guten Morgen, du schöner Mehrzweckkomplex“

„An der Mittellinie stehen die coolen Jungs“

Mikis Wesensbitter

Die coolen Jungsstehen jetzthinterm Tor

ROMAN

edition.subkultur.de

Mikis Wesensbitter: „Die coolen Jungs stehen jetzt hinterm Tor“1. Auflage, August 2023, Edition Subkultur Berlin

© 2023 Periplaneta - Verlag und Medien / Edition Subkultur Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlinedition.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.Lektorat, Satz & Layout: Thomas Manegold

Schlusskorrektorat: Marion Alexa MüllerTitelfoto: Milena Mildeprint ISBN: 978-3-948949-26-6

epub ISBN: 978-3-948949-27-3

Vorwort

Als ich im September 1982 das erste Mal in die Alte Försterei ging, konnte ich nicht ahnen, was dieser Nachmittag für Folgen haben würde. Da wusste ich noch nicht, dass ein schnödes DDR-Fußball-Oberligaspiel zwischen dem 1. FC Union Berlin und Vorwärts Frankfurt/Oder der Beginn einer nun schon über 40 Jahre währenden Liebe werden würde. Als ordentliches Ostkind war ich vor allem möglichen gewarnt worden. Vor vergessener Weltkriegsmunition, westlichen Agenten, liederlichen Mädchen, die viel zu früh schwanger werden wollen, vor Schlaghosen, die sich in Rolltreppen verfangen und vor tollwütigen Eichhörnchen. Aber niemand hatte mich davor gewarnt, dass man sich mit einem eisernen Virus infizieren kann, der länger hält, als jede Jugendliebe und alles, was danach kommt.

Inmitten der vielleicht größten Fußball-Euphoriewelle, die mich je getragen hat, in Unions erster Bundesligasaison, kam Corona über die Welt. Selbst in finstersten Zonenzeiten war es nie so trist, hoffnungslos und grau wie im Frühling 2020. Selbst die frechen Gänseblümchen wollten nicht richtig wachsen. Und da holte ich die Erinnerungskisten aus dem Keller, entstaubte alte Tagebücher und Hefte und schrieb „An der Mittellinie stehen die coolen Jungs“. Die Geschichte von Wenzel, Kai und mir und unserem ersten Jahr als Nachwuchs-Unioner. Das daraus tatsächlich ein richtiges Buch werden würde, konnte ich nur hoffen.

Und nun ist „Die coolen Jungs stehen jetzt hinterm Tor“ fertig, die Fortsetzung der Geschichte vom Union Fanclub Oberspree/Süd, die es ohne euch nie gegeben hätte. Ohne euch tolle Leser, die ich im Stadion, in der Kneipe oder per Mail und Brief getroffen habe.

Ich war jedesmal aufs Neue verblüfft zu hören (oder zu lesen), was das Buch ausgelöst hat! Wie beim Lesen die Erinnerungsreise in die eigene Jugend gestartet ist, oder wie ihr euch in der Geschichte selbst wiederentdeckt habt.

Ich habe so viele großartige Menschen kennengelernt, die ich ohne das Buch vielleicht nie getroffen hätte. Solche Momente machen viel glücklicher als Schecks, gefakte Bestsellerlisten oder komische Literaturpreise und Auszeichnungen.

Besonders gefreut habe ich mich auch über die vielen Leser, die eher zu Sachsenring Zwickau, Hansa Rostock, dem 1. FC Magdeburg, Stahl Riesa oder Dynamo Dresden stehen. Denn letztendlich ist es eine universelle Geschichte, wie man sein Herz an einen Fußballclub verliert und den Farben treu bleibt.

Ich wünsche euch auch mit dem neuen Buch eine spannende und unterhaltsame Reise ins Gestern.

Und niemals vergessen: Die Vergangenheit lebt irgendwie auch in der Gegenwart weiter!

PS: Noch ein Tipp von meiner Omi: „Wer langsam liest, hat länger Spaß!“

PPS: Aller guten Dinge sind bekanntlich drei! In dem Fall aber bestimmt und definitiv nicht. Noch einen Teil werde ich nicht schreiben! Obwohl, man soll ja bekanntlich niemals nie sagen.

August 1983

Am Samstag begann die neue Oberligasaison und Union musste zum Auftakt nach2 Karl-Marx-Stadt. Kai hatte vorgeschlagen, dass wir uns dort treffen und gemeinsam zum Spiel gehen. Von Großvoigtsberg aus war das ja relativ leicht, erst mit dem Bus nach Freiberg und dann weiter mit dem Bummelzug. Fahrzeit eine knappe Stunde, aber mit Aufenthalt und Warten wären es doch fast zwei Stunden. Kai konnte von Berlin aus durchfahren, das dauerte knappe vier Stunden. Aber irgendwie hatte er dann doch keine Lust und so saß ich Sonnabend im Gasthaus Zum Bär und guckte das Spiel alleine. Also nicht alleine, es waren noch jede Menge Bauern da. Und die hatten richtig Spaß. Weil Wismut Aue beim BFC 0:0 spielte und weil die blöden Karl-Marx-Städter uns mit 4:0 nach Hause schickten.

Die Frisösin Müller gab mir drei Trost-Eierlikör und ein Bier aus. Dafür musste ich sie aber auch nach Hause bringen, denn die hatte wieder ordentlich Schlagseite.

Dienstag kam ein Brief von Kai:

Hallo Miggie!

Mein Güte, was war denn das bitte am Sonnabend? Wir können doch nicht ernsthaft 4:0 gegen so einen Sachsen-Klub verlieren. Das ist ja voll peinlich. Hoffe nicht, dass du das gefeiert hast mit deinen Dorfkumpels. Sonst biste nämlich raus aus dem Fanclub Oberspree/Süd.

Mittwoch treffe ich mich mit Kalle und Atze in Oberschöneweide. Da gehen wir ein Bier trinken und bereiten das Spiel gegen Jena vor.

Haha, nachher kommt Abenteuer mit Blasius im Ferienprogramm. Den guckste bestimmt auch, oder?

Eisern

Kai

PS: Kennste den noch?

Auf der grünen Wiese

lag der dünne Lack,

kam die dumme Liese,

fummelt ihm am Sack.

Fummelt am Vergaser,

fummelt am Magnet,

haut den dritten Gang rein,

bis die Stange steht.

Ich schrieb zurück:

Hallo Gai,

nee, ich hab das ganz bestimmt nicht gefeiert. Musste aber miterleben, wie die Dorftrampel sich gefreut haben. Und das war ganz schön bitter. Besonders, als sie auch noch anfingen: „Goarl Morx Stoadd“ zu singen.

Blasius hab ich gesehen und beim Film ein Paket Salzstangen gefressen. Hinterher war mir schlecht. Hier regnet es seit drei Tagen ununterbrochen, das ist ganz schön trostlos. Aber Omi sagt, da wachsen die Pilze. Wenn’s mal irgendwann aufgehört hat, überprüfe ich das.

Was wollt ihr denn vorbereiten? Schon vortrinken? Da musste aber ordentlich kippen, damit das bis Sonnabend anhält …

Eisern

Mikis

PS: Der Spruch war aus dem Ferienlager 1979?

Nachdem ich den Brief zum Dorfbriefkasten gebracht hatte und klatschnass wieder zu Hause angekommen war, riss der Himmel plötzlich auf und die Sonne strahlte. Das machte mich richtig sauer. Ich hing die nassen Klamotten im Garten auf die Leine und hackte in Turnhosen Holz, bis ich nicht mehr konnte.

Am Wochenende sollte Tante Hildegard aus dem Westen zu Besuch kommen. Die hatte ich zuletzt vor drei Jahren gesehen. Omi war ganz aufgeregt und wir putzten das ganze Haus von oben bis unten. Und wir wiederholten im Kanon: „Ruhig bleiben, lächeln und wenn sie Graupen oder Haferflocken mitbringt, die erst aus dem Fenster werfen, wenn sie wieder weg ist!“

Freitagabend klingelte es dann an der Tür und der Postbote kam mit einem Telegramm:

Kann nicht kommen. Oberschenkelhalsbruch. Gruß Hilde.

„Gott sei Dank!“, sagte Omi. „Jetzt ist die Bude sauber und die olle Nervkuh kommt nicht und macht mir schlechte Laune. Bloß schade für die Hühner. Die haben sich doch schon so sehr auf die West-Graupen gefreut. Wir haben uns feiern verdient! Wollen wir zum Bär gehen?“

„Klar!“

Omi zog sich ihre schönste Kittelschürze an und wir machten uns auf den Weg. Der Bär war gerammelt voll, auf der Bühne stand ein Hampelmann hinter der Heimorgel, spielte und sang Schlager. Die Tanzfläche war noch leer. Mir war schon nach drei Minuten schlecht.

Omi bestellte sich einen Schoppen Weißwein und ich ein Freiberger Helles.

Als wir angestoßen hatten, stand plötzlich ein Zausel im Kordanzug an unserem Tisch und fragte Omi, ob sie mit ihm tanzen wollte.

„Heinz, geh weg. Ich tanz schon seit dreißig Jahren nicht mit dir. Und das wird auch so bleiben!“

„Du bist so nachtragend!“, flüsterte er und verschwand.

„Was hat der denn gemacht?“, fragte ich sie.

„Mich in den Arsch gekniffen. Mitten auf der Tanzfläche. Und ich hab ihm vor Schreck eine geklatscht. Das Dorf hat sich drei Wochen lang das Maul zerrissen. Das muss ich kein zweites Mal haben.“

Nach Heinz kamen noch Max, Arno, Ulrich und Achim. Aber Omi ließ sie alle abblitzen.

„So, jetzt reichts aber. Wir gehen nach Hause. Die alten geilen Böcke gehen mir ganz schön auf den Wecker!“, entschied sie und wir machten uns auf den Heimweg.

„Findest du die alle doof?“, fragte ich sie.

„Die stellen sich alle bekloppt an. Aber darüber rede ich erst mit dir, wenn du 16 bist!“

Da würde sie bestimmt viel zu erzählen haben, so oft, wie sie Geschichten, die sie mir erzählen wollte, bis zu meinem 16. Geburtstag verschob!

Hallo Saxenkasper,

das war der Knaller am Mittwoch. Wir waren in Oberschöneweide in einer Prollkneipe, die war so ranzig, das glaubst du nicht. Dagegen ist Gaststätte Oberspree ein echter Nobelschuppen. Wir waren zu fünft. Und hatten einen Tisch im hinteren Raum. Irgendwann kam ein Kunde im Blaumann rein, stellt sich neben unseren Tisch, holt seinen Pinsel raus und pisst an die Wand.

„Alter, dit Klo ist da lang!“, hatte Kalle noch gerufen.

„Dit Klo is da, wo ick hinziele!“, hat der Suffi geantwortet.

Dann kam so ’ne hässliche Tante und hat gefragt, wer ihre Titten anfassen will. Eine Minute für fünf Mark. Wollte aber keiner. Naja, ging ja eigentlich ums Jena-Spiel. Atze kauft ’nen Kasten Bier, stellt den im Keller kalt und mit dem laufen wir dann am Samstag zum Stadion. Treffen uns schon um zwölf in der Wilhelminenhofstraße. Dit wird lustig!

Hoffe, du bist bald wieder zurück und wir können wieder zusammen zum Spiel gehen.

Dein Eiserner Kai

PS: Alter, ich hab gestern Inka geraucht. Das ist ja noch viel schlimmer als deine Sachsen-Kippen.

PPS: Du bist kein Mensch, du bist kein Tier, du bist ’ne Rolle Klopapier!

Wir spielten 3:3 gegen Jena, ich fand im Wald so viele Pilze, dass Omi die einkochen musste und der Wintervorrat an Holz war fertig gehackt. Außerdem hatte ich einen neuen Rekord aufgestellt. Nämlich sieben Mal an einem Tag an die nackte Patricia zu denken. Danach half aber nicht mal mehr die gute Penaten-Creme gegen die Schmerzen.

Die Ferien waren zu Ende und Omi brachte mich nach Freiberg zum Zug.

„Schön, dass du da warst. Pass auf dich auf, Kind!“

„Mach ich, Omi. Und du auf dich!“

„Ach her je, da kann ja nich so viel schiefgehen. Obwohl, das Dach muss bald neu gedeckt werden. Da muss ich wohl doch mal wieder zum Tanzvergnügen gehen.“

Am Sonnabend ging ich mit Kai in die Gaststätte Waldland.

„Gegen Jena war jut! Erst führen wir 2:0, dann liegen wir kurz vor Schluss plötzlich hinten und dann drischt Quade in der 90. Minute den Ausgleich rein. Wat ham wir jefeiert! Und heute hauen wir Magdeburg weg!“

„Hoffentlich!“, meinte ich.

Aber das passierte nicht. Im Gegenteil, wir gingen mit 5:0 unter.

„Ach du Scheiße, so ’ne Klatsche. Jetzt sin wa wieder Tabellenletzter. Sogar noch hinter die komischen Chemiker aus Leipzig. Das ist ja ein verkackter Saisonstart!“, stöhnte er, nachdem wir die Zusammenfassung in Sport Aktuell gesehen hatten.

„Dafür hat der blöde BFC wieder nur Unentschieden gespielt!“, sagte ich.

„Dit tröstet mir keen bisschen! Ich geh uns mal Bier und KiWi holen, damit wir dit runterspülen können.“

Wir stießen an und machten uns gegenseitig Mut, dass wir ja nächste Woche in Erfurt vielleicht gewinnen würden. Und erst recht das nächste Heimspiel gegen Dynamo Dresden. Gegen die hatten wir ja schließlich auch in der letzten Saison gewonnen.

„Machst’n eigentlich an deinem Geburtstag?“

„Keine Ahnung. Is ja ein Montag, da kann man ja nüscht machen.“

„Kannst ja Patricia einladen und dann spielen wir mit der Strip-Poker.“

„Glaub nicht, dass die das mit uns spielen würde“, sagte ich. Und dann erzählte ich ihm von ihrem Brief.

„Ach du Scheiße! Dit tut mir leid für dich. Aber dit hätte bestimmt eh nich lange jehalten mit euch beeden! Kannst ja Bescheid sagen, wenn de ’ne Idee hast. Wenzel ist auch wieder da, vielleicht machn wa ja wat zu dritt. Aber denn ohne Strip-Poker!“

Mama weckte mich am Morgen und gab mir einen Geburtstagskuss. Sie hatte den Tisch gedeckt, in der Blumenvase war ein Strauß Blumen und sie hatte Freiberger Eierschecke gebacken. Vor mir stand mein Geschenk. Eine Erika-Schreibmaschine.

Wie geil! Die hatte ich mir schon lange gewünscht.

„Damit kannst du deine Geschichten bestimmt besser schrei­ben, als mit der Hand!“

„Cool. Dankeschön!“, sagte ich.

„Jetzt bist du schon 15, du großes Kind! Nicht mehr lange und du darfst heiraten!“, seufzte sie dann. Ich verschluckte mich vor Schreck am Kaffee.

„Nee, lass mal. Da ist mir gar nicht danach!“

„War auch nur ein Scherz! Hast du Pläne für heute?“

„Werd am Nachmittag mit den Jungs zum Fußball gehen. Für Topfschlagen und so einen Quatsch bin ich zu alt!“

„Das ist gut, bei mir wird es auch später. Hab BGL-Versammlung. Hast du Geld für den Fußball?“

„Klar.“

Um 16 Uhr traf ich mich mit Wenzel und Kai an den Tischtennisplatten. Kai schenkte mir einen Briefumschlag und Wenzel eine große Tüte.

„Is Wurst drin. Die hab ick selbst jemacht, uff’m Bauernhof. Dit Schwein war ’ne echte Knalltüte, ick hätte dit ja leben jelassen. Aber der Opa meente, dit is fällich und stirbt sonst an Altersschwäche. Hoffe, es schmeckt dir!“

„Danke, Wenzel!“

In Kais Umschlag waren schwarzweiße Pornobilder.

„Zwee Fäuste für een Hallejullha, Alter! Hab ick selbst entwickelt in die Dunkelkammer!“

„Danke, Kai!“

„Und wat machen wa jetz? Schnitzeljagd im Oberspreewald?“, fragte Kai.

„Jetzt gehen wir zum Narva-Sportplatz.“

„Echt?“

„Ja! Da spielt nämlich heute Union!“

Als wir ankamen, war der Sportplatz schon gut gefüllt. Wir suchten uns einen Platz und ich ging zum Bierstand.

„Ausweis dabei?“, fragte die Frau hinterm Zapfhahn.

„Ja hier!“, sagte ich und hielt meinen Ausweis hoch.

„Ick kann zwar nich bis hundert zählen, aber bis 16 schon. Da fehlt dir noch ’n Jahr!“, sagte sie.

„Mulle, hab dir ma nich so. Der hat doch heute Jeburtstach! Ick zahl die drei Bier!“, sagte ein Rentner hinter mir.

„Ach, kieke! Wenn ick dir sonst die Rechnung hinleje, siehste nüscht. Aber dit Datum in ’nem fremden Ausweis kannste sehen. Na mir ejal. Hier die drei Bier!“

Ich bedankte mich und als wir anstießen, stand es schon 2:0 für uns.

Die nächsten Bier organisierte Kai, der kannte jemanden aus der Kleingartenanlage, der für uns bestellte. Am Ende stand es 8:3 für Union.

„Dit war ja ma geil. Soviele Union-Tore sieht man ja selten. Aber ’ne richtije Jeburtstagsparty war dit nich. Da musste dir noch wat ausdenken!“

„Wejen mir nich!“, sagte Wenzel. „Ick hatte Spaß und die Narva-Bockie is immer wieda ’n Jedicht! Aber wenn de trotzdem noch ma feierst, bin ick natürlich dabei!“

Zu Hause packte ich Wenzels Wurstpaket in den Kühlschrank und nahm Kai seine Bilder mit ins Bett. Ich hatte keine Ahnung, aus welchem Heft er die abfotografiert hatte, aber offensichtlich aus einem mit Vorliebe für Körperfülle. Nach dem dritten Bild konnte ich nicht weiter schauen, da ich merkte, wie mir der Angstschweiß den Rücken herunterlief.

September 1983

Das neue Schuljahr fing wie jedes Schuljahr an. Fahnenappell mit dummem Gequatsche über Frieden und Sozialismus. Danach kam dann die Sitzplatzverteilung durch die Drescher. Nur, dass sie diesmal nicht viel Schabernack machte, sondern jeder sitzen durfte, wo er schon saß. Kai und ich also ganz hinten am Fenster. Wie üblich bekamen wir auch dieses Jahr neue Mitschüler, die sitzengeblieben waren, weil sie die vorherige Klasse nicht geschafft hatten. Diesmal waren es Silvia und Metal-Holger.

Die beiden saßen ganz hinten rechts.

Als die Drescher gerade den Stundenplan vorlas, ging die Tür auf und drei Typen kamen in die Klasse. Dass mit denen was nicht stimmte, sah man auf den ersten Blick. Graue Präsent-20-Anzüge, rosa Hemden und schlecht gebundene Schlipse. Die konnten nur von der Stasi sein.

Die Drescher erschrak und machte sofort ihren Lehrertisch frei. Die Vögel positionierten sich dahinter.

„Liebe Jugendfreunde der Klasse 9A, wir müssen euch leider mitteilen, dass eure Mitschülerin Patricia vermisst wird. Sie ist nicht aus dem Urlaub in der Ungarischen Volksrepublik zurückgekehrt. Wir möchten euch darum bitten, uns sachdienliche Hinweise zu geben, wenn ihr über den Verbleib von Patricia Kenntnisse habt!“, sagte der Mittlere.

Die dicke Bärbel fing an zu heulen, ansonsten war es still im Klassenraum. Bis Kai sich meldete und der rechts postierte Typ sagte: „Jugendfreund! Reden Sie!“

„Denn is dit also doch passiert!“

„Was ist passiert?“, fragte der Linksstehende.

„Die hat schon vor dem Urlaub Angst jehabt. Det die Zigeuner sie klauen und denn uff Jahrmärkten ausstellen. Oder noch Schlimmeret mit ihr machen.“

„Wie bitte?“, riefen alle drei im Chor.

„Soll ick wiederholen? Die hatte ...“

„Was ist denn das für ein revanchistisches Gerede? In unserem sozialistischen Bruderland Ungarn werden doch keine Menschen entführt und auf Jahrmärkten ausgestellt. Wir sind doch nicht mehr in der kapitalistischen Steinzeit!“

„Hab ick mir doch nich ausjedacht. Dit hat die doch jesacht. Und mehr weeß ick och nich!“

„Gibt es noch qualifiziertere Hinweise?“

„Is Ungarn nich dit Land, wo die Vampire herkommen?“, fragte Holger. „Weil, denn is dit eenfach. So scharf, wie die war, haben die die einfach jeknallt und denn jebissen. Und jetzt lebt die irjendwo im Vampirkeller und is selber ’ne Fledermaus.“

Während die drei Stasis sprachlos und verwundert versuchten zu verstehen, was sie da gerade gehört hatten, kreischte Silvia: „Is’n mit dir nich richtich, du Vogel? Vampire kommen aus Rumänien und die dämliche Patricia war einfach nur ’ne hässliche, verwöhnte Votze! Ick klatsch dir glei ’n paar!“

„Is ja jut. Krieg dir ma wieda ein, ey!“, sagte Holger.

„Das kann doch alles nicht wahr sein!“, donnerte der mittlere Stasimann dazwischen.

Ich hatte die ganze Zeit die Luft angehalten und versucht, nicht rot zu werden. Nur nicht auffallen. Kai und ich waren die Einzigen, die wussten, dass Patricia und ihre Eltern mit gefälschten Pässen in den Westen abgehauen waren.

„Sind wir hier im Irrenhaus? Ist das die Klasse für geistig Behinderte? Genossin Drescher, wer hatte den engsten Kontakt zu der vermissten Schülerin?“

Die Drescher zeigte auf mich. „Der Jugendfreund Wesensbitter war ihr sehr nah. Glaube ich.“

„Aufstehen!“, befahl der Mittlere.

Bevor ich mich bewegen konnte, war Wenzel aufgesprungen.

„Dit bildet der sich vielleicht ein, det der der nah war. Ick war mit die janz dicke. Und ick weeß dit jenausowie der Kai, det die dit jesacht hat. Die hatte ’ne Heidenangst vor die Zigeunerers. Da müsst ihr echt wat machen, Kollegen, um unsere Pätzi zu befreien.“

Irgendwer begann zu klatschen und nach und nach standen wir alle auf und klatschten mit.

Damit konnten die Stasis nichts anfangen, einer winkte ab, einer fasste sich an die Stirn und der dritte sagte: „Wir behalten euch im Auge! Alle! Und ganz besonders dich!“

Er zeigte auf Holger.

„Dit is ’ne jute Idee“, sagte Holger. „Dit wird och nich so schwierich, weil ick ja och nich zu übersehen bin!“

In der Hofpause standen wir hinter dem Schulgartenschuppen und rauchten. Ich wollte eigentlich gar nicht, aber ich brauchte dringend Nikotin, um meine Nerven zu beruhigen.

„Wer is’n der Chef in die Klasse?“, fragte Holger, während er sich mit dem Stielkamm seine langen, fettigen Haare kämmte.

„Wie Chef? Jibt keen“, sagte Kai.

„Hab ick mir schon jedacht. Damit dit klar is, die janze Schul-Scheiße interessiert mir nich! Mit mir braucht ihr keene Faxen machen, wie letztet Jahr mit dem beklopptn Heiko. Kapiert?“

„Klar!“, sagten Kai und ich.

„Jut! Denn vastehn wa uns ja! Jeden dritten Donnerstag im Monat leg ick im Jugendclub Oberspree uff. Seid ihr zwar zu jung für, aber müssta am Einlass nur sajen, det Holger euch uff die Jästeliste jeschrieben hat. Denn kommt ihr Hirnis och rin!“

„Cool. Wat legste denn?“, fragte Kai ihn.

„Wat is’n dit für ’ne Fraje? Heavy Metal natürlich! Und jetzt muss ick kacken jehen.“

Kai und ich sahen ihm hinterher.

„Der hat doch och ’nen richtijen Vogel, oder?“, sagte Kai.

„Aber was für einen. Mit dem wird die Drescher richtig Spaß haben.“

Freitagabend fuhren Wenzel, Kai und ich nach Baumschulenweg. Ich hatte die beiden zum Essen in die Broiler-Gaststätte eingeladen, da mein Geburtstag bei Narva ja nicht ausgereicht hatte.

„Dit kann ick als Geburtstagsparty akzeptieren!“, hatte Kai bekundet.

Wir hatten einen Tisch für uns alleine und ich bestellte drei Bier.

„Ausweis dabei?“, fragte der Kellner.

„Nicht schon wieder!“, dachte ich und sagte: „Nee vergessen!“

„Na denn, wird dit wohl nur Malzbier oder Fassbrause“, meinte der Kellner.

„Ick hab dabei!“, sagte Wenzel und hielt dem Kellner seine Papiere hin. „Ick pass uff die beeden uff heute, bin quasi der Erziehungsberechtigte!“

„Na gut, denn erstmal drei Bier. Und wisst ihr schon, wat ihr essen wollt?“

„Nee, noch nicht.“

Kai und ich sahen Wenzel fragend an. Schließlich war Wenzel der Jüngste von uns. Wenzel tippte sich verschwörerisch gegen die Schläfe und sagte: „Wenn man ’ne coole Freundin hat, wird man eben plötzlich viel erwachsener!“

„Häh?“, fragte Kai ihn.

„Erklär ick dir nachher!“, sagte Wenzel.

Mir musste er nichts erklären, ich erinnerte mich gut daran, wie seine Freundin aus Belzig uns von ihren zwei Ausweisen erzählt hatte. Einen für den Alltag und einen für die besonderen Momente, in dem sie sich drei Jahre älter gemacht hatte.

Das Essen war super, wir hatten gute Laune und Wenzel erzählte gerade über seine Ferien auf dem Bauernhof, als zwei Alt-Unioner reinkamen und sich an den Nebentisch setzten. Einer der beiden sagte zum Kellner: „Rudi, mach mal zwei Molle und zwei Korn, gegen den Kummer.“

„Wieder verloren?“, fragte Rudi zurück.

„Yipp, sauberet 1:3 jejen Erfurt. Hoffentlich schmeißen die den bekloppten Nippert endlich raus!“

„Wer is’n der Nippert?“, fragte Kai die Veteranen.

„Na Harry Nippert, unsere Pfeife von Trainer, du Pfeife!“

„Ach so. Ick kann mir immer keene Namen merken.“

Donnerstag hatten wir vier Stunden Einführung in die sozialistische Produktion im Reichsbahnausbesserungswerk. Dieser Unterricht war die reinste Zeitverschwendung, besonders wenn Frau Schulze die Lehrerin war. Im letzten Jahr hatte sie uns mal erzählt, dass ihr Mann vier Schachteln Cabinet am Tag wegpaffte. Nachdem sie uns eine Stunde lang die Belehrungen über das Verhalten auf dem Betriebsgelände gehalten hatte, meldete sich Kai.

„Roocht Ihr Mann immer noch so viel oder hat er uffjehört?“

Frau Schulze schaute ihn erschrocken an, dann schossen ihr Tränen in die Augen und sie schluchzte: „Mein Mann ist gestorben!“

„Lungenkrebs?“, fragte Manuela.

„Nein, er ist ins Säurebecken gefallen. Nichts, aber auch gar nichts ist von ihm übrig geblieben!“

Nach dem Unterricht meinte Kai, dass der Alte hoffentlich noch ein paar volle Aschenbecher zu Hause rumstehen hat lassen, damit die wat für die Urne hatte. Wenn ja sonst nüscht von ihm jeblieben is.

„Oder die hat einfach Dreckwäsche da rinjestoppt. Schlüppi, Stinkesocken und ’n ollet Untahemd“, sagte Wenzel.

„Vielleicht hat der och ja keen Grab jekriecht, wenn nüscht mehr von ihm übrich war?“, gab Manuela zu bedenken.

„Doch bestimmt, bei einem Arbeitsunfall lassen die sich bestimmt nicht lumpen! Da gibts bestimmt noch einen Brigadeausflug zur Beerdigung“, sagte ich.

Und dann war endlich wieder Heimspieltag. Es war fast wie vor einem Jahr, als wir das erste Mal zu Union gefahren waren. Manuela war für Bier zuständig, ich für Kippen und Wenzel für Proviant. Und Kai trug als Reiseleiter die Verantwortung. Aber irgendwie war doch alles ganz anders. Schließlich waren wir alle ein Jahr älter geworden, und vor allem hatten wir nun schon viel Union-Erfahrung.

Und so standen wir 13:30 am Bahnhof Oberspree, tranken Radeberger, rauchten Neue Juwel und warteten auf Wenzel.

„Die Sachsen-Zigaretten haste doch mit Absicht geholt, oder?“, fragte mich Kai.

„Nö, die fette Binder stand hinterm Ladentisch. Wollte nichts anderes rausrücken. Hätte auch eine Schachtel Sprachlos kaufen können. Aber das fand ich zu eklig.“

„Ach du Schande, Sprachlos rauchen bestimmt nur Stahl-Riesa-Fans. Die, die gar nix mehr merken.“

Kurz bevor die Bahn kam, tauchte Wenzel auf. Ohne Proviant.

„Nix zu essen dabei?“, fragte Kai ihn.

„Elf Eierkuchen im Bauch. Da passt gerade nix mehr rein. Und im Stadion gibts ja Wurst.“

Als die Bahn losfuhr, holte Manuela ihren schwarzen Filzstift aus der Tasche und schrieb WHAM! An die Scheibe.

„Die sind schwul, oder?“, fragte Kai.

„Voll nich schwul sind die!“, meinte Manuela und schrieb an eine andere Scheibe Spandau Ballet.

„Und die sind erst recht nicht schwul!“

In der Straßenbahn herrschte eine ganz komische Stimmung, irgendwie total oll und aggressiv. Als wir über die Brücke fuhren, fingen die Ersten an zu singen: „Schlagt die Sachsen tot, schlagt die Sachsen tot!“ Kai sang mit und grinste mich an. Ich sang nicht mit, denn das war mir zu doof.

Im Stadion trennten wir uns. Wenzel ging zum Wurststand, Kai hinters Tor zu seinen neuen Kumpels, Manuela zur Anzeigetafel, wo ein Kumpel stand und ich an die Mittellinie.

„Tach, Timurhelfer, janz allene heute? Biste jetzt auch ein einsamer Wolf, wie icke?“, fragte Jochen Dreikorn.

„Steht jeder woanders. Alles klar bei dir, Jochen?“

„Jeht so. Darf zu Hause nich mehr trinken, weil ick mir anjeblich ’nen Bierbauch anjebaut hätte. Der ständige Durst tut mir nich jut. Ick bin ja keen Kamel, wat uff Vorrat saufn kann.“

Dann gingen die Sprechchöre los, wir brüllten und sangen und nach elf Minuten stand es 2:0 für Dresden. Da war dann erstmal Ruhe im Stadion. Gerade als die „Eisern-Union“-Rufe wieder richtig an Fahrt aufnahmen und die Stimmung zurückkehrte, klingelte es noch zweimal in unserem Tor. Da waren gerade mal 32 Minuten gespielt.

„Wat is denn dit schon wieder für eine Kacke, die spielen ja schlimmer als Traktor Wittstock! Ick geh mal wat zu trinken besorjen. Nüchtern kann man diese Scheiße ja nicht ertragen.“

Er kam mit einer Flasche Weißwein unter der Jeansjacke zurück.

„Hier trink, wir müssen stark sein. Das nimmt heute bestimmt noch ein ganz böses Ende!“

Als die zweite Halbzeit angepfiffen wurde, breiteten sich die „Nippert raus!“-Rufe aus, bis sie schließlich das ganze Stadion schrie. Und wenn das nicht gerufen wurde, dann eben „Schlagt die Sachsen tot“.

Tore fielen keine mehr und Jochen meinte nach dem Abpfiff: „Na immerhin ham wa die zweite Halbzeit Unentschieden gespielt. Das ist ja immerhin ein Fortschritt. Mach‘s jut. Ick geh ma noch ’ne Runde in ’ne Kneipe, bevor mir zu Hause wieder die Trockenwüste erwartet.“

Wir trafen uns am Bratwurststand. Kai hatte leichte Schlagseite und war stocksauer. Neben Manuela stand eine komische Bluesbüchse. Lange fettige Haare, Jeans, Shellparker, Tramper an den Füßen und ’ne Karo im Mundwinkel.

„Tach, ick bin Ulf“, sagte er und hielt mir die Hand hin.

„Tach!“, sagte ich und schlug ein.

„Ulf hat jefragt, ob wir noch mit nach Baumschulenweg in den Hammer kommen wollen“, meinte Manuela.

„Kann Ulf och selba frajen, oder kommt der vom andern Stern?“, fragte Kai.

„Habta Lust noch mit in den Hammer zu kommen? Für’n Siegbier wirds nich reichen, aber uff Niederlagen zu trinken, jehört dazu“, antwortete Ulf.

„Jibs da wat zu fressen?“, fragte Wenzel.

„Soljanka. Aber die empfehle ick nich!“

„Bin dabei!“, sagte Wenzel.

„Ick och!“, sagte Kai.

Und dann saßen wir im Hammer und ich fühlte mich wie in einer anderen Welt. Es war düster, es war verraucht und es fühlte sich viel freier an, als vor der Tür.

„Wat wollt’an?“, fragte die Kellnerin.

„Bier.“

„Bier!“

„Bier.“

„Fassbrause. Und Soljanka.“

„Bier?“

„Bring ick euch!“, sagte sie.

Als die Kellnerin mit dem vollen Tablett kam und die Soljanka vor Wenzel hinstellte, bestellten Kai und Manuela auch noch eine. Der Geruch war aber auch echt appetitlich. Wenn man keine Paprikaabneigung hatte.

Als Ulf aufs Klo ging, fragte Kai: „Is dit dein neuer Ficker?“

„Biste voll doof im Kopp?“

„Ihr wirkt so nah!“

„Is’n juter Freund. Aber zu alt für mich!“

„Die Soljanka is ranzich!“, sagte Wenzel.

„Echt? Dann will ick die och nich!“, erklärte Kai.

In dem Moment kam so ein Jeans-Assi an unseren Tisch. Es war klar, dass es Stress geben würde. Er nahm Wenzels Fassbrause, schüttelte sie kurz, rotzte rein und fragte: „Na Schwulibert? Erst ’ne Limo, dann hinten rein ’nen Schlimo?“

Wenzel schaute ihn an und fragte: „Na, Niethosenmann, haste heute noch ’ne Darmvisite?“

„Hast de mir grade schwul genannt? Ick hau dir uff die Fresse, du Vogel!“

Wenzel kloppte ihm die Suppentasse ins Gesicht, so dass der Typ und die Soljanka drei Tische weiter flogen.

„War’n Reflex!“, sagte Wenzel und zuckte mit den Schultern.

„Hey, friss deene Suppe allene!“, rief jemand. Kurz danach klatschte es. Und dann trugen drei Veteranen Wenzels Gegner vor die Tür.

„Hier, ’ne Runde Kurze für euch! Danke, det ihr dem Blödmann mal jezeigt habt, wo die Jrenze is“, sagte die Kellnerin.

„Soll ick rausjehen und dem noch richtich wehtun?“, fragte Kai.

„Nee. Lass ma, der hat jenuch für heute.“

Die Kurzen bekam alle Ulf, weil wir nicht wollten und sowieso schon wieder viel zu viel getrunken hatten.

Am Sonntagabend saßen wir zu dritt in Wenzels Zimmer.

Wenzel hatte nämlich eine Postkarte aus Westberlin bekommen, auf der stand:

„Halli-Hallo Möpschen-Klöpschen. Mach mal am Sonntag 19 Uhr das Radio an. Auf dem Sender „BFS-verkehrtrum“ kommt ’ne Überraschung. Ri-Ra-Rutsch wir fahren mit der Kutsch. JoJo!“

„Wat’n dit fürn Quatsch? Verarschpostkarte vom Klassenfeind?“, hatte Kai gefragt.

„Dit jibt nur eenen uff die Welt, der mich Möpschen-Klöpschen genannt hat. Und dit war Jokel!“

„Ah und Sender BFS-verkehrtrum ist dann der SFB!“, sagte ich.

„Bestimmt!“

Wir tranken Club Cola und waren total aufgeregt. Dann fing die Sendung endlich an.

„Hier ist der Sender Freies Berlin und ich begrüße ganz herzlich unseren heutigen Studiogast, den Mann an der Mauer. Guten Abend, Herr Bierschenk.“

„N‘Abend. Kannst mir ruhig Jokel nennen.“

„Gut, Jokel. Man kennt Sie, äh dich, inzwischen in ganz Westberlin, und sicherlich auch in Ostberlin, denn du stehst seit drei Monaten mit einem Transparent an der Mauer. Darauf steht: ,Ick fühl mir einsam, meen Herz tut weh, ick will zurück nach Oberspree!‘ Wie kam es dazu?“

„Na ick wurde im Juni jejen meinen Willen über die Grenze jebracht und darf seitdem nich mehr nach Hause, weil die Behörden in die DDR meinen, ick wär’n Unruhestifta. Ick will aber wieder nach Hause. Und deshalb steh ick da!“

„Sind Sie, Entschuldigung, ich muss mich erst mal an das Du gewöhnen. Bist du das, ein Unruhestifter?“

„Nö, echt nich. Ick hab nüscht böset jemacht, aber irjendwie kriejen die dit immer in den falschen Hals.“

„Es gibt ja einige Medien, die bezeichnen dich als Bürgerrechtsaktivist, was hältst du davon?“

„Dit is die totale Spinnerei. Aktivist bin ick nie geworden, Bestarbeiter och nich. Die einzije Auszeichnung, die ick jemals jekriecht habe, war dit Joldene Paddel, weil ick ma Jahrgangsbester im Kanufahrn bei Turbine Oberspree jeworden bin.“

„Wann bist du das erste Mal mit der Staatsmacht in Konflikt gekommen.“

„Ach, dit fing früh an, ick weeß ja nich, wie oft die mich bei Union-Spielen einjesammelt haben. Ick hatte ’ne Fanweste, da stand hinten groß druff: Scheiß Trafo. Fand ick lustiger als Scheiß Dynamo. Naja, wat ick nich bedacht hab war, det die von die Transportpolizei nich lesen können. Wat ham die mich verjackt, weil se dachten, ick meene die … Naja aber letztlich konnten se mir ja och nüscht, weil da ja deutlich Trafo stand. Denn war ’ne Weile Ruhe und denn muss dit 76 jewesen sein, da hatte ick jerade den Narrenschein jekriegt, also den Behindi-Ausweis.“

„Wie kam es dazu?“

„Puh, dit war och komisch. Ick war ja Feinmechaniker und wir haben viel uff die Baustelle vom Palast der Republik jearbeitet. Und als wir eenes Tages an die Gläserne Blume rumjeschraubt haben, dit war echte Popelmannsarbeit, war mein Vorarbeiter Kalle noch hackedicht vom Vorabend und hat die Kontrolle über eens von die großen Blütenblätter verloren. Dit is mir dann volle Luzie uff die Omme jekracht. Als ick nach drei Wochen aus‘m Koma erwacht bin, meente der Arzt im Krankenhaus zu mir, ick müsse wohl ’nen Kopp ham wie’n Ochse. Jeder andere wäre tot jewesen. Aber ’nen Schaden hat dit trotzdem hinterlassen und deshalb wurde ick amtlicher Behindi.“

„Nochmal zurück zur Jahreszahl 1976, da war ja auch die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Hatte es etwas damit zu tun?“

„Wat? Nee, den Pfeifenwichs konnte ick nie leiden, der hat mich echt ’n Scheiß interessiert. Den hätten se von mir aus och glei nach Chile verschiffen können, damit der dem Pinochet seinen Mist vorsingt. Meene Mutter, der Teufel hab sie selich, war in die Senioren-Turngruppe von Rotation Berlin und hat sich irjendwann mit die Chefin vakracht. Und denn hat sie ihre eigene Turngruppe jemacht, bei uns im Jarten. Da hampelten denn neun alte Weiber uff die Wiese rum und ham sich jestritten. Also hab ick jesacht, dit reicht und hab dit Kommando übernommen. Denn jing dit. Die haben brav ihre Übungen jemacht und ick hab mit die Trillerpfeife im Mund vorjeturnt. Bis die Stasi mich verhaftet hat, wegen der ,Gründung einer konterrevolutionären Gymnastikgruppe‘. Ick gloob, da mussten se denn aber selba drüba lachen und ham mir wieda freijelassen. Aber ick musste mir vapflichten, ’nen Übungsleiterlehrjang zu besuchen.“

„Wir machen mal eine musikalische Pause und melden uns nach einem Song von Nena wieder.“

„Da sind wir wieder, zu Gast ist heute der Ostberliner Dissident Joachim Bierschenk. Wie ging es weiter?“

„Ja, denn is meene Mutter jestorben und ick hab den Lehrjang abjebrochen. Dit war ’ne schlimme Zeit, weil die Alte war nämlich nicht einfach tot, sondern die is durchs Haus jespukt. Da dachte ick echt ’ne Weile, ick werd bekloppt. Aber denn hab ick rund um die Uhr Jimi Hendrix loofen lassen. Dit konnte die schon zu Lebzeiten nicht ab und als Jeist wohl och nich. Denn war endlich Ruhe. Weil mir langweilich war, hab ick uffm Friedhof anjefangen, als Gärtner. Dit war jut. Mit Pflanzen kann ick und mit alte Menschen och. Aber irjendwann kam da een neuer Pfarrer und der hat dann meinen Pimmel mit dem Pumpenschwengel vawechselt und denn jabs uffs Maul und ick war die schöne Arbeit los.“

„Aha!“

„Jenau, denn hab ick Rita kennenjelernt. Dit war so ’ne Emanze mit lilane Latzhose und Fischerhemd und die war in die Frauengruppe von die Kirche aktiv. Die is gleich bei mir einjezogen und hat allet hübsch jemacht. Dit war ’ne schöne Zeit, aber dit jing nich lange jut, weil denn hat se nur noch jenörjelt. Weil ick schnarche und im Schlaf furze und beim Vögeln zu schnell fertich bin ...“

„Jokel, wir haben eventuell auch minderjährige Zuhörer und da sollten bestimmte Wörter vielleicht besser nicht ...“

„Ick denk, dit is die freie Welt hier, wo man sajen darf, wat man will und denkt? Oda etwa nich?“

„Ja natürlich, aber bestimmte Wörter ...“

„Okay, vastehe. Pass ick jetzt druff uff! Naja, jedenfalls wollte die doofe Rita ja eijentlich nur mein Haus haben und ja nich mich. Jut, det ick die nich jeheiratet habe. Als die dann abjehauen is, hab ick die Fassade vom Haus lila anjepinselt und mit weißa Farbe een verkehrtrumet Peace-Zeichen ruffjemalt. Müssen wa ja nich lange raten, wer dann am nächsten Morjen vor die Türe stand und mich vahaftet hat. War aba nich schlimm, weil die mich nich lange drinbehalten konnten. Denn Hausanmalen war keene Straftat und dit Peace-Zeichen uff‘m Kopf hätte ja auch einfach ein Blitzableiter sein können. Als ick zurück kam, hatten‘se die Fassade mit graue Farbe übermalt. Richtich professionell. Na da hab ick mich nich beschwert. Dit Witzige war ja, det meene lila Farbe ja nich wasserfest war. Die wäre beim nächsten Rejen eh weg jewesen.“

„Wir machen noch mal eine musikalische Pause und reden nach der Band BAP weiter.“

„Das war BAP aus Köln und ich begrüße unseren Gast, den Bürgerrechtler Joachim Bierschenk noch mal ganz herzlich.“

„Darf ick wat sajen? Gruppe BAP sind echte Nervzwerge. Die kann man sich och nur anhören, wenn man Rheuma im Ohr hat.“

„Das sehen viele Zuhörer, vor allem die im Osten, etwas anders, aber kommen wir zur nächsten Frage. Du bist dann zur Friedensbewegung gestoßen!? Wie kam das?“

„Ick hatte denn so ’ne komische Phase, wo ick ’ne zweete Stimme in meenem Kopp hatte. Dit war nich icke, sondern irgendwer Komischet. Jedenfalls hat die Stimme immer nur Mist erzählt und rumjepöbelt und dit konnte ick nich leiden und denn hab ick mir mit der jestritten. Und weil die nich ruhig sein wollte, musste ick immer lauter werden und da ham die Leute Angst vor mir jekriegt und ick hab in allen Kneipen Hausvabot bekommen, weil dit wollt sich ja nu och niemand antun, wenn da so’n Schreihals rumsitzt. Da schmeckt ja dit Bier nich mehr. Bei die Friedensbewegten bin ick ja nich uffjefallen, weil da war och die Behindertengruppe mit dabei und denn jab dit da jenuch Klappsköpfe, die rumjebrüllt ham. Und von die, die nich behindert waren, wollte eener lauter sein, als der andere.

Da war so een Krach, det die Stimme in meenem Kopp plötzlich still war und ick endlich Ruhe vor der hatte. Dit jab zwar immer Kuchen und Rotwein bei die Treffen, aber dit jing mir trotzdem uff’n Zeiga, weil die immer nur jelabert und nüscht jemacht ham. Die waren ja schon stolz uff sich, wenn sie sich jetraut ham uff ihr Unterhemd mit Filzstift Keine SS-20 Raketen zu schreiben und dit dann gleich wieda rausjewaschen ham. Jedenfalls hab ick denn een Trasparent jemacht und mich uff die Fußgängerbrücke vom S-Bahnhof gestellt.“

„Was stand da drauf?“

„Schwerter zu Auspuffrohren!“

„Was meint das?“

„Naja, man muss ja och ma mit die Zeit jehen. Wer benutzt denn heute noch Pflugscharen? Dit brauch keen Mensch mehr. Da kann man sich ja auch mal was Eigenes ausdenken.“

„Wie war die Reaktion der Sicherheitsorgane?“

„Die ham mir verhaftet und verhört und denn wieder freijelassen. Aber schon damit jedroht, det se mir beim nächsten Mal in den Westen abschieben.“

„Und das ist dann auch passiert.“

„Jenau. Ick hab mich und mein Transparent an der Sonnenallee in nem Kübel einbetoniert. Erst ham se alle Zuschauer verjagt, denn ham se diskutiert und weil dit zu uffwändig jewesen wäre, mich da rauszuholen, ham die mich einfach uff ’nen Rollwagen vafrachtet und dann haben mich zwei Stasis über die Grenze jerollt. So bin ick im Westen jelandet.“

„Das war das berühmte Plakat Mehr Toleranz für Firlefanz, das dann durch alle Medien ging.“

„Jenau.“

„Und wie hat es sich angefühlt, im Westen zu sein?“

„Beschissen! Weil ick steckte ja im Beton fest und keiner fühlte sich zuständig uff’n Samstagnachmittag. Glücklicherweise hatten ein paar englische Soldaten Langweile und haben mir mit Hammer und Meißel freigekloppt. Die war’n janz schön breit zum Schluss. Und ick och. Apropos, kann ick ma wat zu trinken ham, am besten n Bier. Dit reden macht echt durstig.“

„Und dann wolltest du zurück.“

„Jenau. Aber die ham mir’n Vojel gezeigt an die Grenze und jesacht, ick soll mir vapissen. Die würden mir nich mehr rinlassen. Naja, denn musste ick eben ins Uffnahmelager und seitdem steh ick jeden Tach an die Mauer und halt mein Schild hoch.“

„Aber ist es nicht absurd? Unzählige DDR-Bürger würden gerne in den Westen gehen und du bist hier und willst zurück?“

„Kieck ma, ick hab n Haus, ick hab ’nen Wellensittich und ’ne Katze und mir jing dit jut. Warum soll ick da wegjehen wollen? Kann schon vastehen, det andere ihre Gründe haben, aber dit sin eben nich meene.“

„Kommen wir noch mal zur Opposition zurück. Was können wir da erwarten?“

„Na nich, det die sich rasieren und unter die Arme waschen.“

„Wir sind jetzt am Ende der Sendung. Hast du noch eine Botschaft an die Zuhörer im Osten?“

„Uff jeden Fall! Macht euch dit Leben bunter! Seid einfach kreativ, malt Sachen an und bastelt mehr mit Pappmaschee und Krepppapier. Looft einfach ma ’ne Runde rückwärts, dit tut nämlich jut! Und vor allem: Jeht viel öfter in den Tierpark, die Viecher freuen sich über Besuch!“

„Danke für dieses wirklich interessante Gespräch, Jokel, und ganz viel Glück für deine Pläne!“

„Danke, darf ick noch Grüße senden? Wenn ick schon ma im Westradio bin?“

„Ja gerne.“

„Also ick grüße den Hauptmann Schwarz vom Stasi, weil die Verhöre mit dem immer lustich waren. Oberleutnant Müller grüß ick nich, weil der immer dit Arschloch jejeben hat und beim Schiffeversenken schummelt. Denn grüße ick meine Schwester Rita. Schatz, denk dran, dass du Hansi und Murle füttern musst, bis ick zurück bin. Und zum Schluss grüß ick noch den Fett-Mann und seine zwee komischen Kumpels. Tschüss, Leute und immer dran denken: Eisern Union!“

Wir hatten uns die ganze Zeit kaputtgelacht.

„Oh Mann, ey, der ist ja völlig durchgeknallt!“, sagte Kai.

„Nach dieser Sendung lassen die den nie wieder in den Osten rein!“, war ich mir sicher.

Am Montag holte ich früh vor der Schule, wie jeden Montag, die Berliner Zeitung aus dem Briefkasten nach oben und setzte mich damit aufs Klo. War irgendwie zum Ritual geworden, die Lottozahlen beim Kacken anzuschauen. War aber nix diesmal, bloß zwei Richtige. Auf der Sportseite war ein Artikel mit der Überschrift Schrott Union. Nach fünf Spieltagen ein Punkt, 19 Gegentore und es funktionierte in keinem Mannschaftsteil. Wenn sich da nicht schnell was ändern würde, wäre es vorbei mit Union und der Oberliga.

Als ich Kai den Artikel auf dem Schulweg zeigte, ging der richtig ab und wollte die Zeitung zerreißen.

Und dann trafen wir auch noch BFC-Svene, der über die Straße brüllte: „Na, ihr Union-Votzen, schönet Wochenende gehabt?“

„Boah Alter, beschissener kann die Woche kaum anfangen!“

Mittwoch war FDJ-Versammlung. Mit Wahl. Frau Drescher wollte, dass Bärbel wieder FDJ-Sekretärin wird, mit der konnte sie schließlich am besten. Aber Holger meldete sich und sagte: „Ick schlaje die Silvia vor. Die kann dit nämlich jut!“

Die Drescher schaute ihn erschrocken an.

„Dit is ’ne Spitzen-Idee!“, rief Wenzel.

„Ja, find ick och, da kommt ma frischa Wind rin!“, meinte Kai.

Bärbel fing an zu schluchzen.

„Aber das geht so nicht!“, erklärte die Drescher.

„Warum nicht?“, fragte ich.

„Naja, weil die Silvia ja sitzengeblieben ist. Da kann sie doch jetzt nicht FDJ-Sekretärin werden. Das würde die Leistungs- und Kampfbereitschaft des Klassenkollektivs ja negativ beeinflussen.“

„Ick bin sitzenjeblieben, weil ick schwer krank war. Und nich, weil ick bekloppt bin!“, schaltete sich Silvia ein.

„Ja, das mag sein, aber vielleicht kannst du dich ja erst mal auf einem anderen Posten bewähren. Zum Beispiel als Wandzeitungsredakteurin!“

„Is dit hier ’ne Wahl, oder ’ne Bestimmung?“, fragte Holger.

Die Drescher warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. „Natürlich eine Wahl, aber es ist ja meine Aufgabe, euch beratend zur Seite zu stehen.“

„Super, denn können wa ja jetzt abstimmen. Wer is dafür, det Silvia unsere Gruppenratsvorsitzende wird?“, fragte Holger, der es sichtlich genoss, die Drescher zu provozieren.

„Dit heeßt FDJ-Sekretärin!“, meinte Silvia.

„Meen ick doch. Also, wer is dafür?“

14 Hände gingen nach oben. Bärbel bekam nur zwölf.

Danach wählten wir Maik zum Stellvertreter und Bärbel wurde in die Schulgruppenleitung gewählt. Agitator wurde wie immer Offiziersbewerber Matthias. Beinahe wäre Wenzel, nach Vorschlag von Manuela, Schriftführer geworden, aber das verhinderte die Drescher dann doch noch. Ihre Begründung hatte diesmal ja auch Hand und Fuß, denn schließlich konnte die Schrift von Wenzel niemand lesen. Nicht mal er selber. Stattdessen wählten wir Manuela.

Als wir später vor der Schule standen, sagte Silvia zu Holger: „Aber janz sauber bist du och nich im Kopp, oder? Wieso hast du mich vorjeschlagen?“

„Weil de cool bist und dit jerne machst. Außadem wusste ick ja, det die Drescher sich so richtich darüber uffregt.“

„Nee, ick wollte dit aber jar nich. Und hab dit jetzt och nur jemacht, um die blöde Kuh zu ärgern!“

„Na siehste, den ham wa ja alle wat davon jehabt. Und die Drescher-Kuh muss heute Abend bestimmt janz viel Korn kippen, um diese Schmach zu verarbeeten.“

Sonnabendnachmittag mussten wir zu Saskia und Kurt zur Geburtstagsfeier. Von Mama bekam er eine Flasche Sliwowitz aus Ungarn. Selbstgebrannten. Freudestrahlend betrachtete er das Etikett und pfiff leise durch die Zähne.

„49 Umdrehungen! Den probieren wir nachher gleich mal.“

Dann schaute er mich fragend an: „Und was krieg ich von dir? Ach stimmt ja, dein Geschenk hat mir dein Verein ja schon am letzten Wochenende gemacht!“

„Haha! Echt witzig!“, war alles, was mir als Antwort einfiel.

Nach dem Kaffeetrinken mussten wir spazierengehen, da Saskia Bewegung brauchte.

„Und Weihnachten wieder bei Omi?“, fragte ich sie.

„Das muss ich mir noch mal durch den Kopf gehen lassen. So eine Scharade wie letztes Jahr möchte ich nie wieder erleben!“, sagte sie mit schriller Stimme und ich musste in mich reinkichern. Schön, wenn die alte Bumskuh, wie Omi sie heimlich nannte, sich aufregte.

„Du musst aber auch mal wieder dringend zum Friseur gehen. Deine Haare sehen ja aus wie von einem Gammler!“, versuchte sie nun, mich zu ärgern.

„Geht nicht!“, antwortete ich. „Ich hab eine Messerformschnittallergie und deswegen Friseurverbot!“

„Ich kann dir die Haare auch schneiden.“

„Nee, lass mal.“

Später gingen die Damen in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten und wir setzten uns vor den Fernseher. Kurt holte zwei Wernesgrüner und wir stießen an.

Wismut Aue gewann 5:3 gegen Jena, der BFC 3:1 gegen Chemie Leipzig und gerade als Rot-Weiß Erfurt gegen Dynamo Dresden anfing, kam Saskia rein.

„Kurt! Wieso trinkt ihr denn Bier? Ich habe extra Fassbrause für euch gekauft!“

„Fußball und Fassbrause passt nicht, Liebling.“

„Das ist doch schon wieder nur eine von deinen billigen Ausreden!“

In dem Moment, als sie das sagte, schoss Erfurt das 1:0.

„Fickender Rennsteig, wie kann man den Idioten denn so ungedeckt lassen?“, brüllte Kurt.

„Du bist so ein Flegel!“, rief Saskia und warf die Tür hinter sich zu. Kurt schüttelte seine Flasche und sagte: „Hier ist der Schlüssel. Geh mal in den Keller und hol neues Bier. Aber mach schnell. Und vor allem leise!“

Als ich mit dem Bier aus dem Keller zurückkam, stand es 1:1.

Und dann gab es einen Elfmeter für Erfurt.