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Mikis schweift in seinen Geschichten durch die Zeit, von den wilden Siebzigern, als im Kindergarten noch NVA-Soldaten gemalt werden mussten, über die kaputten Achtziger mit Ost-Rock, Revolte und dem großen Knall, bis in die Gegenwart. Eine Hommage an die schönste Stadt der Welt, eine tiefe Verneigung vor Ost-Berlin. So wie es (vielleicht) einmal war: eine Stadt mit rauen Sitten, voll von betrunkenen Unikaten und natürlich mit außerirdischen Gästen.
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2018
www.edition.subkultur.de
Mikis Wesensbitter
Mikis Wesensbitter wäre gerne Arzt geworden. Am liebsten in der Schwarzwaldklinik. Aber zwischen ihm und dem telegenen Idyll stand leider die Mauer.
Nach einem Praktikum in der Poliklinik des „VEB Vliestextilien Lössnitztal“ war der Traum von „Doktor Mikis“ nach drei Tagen ausgeträumt, und er wurde subversiver Autor und verdiente sein Geld als Materialwirschaftler. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs wurde er Konzertveranstalter und Journalist.
Nach „Hört Franka eigentlich noch Black Metal?“ und „Wir hatten ja nüscht im Osten … nich ma Spaß“ erscheint nun sein drittes Buch.
Neben dem Schreiben arbeitet er an der Bewältigung seines persönlichen Traumas: Denn obwohl er seit 49 Jahre Berliner ist, darf er sich eigentlich nicht so nennen. Und das nur, weil der Prager Frühling dafür sorgte, dass er in Zossen zur Welt kam und nicht wie geplant im Krankenhaus Friedrichshain.
www.wesensbitter.de
Mikis Wesensbitter
Geschichten aus Ost-Berlin
www.edition.subkultur.de
Mikis Wesensbitter: „Guten Morgen, du schöner Mehrzweckkomplex“ 1. Auflage, September 2018, Edition Subkultur
© 2018 Edition Subkultur. A division of Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Das Buch beinhaltet Satire. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat: Swantje Niemann
Coverbild: Mikis Wesensbitter
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-943412-41-3
epub ISBN: 978-3-943412-42-0
Ich wuchs in einer Zeit auf, als der Zweite Weltkrieg schon über zwanzig Jahre vorbei war. Ich war zu jung, um Teil einer Nachkriegsgeneration zu sein und trotzdem war der Krieg immer noch allgegenwärtig. Ich spielte neben Bombentrefferruinen, ich zielte mit meiner Erbsenpistole auf die Einschusslöcher in den Altbauten und ich wusste genau, wie Blindgänger aussehen. Jeden Mittwoch-Mittag schrillten die Sirenen, im Fernsehen liefen Partisanenfilme, und mein Taschengeld spendete ich für die Kinder in Vietnam und Chile. Im Kindergarten malte ich Soldaten der Volksarmee und im Sportunterricht warf ich Handgranaten.
Das Gefühl der Bedrohung war (m)ein ständiger Begleiter. Und so wuchs ich mit der Angst vor Atombomben, vor dem US-Imperialismus und vor Clown Ferdinand auf. Am meisten Angst hatte ich aber immer vor den Schlaghosen. Denn mein Großvater hatte mir erzählt, dass Schlaghosen in Wirklichkeit verzauberte Krokodile sind, die nur darauf warten, geweckt zu werden und zuzubeißen.
„Und nächstes Jahr Nobelpreis“ wäre ein schönes Motto für dieses Buch, aber daraus wird wohl nix. Das macht nichts, denn viel wichtiger ist, dass ihr Spaß habt! Lest langsam und ohne Eile, holt euch ein kaltes Getränk und vergesst vor allem nie, dass ihr im Jetzt lebt und „Morgen“ nur eine fixe Idee ist.
Seid ihr bereit?
Zehn-Neun-Acht-Sieben-Sicherheitsgurt-Sechs-Fünf-Vier-Nächstes Bier-Drei-Zwei-Eins-Null!
START
Natürlich kann ich mich an meine Geburt nicht erinnern. Kann ja eigentlich niemand so richtig. Also außer den ganz Bewussten, die zum Channeln gehen und so Zeug machen. Meine Mutter kann sich allerdings sehr gut erinnern. Sagt sie.
Ich sollte unbedingt ein Berliner werden, hat sie sich gewünscht. Deshalb setzte sie sich in den Zug, als sie die ersten Wehen spürte, und fuhr Richtung Hauptstadt. Mit einer großen Reisetasche und einem Kinderwagen. Es war ein heißer Tag, die Sonne strahlte an einem wolkenlosen Himmel. In Riesa musste sie umsteigen, hatte eine Fleischbrühe in der Mitropa und drei ältere Damen an der Backe, die sie davon zu überzeugen versuchten, doch sofort ins Krankenhaus zu gehen.
»Nein, das geht noch. Ich hab noch ein paar Stunden Zeit!«, beendete meine Mutter die Diskussion und stieg in den D-Zug nach Berlin. Es lief alles nach Plan. Bis der Zug kurz vor Wünsdorf stehenblieb und nicht weiterfuhr.
»Die Russen machen mobil. Rollen alles nach Prag, was sie haben!«, flüsterte ihr ein Feuerwehrmann zu, der in Doberlug-Kirchhain zugestiegen war. Er zeigte aus dem Fenster und meine Mutter sah endlose Waggonreihen, auf denen Panzer, LKW und Kanonen standen. Ihr Zug bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck und langsam fing ich wohl an, in ihr unruhig zu werden.
Der Schaffner kam vorbeigehastet und erklärte ihr händeringend, dass vor einer Stunde ein sowjetischer Tankwagen im Gleisbett explodiert sei, die ganze Strecke lichterloh brenne und eine Weiterfahrt undenkbar sei. Was sie mit einem tiefen Schmerzensschrei beantwortete, dem Verzweiflung, Enttäuschung und jede Menge Wut innewohnten. Die Senkwehen hatten eingesetzt.
Und ich wurde in Zossen geboren, wohin man sie mit einem Multicar brachte.
Sechs Monate nach meiner Geburt wurde meine Mutter zur »Bewährung in der Produktion« geschickt. Ins tiefste Mecklenburg. Dreischichtsystem, ohne Chance auf eine eigene Wohnung oder einen Krippenplatz.
»Das Kind kommt zu uns. Du wischst dir die Tränen aus dem Gesicht und stehst die Scheiße durch!«, bestimmte meine Oma.
Und so wuchs ich auf dem Land auf, umgeben von Feldern, Wiesen, Wäldern und Menschen, die mich liebten. Sobald es draußen auch nur ein Grad über null war, wurde ich in den Kinderwagen verfrachtet, ordentlich zugedeckt und in den Garten geschoben. Mein Urgroßvater saß dann mit Pfeife und Stock neben der Kinderkutsche und passte auf, dass mich weder Fuchs, noch Hühnerhabicht raubten. Nachdem ich laufen gelernt hatte, folgte er mir wie ein Schatten und beschützte mich vor Brunnenschächten, Elektrozäunen und Brennesselhecken.
Als ich drei war, durfte ich in den Dorfkindergarten gehen. Praktischerweise war meine Tante dort die Kindergärtnerin. Wir waren nur eine Handvoll Kinder. Links war ein großer Garten, rechts waren Schafställe und wir hatten immer irgendwas zu tun. Naja, und wenn es regnete, wurden wir eben nass.
Wenn meine Tante noch etwas vorhatte, durfte ich allein nach Hause gehen. Ich musste die Dorfstraße entlang, über den Fluss, bei Bauer Kunzer vorbei und dann noch durch den Wald. Am Waldrand stand immer mein Knüppel, denn im Unterholz könnten schließlich meine alten Feinde Fuchs und Hühnerhabicht lauern. Aber die traf ich nie. Vor denen hatte ich auch keine wirkliche Angst. Viel gefährlicher fand ich den Mond, denn den traf ich oft.
Der Mond war eine alte Frau, der als Kind mal der Vollmond auf den Kopf gefallen war. Behauptete zumindest meine Oma. Seitdem tickte sie nicht mehr richtig. Meist war sie mit einem Kinderwagen unterwegs, in dem eine Katze saß. Manchmal auch ein Huhn und ganz selten ein Ferkel. Sie trug immer eine Kittelschürze und darunter nie einen Schlüppi. Sie machte stattdessen ihr Unterhemd mit einer Sicherheitsnadel zu, behauptete auch meine Oma. Und der Mond erzählte immer gruslige Geschichten. Von Russen, die kleine Kinder fraßen, von Kühen, die nachts in Häuser einbrachen, um Fernsehen zu schauen, und vom Dachs, der im Konsum die ABC-Zeitung und Bier klaute und es sich dann mit einer Lesebrille auf der Nase auf der Bank gemütlich machte. Ich hatte gelernt, höflich zu sein und anderen Menschen zuzuhören. Aber beim Mond musste ich eine Ausnahme machen, da musste ich schnell weiter, denn wenn sie einmal angefangen hatte zu reden, hörte sie nie wieder auf.
Als ich vier war, hatte meine Mutter eine Stelle im Wirtschaftsrat von Berlin und eine Wohnung gefunden. Nun war ihr alter Traum endlich wahrgeworden. Sie und ich, wir würden Hauptstädter werden. Fernsehturm, Kinderkaufhaus und S-Bahn, alles endlich nicht nur auf Bildern, sondern Wirklichkeit. Ich freute mich mit ihr, für sie. Weil sie es sich so lange gewünscht hatte.
»Das ist dein neuer Kindergarten. Schau nur, so ein wunderschöner Neubaukomplex. Mit Heizung und warmem Wasser aus der Wand. Du musst nie wieder frieren und im Matsch spielen musst du auch nicht mehr«, erklärte sie mir und zeigte voll Begeisterung auf den grauen Betonklotz, der ab sofort mein neuer Kindergarten werden sollte. Vor Schreck pinkelte ich mir in die Hosen. Ich glaube, ich hasste diesen Ort vom ersten Augenblick an. Und ich schämte mich. Aber meine Mutter lachte nur und umarmte mich.
Es war ein trüber, kalter Montagmorgen, an dem meine Mutter mich zum ersten Mal in den Neubaukomplex brachte. Sie gab mir einen Kuss, wünschte mir ganz viel Spaß, sagte mir, dass ich in die erste Etage und dann nach links gehen sollte, und musste dann ganz schnell zur Arbeit fahren.
Natürlich wusste ich, wo links und rechts waren, aber ich war viel zu aufgeregt und konnte mich plötzlich nicht entscheiden, was richtig und was falsch war. Also lief ich die Treppe hoch und blieb einfach stehen. Mütter und Kinder kamen, Mütter gingen wieder, Kinder blieben und rannten hin und her. Ich blieb einfach da, wo ich war und wartete. Ich war mir sicher, dass mich irgendwann jemand finden würde. Und ich hatte recht.
»Ach du Armer, wer bist du denn? Und wo willst du hin?«, fragte mich eine dicke Frau.
»Ich bin neu hier und ich soll nach links gehen. Aber ich weiß grad nicht, wo links ist!«, sagte ich.
»Herrje, das ist aber auch schwierig. So wie du stehst, ist links da lang.« Sie zeigte auf mein Links. »So wie ich stehe, ist es in die andere Richtung. Puh, komm einfach mit runter in die Küche. Da kenn ich mich aus und du kannst mithelfen. Ich bin die Franzi. Und wer bist du?«
»Ich bin Mikis.«
»Schöner Name. Hab ich noch nie gehört, aber klingt gut. Kannst du Kartoffeln schälen?«
Ich nickte entschlossen und verbrachte meinen ersten Tag im neuen Kindergarten in der Küche.
Franzi war toll. Wir putzten Gemüse, machten Rührei und schoben ein Blech Apfelkuchen nach dem anderen in den Backofen. Dazu lief das Radio und Franzi sang fast jedes Lied mit. Irgendwann tat ich das auch.
»Morgen früh kommst du einfach gleich in meine Küche, dann musst du nicht lange nachdenken, wo das richtige Links ist«, sagte sie zum Feierabend und setzte mich auf die Treppe, damit ich meine Mutter sehen konnte, wenn sie mich abholen kam.
Und so ging es drei Monate. Drei glückliche Monate. Ich sang, kochte, backte und schnatterte unentwegt mit Franzi. Dann fiel sie plötzlich um.
Wir waren gerade beim 325sten Eierkuchen, 25 mussten wir noch machen und genau in dem Moment, als wir beide »Da war Gold in deinen Augen« sangen, da krachte sie einfach auf den Boden.
»Tut mir leid, Süßer, ich glaub, jetzt musst du das richtige Links doch alleine finden. Ich schaff’s nicht länger«, flüsterte sie.
Ich blieb neben ihr sitzen, hielt ihre Hand fest und weinte, bis die aufgeregte Kindergartendirektorin uns fand. Franzi wurde mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht und ich musste mich in die Ecke des Direktorenbüros stellen und die Wand anschauen. Es gab Riesenärger, denn keiner konnte sich erklären, wieso niemandem aufgefallen war, dass ich seit drei Monaten angemeldet, aber nie in meiner Gruppe aufgetaucht war. Die Polizei sollte eingeschaltet werden, die Staatssicherheit und die Bezirksleitung. Es musste unbedingt ein Schuldiger gefunden werden. Meine Mutter war auch sauer, ich musste ohne Abendbrot ins Bett, und keiner war auf die Idee gekommen, mich zu fragen, wie es mir ging. Das war irgendwie unwichtig.
Am nächsten Tag bekam ich meinen zweiten Start im Kindergarten. Meine Mutter gab mich diesmal direkt in der Gruppe ab und passte auf, dass ich auch wirklich da ankam, wo ich hingehörte.
»Deine Erzieherin heißt Frau Lampe. Die ist total nett«, sagte sie zum Abschied, gab mir einen Kuss und schob mich in den Gruppenraum.
Nur leider war Frau Lampe nicht da, die war nämlich krank. Dafür war Frau Foltert da. Zuerst sah ich sie gar nicht, sondern nur lauter Kinder, die mich alle komisch anschauten.
»Tach, ick bin Axel. Ick bin hier der Chef von die Kinderküche. Willste mitspielen?«, fragte mich ein dicker Junge und zeigte in die linke Ecke, wo direkt neben dem Kaufmannsladen eine Spielküche stand. Ich nickte und wollte gerade mit Axel loslaufen, als sie plötzlich auftauchte.
Ich sah nur einen weißen Kittel und schwarzen Pelz an den Beinen und dann hörte ich ihre Stimme: »Der da« – ein spitzer Finger stach in meinen Bauch – »der wird garantiert nicht in der Kinderküche spielen! Der da« – der spitze Finger stach noch tiefer zu – »der wird sich erst mal nützlich machen. Und den Frühstückstisch decken!«
Ich blickte hoch und sah in das böseste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Die Mundwinkel zogen sich fast bis zum Kinn, die Nase war spitz und die Augen waren farblos und kalt.
»Jut, dit is ja och fast wie Kinderküche, nur für Große. Da helf ick ihm glei ma!«, sagte der dicke Axel und zog mich von der Hexe weg.
»Die Olle hat ne Macke. Die ist voll Kopfkacke«, flüsterte mir Axel zu, während wir zusammen den Tisch deckten. Ein Mädchen half uns dabei, und als wir uns alle an den Tisch setzen mussten, nahm sie den Platz neben mir.
»Ich bin Hanka«, sagte sie leise zu mir. »Aber ich tue so, als wäre ich stumm. Frau Foltert hat mir nämlich verboten zu reden!«
»Hanka! Redest du schon wieder Unsinn?«, fauchte die Erzieherin und das Mädchen schüttelte nur stumm mit dem Kopf.
Es gab Haferflockenmüsli zum Frühstück. Es war schleimig, pampig und eklig und alle Kinder schaufelten das trotzdem in sich rein. Ich nicht. Ich wollte das nicht essen. Aber ich lernte schnell, warum alle Kinder sich beeilten aufzuessen. Der Letzte musste nämlich am Tisch sitzen bleiben und durfte den ganzen Vormittag nicht aufstehen.
Und ich lernte noch viel mehr neue Regeln an diesem Tag. Eine davon war, dass man seinen Eltern nicht erzählen durfte, was tagsüber passierte. Der dicke Axel meinte, wenn sich Eltern beschwerten, würde die Foltert richtig durchdrehen. Also erzählte ich meiner Mutter, dass es ein ganz toller Tag gewesen war und ich neue Freunde gefunden hatte.
Am nächsten Tag war ich Dritter beim Haferflockenaufessen. Während Frau Foltert unablässig darüber redete, wie glücklich die Kinder nach dem Krieg gewesen wären, wenn sie Haferflocken hätten essen können, und was für verwöhnte Blagen wir seien, schob ich mir einen Löffel nach dem anderen in den Mund, bis ich wie ein Hamster aussah und nichts mehr reinpasste. Dann rannte ich aufs Klo, spuckte alles aus und spülte. Ich hatte den Trick raus! Aber der funktionierte nicht lange, denn schon am dritten Tag verfolgte mich die Foltert, hinderte mich am Spülen und ich musste die Haferflocken aus dem Klo fischen und wieder in meine Schüssel packen.
Jeden Mittwoch standen zwei Stunden Malunterricht auf dem Tagesplan. Wir wollten Bäume, Wiesen und Aschenputtel malen, aber bei Frau Foltert gab es nur ein Thema: die Nationale Volksarmee.
Während Frau Foltert uns eine Armeegeschichte vorlas, malten wir also. Meine Soldaten hatten Tarnuniformen an und dunkelbraune Gesichter. Axels Soldaten sahen voll scheiße aus, die hatten rote Uniformen, und Michael war wohl zu blöd, Menschen zu malen, der zeichnete eine Armee von Osterhasen mit Gewehren. Es lag Ärger in der Luft und der kam dann auch.
»Maik Wesensbitter! Willst du mich verhohnepiepeln?«, keifte die Foltert, als sie mein Bild betrachtete.
»Ich heiße Mikis!«, antwortete ich trotzig.
»Den Namen gibt es nicht. Du heißt Maik! Und bei der NVA gibt es keine Neger! Das ist ja wohl die absolute Frechheit, in unserer guten, stolzen Volksarmee dienen deutsche Männer und keine Hottentotten! Ab in die Ecke mit dir.«
Während ich mich in die Ecke stellte, zerfetzte sie mein Bild und brüllte dabei Axel an, ob er wieder bunte Knete gefressen hätte, um unsere Soldaten wie Beatmusikanten darzustellen. Und Micha fragte sie, ob er zu blöd sei, einen Menschen von einem Meerschwein zu unterscheiden. Dann standen wir drei in der Ecke und durften kein Mittagessen haben. Mir war das egal, aber der dicke Axel litt sehr. Nicht nur weil er Hunger hatte, sondern weil es Königsberger Klopse gab. Und die mochte er besonders.
Am 1. Juli war, wie jedes Jahr, der Tag der Volkspolizei, und die Foltert hatte sich ausgedacht, dass wir den ABV besuchen sollten, um ihm zu seinem Ehrentag zu gratulieren. Dazu sollte jedes Kind lernen, wie es heißt und wo es wohnt. Darüber würde der ABV sich sicher freuen, denn wenn mal jemand von uns verlorengehen würde, würde es der Volkspolizei sehr helfen, wenn wir unsere Adresse wüssten.
Ich meldete mich und erzählte, dass ich mal fast verlorengegangen wäre, weil ich meine Mutter im Gedränge auf dem Dresdner Hauptbahnhof aus den Augen verloren hätte. Da hätte es auch nichts genützt, dass ich meinen Namen und meine Adresse wusste. Dafür hätten die Polizisten mir aber eine Bockwurst gekauft und meine Mutter hätte mich dann auch so gefunden.
Die Foltert schrie. Ich musste mich in die Ecke stellen und einen Tischtennisball in den Mund stecken, damit ich meinen frechen Mund hielt.
Manuela mit dem Sprachfehler gab sich richtig Mühe, aber sie schaffte es nicht. »Ich heiße Manuela Ga-Ga-Ga-«, stotterte sie, und gerade als der dicke Axel ihr helfen wollte und »Garzwick« rief, pinkelte sie sich vor Aufregung in die Hosen. Und musste sich neben mich in die Ecke stellen.
Die meisten Kinder sagten ihren Spruch ohne Probleme auf und die Foltert wurde ruhiger.
Dann war Micha dran. »Ich heiße Micha Krusch und wohne in der Musch!«, sagte er und für einen kurzen Moment herrschte Schweigen im Raum, bevor ein Orkan losbrach.
Frau Foltert kreischte, Stühle fielen um und Micha rannte kreuz und quer durch den Raum, um sich nicht von der verrückten Erzieherin fangen zu lassen. Mir hüpfte vor Freude der Tischtennisball aus dem Mund, und als dann mitten im Getöse Axel auf den Tisch sprang und rief: »Hallo! Ich heiß Axel Warte und hab ne dicke Scharte!«, brüllten wir alle vor Lachen. Aber nur kurz. Denn was dann passierte, brachte unsere Kinderwelt zum Einstürzen.
Frau Foltert stand mitten im Raum, zitterte wie ein Tannenbaum im Dezemberwind, wedelte mit den Armen, und weißer Schaum quoll aus ihrem Mund. Dann schnappte sie sich plötzlich den dicken Axel, hob ihn über ihren Kopf und warf ihn an die Wand, dass es nur so krachte.
Die folgenden zwei Wochen blieb unsere Gruppe geschlossen und wir wurden aufgeteilt in andere Gruppen. Hanka, Micha und ich waren in der Gruppe von Frau Müller. Mit den ganzen Dreijährigen. Das war lustig. Die konnten noch nicht richtig essen und nicht richtig sprechen, aber wir waren die Großen und konnten ihnen helfen. Wenn schönes Wetter war, gingen wir in den Garten und spielten mit den Kleinen im Sandkasten. Manchmal stand Axel am Zaun und winkte mit seinen zwei Gipsarmen. Dann ließen wir die Babys im Sand sitzen und rannten zu ihm. Er hatte die Hosentaschen immer voller Süßigkeiten, aber da kam er selbst nicht ran. Hihi, Axel füttern war noch viel besser, als mit den Babys spielen.