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Wie willst Du leben? Wie willst Du alt werden? Und kann man das wirklich planen oder hat das Schicksal immer seine eigenen Ideen? Dieses Buch erzählt Geschichten, die das Leben schreibt. Fröhliche und traurige. Von Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Über Liebe und Trennung. Vom Leben und Sterben. Mikis Wesensbitter arbeitete viele Jahre als Alltagshelfer. Dabei traf und begleitete er die unterschiedlichsten Menschen: Da ist eine lebenslustige Reichsbahnerin aus Karlshorst, ein Veteran, der mit 82 zum Union-Fan wird, eine Lehrerin, die genug hat vom Alltag, eine Punkerin in der Krise, eine Frau, die dabei ist, ihr Gedächtnis zu verlieren und eine Mutti im Wochenbett mit Milchstau. Dies sind ihre Geschichten von Heute und Früher, vom Werden und Vergehen, vom Finden und Verlieren. Zum Lachen und zum Weinen. So, wie das Leben eben ist.
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2024
edition.subkultur.de
MIKIS WESENSBITTER: „Nächster Halt: Im Land des Vergessens“
1. Auflage, September 2024, Edition Subkultur Berlin
© 2024 Periplaneta - Verlag und Medien / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
subkultur.de
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung basiert auf realen Erlebnissen, alle handelnden Personen sind jedoch erfunden.
Coverfoto: Milena Milde
Lektorat, Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-948949-40-2
epub ISBN: 978-3-948949-41-9
Nächster Halt: Im Land desVergessens
Ich war 49 und nach der buddhistischen Lehre, wonach man sich alle sieben Jahre ganz neu erfindet, war ich also theoretisch bereit für Veränderung. Aber in Wirklichkeit wollte ich gar keinen Fortschritt, sondern eher ein Back-to-the-Roots. Ich hatte fast die ganzen 90er Jahre damit verbracht, Konzerte und Partys zu organisieren und wenn wir gerade nicht selber eine Veranstaltung hatten, sind wir auf andere Konzerte und Partys gegangen, um Flyer zu verteilen oder zu schauen, wie andere Clubs das so machen. Bis ich das erste Mal schwanger wurde und beschloss, damit aufzuhören.
Und jetzt hatte ich gemerkt, wie mir das eigentlich fehlte, und dass ich das gerne noch mal leben würde. Also bewarb ich mich bei den ganzen bekannten und unbekannten Konzertveranstaltern und Agenturen. Ich bekam genau gar keine Antwort. Nicht eine.
Eigentlich brauchte ich mich darüber auch nicht zu wundern, denn was sollten die auch mit mir? Wo es jede Menge Nachwuchs gab, der nicht auf die Uhr schaute, keine Kinder hatte und wusste, wie man auf Insta mit jedem Post 3234 Likes bekam. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal, wie man auf Insta ein Profil anlegt.
Und dann sah ich diese Anzeige: „Freizeitgestaltung für Senioren! Du möchtest alten Menschen den Lebensabend erleichtern? Mit Ihnen spazieren gehen, kochen und Kultur erleben? Dann melde dich bei uns. Wir sind Care-Zone eine junge, moderne Agentur …“
Aha! Warum nicht, wenn ich offensichtlich zu alt bin für den Rock’n’Roll, dann mach ich eben was mit Rentnern.
Ich ging zu einer Infoveranstaltung und war erstaunt, wer da alles saß. Pensionierte Lehrerinnen, Studenten, ein Polizist und ein paar Typen, die ich nicht mal nach fünf Bier in meine Wohnung gelassen hätte. Man musste eigentlich nichts weiter machen, als ein Onlineprofil ausfüllen und ein sauberes Führungszeugnis vorweisen. Und natürlich manierliche Umgangsformen und Empathie besitzen. Bei den letzten beiden Dingen war ich mir bei einigen Bewerbern im Raum alles andere als sicher.
Mein Profil wurde innerhalb kurzer Zeit freigeschaltet und ich bekam die ersten Jobangebote. Es konnte also losgehen!
Frau Majewski wohnte Frankfurter Allee/Süd in einem Neubaublock. Wobei Neubau natürlich für einen 50 Jahre alten Plattenbau auch die falsche Bezeichnung ist. In meiner Jugend hieß das jedenfalls noch Neubau, weil die Altbauten eben noch viel älter und nicht von den fleißigen Bauarbeitern des Volkes errichtet worden waren.
Auf Google Maps sah das relativ einfach aus. Entweder mit der S-Bahn bis Frankfurter Allee und dann wieder zurücklaufen oder direkt von mir aus laufen.
Zurücklaufen fand ich bescheuert, der direkte Weg klang viel sinnvoller. War er aber nicht. Erst recht nicht mit verstauchtem Fuß. Ich kämpfte mit mir, mit dem Schmerz und mit dem Drang, nicht zu spät kommen zu wollen. Und dann verlief ich mich auch noch in dem ganzen Gewirr von Hausnummern. Aber ich schaffte es und stand pünktlich um zehn vor ihrer Haustür.
Sie war alt. Und sie war verwirrt.
„Wer sind Sie denn?“, fragte sie mich an der Wohnungstür.
„Na, ich bin Ihr neuer Alltagshelfer. Wir haben doch heute unseren ersten Termin!“
„Kommen Sie erst mal rein.“
Ich setzte mich auf die Couch, massierte vorsichtig meinen Fuß, versuchte, den Schmerz wegzuatmen und nicht laut zu schreien.
„Hat Ihnen denn niemand gesagt, dass ich das nicht mehr will?“
„Was? Wie? Nein!“
„Ja, aber ich hab doch gesagt, dass mir das alles viel zu viel ist. Und ich nicht noch eine Zusatzversicherung abschließen will.“
„Wie Versicherung? Das läuft doch über die Pflege. Da müssen Sie doch nichts extra abschließen. Also zumindest soweit ich das weiß.“
„Doch doch, die wollten mich noch beraten und dann sollte ich noch irgendwas unterschreiben. Und das mach ich nicht. Ich hab auch gesagt, dass sie sich nie wieder bei mir melden sollen.“
„Davon weiß ich nichts. Ich wusste nur, dass wir einen Termin haben und ich Ihnen helfen soll. Mir hat niemand Bescheid gesagt!“
Sie gab mir fünf Euro, damit ich den Weg nicht umsonst gemacht hätte. Ich ging damit zu Penny und kaufte mir ein Sixpack Becks. Für später, für nach dem Schmerz und vor allem für nach dem wütenden Telefonat mit der Agentur.
Meine zweite Klientin war Mitte 50 und hatte sich den Fuß gebrochen. Die fand ich nett und wir hatten auch gute Gespräche bei meinem ersten Besuch. Danach sagte sie die Termine immer kurzfristig wieder ab, weil ihr gerade nicht so war oder sie nichts brauchte. Bis ich ihr erklärte, dass ich das zwar schön finde, spontan frei zu haben, aber leider auch keinen Pfennig verdienen würde, wenn die Termine nicht stattfinden. Das verwunderte sie. Sie dachte, ich wäre fest angestellt und da wäre das eben auch egal. Dann hielt sie sich an Absprachen und ich ging für sie einkaufen oder karrte sie in ihrem Rollstuhl durch Friedrichshain.
Zeitgleich hatte ich noch Klient 3, einen 91-jährigen Herrn, der in der DDR im Außenhandel gearbeitet hatte und eine Vorliebe für Kriegsdokumentation hegte. Die schaute er sich mit Lautstärke 85 an. Er war ganz stolz darauf, dass er sich jeden Tag sein Mittagessen selber kochte, was auch ich sehr beachtlich fand. Seine Wohnung war ein Labyrinth aus Kisten, Koffern und Tüten; die Teppiche stammten noch vom Erstbezug in den 60ern und hatten nicht nur die Farben der Zeit angenommen, sondern waren teilweise auch im Auflösungsprozess. Was das Staubsaugen zu einem Abenteuer machte. Das Bad hatte einen Hauch von Bahnhofsklo. Um da zu putzen, brauchte ich eine große Portion Überwindung. Die Küche war ein Museum, mit Speiseresten der letzten Dekade verziert. Als ich die DDR-Kaffeemaschine von ihrer zentimeterdicken Patina befreien wollte, gab sie mit einem lauten Rumms ihren Geist auf.
„Ach, dit macht nüscht! Denn kann ick endlich die neue auspacken, die ick zu meinem Siebzigsten jeschenkt jekriegt hab“, meinte er.
Unsere Gespräche waren recht simpel gestrickt, was vor allem der Klanglandschaft geschuldet war. Denn während aus dem Fernseher in infernalischer Lautstärke ständiges Artilleriefeuer, Panzergeschosse und Gewehrsalven erklangen, unterhielt es sich einfach nicht gut. Ich schaffte drei Einsätze bei ihm, dann gab ich auf. Das war einfach zu viel für mein Nervenkostüm, beim Putzen auch noch im Kriegsgebiet unterwegs sein zu müssen.
Auf meinem Konto gab es plötzlich positive Bewegungen, ich war nicht mehr knietief im Dispo und ich konnte die Titelgeschichte für mein nächstes Buch fertig schreiben, ohne ständig von Existenzangst abgelenkt zu werden. Auch wenn das eigentlich überhaupt nicht der Job war, den ich machen wollte, fühlte ich mich frei. Ein schönes Gefühl!
Frau Gierschoff wohnte in Plänterwald. Das war verkehrsgünstig und vor allem war es für mich auch eine Reise in die Vergangenheit, denn dort war ich vier Jahre zur Schule gegangen.
Ich bekam die Jobzusage am Freitagnachmittag und rief sie an. Sie erzählte mir, dass sie schon vor zehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden war und bisher einfach nirgendwo Glück gehabt hätte, weil überall gesagt worden war: „Wir haben kein Personal!“
Da ich für den Sonnabend noch keine Pläne hatte und ich das einfach gruslig fand, dass jemand so lange ohne Hilfe war, verabredeten wir uns für den nächsten Tag um 10 Uhr.
Sie wohnte in einem westsanierten Q3A-Block Parterre. Mir schlug eine Wand von kaltem Billigtabakrauch entgegen, als sie die Tür öffnete. Und wenn in der Einsatzdokumentation nicht gestanden hätte, dass sie 65 Jahre alt ist, hätte ich sie auf 80 geschätzt.
Nach einem Kaffee auf dem Balkon wusste ich, dass sie Zysten in der Bauchspeicheldrüse hatte, dass man ihr im Krankenhaus das Gebiss geklaut hatte und dass sie seit der Entlassung aus dem Krankenhaus viel Zeit auf dem Balkon verbracht hatte, um darauf zu warten, dass Nachbarn vorbeiliefen, die sie fragen konnte, ob sie ihr Knäckebrot und Zigarillos von Netto mitbringen könnten.
Sie wünschte sich, dass ich einkaufen und einmal durch die Wohnung wischen würde. Aber ihr sehnlichster Wunsch war neue Bettwäsche. Denn die alte war voller Blut und da traute sie sich kaum noch, ins Bett zu gehen.
Und so stand ich Samstagvormittag vor einem Bett, das aussah wie ein Splatterfilm und kämpfte mit dem Ekel. Ich wusste nicht genau, ob ich das wirklich anfassen konnte oder ob ich kotzen würde. Aber die Arme tat mir auch so leid, dass ich mir Gummihandschuhe anzog, ihren Wunsch erfüllte und das ganze Zeug gleich mit 95 Grad wusch.
Als ich ihre Wohnung putzte, hatte ich viel Zeit, mir die Bilder, die überall an den Wänden hingen, anzuschauen. Sie war mal ein heißer Feger gewesen, blond und gut figuriert. Ihr Mann spielte offensichtlich gern Kapitän - am Steuer von Motorbooten.
Beim zweiten Kaffee des Tages erzählte sie Geschichten von früher. Als ihr Mann noch lebte und fit war, hatten sie zum gehobenen Neuköllner Proleten-Adel gezählt, mit Kleingarten und Stammtischplätzen in diversen Eckkneipen. Urlaub auf Malle und Gran Canaria war damals gar kein Problem. Der Mauerfall hatte ihre Idylle zerstört, erst fielen die Löhne, dann wurden die Jobs knapp und die ersten Krankheiten kamen. Vielleicht war es auch der viele Alkohol. Irgendwann konnten sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten und mussten in den Osten ziehen. Dass ihre Tochter seit 15 Jahren nicht mehr mit ihr redete, hatte damit nichts zu tun. Das hatte andere Gründe. Die sie aber jetzt auch nicht mehr genau wusste.
Ich lernte an diesem ersten Tag bei ihr einige ganz wichtige Lektionen fürs Leben: Kümmere dich um dein soziales Umfeld! Pass auf, dass du immer Freunde hast! Achte darauf, dass du dich mit deinen Nachbarn verstehst. Und zerstreite dich, verdammt noch mal, nicht sinnlos mit deinen Kindern!
Ich ging zwei Mal die Woche zu ihr, kaufte für sie ein, wusch ihre Wäsche und rauchte mit ihr. Der Gestank ihrer Zigarillos war jedes Mal eine echte Herausforderung. Manchmal schrie sie plötzlich mitten im Gespräch gequält auf, weil ein Schmerzanfall durch ihren Körper raste, aber so insgesamt schien es ihr langsam besser zu gehen. Sie wurde mutig und wollte unbedingt endlich wieder selber vor die Tür. Also zogen wir los. Sie eierte mit ihrem Rollator durch die Gegend, als hätte sie eine Flasche Korn intus und alle fünf Minuten mussten wir anhalten, da sie zu erschöpft war. Aber als wir bei Netto waren, seufzte sie glücklich auf. Endlich konnte sie wieder stöbern und die Fertiggerichte einpacken, die sie unbedingt haben wollte.
„Nach dem Tod meines Mannes bin ich oft in den Rentnerclub in Treptow gegangen. Das war schön da. Wir haben Ausflüge gemacht und Spielenachmittage. Bis mich so ein alter Zausel gefragt hat, ob ich vielleicht mal mit ihm einen Kaffee trinken gehen möchte. Na, das war mir zu viel. Danach bin ich nie wieder dahin gegangen. Nirgendwohin bin ich mehr gegangen. Seitdem versauer ich hier in meiner Bude. Ich glaub, ich bin selbst schuld daran, dass ich krank geworden bin!“
Das war die nächste wichtige Lektion, die ich bei ihr gelernt habe.
Als ich nach Pfingsten, wie verabredet, wieder zu ihr ging, machte sie die Tür nicht auf. Ich klingelte eine ganze Weile, versuchte, sie anzurufen. Keine Reaktion. Ausgegangen würde sie wohl kaum sein, aber vielleicht lag sie in ihrer Wohnung. Ich wusste es nicht. Ich war kein Angehöriger, Polizei, Feuerwehr und meine Organisation waren für meine Bedenken nicht zuständig. Aber zumindest waren die Balkonfenster zu. Das sah nach geordnetem Rückzug aus. Also wenn sie da tot in ihrer Wohnung lag, dann wenigstens umweht vom heimeligen Zigarillodampf.
Frau Möhr war 81, gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, und wohnte in Johannisthal.
Also nicht unbedingt verkehrsgünstig gelegen für mich. Aber es war Sommer und da ich sowieso auf Retrotrip unterwegs war, bot sich mir so die Chance, mal wieder in einer Gegend unterwegs zu sein, die viel mit meiner Vergangenheit zu tun hatte. Denn dort war dereinst nicht nur mein erster Lottoladen gewesen, sondern dort stand auch die Bibliothek, aus der ich hunderte Bücher nach Hause geschleppt hatte. Und natürlich das Kino Astra, in dem ich nicht nur reihenweise bekloppte Filme gesehen, sondern auch meine Jugendweihe hatte. Lottoladen und Bibliothek gab es nicht mehr, daraus waren ein Dönerimbiss und ein REWE-Markt geworden. Das Kino gab es noch.
Frau Möhr wohnte im Parterre eines Nachkriegsbaus. Um die Wohnung zu bekommen, hatten sie damals viele Aufbaustunden geleistet, erzählte sie mir später mal. Als sie mir die Tür öffnete, schaute ich sie erstaunt an. Sie war über 1,80 groß, breit und ihre Oberschenkel hatten den Umfang meines Bauches. Mein erster Gedanke war: ,Das ist Mama Gorg von den Fraggles!‘
Sie schaute mich allerdings auch erstaunt an. Nachdem wir unsere gemeinsamen Schrecksekunden überwunden hatten, bat sie mich in die Wohnung und gab mir eine Führung. Drei Zimmer, Küche und Bad. Alles quadratisch und praktisch auf 56 Quadratmetern.
Beim Kaffee besprachen wir dann die organisatorischen Dinge. Saubermachen, Einkaufen und Begleitung zu ihren Physiotherapie-Terminen standen auf ihrer Wunschliste. Damit konnte ich auf jeden Fall leben. Netto war nicht weit, ihre Einkaufsliste nicht besonders lang und schon war die erste Stunde um. Sie nickte zufrieden, als ich meinen Rucksack auspackte, dann ließ sie sich auf die Couch plumpsen und sagte: „So junger Mann! Jetzt putzen Se ma und wischen Staub und ick bleeb sitzen und kiek Ihnen zu. Dit kommt schließlich nich oft vor, det hier’n Mann vorbeikommt und meene Wohnung sauba macht!“
Damit hatte sie mein Herz erobert.
Im Schlafzimmer stand ein Doppelbett, die Seite ihres verstorbenen Mannes war frisch bezogen. Das kleine Zimmer nannte sie immer noch Kinderstube, obwohl ihre Söhne schon vor 40 Jahren ausgezogen waren. Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn irgendwo an der Wand noch eine Täve-Schur-Autogrammkarte gehangen hätte.
Zum Abschied gab sie mir drei Euro. „Für ’nen Kaffee!“
Ich holte mir aber lieber drei Bier von dem Geld. Schließlich war Freitagabend und 30 Grad machen ja auch durstig.
Als ich das nächste Mal zu ihr ging, stand Physio auf dem Programm.
„Sie müssen uffpassen, det ick untawegs nich stolper und mir irjendwat breche!“, verkündete sie, während sie ihren Rollator abschloss und damit loszog. Ich lief neben ihr und meine innere Alarmanlage sendete ein lautes Warnsignal. Wenn die auf mich rauf fällt, bin ich Matsch!
Ich war völlig verkrampft, versuchte Stolperfallen und Gefahren vorauszuahnen und überlegte angestrengt, wie ich sie daran hindern könnte, umzufallen und auf dem Gehweg einzuschlagen. Der Weg zur Physiotherapie war nur zehn Minuten lang, aber als wir dort ankamen, war ich klitschnass. Nachdem sie im Warteraum saß, ging ich einkaufen und einen Kaffee trinken. Auf dem Rückweg erzählte sie mir, wie 1963 das Fahrrad ihres jüngsten Sohnes vor dem Eckladen geklaut worden war. Nigelnagelneu war das gewesen und der Kasper hatte es nicht abgeschlossen, als er Milch holen war. Na, das hat aber Schimpfe gegeben und eine Ohrfeige und Stubenarrest. Aber der ABV hatte den Dieb noch am selben Tag aufgespürt und dann herrschte wieder Eintracht und Frieden in der Familie.
Die fünf Euro Trinkgeld steckte ich zu Hause in die Sparbüchse.
Ich kannte inzwischen viele Geschichten aus ihrem Leben, wusste, dass sie als Krankenschwester gearbeitet hatte und viele, viele Jahre, vom tiefen Osten bis in den weiten Westen, eine Praxis am Laufen gehalten hatte, bis ihre Chefin irgendwann mit Stöckelschuhen, Minirock und der dritten Flasche Sekt intus, hinter ihrem Arzttisch zusammengeklappt war. Da waren sie beide 69 Jahre alt. Und mussten wohl oder übel in Rente gehen. Über ihren Mann sprach sie nie.
Weil ja Hochsommer war und Ferien dazu, stand bei mir eine Woche Urlaub auf dem Plan. Als ich ihr davon erzählte, meinte sie: „Ach dit is keen Problem. Da können meene Söhne och einkoofen jehn. Schlümma wär dit, wenn se mir die Thrombosestrümpe anziehn müssten. Denn könnten se nich wegfahrn. Wo sollet denn hinjehn?“
„Nach Rhodos.“
Sie seufzte ganz tief und sagte: „Da is dit so schön!“
Und dann holte sie ein Fotoalbum aus dem Regal und zeigte mir Bilder, Landkarten und Prospekte. Und gab mir jede Menge Insidertipps für Ausflüge, Wanderungen und versteckte Orte auf der Insel.
„Da war ick letztet Jahr mit meenem Sohn. Dit wird wohl meen letza Urlaub jewesen sein. Gloob nich, det ick noch ma irjendwohin fliejen werde.“
Rhodos war wunderschön, ich zeigte ihr meine Urlaubsbilder und die Krankenkasse weigerte sich, eine Verlängerung zu bewilligen. Es war traurig, von ihr Abschied zu nehmen. Ich hoffe sehr, dass sie noch mal auf Entdeckungsreise gegangen ist .
Fünf Wochen später. Sommer in der Stadt. Mein Telefon klingelte.
„Hallo hier ist Marion.“
„Die Marion? Du lebst?“
„Ja, ich war wieder im Krankenhaus. Die Schmerzen waren so schlimm, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Hat dir denn keiner Bescheid gesagt? Die Schwestern sollten dich eigentlich anrufen.“
„Nee. Ich hab mir Sorgen gemacht.“
„Tut mir leid. Kannst du kommen? Die Krankenkasse hat vier Wochen bewilligt.“
Wirklich besser sah sie nicht aus, aber sie hatte neuen Lebensmut. Sie wollte zum Zahnarzt, um ihr Gebiss wiederzukriegen und sie wollte zum Optiker, weil diesmal ihre Brille im Krankenhaus verschwunden war.
Und so machten wir uns auf den Weg. Sie konnte geradeaus fahren mit ihrem Rollator. An der Bushaltestelle mussten wir manchmal schubsen, um als Erste einsteigen zu dürfen und auf dem Alexanderplatz schaute sie begeistert zum Fernsehturm auf.
Im 99 Cent Markt kaufte sie sich Liebesromanzen und einmal mussten wir bei Getränke Hoffmann anhalten, weil sie Sekt brauchte. Für ihre Freundin, die immer nicht genug kriegen kann.
Bei 36 Grad im Schatten waren wir in einer Einkaufspassage in Neukölln, weil sie Heimatgefühle hatte.
Als wir zum zweiten Mal zum Alexanderplatz fuhren, um ihre neue Brille abzuholen, passte die nicht und war auch gar nicht ihre Stärke. Sie war total angepisst. Ich war begeistert, wie sie in drei Sätzen den Verkäufer zusammenfaltete und ihm erklärte, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn er nie geboren worden wäre. Da war er wieder, der Neuköllner-Adels-Einschlag.
Das war an unserem letzten Tag. Am Bahnhof Plänterwald schaute sie sich um und sagte: „Und weißt du, was wir jetzt machen? Wir gehen ein Bier trinken!“
„Echt? Es ist kurz nach 12. Da trinke ich noch nichts!“
„Heute schon!“
Und dann saßen wir im Garten vom S-Bahnstübchen und bestellten zwei halbe Liter. Die Jungs am Nebentisch mussten schon am Morgen angefangen haben zu tanken, denn da wurde lautstark gestritten, unter völliger Missachtung von deutlicher Aussprache. Auf jeden Fall ging es in ihren Gesprächen um eine Schlampe, ja eine Oberschlampe, die hier in der Umgebung schon allet jefickt hatte, wat nich bei drei uffm Baum war. Danach ging es um Hertha und dann war wieder die Schlampe Peggy an der Reihe. Als das langweilig wurde, loteten sie aus, ob es nicht an der Zeit wäre, sich mal wieder richtig auf die Fresse zu hauen.
Marion gefiel das. Sie trank selig ihr Bier und freute sich über die Soundkulisse. Bestimmt erinnerte sie das an damals, als ihr Mann in der Schultheiß-Kneipe noch anderen Frauen hinterhergeschaut hatte, um sich Appetit für zu Hause zu holen.
Ich brachte sie nach Hause, weil sie von dem Bier gut einen sitzen hatte. Sie gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
Frau Freistein übernahm ich eigentlich nur, weil es gerade keine anderen Angebote gab und ich wusste, dass Weihnachten ein teures Vergnügen werden würde. Als ich zum ersten Mal zu ihr fuhr, regnete es in Strömen und war klapperkalt. Auf dem Stadtplan hatte das alles unkompliziert ausgesehen, aber die Entfernungen in Karlshorst sind wohl deutlich andere als in der Innenstadt. Denn da ist eine Straßenbahnhaltestelle schon mal doppelt so lang wie im Friedrichshain oder Mitte.
Sie wohnte in einem Zweifamilienhaus, das man ohne Übertreibung riesig nennen konnte.
Ihr Mann war Elektromeister gewesen, sie Zahnärztin. Mit 55 hatte sie einen Schlaganfall erlitten und war seitdem halbseitig gelähmt. Mit der Arzt-Praxis war es danach natürlich vorbei. Dann starb auch noch ihr Mann und seitdem wohnte sie alleine in dem Haus und war sauer auf die Welt.
Sie hatte extrem lange Haare, bewegte sich mit einem Stock durch ihr Haus und war verdammt schwer zu verstehen.
Sie erklärte mir, welche Zimmer ich putzen sollte und welche nicht. Ich fing unter dem Dach an, im Schlafzimmer. Nach fünf Minuten rief sie: „Junger Mann. Was machen Sie gerade?“
„Ich wische Staub!“
„Lassen Sie das! Der kommt sowieso wieder.“
Ihr Wohnzimmer war voll mit antiken Möbeln. Die gefielen mir und ich entfernte akribisch die Staubschichten, die sich angesammelt hatten. Aber auch da hatte sie wieder irgendwas an meiner Arbeit auszusetzen. Mir war schnell klar, dass wir keine besten Freunde werden würden.
Nach zwei Stunden war ich fertig und hatte ihre Hütte einmal komplett saubergemacht. Von oben bis unten.
„Hui, da war ich aber schnell! In zwei Stunden geschafft, wofür drei geplant waren!“, lobte ich mich selber.
„Ja, da kriegen Sie aber auch nur zwei bezahlt!“, stellte sie klar.
Das war das erste und einzige Mal, dass ich mich bei ihr beeilt hatte.
Ich nannte sie für mich selbst Rapunzel, ging dann alle zwei Wochen zu ihr und hatte jedes Mal keine Lust. Aber irgendwie wollte ich noch nicht aufgeben, schließlich hatte ich es ja bisher immer geschafft, mit den Leuten, bei denen ich arbeitete, klarzukommen. Geschichten von früher wollte sie nur selten erzählen. Wenn ich sie was fragte, antwortete sie meist: „Warum wollen Sie das wissen?“
„Weil ich Geschichten von Menschen sammle“, sagte ich dann.
Ich lernte Meditationsstaubwischen bei ihr und Entschleunigungsputzen; für volle drei Stunden reichte es allerdings nie. Sie hingegen spielte Stoppuhr und rechnete auf die Minute genau ab. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ein ganzes Haus zu putzen eigentlich nicht nach Uhrzeit, sondern nach einer Pauschale funktionieren müsste, aber das lehnte sie ab. Sie müsse schließlich mit ihrem Geld haushalten.
Eines der Zimmer, die ich ausdrücklich nicht putzen sollte, war das Zimmer ihrer Tochter. Da hingen noch 90er-Jahre-Bravo-Poster an der Wand und es sah aus, als wenn ihr Auszug relativ überstürzt stattgefunden hatte, vor vielen Jahren. Einmal traf ich die Tochter, die hübsch und angenehm war. Mit der sprang sie noch gröber um als mit mir. Ich konnte sehr gut verstehen, dass die damals schnell das Weite gesucht hatte.
Inzwischen nannte ich sie nicht mehr Rapunzel, sondern Hexe von Karlshorst, und wenn ich auf dem Weg zu ihr war, stellten sich die Haare auf meinen Armen auf. Ich ging eigentlich nur noch dahin, weil ich es unfair fand, sie einfach sitzen zu lassen.
Doch als der Sommer kam, musste ich dann doch einsehen, dass ich sie, und sie sich, nicht ändern würde. Ich konnte gut verstehen, dass sie das Schicksal für ein gemeines Arschloch hielt, aber ich konnte da nichts für. Und ich merkte, dass ihre permanente Unzufriedenheit und Undankbarkeit auf die Dauer ansteckend wirkte.
Ich verschwand, ohne mich richtig von ihr zu verabschieden. Und ging auch nicht mehr ans Telefon, wenn sie anrief.
Ehepaare hatte ich bisher sehr selten betreut und war mit der Konstellation also nicht sonderlich vertraut. Karin und Hans bekam ich zu meinem ersten Jahrestag und sollte sie zweieinhalb Jahre behalten.
Die beiden wohnten in Köpenick, nicht weit entfernt vom Bahnhof. Eigentlich nicht unbedingt mein Revier, die Strecke fuhr ich sonst nur, wenn Heimspieltag war. Aber so hatte jeder Termin irgendwie ein bisschen Union-Flair.
Die beiden waren schon über 80 und wohnten in einer Seniorenanlage in ihrer eigenen Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad und Balkon. Karin und ich fanden uns vom ersten Moment an sympathisch, schließlich berlinerten wir beide sehr doll. Hans war etwas skeptischer, was meine Eignung für den Job betraf, schließlich war das ja irgendwie Frauenarbeit, die ich da erledigen sollte.
Ich konnte seine Zweifel aber schnell beseitigen, schließlich strahlte und glänzte die Wohnung nach zwei Stunden. Er wollte mir dann auch nur zwei Stunden quittieren, aber Karin meinte: „Heinz! Der arme Kerl muss ja schließlich erstma hier hinkommen! Und denn och wieder zurückfahrn. Deshalb sind dit och drei Stunden! Basta!“
Ich fuhr jeden zweiten Mittwoch zu den beiden, Hans ging dann meist mit seinem Rollator los, um einzukaufen und Karin machte Handarbeiten. Sie hatte nämlich Arthrose in den Fingern, und deshalb mussten die auch immer in Bewegung bleiben. Sie strickte, häkelte, nähte oder knüpfte Perlen. Irgendwas war immer zu tun. Ich wusste schnell über ihre Krankheiten Bescheid. Sie hatte mit Schilddrüsenkrebs angefangen, dann irgendwann Blasenkrebs bekommen und diverse andere Dinge mehr.
„Hätt’ ja jede andere uffjejeben bei die janzen Scheißkrankheiten. Ick nich. Dit Leben jing einfach imma weiter.“
Sie war eigentlich Krankenschwester, dann entdeckte sie aber das Tanzen für sich, wurde fast DDR-Meisterin und dann Tanzlehrerin. Bis die Wende dafür sorgte, dass ihr Kulturzentrum dichtmachen musste. Hans hatte sein ganzes Leben bei der Bank gearbeitet. Im Osten bei der Eisenbahnerbank und im Westen dann bei deren Nachfolger.
Manchmal, wenn sie besonders guter Dinge war, sang sie Lieder vor sich hin.
Einmal fragte sie mich, ob ich das Lied kennen würde. Das hätte sie immer mit ihrer Mutter zusammen gesungen. Aber als ihr Vater aus dem KZ zurückkam, sagte der: „Psst! Das darfst du doch nicht singen! Das ist doch unser Lied von der Waffen-SS!“
Ich hatte kurz gedacht, ihr Vater wäre ein Widerstandskämpfer gewesen, aber zum ersten Mal in meinem Leben sah ich da Geschichte andersrum.
Hans sang mir nur einmal etwas vor, nämlich die deutsche Nationalhymne mit allen Strophen.
„Über das Dritte Reich kann man ja viel erzählen. Aber das war meine Kindheit. Und da ging es mir gut! Die Straßen waren sauber und ich hatte nie Angst vor Verbrechern!“
Dass den Preis dafür andere mit ihrem Leben bezahlt hatten, behielt ich für mich. Es hätte nichts geändert.
Aber natürlich waren beide keine Nazis, im Gegenteil. Hans hatte ein Portrait von Willy Brandt über seinem Schreibtisch hängen und hielt ihn für den besten Politiker, den Deutschland je gehabt hatte.
Wenn Sonderwünsche wie Fensterputzen auf dem Wunschzettel oder Feiertage vor der Tür standen, steckte Hans mir einen Zwanziger zu. Damit ging ich dann zu TK-Maxx in der Bahnhofstraße und belohnte mich mit irgendwas.
Als ich schon vier Monate zu ihnen ging, erzählte mir Hans, er hätte mal Kassensturz im Pflegegeld gemacht und da wäre noch ordentlich Budget für den Rest des Jahres vorhanden. Ob ich noch andere Sachen könnte, außer Putzen. Kochen zum Beispiel. Das konnte ich natürlich. Ich brachte dann zu jedem Termin Essen mit. Darüber freuten sich die beiden jedes Mal. Und mein Konto auch.
Einmal brachte ich direkt vor einem Heimspiel das Essen vorbei. Man muss die Wege ja bündeln. Karin wartete schon an der Tür und hängte mir einen Union-Schal um. „Den hab ick heute extra noch schnell fertich jestrickt.“
Corona schlug auch im Leben der beiden heftig ein. Waren sie sonst regelmäßig zum Chor und zur Skat-Runde in den Gemeinschaftsraum gegangen, hieß es ab März 2020: In der Wohnung bleiben. Sämtliche Aktivitäten waren untersagt worden. Das tat den beiden alles andere als gut. Dazu kamen natürlich noch die ständigen Sorgen, sich anzustecken und jämmerlich an der Seuche zu verrecken.
„Mit dem Typhus hab ick ja meene Bekanntschaft jemacht und bin wieder jesund jeworden. Aber jejen dit Coronazeuch is wohl jar keen Kraut jewachsen“, meinte sie.
Wir hatten inzwischen jede Menge Rituale. So fragte sie mich immer, wenn ich mir im Flur die Schuhe auszog: „Stöhnen Sie etwa junger Mann? So alt sind Sie doch noch gar nicht!“
Und ich antwortete dann: „Klappern jehört zum Handwerk!“
Hans erzählte mir einmal, wie sein Schwager, ein Hauptmann der Wehrmacht, im Frühjahr 1945 in den Luftschutzkeller in der Wilhelminenhofstraße, in dem die Familie schon seit Tagen saß, reingekommen war und gesagt hatte: „Sofortige Abfahrt. Die Russen kommen und vergewaltigen alle Frauen!“