Die Corona-Gesellschaft -  - E-Book

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Beschreibung

Die Corona-Pandemie hat die Gesellschaft abrupt verändert - und ihre Folgen werden lange nachwirken. Zu Beginn beherrschte die Expertise der Virologie die öffentliche Debatte. Angesichts der Tragweite der Veränderungen ist jedoch klar, dass auch sozial- und kulturwissenschaftliche Sichtweisen auf die Pandemie unverzichtbar sind, denn: Die Corona-Krise ist eine gesellschaftliche Krise. Jenseits von Ansteckungs- und Mortalitätsraten hat sie tief greifende Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das alltägliche Leben der Menschen. Die Beiträge vermessen die Situation inmitten der »Corona-Gesellschaft« und zeigen Perspektiven für die Zeit nach der Krise auf. Damit bieten sie der Öffentlichkeit Orientierung und ermöglichen den Wissenschaften einen ersten Austausch. Denn zur kollektiven Bewältigung der Pandemie ist nicht nur eine kritische Analyse der Lage nötig, sondern auch das Kultivieren eines Zukunftshorizonts mit Möglichkeitssinn. Mit Beiträgen von Frank Adloff, Thomas Alkemeyer/Bernd Bröskamp, Andrea Baier/Christa Müller, Katharina Block, Ingolfur Blühdorn, Sascha Dickel, Klaus Dörre, Frank Eckardt, Angelika Epple, Petra Gehring, Ulrike Guérot, Silke Helfrich, Anna Henkel, Christine Hentschel, Stefan Hirschauer, Gabriele Klein/Katharina Liebsch, Hubert Knoblauch/Martina Löw, Elke Krasny, Stephan Lessenich, Susanne Lettow, Gesa Lindemann, Antonio Lucci, Fred Luks, Katharina Manderscheid, Jürgen Manemann, Jürgen Martschukat, Franz Mauelshagen, Herfried Münkler, Sven Opitz, Andreas Reckwitz, Eleonora Rohland, Simon Scharf, Frank Schulz-Nieswandt, Sarah Speck, Cornelia Springer, Rudolf Stichweh, Andreas Weber, Gabriele Winker und Lars Winterberg.

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Seitenzahl: 535

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Michael Volkmer und Karin Werner leiten das Programm im transcript Verlag.

Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft

Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Lektorat: Ruxandra Chişe, Bielefeld

Satz: Michael Rauscher, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-5432-5

PDF-ISBN 978-3-8394-5432-9

EPUB-ISBN 978-3-7328-5432-5

https://doi.org/10.14361/9783839454329

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

VorwortÜber Corona schreiben? – Das »Making-of« dieses Buches

Michael Volkmer/Karin Werner

Kritik der öffentlichen (Un-)Vernunft

Von sozialer Abstraktion und hilflosem Intellekt

Petra Gehring

Die Schule des Vergleichens und die Suche nach der Wahrheit wissenschaftlicher Fakten

Angelika Epple

Historische Einordnungen

Das Antlitz des Leviathan

Franz Mauelshagen

Corona, Klima und weiße SuprematieMultiple Krisen oder eine?

Eleonora Rohland

Körper

Herden unter KontrolleKörper in Corona-Zeiten

Gabriele Klein/Katharina Liebsch

Körper – Corona – KonstellationenDie Welt als (körper-)soziologisches Reallabor

Thomas Alkemeyer/Bernd Bröskamp

Gesellschaft funktioniert auch ohne anwesende KörperDie Krise der Interaktion und die Routinen mediatisierter Sozialität

Sascha Dickel

Räume

DichotopieDie Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie

Hubert Knoblauch/Martina Löw

Über die unerwünschte Mobilität von Viren und unterbrochene Mobilitäten von Gütern und Menschen

Katharina Manderscheid

Corona und die Seuche der Segregation der Städte

Frank Eckardt

Corona und die Verdichtung der Kasernierung alter Menschen

Frank Schulz-Nieswandt

LuftsicherheitszonenAtmosphären des Selbst in Zeiten von COVID-19

Sven Opitz

Zuhause arbeitenEine geschlechtersoziologische Betrachtung des ›Homeoffice‹ im Kontext der Corona-Krise

Sarah Speck

Zeitlichkeiten

Zeit, Angst und (k)ein Ende der Hybris

Frank Adloff

Die Corona-Pandemie als Phänomen des Unverfügbaren

Katharina Block

Solidaritäten

Zivilgesellschaft in der VerantwortungDrei Spannungsfelder von Solidarität in der Krise

Cornelia Springer

Allein solidarisch?Über das Neosoziale an der Pandemie

Stephan Lessenich

Endstation Solidarität?Sprachliche Einwürfe zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen »Systemrelevanz« und Kriegszustand

Simon Scharf

Gesellschaftsordnung

Simplifikation des Sozialen

Rudolf Stichweh

Corona-Test für die Gesellschaft

Anna Henkel

Pandemische Humandifferenzierung

Stefan Hirschauer

Staat und Demokratie

Das Virus der Nicht-NachhaltigkeitSARS-CoV-2 und die postdemokratische Wende

Ingolfur Blühdorn

Risikopolitik

Andreas Reckwitz

Der Staat, das Individuum und die Familie

Gesa Lindemann

Protest, Widerstand und Gewalt

Im Raum des VirusAffekt und Widerständigkeit in der Pandemie

Christine Hentschel

»I can’t breathe«Atemnot als Normalzustand

Jürgen Martschukat

Internationale Politik

Perspektiven für Europa und seine Demokratie(n) nach Corona

Ulrike Guérot

Corona-Pandemie und Geopolitik

Herfried Münkler

Ökonomien

Die Corona-PandemieKein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft

Klaus Dörre

WeichenstellungenDie Versprechen der Bioökonomie oder: Fragen nach der Zukunft unserer Lebens- und Produktionsweise

Susanne Lettow

Fragile Ernährungskulturen im Spiegel der Corona-Pandemie

Lars Winterberg

Krisenbewältigung

Hoffnung im AusnahmezustandÜber Abwägung, Angstmanagement und Aktivismus

Fred Luks

Gleichheit vor dem Virus!Verwundbarkeiten und das Tragische in der Corona-Krise

Jürgen Manemann

AnsteckungPlädoyer für eine Ethik der Kontingenz

Antonio Lucci

Konkrete Utopien

Commons statt MarktStaatMit der Pandemie alte Denkmuster überwinden

Silke Helfrich

Die Do-it-Yourself (DIY)-Community in Zeiten von CoronaPlädoyer für eine demokratisierte Daseinsvorsorge

Andrea Baier/Christa Müller

Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Care-ÖkonomieEin Plädoyer in Zeiten von Corona

Gabriele Winker

In-Sorge-BleibenCare-Feminismus für einen infizierten Planeten

Elke Krasny

Die Botschaft der intimen DistanzAnimismus als ökologische Utopie

Andreas Weber

Autor*innen

VorwortÜber Corona schreiben? – Das »Making-of« dieses Buches

Ende März entschieden wir uns dafür, eine Publikation zu Corona aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive verlegen und herausgeben zu wollen. Es war am Beginn des Lockdowns in Deutschland und die Medien waren voll von virologischen und epidemiologischen Beiträgen und Expertisen, doch wo waren die Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen in dieser das gesamte gesellschaftliche Leben fundamental betreffenden Situation? Erst einige Schrecksekunden (so hatte man den Eindruck) später meldeten sich dann die Vertreter*innen der Sozial- und Kulturwissenschaften ebenfalls zu Wort. Erste Aufsätze analysierten Corona aus ihren jeweiligen Perspektiven. Wie uns die Kolleg*innen aus verschiedenen Zeitungsredaktionen berichteten, wurden sie nach anfänglicher Zurückhaltung regelrecht geflutet mit Einsendungen von Aufsätzen zu Corona. Auch unsere gezielt platzierten Anfragen und unser alarmistisch formuliertes Dossier (siehe Petra Gehrings Beitrag im Anschluss: Ja, wir waren alarmiert!) stießen mehrheitlich auf große positive Resonanz, ja man empfahl uns sogar noch weitere Beiträger*innen, wodurch dieses Buchprojekt einen kollaborativen Charakter bekam. Es wurde uns klar, dass Corona längst DAS hinterbühnige Thema im sozialwissenschaftlichen Milieu war. An die Stelle des ›Flurfunks‹ an den Instituten waren andere Medien der Kommunikation getreten. Da uns viele der eingereichten Vorschläge auf Anhieb überzeugten, wurde aus einem Projekt mit ca. 25–30 geplanten Beiträgen auf einmal eines mit mehr als 40 Zusagen. Dann geschah das Typische bei Sammelbänden: Nicht alle schafften die (verlängerte) Deadline, andere überstanden die inhaltliche Prüfung dann doch nicht, sodass nun 39 Beiträge in dem Band versammelt vorliegen. Dennoch, im Vergleich zu den meisten Sammelband-Projekten war der Schwund sehr gering und das trotz des extrem engen Timings von nur wenigen Wochen für die Einreichung der Texte. Mit anderen Worten: Mehr Motivation zum Schreiben gab es selten!

Was war der Grund dafür, dass viel beschäftigte Wissenschaftler*innen sich die Zeit für ihren Beitrag abknapsten? In den vielen Korrespondenzen zwischen März und Juni erreichte uns seitens der Beiträger*innen ein Bedürfnis, der unfreiwilligen Zeugenschaft, der eigenen gebrochenen Erfahrung durch die wissenschaftliche Befassung, deutend, verstehend, analysierend, einordnend, eine reflexive Dimension hinzuzufügen – im (besten) Sinne einer professionellen Übung. Ein Pflichtmotiv ist dabei klar erkennbar: im Sinne des Herstellens einer kognitiv-analytischen Satisfaktionsfähigkeit angesichts des solchen Angängen sich immer wieder entziehenden Großkalibers Corona, als Ausdruck und Teil wissenschaftlichen Habitus. Und tatsächlich haben eine Reihe von Autor*innen bei Einreichung ihrer Texte unter dem engen Zeitregime dieses Buchprojekts Erleichterung zum Ausdruck gebracht, es (noch) geschafft zu haben, dabei zu sein. Es galt offenbar – jedenfalls manchen – etwas, »es« zu schaffen. Für uns als Herausgeber*innen wenigstens, ja für uns als transcript Verlag und womöglich auch für einen Teil unserer Autor*innen ist dieses Buchprojekt über Corona ein Teil der – wenn auch notwendigerweise nur versuchsweisen – kollektiven Bewältigung von Corona. Auf allen Ebenen: emotional und intellektuell bzw. professionell, sei es wissenschaftlich, fachpolitisch oder verlegerisch. Auch wir als Herausgeber*innen und als Verlag sind froh, »es« bis dahin geschafft zu haben. Jenseits des Bedürfnisses nach Entlastung aber geht es bei dem Buch grundsätzlich um die Frage, was Wissenschaft, hier präziser: die Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Aktualität dieser Pandemie-Krise, quasi in Echtzeit, leisten kann. Für die Antwort auf diese Frage sehen wir keine belastbaren Präzedenzfälle. Dieses Buch ist damit auch ein Experiment, diese Frage zu klären.

Die aus diesem Buchprojekt entstandenen Texte sind nicht nur analytisch gehaltvoll und oftmals ideenreich und unvermutet lebendig-engagiert, sondern – gerade aus diesem Grund – auch leseästhetisch in vielen Fällen eine Freude und ein Gewinn. Einige Texte entfalteten während der Lektüre tatsächlich einen belebenden performativen Effekt, ja einen Affekt, in uns als Leser*innen, der das bisweilen gedämpfte Lebensgefühl im Corona-Lockdown sehr wohltuend konterkarierte. Man merkt einer Reihe von Texten zwar durchaus an, in welcher Phase der Corona-Zeitlandschaft sie abgefasst worden sind. Dennoch meinen wir, dass auch in diesen Fällen damit kein nur kurzfristiges zeitliches Haltbarkeitsdatum des sachlichen Gehalts verbunden ist. Unser Ziel war es, das Feuilleton-Niveau deutlich zu überschreiten und die aktuelle Lage mit wissenschaftlicher Elle zu messen. Wir sind der Meinung, dass diese wissenschaftliche Elle auch getrost an das vorliegende Buch angelegt werden kann und die Texte dem kritischen Blick standhalten. Eine Reihe von Texten des Bandes werden in erweiterten Fassungen in wissenschaftlichen Zeitschriften oder als Monographien in den Programmen von Wissenschaftsverlagen erscheinen.

Eine Herausforderung war die Gliederung, die bei diesem Buch besonders schwer fiel: Viele Texte hätten mehrfach zugeordnet werden können und wären unter anderen Rubriken ebenso gut platziert gewesen. Was die Reihenfolge der Anordnung betrifft, so gibt es keine Stringenz in der Abfolge, sondern eine Pluriperspektivität. Darin spiegelt sich die Unordnung in der Ordnung der »Corona-Gesellschaft« wider, die Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher De-Normalisierungen der Gesellschaftsordnung vor Corona, die noch unabsehbare Langzeitfolgen haben könnten. Dass Corona bestimmte Soziologien aufruft (etwa Goffmans »Territorien des Selbst«), verwundert nicht. Allerdings ist der Raum der zitierten Literatur sehr weit und die diskursiven Bühnen werden aus den verschiedenen Disziplinen heraus breit bespielt. Aus der Korrespondenz mit den Autor*innen erfuhren wir, dass das Abfassen der Beiträge oftmals nicht routiniert ablief, sondern dass unter dem sowohl persönlichen, psychischen und sozialen Ausnahmezustand der Weg in die Analyse neu angebahnt werden musste, dass durchaus vertraute Theorien durch ihre Applikation auf einen neuen unvertrauten Gegenstand sich auch neu bewähren und mitunter kreativ und neu gehändelt wurden. Der Treibsand, auf dem wir in diesen Wochen standen, scheint sich wissenschaftlich doch als recht guter Humus zu eignen. Die skeptischen Reflexionen und Abwägungen von Petra Gehring dazu, die sicherlich viele der Autor*innen in dieser Zeit umtrieben, haben wir statt eines Kurzüberblicks über die einzelnen Beiträge und Paraphrasierungen an den Beginn dieses Buchs gestellt.

Die Arbeit an diesem Buch und die Tatsache, dass wir als Programm-Crew und Lektor*innen es in Eigenregie herausgeben, ist für uns Ausdruck und Teil unseres Verlagshabitus, der durch die große Nähe zur wissenschaftlichen Community und Geübtheit in der engen partnerschaftlichen Kooperation mit vielen Mitgliedern dieser Sphäre geprägt ist. Der Weg dahin war also nicht weit. Die Zeit der Entstehung dieses Buches reicht von den Wochen geschlossener Buchhandlungen und Bibliotheken, in denen zugleich viele Autor*innen quasi über Nacht in der digitalen Lehre und teilweise im Homeschooling »verschwanden«, über die Phase der Lockerungen bis hin zur aktuellen Bedrohung von einem erneuten  – regionalen – Lockdown Ende Juni (der Verlagsstandort Bielefeld liegt keine 25km von Gütersloh und der Firma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück entfernt). Es ist uns bewusst, dass dies weder das erste noch das letzte Wort ist, das zu Corona geschrieben wird. Weitere teils sehr hochkarätige Publikationen kündigen sich bereits an, so der ebenfalls bei transcript erscheinende, von Bernd Kortmann und Günther Schulze herausgegebene Band Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, der sich der Situation nach Corona widmet und diese Sammlung hervorragend ergänzt.

Unser Dank gilt all denjenigen, die zu diesem Projekt beigetragen haben: dem engagierten Projektmanagement, dem geübten Setzer sowie Ruxandra Chişe für das Lektorat der Texte, vor allem aber den Beiträger*innen, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben. Herzlichen Dank und auch weiterhin viel »gute Abstraktion«!1

Michael Volkmer und Karin Werner,Bielefeld, im Juni 2020

1Eine kurze editorische Notiz noch vorab: Die Zitate aus den einzelnen Texten, die zu Beginn der jeweiligen Kapitel aufgeführt werden, sind teilweise redaktionell leicht bearbeitet worden.

Kritik der öffentlichen (Un-)Vernunft

Ich stoße auf das, was mit Corona-Reflexion einhergeht: ein Krisensyndrom des öffentlichen Intellekts, der sich in der Pflicht zur Stellungnahme sieht oder vielleicht auch nur zu sehen glaubt. — Petra Gehring

Wir leben seit Corona in der Schule des Vergleichens. Wir sind Augenzeug*innen, wie mithilfe von Vergleichen Orientierung gesucht, gefunden und begründet wird. — Angelika Epple

Von sozialer Abstraktion und hilflosem Intellekt

Petra Gehring

Herr Volkmer vom transcript Verlag fragt an, ob ich mich beteiligen würde an einem – mit Blogformat plus Kurztext von 12.000 bis 20.000 Zeichen verbundenen – »Corona-Buchprojekt«, so die Betreffzeile der E-Mail vom 24. März. Das der Anfrage beigegebene Exposé hat einen steileren Arbeitstitel: Sozialer Shutdown. ODER: Die Hygienegesellschaft. Aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, mag ich großdiagnostische Bücher mit Titeln nach dem Muster Die xy-Gesellschaft oder Die Gesellschaft des xy nun wirklich nicht mehr lesen. Auch klingt mir das Exposé zu »…ODER: Die Hygienegesellschaft« zu alarmistisch. Gleichwohl habe ich eine Idee und sende also einige skeptische Bemerkungen zum Exposé sowie meinen Themenvorschlag zurück. Shutdown (damals noch ein neues Wort, ebenso Lockdown) gibt es ja wirklich. Und ich habe nicht nur vielleicht Zeit, alle Vortragstermine werden storniert, sondern selbstverständlich sollte man zur Lage auch etwas zu sagen haben. Oder? Sollte man? Jedenfalls reagiert Volkmer konziliant auf die Kritik am Alarmton der verlagsseitigen Skizze, und er ist großzügig mit Fristen. Ich habe somit unversehens mehr oder weniger zugesagt.

»Soziale Abstraktion« heißt meine Idee, so lautet jedenfalls der Arbeitstitel, den ich Ende März dem Verlag zumaile. Was ich mir vorstelle, ist eine Miniatur, die an Hegels Feuilleton Wer denkt abstrakt? aus dem Jahr 1807 anknüpft. Dort greift Hegel zunächst landläufige Bedenken gegen das akademisch Abstrakte auf (auch die Philosophie geht auf die Sache zu und damit aufs Konkrete), um dann zu zeigen, dass Abstraktion nicht per se ein Intellektuellenproblem ist, sondern ganz generell mit der Aufgabe einhergeht, sich ein komplexes Weltverhältnis zuzumuten: Man neigt dazu, den Weg zur Wirklichkeit zu verkürzen. Oder sich ihn mittels mitgebrachter Allgemeinplätze zu ersparen. Falsches Abstrahieren – das steckt etwa in der populistischen Verächtlichkeit der Rechtschaffenen gegenüber Verbrechern, in der Oberflächlichkeit eines Lesers, der Goethes Werther als bloße Anleitung zum Suizid abqualifiziert, oder im Preußentum eines Militärs, der seine Untergebenen schindet, denn der gemeine Soldat gilt ihm »für dies Abstraktum eines prügelbaren Subjekts« (Hegel 1970: 581). Umgekehrt beherrschen nicht nur feinsinnige Denker, sondern auch einfache Menschen – sogar begriffslos – die Kunst der Konkretion. Sie lassen nicht ab davon, genau hinzusehen, das an Unbekanntem Reiche und Besondere zu sehen. Sie bilden sich kein schnelles Urteil. Sie lassen sich erst einmal bewegen. Sie bringen ihre Beurteilungen nicht schon fertig mit. Zugleich denken sie vergleichsweise schwer oder schwerfällig oder jedenfalls nicht in Echtzeit.

1.

»Gerade nur, weil die schöne Welt schon weiß, was das Abstrakte ist, flieht sie davor« (ebd.: 575), witzelt Hegel zu Beginn seines Textes. Das ist einerseits gegen die Wissenschaft gerichtet: Abstrakt ist die schnelle Hülse, etwa das Überstülpen fertiger Theorien. Vor allem aber sind Vorurteile abstrakt. Die Welt entweicht andererseits also dem Bewertetwerden, Reflexen wie: »das lernen wir daraus« oder: »das warnt/beweist/tröstet«. Auch Moral muss suspendiert werden können – dort jedenfalls, wo ein Werturteil bereits fest verdrahtet scheint. Erläutert wird das nicht zuletzt mittels der Beobachtung, dass man nach abscheulicher Tat und dem Schrecken einer öffentlichen Hinrichtung dennoch, und eben nicht einen, sondern: diesen einen Mörderkopf als in »Wahrheit« würdig und schön (an)erkennen kann. Abstraktion macht zwar greifbar, bietet Unmittelbares und sichert Zustimmung auf direktem Wege (je abstrakter, desto mehr sind dafür). Aber Abstraktion verengt. Wie man weiß, hat Hegel die Bewegung des Denkens – entgegen der herkömmlichen Intuition, das Spezielle und Besondere sei ›unten‹ – als Aufstieg zum Konkreten charakterisiert.

Und Corona? Hier hat mir im März ein Doppelbezug vor Augen gestanden. Zum einen gehen mir jene seltsamen Szenen nach, in welchen Leute, nachdem jedes TV, jedes Handy und jeder Smalltalk »zwei Meter Abstand halten« oder »Social Distancing« herausbrüllt, geradezu demonstrativ großspurig beweisen möchten, dass sie von all dem nichts halten: der Kampfradler, der sich schnaufend und schwitzend zwischen die Wartenden an der Ampel stellt, die Greisin, die nicht einsieht, warum alles heute anders gehen soll als gestern, der breitschultrige Inhaber des Männerfriseursalons, der vor der Tür seines geschlossenen Ladens steht und seine Kumpels trotz Abstandsgebot schulterklopfend umarmt. Soziale Abstraktion – das hieße womöglich, nicht begreifen zu können, dass im Miteinander das Vertraute von gestern heute nicht mehr gilt. Dass es nicht megastark, sondern eher arrogant und bequem ist, sich damit zu brüsten, den Mut zu haben, unvermutete Warnungen einfach zu ignorieren. Als der Fallout von Tschernobyl über das Dorf zog, in dem meine Eltern leben, hielt die Nachbarin, die vor jenem Phänomen des radioaktiven Regens warnte, frisch geschnittene Kräuter in der Hand. Ach das? Das habe sie eben doch nur aus ihrem eigenen Garten geholt. Sie gebe uns gern davon ab. Nicht ganz so demonstrativ wie der Kampfradler an der Ampel. Aber nach Hegel nicht ›zu konkret‹ gedacht, sondern eben eher: ›(zu) abstrakt‹. Wer schlechte Abstraktheit vermeiden will, muss auch Vertrautes fremd finden können. Wo das Vermögen hierzu fehlt, regiert die soziale Abstraktion.

Freilich gibt es zum anderen auch jenes Umgekehrte, und da komme ich dann mit meinen Zuschreibungen durcheinander: die Bereitschaft, das Vertraute aufgrund bloßer (abstrakter?) Informationen fahrenzulassen: Wird damit nicht doch das Konkrete gerade verraten? Kopfgesteuerte Abwendung gilt ja zu Recht als ›kalt‹. Sich zu sagen: ›Corona!‹ und, auch wenn eine ganze Lebensgeschichte dagegensteht, seine Eltern nicht mehr zu umarmen: Verschattet da nicht ein schlechtes Abstraktum die gelebte Welt? Die Bereitschaft zur Verfremdung des Vertrauten führt ja womöglich nicht zum genauen Gegenteil der Würdigung des Besonderen, nämlich in den Abgrund generalisierter Vorurteile und Ressentiments hinein. Das Menetekel: Menschen, die bis gestern Nachbarn fraglos zugetan sind und dann alles infrage stellen, wenn ›Krisengründe‹ kursieren. Wenn jemand sie davor warnt, es handele sich um Betrüger, um Tutsi (oder Hutu?), um Kommunisten, um Homosexuelle, um Juden. Auch das fehlende Vermögen, am Vertrauten festzuhalten, kann also vom Konkreten entfremden und ist dann im schlechten Sinne sozial abstrakt.

War Eichmann ein Abstrahierer? Oder hing er nicht doch am allzu Konkreten seines Schreibtisches, seines Aktenwesens, seiner Stempel und seines Selbstmitleides fest? Hegels Antwort wäre klar gewesen: Das ist (soziale?) Abstraktion. Hannah Arendt hat demgegenüber die verbleibenden Ambivalenzen analysiert – es sind auch Abstraktionen unserer Konzepte, und wir sind auf der Suche nach Begriffen wie auch nach Urteilen zu paradoxen Überlegungen gezwungen. Tatsächlich tun wir in Ausnahmezuständen womöglich beides: denken zu abstrakt und zu konkret zugleich. Wenn ich in der allseits mehr oder weniger panisch kommunizierten ›Krise‹ um mich blicke, bin ich mir entsprechend unsicher. Krise meint möglicherweise: Man verwechselt – alle verwechseln, und möglicherweise auch ich verwechsele abstrakt mit konkret. Beides verschwimmt ineinander.

2.

In den Wochen nach der Zusage für Blog und Beitrag hat die Pandemie begonnen, sich zu neuen Normalformaten auszudehnen. Seife, Maske, leeres Büro. Eine Art Schere tut sich auf: Einerseits Gewöhnung, andererseits zieht die öffentliche Krisensemantik nun nach, die Feuilletons adaptieren sich ans Thema, und mit steigenden Amplituden wird jetzt nicht nur über das Virus debattiert (Sterberaten, R-Faktoren, Regierungshandeln), sondern auch über Formen der Berichterstattung und Versuche, sich reflexiv zum Ausnahmediskurs zu verhalten. Angehörige meiner Zunft, die Philosophen, fallen hier unangenehm auf, wie Katharina Teutsch in einer FAZ-Glosse Die Stunde der Maulhelden trefflich aufspießt: Öffentliche Intellektuelle salbadern als allzeit sprechbereites »Krisenbegleitpersonal« (Teutsch 2020) von existenzieller Verunsicherung wie auch Lebenskunst und Seelenruhe – oder wiederholen das szientistische Mantra von den stets gebotenen »ethischen Prinzipien«. Ich schneide Teutschs Intervention mit der Schere aus und stelle mir vor, man solle sie als Pflichtlektüre für kommende Generationen von Studierenden, aber auch Philosophieprofessor*innen und Emeritierte archivieren. Freilich befriedigen auch die ersten Versuche einer soliden, wissenschaftlich hochgerüsteten Bewertung nicht. So wartet Rudolf Stichweh in einem FAZ-Ganzseiter mit der für mein Gefühl eher trivialen Prognose auf, die Corona-Pandemie sei eine zeitweilige »Simplifikation des Sozialen« und werde in verschiedenen sozialen Subsystemen nicht die gleichen, sondern wohl verschiedene Folgen haben (Stichweh 2020). Simplifikation des Sozialen: So definiert Luhmann auch Technik und allerlei andere Mechanismen. Besäße die Krisenlage also eine Art Technizität? Spätestens hier stoppe ich mich selbst. Stichweh scheint allein das Verhältnis der Teilsysteme zum Ganzen der Gesellschaft zu interessieren. Wo und wie genau der Lockdown wirklich ›simplifiziert‹, wäre ansonsten sicher erst noch durch genauere Beobachtungen zu klären.

Ich bin entschlossen, die Beteiligung am Corona-Projekt von transcript abzusagen. Die Deadline rückt näher, ohne dass ich schon Zeit zum Schreiben gefunden hätte. Vor allem aber wird mein Lagebild immer komplexer. Mir ist zunehmend nach Schweigen zumute. Und: Videokonferenzen beginnen, den Arbeitstag zu besetzen. Das Phänomen des Umplanens und der virtuellen Sichtkontakte prägt den beginnenden Mai.

3.

Am 20. Mai fragt mich eine Kollegin, ob ich meinen »Corona-Text« für transcript schon geschrieben hätte. Sie habe gelesen, ich sei ja auch dabei. Ich erschrecke ein wenig, finde zum Glück aber nichts Diesbezügliches mit meinem Namen im Netz. Das transcript-Projekt heißt jetzt Die Corona-Gesellschaft: Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Wahrheitsgemäß antworte ich der Kollegin, dass ich erwäge abzusagen. Zuviel unausgegorene Diagnostik überall, da möchte ich nicht dabei sein. Zudem scheint mir mein Thema vom März – das mit der sozialen Abstraktion – irgendwie an Anhaltspunkten verloren zu haben: Gibt es da überhaupt eine gemeinsame Evidenz, die meine Eindrücke mit dem Erleben der Leser zusammenstimmen lässt? Wie äußert man sich, wenn nicht nur der Krisendiskurs sich reflexiv zunehmend um sich selbst dreht, sondern auch die Krise als solche zu lauter verschiedenen Krisen zerfällt? Und vor allem: Was machen fachgerecht schreibende Intellektuelle hier geltend? Die Zeitzeugen-Rolle? ›Eigene‹ Weltdeutung? Wissenschaft?

Inzwischen sind Verschwörungstheorien das medienbeherrschende Thema. Empörte begehren gegen Diskurszwänge und Szientismus auf. Ebenso schimmert hier auf, was Corona sicher zumindest für diejenigen ohne Arbeitsalltag bedeutet, nämlich hypertrophen Medienkonsum und (bei unterschwelliger Angst) viel Langeweile. Um was auch immer es sich bei diesen Stimmungslagen handeln mag – ich mag zu »Fake« oder »Verschwörung« nichts schreiben. Auch wenn »soziale Abstraktion« nun omnipräsent scheint – in Gestalt mitgebrachter Freund-Feind-Schemata bei Impfgegnern, Chemtrailopfern und Lügenpressehassern: Zu vordringlich ist doch der Voyeurismus derjenigen, die sich in der Rolle des Berichterstatters über Verwirrte gefallen.

Abstraktes antwortet aufeinander. Das Konstrukt »Verschwörungstheorie« unterstützt seinerseits den schnellen Reflex. Es ist für selbstgewisse Zuschauer gemacht, die über Spinniges lachen, dabei Angstlust kultivieren und Skurriles dämonisieren. Viel daran folgt dem Geschäftsmodell von HAHA-Sendungen wie Verstehen sie Spaß. Demgegenüber wissen wir aber doch ja sehr wohl, wie sehr das Denken gegenüber platten Realismen Resilienz benötigt. Und was wäre auch die Wissenschaft ohne die Bereitschaft, den schnellen Reflex der Selbstgewissheit und des »Haha« zurückzuweisen, ohne die Mikrogewissheiten vermeintlich »bloßer« Phänomenologien oder auch von Formen der Wissenschafts- und Medizinkritik, die man leicht als rein subjektivistisch oder abwegig denunzieren kann?

In der Krise spinnen nicht nur die einen, während die anderen, die ihnen dabei zusehen, sich gegenseitig bestätigen, dass sie nicht träumen. Vielmehr schnurren überhaupt die Rationalitätskonzepte zusammen. Vielleicht liegt es daran, dass Wissenschaftshistoriker*innen und die Kolleg*innen aus der Abteilung »STS« – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eher keine Corona-Interviews geben. Je länger die Krise, desto objektiv alternativloser die schlechte Abstraktion.

4.

Dass auch Schweigen nicht befriedigt, wird mir paradoxerweise bei einem erneuten Besuch der transcript-Webseite klar. Die Corona-Gesellschaft ist inzwischen als Buch angekündigt, genauer als Das Buch zum Blog, denn plangemäß hat die wöchentliche Publikation von Kurzfassungen der Buchbeiträge begonnen. »Die Beiträge vermessen die Situation inmitten der ›Corona-Gesellschaft‹ und zeigen Perspektiven für die Zeit nach der Krise auf. Damit bieten sie der Öffentlichkeit Orientierung und ermöglichen den Wissenschaften einen ersten Austausch«,1 heißt es im verlagsseitigen Begleittext. Während das Bloggen sowieso als »schnelles« Format irgendwie krisengerecht zu seien scheint – schnell verstehen, was passiert –, wächst ihm bzw. dem Preprint jetzt die therapeutische Funktion zu, öffentlich Orientierung zu bieten. Auch die Sozial- und Kulturwissenschaften scheinen zudem dringend »erste« Diskussionen zu benötigen, als gelte es in Nachtschichten, intellektuellen Impfstoff zu suchen, wie im Labor. Die Blogbeiträge enthalten allerdings Einschätzungen, die sich von vielen guten journalistischen Artikeln der letzten Wochen kaum unterscheiden. Die akademisch-säuberlichen Vor-Corona-Portraitfotos, die den Artikeln voranstehen, bilden zur Aufgabe einer Neuvermessung der Gesellschaft einen seltsamen Kontrast.

Was wissen Expertenworte jenseits des Mitgebrachten, Gesicherten derzeit über »die« Gesellschaft zu sagen? Rette sich wer kann, denn vielleicht stehen wir da gerade mit den Kräutern aus dem radioaktiven Garten. Einschneidend veränderte Zukunft: Möglich durchaus, dass wir vorerst wenig Eigenes zu bieten haben – außer einer Krisensemantik, die ebenfalls vielfach nicht an der aktuellen Situation geschult ist, sondern von Krisenvergleichen lebt. Dabei sind Krisen derart jetzthaft, dass gerade das Vergleichen schwerfällt. Weder liegen die erlebten Kleinigkeiten hinreichend gut in der Hand, um schon an Erinnertem abgetragen werden zu können, noch möchten die Worte so recht passen. Präsent sind nicht Beschreibungen, sondern Maximen. Diese prallen auf Lebensverhältnisse auf, über die man vorerst noch staunt. Wer eine solche Lage konkretisieren will oder auch generalisierbar machen möchte, kann gleichermaßen nur erzählen. Und die Hilflosigkeit wäre wohl die Hauptperson.

Genau an diesem Punkt wird mir doch dann die Nicht-Absage des angefragten Beitrags unausweichlich. Herrn Volkmer zu erklären, warum ich erst zu schreiben erwäge und was dann zunehmend dagegenspricht – das mag doch mehr dokumentieren als das Geraune einer skrupulösen Autorin. Vom Schreibtisch aus erzählen kann ich über die eigenartig unangemessenen Anforderungen des Schemas »Krise« an unseren Umgang mit dem, worauf aktuell Verlass sein sollte, vom Scheitern meines Konzepts und vom Unbehagen an der Expertenrolle zumal. Also warum nicht als Aufsatz-Ersatz eine Art offener, seine eigene Rechtfertigung mehr schlecht als recht enthaltender Brief? Dieser hätte nur zu Anfang das Problem schlechter Abstraktheit zum Gegenstand. Denn sprechend von »sozialer Abstraktion« als Kriseneffekt und Krisenzeichen sowie als Tendenz von Krisenkommunikation stoße ich auf das, was lesend wie schreibend mit Corona-Reflexion einhergeht: ein Krisensyndrom des öffentlichen Intellekts, der sich in der Pflicht zur Stellungnahme sieht oder vielleicht auch nur zu sehen glaubt.

Anmerkungen

1https://blog.transcript-verlag.de/die-corona-gesellschaft/, letzter Zugriff am 23.05.2020.

Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): »Wer denkt abstrakt?« In: Ders., Jenaer Schriften 1801–1807. Werke 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 575–581.

Stichweh, Rudolf (2020): »Simplifikation des Sozialen.« In: FAZ vom 07.04.2020.

Teutsch, Katharina (2020): »Die Stunde der Maulhelden.« In: FAZ vom 06.04.2020.

Online-Quellen

https://blog.transcript-verlag.de/die-corona-gesellschaft/, letzter Zugriff am 23.05.2020.

Die Schule des Vergleichens und die Suche nach der Wahrheit wissenschaftlicher Fakten1

Angelika Epple

Die Bestimmung von Neuinfektionen, die Berechnung der Todeszahlen pro 100.000 Einwohner, national unterschiedliche Arten und Weisen der Bekämpfung – im Umgang mit dem neuartigen Virus SARS-CoV-2 greifen Politiker*innen wie Journalist*innen, Wissenschaftler*innen wie Verschwörungstheoretiker*innen auf eines zurück: auf Vergleiche. Häufig fällt uns gar nicht auf, wenn eine Argumentation auf Vergleichen beruht. Nicht nur der Komparativ (schneller, weiter, höher), sondern auch kleine Wörtchen wie bspw. »wie« oder »mehr als« markieren Vergleiche lexikalisch: »Wenn wir eine Situation wie in Norditalien verhindern wollen, dann müssen wir…« oder »wenn wir den Lockdown fortsetzen, dann sterben mehr Menschen als an Corona«.

Frei nach Friedrich Nietzsche können wir sagen: Wir leben seit Corona in der Schule des Vergleichens.2 Nicht, dass zuvor nicht verglichen worden wäre – ganz im Gegenteil. Vergleichen hat eine lange Geschichte.3 Aber kaum je haben sich Gesunde und Kranke, Alte und Junge mit der ubiquitären Alltagspraxis und ihren Wirkungen so intensiv beschäftigt. Wir bekommen das Verfahren in actu vorgeführt. Wir sind Augenzeug*innen, wie mithilfe von Vergleichen Orientierung gesucht, gefunden und begründet wird. Methodische Finessen des statistischen Vergleichens werden diskutiert, die Aussagekraft der Zahlen angezweifelt, um anschließend weiter zu vergleichen. Bisher lassen sich in der öffentlichen Diskussion um den Coronavirus mindestens drei verschiedene Typen des Vergleichens unterscheiden: der medizinische Typus, der politisch-antiscientistische Typus und der Typus der Verschwörungstheorien. Alle drei Typen belegen mit Hilfe von Vergleichen die Plausibilität ihrer Aussagen. Dabei unterscheiden sie sich jedoch sowohl bezüglich der Vergleichsgegenstände (comparata) und der Hinsichten (tertia comparationis) als auch hinsichtlich der Auffassung, wie das Verhältnis von Konstruktion und Objektivität bei Vergleichen zu bewerten ist.

Die Schule des Vergleichens

Vergleichen ist eine komplexe Tätigkeit, die zudem mit zahlreichen anderen Tätigkeiten (wie z.B. dem Testen von Reaktionen, dem Messen, dem Beobachten usw.) verschränkt ist. Das Vergleichen als wissenschaftliche Methode hat die Funktion, Hypothesen zu ermöglichen und sie zu bekräftigen oder zu widerlegen. Das Vergleichen ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den meisten Wissenschaften eine wichtige, häufig die wichtigste Methode.

Das Interessante an der vergleichenden Methode ist, dass sie einerseits eine große Konstruktionsleistung beinhaltet, diese andererseits verdeckt. Die Konstruktionsleistung besteht darin, dass die Person, die vergleicht, zwischen mindestens zwei comparata eine Beziehung hinsichtlich eines tertium herstellt, die es zuvor nicht gegeben hat. Es kommt also durch das Vergleichen etwas Neues in die Welt. Das Vergleichen beruht also auf einer Aktivität der vergleichenden Person und liegt nicht in den Gegenständen selbst begründet.

Sich den Konstruktionscharakter des Vergleichens zu vergegenwärtigen, ist insofern notwendig, als das Vergleichen – vor allem in außerwissenschaftlichen Kontexten – den Anschein erweckt, als handelten Vergleiche ausschließlich von den Eigenschaften der verglichenen Objekte. Das Vergleichen »naturalisiert« die Konstruktionsleistung der vergleichenden Personen und transformiert sie in vermeintlich objektiv vorhandene Eigenschaften der Vergleichsgegenstände. Das Sprichwort »Äpfel und Birnen kann man nicht vergleichen« ist entlarvend. Es besagt: Äpfel und Birnen haben so wenig Gemeinsamkeiten, dass sie nicht miteinander verglichen werden können. Die landläufige Erwiderung bewegt sich meist ebenfalls auf der Ebene der Eigenschaften der Objekte. Es wird dann entgegnet: Äpfel und Birnen gehören in die Kategorie des Obstes und können daher sehr wohl verglichen werden, d.h. ihre Gemeinsamkeit (»die Obsthaftigkeit«) kann auf Unterschiede hin befragt werden (z.B. ovale versus runde Form). Beide, Sprichwort und Widerlegung, bleiben innerhalb desselben Paradigmas, demzufolge es die Eigenschaften der Objekte sind, die Vergleiche ermöglichen oder verhindern.

Tatsächlich sind es aber die vergleichenden Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Journalist*innen, die Elemente so in eine vergleichende Beziehung setzen, dass sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausloten.

Der medizinische Typus des Vergleichens

Vor allem in den ersten Monaten der Krise von Januar bis April 2020 hatten in der deutschen Diskussion Epidemiolog*innen und Virolog*innen das Wort. Von jetzt auf nachher wurde der Gesellschaft Einblick in naturwissenschaftliche Hypothesenbildung erlaubt. Mediziner verglichen das Virus mit anderen Viren. Die Namensgebung ist Ausdruck dieser Vergleiche. Die coronavirus disease wird von einem Virus verursacht, das Familienähnlichkeit zu anderen Viren hat, aber doch neu genug ist, um einen eigenen Namen zu erhalten. Der Grad an Neuigkeit, der Ende 2019 entdeckt wurde, führte dazu, dass das neue Coronavirus als SARS-CoV-2 bezeichnet wurde. Familienähnlichkeit heißt: Die Mitglieder sind gleich genug, um als eine Familie bezeichnet zu werden, es gibt aber zwischen ihnen spezifische Unterschiede, so dass sich die Mitglieder der Familie voneinander unterscheiden. Wer Gleichheit und Unterschiede zwischen zwei Objekten bezüglich einer Vergleichshinsicht analysiert und beschreibt, der tut nichts anderes als zu vergleichen. Häufig werden dabei unterschiedliche Grade der Differenz und der Ähnlichkeit festgehalten: In dieser Hinsicht ist z.B. SARS-CoV-1 SARS-CoV-2 ähnlicher als MERS-CoV.

Eine besondere Rolle kommt dem Vergleichen zu, wenn es um die Plausibilisierung von wissenschaftlichen Aussagen in der Medizin geht. Wissenschaftliche Aussagen erheben den Anspruch, wahr zu sein. Dass sie häufig widerlegt werden, ist kein Einwand gegen diesen Anspruch, sondern dessen Bestätigung. Es ist so zutreffend wie trivial, dass nur eine Aussage, die Wahrheit beansprucht, widerlegt werden kann. So erklären sich die vorsichtigen Formulierungen und die Zurückhaltung, mit denen sich (seriöse) Epidemiolog*innen, Infektolog*innen und Virolog*innen in der Öffentlichkeit präsentieren. Gerade zu Beginn der Pandemie ließen sie uns medizinische Laien an ihrer Hypothesenbildung teilhaben. Und diese war häufig vergleichsbasiert. Die Annahmen über Infektiosität, die Flugweite von Aerosolen (mit und ohne Mundschutz, beim Joggen, beim Singen, beim Sprechen), die Wirkung von Schutzmaßnahmen usw.: Keiner, der die Seite der Johns-Hopkins-Universität nicht mehrmals täglich besuchte. Statistiken boomten und korrelierten Todeszahlen mit nationalen Vorgehensweisen oder auch mit sozialen, klimatischen und anderen Einflussfaktoren. Beeindruckend war dabei, mit welcher Klarheit einerseits der Konstruktionscharakter dieser Daten betont und wie andererseits ihr Wahrheitsanspruch nicht angezweifelt wurde. Wahrheitsanspruch und die Konstruktion der Daten sind in wissenschaftlichen Aussagen gerade kein Gegensatz. Denn – und dies ist der entscheidende Punkt – Konstruktion heißt im wissenschaftlichen Kontext nicht, dass Daten erfunden oder gar beliebig seien. Es heißt nur, dass diese sich nicht selbst hervorbringen. Die Daten werden von Wissenschaftler*innen erzeugt, die vergleichen, so wird Wissen produziert. Die Konstruktionen werden durch wissenschaftliche Verfahren überprüft. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, die Widerspruchsfreiheit und – in den Naturwissenschaften – die Reproduzierbarkeit sind dabei Kriterien, die darüber entscheiden, wie plausibel Aussagen sind und ob sie dem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch gerecht werden. Wenn Aussagen in unterschiedlichen Verfahren bestätigt werden, gelten sie als wissenschaftliche Fakten. Die Halbwertszeit solcher Fakten ist unterschiedlich.

In Parenthese sei hinzugefügt, dass der Konstruktionscharakter vergleichsbasierter Tatsachen nicht die Frage berührt, ob es objektive Wahrheit überhaupt gibt oder ob einem epistemischen Relativismus der Vorrang zu geben ist. Diejenigen, die von der Existenz objektiver Wahrheit ausgehen, betonen, dass die Konstruktionen wahr oder falsch sein können, weil sie die Wahrheit erfassen oder nicht erfassen. Wird zu einem späteren Zeitpunkt erkannt, dass sie die Wahrheit nicht erfasst haben, dann waren sie eben falsch. Die epistemologischen Relativisten behaupten, objektive Wahrheit gäbe es nicht, daher könnten wissenschaftliche Fakten nur innerhalb eines bestimmten Referenzsystems wahr sein. Mit beiden Überzeugungen lässt sich begründen, warum der Konstruktionscharakter von vergleichsbasierten Aussagen und ihr Wahrheitsanspruch keinen Widerspruch bilden.

Der wissenschaftliche Typus beeinflusste auch die Argumentation der Bundesregierung und einen Großteil der Meinungen der Öffentlichkeit. Der Virologe Christian Drosten wurde zum öffentlichen Gesicht dieser wissenschaftlichen vergleichsbasierten Wahrheitsfindung. Mit seiner erfolgreichen Wissenschaftskommunikation vermittelte er nicht nur neues Wissen, sondern erlaubte Einblicke in die Produktion dieses Wissens. Darauf basierte seine hohe Glaubwürdigkeit.

Der politisch-antiscientistische Typus

Der zweite Typus von Vergleichspraktiken in der Corona-Krise drängte sich in den Vordergrund, als der kurze Flirt des gesellschaftlichen Subsystems der Politik mit dem gesellschaftlichen Subsystem Wissenschaft zu Ende ging. Kalliope, die Muse der epischen Dichtung und der Wissenschaft, die eben noch als Heilsbringerin gefeiert worden war, sah sich nun mit gravierenden Vorwürfen konfrontiert. Da immer neue Erkenntnisse bisherige ablösten, beendeten prominente Politiker die Liaison: medizinische Expert*innen wüssten selbst nicht, was sie wollten, und man müsse auch andere, gesamtgesellschaftliche Wirkungen der Krankheitsbekämpfung berücksichtigen.

Eine solche Argumentation wendet sich gegen eine Auffassung, die man bestenfalls als »Scientismus« bezeichnen kann und die seit den 1970er Jahren als überholt gilt. Scientismus basiert auf einem positivistischen Verständnis der Naturwissenschaften, demzufolge durch induktive Methoden – also aus der Empirie abgeleitet – die Welt als Ganzes erklärt werden könne. Scientismus ist das Gegenteil des oben skizzierten wissenschaftlichen Selbstverständnisses. Statt die eigene Perspektive auf den zu erklärenden Gegenstand zu betonen und damit die Beschränktheit der eigenen Erkenntnis zu unterstreichen, statt Einblicke in die Produktion von Wissen und dessen Konstruktionscharakter zu ermöglichen, beansprucht der Scientismus, mechanische Gesetzmäßigkeiten zur Welterklärung zur Verfügung zu stellen. Nur in einem solchen Wissenschaftsverständnis kommt es einer Bankrotterklärung gleich, wenn eine Aussage widerlegt wird. Gründet sich das Verständnis wissenschaftlichen Wissens jedoch auf die oben genannten Kriterien – Widerspruchsfreiheit, intersubjektive Nachprüfbarkeit, Reproduzierbarkeit –, dann rückt die Falsifizierbarkeit ins Zentrum der Wissenschaftlichkeit.

Ein weiterer Vorwurf wird vom politisch-antiscientistischen Typus in Stellung gebracht: Es sollten nicht nur naturwissenschaftliche Überlegungen in eine Gesamtbetrachtung einbezogen werden. Wohlgemerkt: Im medizinischen Typus spielt die Betonung der Begrenztheit des eigenen Wissens eine zentrale Rolle. Der Vorwurf wendet sich also nicht gegen ihn, sondern gegen den aufgebauten Pappkameraden des Scientismus und die mit ihm verbundene, naive Wissenschaftsgläubigkeit. Zudem spielt dieser Vorwurf direkt auf das Vergleichen an und stellt in Frage, was die Grundlage von Handlungsentscheidungen sein soll: die Sterblichkeitsrate gefährdeter Personen, die wirtschaftliche Vernichtung existenzieller Grundlagen, das psychische Wohlbefinden, die Freiheitsansprüche oder das Selbstbestimmungsrecht Einzelner? Da es dabei immer um ein Mehr oder Weniger an Einschränkung oder Zugewinn von Freiheit, um eine Erhöhung oder ein Senken von Risiken geht, ist diese Frage direkt auf das Vergleichen bezogen. Es geht darum, welche Vergleichsgegenstände einbezogen werden sollen, wenn die Politik Entscheidungen zu fällen hat.

Diese Frage ist grundlegend, und es ist für eine Demokratie unerlässlich, dass Politiker*innen ihre Entscheidungsgrundlage transparent machen. Gerade weil Vergleiche Konstruktionen sind, müssen die Vergleichsparamenter – comparata und tertia comparationis – benannt werden. Nur dann lassen sich Zweifel formulieren, Einwände erheben oder bessere Entscheidungsgrundlagen schaffen. Dieses Argument ist insofern zutreffend und benötigt gar keinen Pappkameraden, gegen den es anzukämpfen gilt. Ein solches Vorgehen hat viel mehr mit dem wissenschaftlichen Typus gemein als mit einem scientistischen. Der Scientismus lässt den Konstruktionscharakter des Vergleichens im Besonderen und wissenschaftliche Aussagen im Allgemeinen hinter einem naiven Positivismus unsichtbar werden. Politische Vergleiche müssen per se nicht antiscientistisch sein. Sie waren es jedoch in dem hier skizzierten Kontext.

Der verschwörungstheoretische Typus

Der verschwörungstheoretische Typus dagegen lässt das Pendel in Richtung eines beliebigen Konstruktivismus ausschlagen. Hier finden sich die gewagtesten Vergleiche vor allem, wenn sie die Kritik am Umgang mit dem Coronavirus mit der Angst vor der Einführung einer »neuen Weltordnung« verbinden. Wie schnell sich die Spirale verschwörungstheoretischer Argumente drehen kann, zeigt sich, wenn die Abwehr von Verschwörungstheorien in der rechten Presse als Finesse von Politikern ausgemacht wird. So argumentiert das Online-Journal »gegenfrage.com«: Der Begriff »Verschwörungstheorie« sei ein Kampfbegriff, um Kritiker an der herrschenden Meinung zu diffamieren.4 Der Begriff »conspiracy theory« sei ausschließlich aus diesem Grund von der CIA nach der Ermordung Kennedys in die politische Sprache eingebracht worden. Aufgezählt werden in Folge zahlreiche historische Verschwörungen wie die Dreyfus-Affäre, die im Hintergrund der Watergate-Affäre oder der Ermordung Kennedys stehenden Verschwörungen. Eine bunte Reihe also von historisch verifizierten Verschwörungen und Verschwörungstheorien. Naiv, so die Folgerung des Autors, sei also nicht derjenige, der Verschwörungstheorien Glauben schenke, sondern derjenige, der glaube, Verschwörungen seien keine gängige Praxis. Die Argumente gegen Verschwörungstheorien werden als rein strategische ausgewiesen, die gar nicht erst auf ihre Wahrheit hin geprüft werden können. Sie werden als fake news bezeichnet. Die Argumente für Verschwörungstheorien werden daher nicht mit Fakten, sondern mit einer klassischen Methode plausibilisiert: mit Vergleichen. Verschwörungen wie z.B. die Dreyfus-Affäre oder wie die Watergate-Affäre habe es in der Geschichte tatsächlich gegeben. Mithilfe einer Analogie, also eines gleichsetzenden Vergleichs zweier Verhältnisse, wird geschlossen und generalisiert: Der Dreyfus-Affäre sei eine Verschwörung zugrunde gelegen, die Zeitgenossen nicht erkannt hätten. Genauso sei es bei der (verschleierten) Ermordung Kennedys oder der heutigen Verschwörung der neuen Weltordnung, zu der sich ein Dutzend multinationaler Unternehmen zusammengeschlossen hätten, um die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Der Wahrheitsbeweis wird in die (falsche) Analogie und die (falsche) Generalisierung verschoben. Der Konstruktionscharakter von Vergleichen wird einerseits überdehnt, die Beliebigkeit wird weder durch widerspruchsfreie Verfahren noch durch einen wahren Objektbezug eingegrenzt, andererseits wird der Konstruktionscharakter versteckt. Schließlich kann alles mit allem verglichen werden.

Etwas komplizierter ist es bei Impfgegnern, die sich seit der Corona-Krise mit klassischen Verschwörungstheoretikern verbündet haben. Hier muss man genau hinschauen: Manche Impfgegner argumentieren durchaus im Rahmen wissenschaftlicher Vergleichspraktiken, wenn sie beispielsweise deshalb Impfungen kritisieren, weil die erhobenen Vergleichsdaten angezweifelt werden, und damit die Grundlage über die Tödlichkeit von Infektionskrankheiten in Frage stellen oder wenn sie die Effektivität von Impfungen im Vergleich zu anderen Krankheitsbewältigungen bestreiten. Verschwörungstheorien beginnen dort, wo die Widerlegung von Aussagen unmöglich gemacht oder gar zum Beweis der Wahrheit wird. Der Konstruktionscharakter von Vergleichen führt dann dazu, dass ihre Wahrheitsfähigkeit in Frage gestellt wird.

Was lehrt die Schule des Vergleichens?

Vergleichspraktiken sind besonders hilfreich, um Unbekanntes, Neues, Unvorhergesehenes einzuordnen, zu verstehen und zugleich aus Bekanntem Neues abzuleiten. Vergleichen ist ein riskantes Verfahren, denn es konstruiert die vergleichende Beziehung zwischen zwei Elementen, von der es im Anschluss wahrheitsfähige Aussagen ermöglicht. Es ist eine große Herausforderung zu verdeutlichen, dass es klare Kriterien gibt, ob ein Vergleich wahr oder falsch ist – trotz des Konstruktionscharakters von Vergleichen.

Wenn Vergleiche in Argumentationen eingesetzt werden, dann sollten ihre Entstehensbedingungen und ihr Konstruktionscharakter stets mitgedacht und im besten Falle auch mitkommuniziert werden. Weder sollte die Objektivität der Vergleiche überbetont werden, eine Gefahr, die der Scientismus befördert. Noch sollte der Konstruktionscharakter mit Beliebigkeit verwechselt werden und zur Aufgabe des Wahrheitskriteriums oder der Widerspruchsfreiheit einer Argumentation führen. Die Überbetonung des Objektivismus birgt die Gefahr einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit. Die Überbetonung des Konstruktivisimus birgt die Gefahr der Verschwörungstheorien oder von fake news. Objektivismus und überdehnter Konstruktivismus dulden keine Widerlegungen. Sie unterbinden die sachbezogene Kontroverse.

»Streiten können«, sagte Peter Strohschneider 2017 in einer preisgekrönten Rede zum Jahresempfang der DFG,5 »ist die unhintergehbare und ermutigende Zumutung moderner Wissenschaften, freier Gesellschaften und legitimer Politik.«

Anmerkungen

1Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern«.

2So charakterisierte Friedrich Nietzsche (1999: 44) das 19. Jahrhundert: »Es ist das Zeitalter der Vergleichung«.

3Für einen aktuellen Einblick in die Geschichte des Vergleichens als Forschungsgegenstand vgl. Epple et al. (2020).

4https://www.gegenfrage.com/verschwoerungstheorie/, veröffentlicht am 02.04.2020, letzter Zugriff am 22.06.2020.

5https://www.youtube.com/watch?v=HS-hwbX-SWQ&list=PLq8YHwrfUwKc0D5XoZQVK8bzlwevZIhqE.

Literatur

Epple, Angelika/Erhart, Walter/Grave, Johannes (eds.) (2020): Practices of Comparing. Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice. Bielefeld: transcript.

Nietzsche, Friedrich (1999): Kritische Studienausgabe, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II. Berlin/New York: De Gruyter.

Online-Quellen

https://www.gegenfrage.com/verschwoerungstheorie/, veröffentlicht am 02.04.2020, letzter Zugriff am 22.06.2020.

https://www.youtube.com/watch?v=HS-hwbX-SWQ&list=PLq8YHwrfUwKc0D5XoZQVK8bzlwevZIhqE.

Historische Einordnungen

Um die ungehemmte Verbreitung des Virus zu verhindern, haben wir nur die alten Mittel, die sich in der europäischen Geschichte schon mehr als einmal bewährt haben. Die Mittel der Staatsgewalt. — Franz Mauelshagen

In der sozialen und geographischen Verwundbarkeit, und politisch in den miteinander verflochtenen Aspekten der racial und environmental justice, treffen sich die Corona-Krise und die Klimakrise in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Auswirkung. — Eleonora Rohland

Das Antlitz des Leviathan

Franz Mauelshagen

Viele Menschen denken, die Pest habe nur im Mittelalter in Europa gewütet. Sie habe vor allem 1348 Schaden angerichtet und einen großen Teil der europäischen Bevölkerung in den Tod gerissen. Das stimmt zwar. Aber damit war das Sterben in Europa noch nicht beendet. Die Pest blieb ein regelmäßiger und höchst unwillkommener Gast. In Westeuropa bis ins 18. Jahrhundert, in Osteuropa noch bis ins 19. Jahrhundert. Und es gab bis dahin immer wieder schwere Ausbrüche mit enormen Opferzahlen. London zum Beispiel, das im 17. Jahrhundert rasant wuchs, wurde 1665 von der Pest erschüttert. Etwa ein Fünftel der 300.000 Einwohner starben, ungefähr 60.000 Menschen, mehr als die Hälfte davon in einem einzigen Monat, im August 1665.

Obwohl der Ausbruch einer schweren Epidemie zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert recht häufig vorkam, gehörte er doch nicht zu den Alltagserfahrungen. Am 7. Juni 1665, ganz am Anfang der ›Großen Pest‹ in London, notierte Samuel Pepys (1633–1703), der für die britische Regierung arbeitete, in sein Tagebuch: »Heute habe ich, mit großem Widerwillen, in Drury Lane zwei oder drei Häuser mit einem roten Kreuz an der Tür gesehen. Und ›Gott erbarme sich unser‹ stand dazu geschrieben. Ein trauriger Anblick. Das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe.« Pepys wusste, was ein rotes Kreuz an der Tür eines Wohnhauses bedeutete. Es war eine sichtbare Warnung an die Stadtöffentlichkeit. Auch wenn Pepys selbst dies erstmals erlebte, verstand er die Botschaft und konnte sich die Folgen ausmalen, die der Stadt nun drohten.

Springen wir in die Gegenwart, das Jahr 2020. Das Coronavirus hat in Europa eine unvorbereitete Bevölkerung getroffen. Als man die ersten beunruhigenden Nachrichten aus Wuhan hörte, fühlten wir uns alle noch sicher. Und das Gefühl hielt noch wochenlang an. Die Erinnerung an große Epidemien, die Europa trafen, zum Beispiel die Spanische Grippe 1918–1920, ist längst verblasst. Und gerade die Spanische Grippe war in den Erzählungen unserer (Ur-)Großmütter und (Ur-)Großväter immer schon überlagert von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Und was war seitdem? Aids und ein wenig Ebola. Die Verbreitung beider Epidemien konnte rasch beschränkt werden.

Als das Leugnen der Anzeichen, das zu jedem Anfangsstadium einer Epidemie zu gehören scheint, keinen Sinn mehr machte, schaltete die chinesische Regierung um. Wuhan erklärte den Notstand und wurde abgeriegelt. Ich habe zu diesem Zeitpunkt mehr als einmal die Meinung gehört, solche Maßnahmen seien in den europäischen Demokratien nicht denkbar. Ein Irrtum – gestützt auf Vergessen. Vergessen ist, dass nichts von dem, was die Regierungen Italiens, Spaniens, Frankreichs oder Deutschlands an Maßnahmen ergriffen haben, seitdem COVID-19 sich in die europäische Realität eingenistet hat, historisch neu oder gar einzigartig ist. Noch weniger sind diese Maßnahmen dem autoritären China abgeschaut. Ausgangsverbote, Quarantäne, das Herunterfahren wirtschaftlicher Aktivitäten, Versammlungsverbote, selbst das Abschotten ganzer Städte und Regionen, wie in Norditalien, sind Erbe der europäischen Tradition im Umgang mit Epidemien. Es sind äußerst bewährte Instrumente! Experten haben sie über Jahrhunderte immer wieder empfohlen. Regierungen haben sie regelmäßig angewendet. Und die historische Erfahrung gibt ihnen Recht. Es lohnt sich, daran zu erinnern.

Das eindrücklichste Beispiel für die Effektivität dieser Maßnahmen bietet wiederum die Pest. Noch vor der Mitte des 18. Jahrhunderts gelang es überall in Mittel- und Westeuropa, größere Epidemien dauerhaft zu unterbinden. Letzte Ausbrüche der Krankheit ereigneten sich in Schottland 1647, im Gebiet der Beneluxstaaten 1670, in westlichen Teilgebieten Deutschlands und in der Schweiz 1679, in England 1688, in Spanien 1711, in Skandinavien 1712, in Nord- und Zentralitalien 1714, in Österreich 1716 und in Frankreich 1720. Diese Jahreszahlen verdienen aufgezählt zu werden, weil sie indirekt auf bestimmte Umstände hindeuten, die in Mittel- und Westeuropa wirksam waren. Sie liegen allesamt nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, in dem sich die Pest gleichsam an den Krieg anhängte, besonders am Hauptschauplatz des Krieges: Deutschland. Das Chaos, der Hunger, der Kontrollverlust schufen ein günstiges Milieu für die Pest als Trittbrettfahrerin. Ein weiterer Umstand besteht darin, dass der Dreißigjährige Krieg Katalysator für die Staatsgewalt in Europa war. Ich komme darauf zurück.

Bemerkenswert ist zunächst, dass sich die Pest aus West- und Zentraleuropa mehr als anderthalb Jahrhunderte vor Entdeckung des Krankheitserregers und seiner Übertragungswege zurückzog. Das gelang erst Ende des 19. Jahrhunderts mit den Mitteln der modernen Mikrobiologie. Damals brach die asiatische Pandemie aus, und verschiedene europäische Nationalstaaten schickten ihre Expertenkommissionen nach China. Die Schüler Robert Kochs und Louis Pasteurs fanden heraus, was wir heute über die Pest wissen. Nur die Lungenpest war durch die Luft von Person zu Person übertragbar. Die viel häufigere Form der Beulenpest war nicht direkt ansteckend, sondern wurde durch Pestflöhe übertragen. Sie wechselten den Wirt, wenn dieser starb. Das dezimierte zunächst die Rattenpopulationen. Wenn diese knapp wurden, suchten sich die Pestflöhe neue Wirte – Menschen. Dieser Vorgang muss sich seit dem Mittelalter millionenfach wiederholt haben.

Erstaunlich ist, dass obwohl der Krankheitserreger unbekannt, obwohl Flöhe jahrhundertelang als Überträger unerkannt blieben, das Verständnis der Übertragungswege lange vor den wissenschaftlichen Entdeckungen der Pestkommissionen in China für wirksame Maßnahmen ausreichte. Es gab also ein gehöriges Maß an Nichtwissen über die Krankheit Pest, das die Handlungsmöglichkeiten zwar begrenzte, aber wirksames Handeln dennoch nicht völlig verunmöglichte. Die Bedeutung des Handels für die Verbreitung der Krankheit ging den Ärzten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit auf, auch ohne dass sie die Übertragungswege genau kannten. Auch ohne das Wissen und die Möglichkeiten der Mikrobiologie begriffen sie, dass die Pest vor allem über die großen Handelszentren nach Europa verschleppt und von dort weiterverbreitet wurde. Also musste man dort den Hebel ansetzen. Schon bald nach dem Schwarzen Tod von 1348 wurde die Quarantäne in den Häfen Italiens, in Genua und Venedig eingeführt. Mehrten sich die Pestkranken an einem Ort, bildeten sich medizinische Expertenkommissionen, die politische Entscheidungsträger berieten. Der Wissensaustausch von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, erwies sich als Schlüssel für eine erfolgreiche Prävention. Mangels wirksamer Arzneien richtete sich diese Prävention gegen die Ausbreitung der Krankheit, nicht gegen ihren Erreger.

War eine Epidemie ausgebrochen, wurden Ortschaften isoliert, meist unter Einsatz des Militärs. Während der letzten großen Epidemie in Frankreich, die 1720 Marseille und große Teile der Provence erfasste und mindestens Hunderttausend Menschleben forderte, wurden Schutzmauern errichtet, murailles de la peste. Ihre Überreste sind noch heute in der südfranzösischen Landschaft verstreut wie Mahnmale. Solche Mauern halfen dabei, sogenannte cordons sanitaires um Risikoregionen zu errichten. Vom Karpatenbogen bis zur Küste des Adriatischen Meeres, auf einer Länge von 1900 Kilometern, errichtete die Habsburgermonarchie den längsten permanenten Schutzgürtel dieser Art. An den Grenzposten gab es Quarantänestationen, in denen möglicherweise ansteckende Menschen und Waren in Verwahrung genommen werden konnten. Durch eine Vielzahl präventiver und akuter Maßnahmen gelang es schließlich, die Übertragungswege der Pest in Europa dauerhaft zu unterbrechen.

Das ist eine erstaunliche Leistung und eine bemerkenswerte historische Tatsache. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Stärkung der Staatsgewalt, die sich an den Dreißigjährigen Krieg anschloss. Das 17. Jahrhundert war neben dem 20. das kriegsreichste der europäischen Geschichte. Die Permanenz des Krieges führte auch zur ständigen Unterhaltung von Armeen, selbst in Friedenszeiten. Stehende Heere zu unterhalten ist aber natürlich auch dann kostspielig, wenn gerade kein Krieg geführt wird. Die notwendigen Steuermittel stärkten die zentrale Staatsgewalt, förderten den Aufbau von Verwaltungen, die den organisatorischen Herausforderungen gewachsen waren. Und die Armee konnte jetzt auch für die Schließung von Grenzen und die Abriegelungen der cordons sanitaires im Kampf gegen die Pest eingesetzt werden. Es ist kein Zufall, dass sich in Darstellungen der Pestbekämpfung im 17. und 18. Jahrhundert die Metaphern der Kriegsführung häuften.

»Staatsgewalt« – das ist ein interessantes Wort. Es drückt aus, dass der Staat auf Gewalt gebaut ist. Das schließt ihre Androhung und notfalls ihre Ausübung mit ein. Die Staatsdenker des 17. Jahrhunderts, Hobbes vor allem und Thomasius, erkannten das klar aus der Erfahrung ihres kriegerischen Jahrhunderts. Der Staat ist ein Leviathan – ein Monstrum an vereinigter Gewalt, von den einzelnen Individuen an eine zentrale Macht abgetreten. Der Schrecken war immer Teil dieser Gewalt. Was sie vermochte, demonstrierte sie nicht nur in Kriegen zwischen Völkern, sondern auch, wenn sie sich der Herrschaft der Pest entgegenstellte. Es gibt nichts daran zu beschönigen. Die meisten Maßnahmen, die im Ausnahmezustand einer Epidemie ergriffen wurden, hebelten die zivilisatorischen Standards der Normalität aus. Sie verletzten Rechte, die im Normalzustand beansprucht werden konnten. Zum Beispiel das Recht der Versammlung aus Anlass des Todes eines Angehörigen. Die Toten wurden in Massengräbern begraben, ihr Andenken damit der Würde der individuellen Grabstätte entzogen. Das ähnelt dem, was der Philosoph Emanuel Levinas einmal mit Bezug auf Krieg und Vernichtungslager als »Tod ohne Zukunft« bezeichnete (Levinas 1989: 61). Er ist eine fundamentale Verletzung der Menschenwürde. Wo sie nicht aufrechterhalten wird, finden wir eine beschädigte Gesellschaft.

Was das Regime der Pest betrifft, so ist der Notzustand, mit dem die werdenden Staaten Europas auf sie reagierten, eine Art Versuch, der Epidemie die Herrschaft über das Leben aus der Hand zu reißen. Zu rechtfertigen war das schon immer nur dadurch, dass der Notzustand als Rückkehr in die Normalität betrachtet wurde. Aber mit den Rechtfertigungen ist es niemals einfach. Auch im 17. und 18. Jahrhundert können wir beobachten, wie sich Trauer, Wut und Zorn über die Pest gegen den Ausnahmezustand, die Staatsgewalt und ihre Vertreter richteten. Es gab immer wieder und überall auch Widerstand gegen die oft drastischen Maßnahmen der Pestbekämpfung. Es gab Verschwörungstheorien, deren wichtigste Funktion darin zu bestehen scheint, dass sie das Bedürfnis nach Schuldigen befriedigen, die man bestrafen kann. Nur, was ist der Ursprung dieses Bedürfnisses? Vielleicht eine Reaktion auf die Machtlosigkeit des Ausgesetztseins gegenüber einer unsichtbaren Macht – einer Art Naturgewalt. Die Unfähigkeit auszuhalten, dass es etwas gibt, was sich menschlicher Kontrolle entzieht?

Und es gab wissenschaftliche Meinungen, die eine unsichtbare Übertragung der Pest bestritten. Sie zweifelten auch an der Wirksamkeit von Maßnahmen wie Quarantäne, Isolation von Kranken, Zwangshospitalisierung, Verbrennung infizierter Waren und Häuser, Stilllegung des öffentlichen Lebens, Unterbrechung des Handels und Abriegelung infizierter Orte. Noch während der letzten großen westeuropäischen Epidemie in Marseille und der Provence 1720–1722 standen sich mehrere Expertengruppen feindlich gegenüber. Eine Gruppe von Medizinern aus der berühmten Schule von Montpellier, die sich um François Chicoyneau (1672–1752) und seinen Schwiegervater Pierre Chirac (1650–1732) formiert hatte, glaubte nicht an Ansteckung durch Übertragung der Krankheit von einer Person auf die andere. Chicoyneau prangerte die ›Gewalt‹ an, die ›der öffentlichen Freiheit‹ durch die üblichen Schutzmaßnahmen sinnlos angetan werde, und erklärte diese für ›Verstöße gegen das Menschenrecht‹. Chicoyneau selbst gehörte einer Expertenkommission an, die in Marseille den Ausbruch der Epidemie untersuchen sollte. Es gibt ein Bild, das damals in Europa kursierte und auch heute gerne gezeigt wird, wenn es um die Geschichte der Pest geht. Es zeigt einen von Kopf bis Fuß vermummten Arzt mit bizarrer Schutzmaske. Darunter der Name: François Chicoyneau. Den Lesern der Traktate, denen diese Bilder beigefügt waren, wird der satirische Charakter dieser Darstellung kaum entgangen sein. So wandelte der Arzt, der an keine Ansteckung glauben wollte, durch die Straßen von Marseille.

Heute zweifelt kein Experte an der Ansteckungsgefahr, die vom Coronavirus ausgeht. Aber es gibt auch noch keinen Impfstoff. Um die ungehemmte Verbreitung des Virus zu verhindern, haben wir nur die alten Mittel, die sich in der europäischen Geschichte schon mehr als einmal bewährt haben. Die Mittel der Staatsgewalt. Wir erleben, dass auch Demokratien über ihre Instrumente verfügen, die eine Einschränkung des öffentlichen Lebens und individueller Freiheiten bedeuten. Die Rechte und auch das Wohl aller Einzelnen werden hinter den Schutz der öffentlichen Gesundheit gestellt. Das sind tiefe Einschnitte ins soziale und wirtschaftliche Leben.

Epidemien sind Bedrohungen, in denen der Staat eines seiner vielen Gesichter zeigt. Es ist das furchteinflößende Antlitz des Leviathan. Seine Maßnahmen gegen die Epidemie sind weitaus älter als die europäischen Erfahrungen von Diktatur, die sich vor allem auf das 20. Jahrhundert konzentrierten. Praktisch alle demokratischen Verfassungen erlauben Regelungen für den Ausnahmezustand. Sie sind nicht per se schon diktatorisch oder autoritär, nur weil sie davon Gebrauch machen. Aber es kommt darauf an, dass sie die Ausnahme bleiben. Dazu müssen die auf Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gestützten Kontrollen bei der Ausübung staatlicher Exekutive weiterhin funktionieren. Aber es braucht auch ein Stück Vertrauen in die Stabilität unserer politischen Systeme. Wo es wankt, droht Instabilität. Und wo der Ausnahmezustand in Permanenz überführt werden soll, da ist die Demokratie in Gefahr. Dieses Spiel betreiben vor allem rechte Autokraten und Populisten in Ungarn oder Polen, wo sie bereits die Regierungsgewalt in ihren Händen halten. Hier, wo der Zustand der Demokratie ohnehin prekär geworden ist, könnte der epidemiologische Ausnahmezustand dauerhaften politischen Schaden anrichten.

In der Epidemie sieht das Antlitz des Leviathan so aus wie die Gesellschaft, die sich seiner Gewalt beugt. Sein Zustand scheint ihr Zustand zu sein – eine schonungslose Diagnose. Beispiel USA. Dort lässt das Handeln eines rechtspopulistischen und rassistischen Präsidenten, der weder von Staatsgewalt noch vom Regieren etwas versteht und, was schlimmer ist, auch gar nichts davon wissen will, gerade die Symptome eines scheiternden Staates in plastischer Klarheit hervortreten. Viele Amerikaner sind nicht einmal krankenversichert. Das gilt besonders für diejenigen, deren Einkommen sich an der Grenze zum Existenzminimum bewegt. Die amerikanische Gesellschaft ist von Regimen der Ungleichheit durchzogen. Sie hat ganz unterschiedliche historische Wurzeln: die Sklaverei, den Rassismus, einen Kapitalismus, der nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr durch die Konkurrenz des Sozialismus gezähmt wird, einen Neoliberalismus im Dienst der Reichsten. Es fehlt der amerikanischen Gesellschaft an einer Verankerung der Solidarität im Staat. Die Versuche, die in dieser Hinsicht vor allem von Präsident Lyndon B. Johnson Mitte der 1960er Jahre unternommen wurden, scheiterten im Strudel des Vietnamkrieges, der Johnson aus dem Weißen Haus spülte.

Die Historikerin Julia Adeney Thomas hat einen wunderbaren Artikel geschrieben, in dem sie die Ursachen für das Scheitern des amerikanischen Zentralstaates und seiner Institutionen in der COVID-19-Krise schonungslos analysiert (Thomas 2020). Einerseits liegen sie in der Schere der Ungleichheit, die seit den 1980er Jahren immer weiter aufgegangen ist und die Gesellschaft heute spaltet. Von Reagan bis Donald Trump hätten die Präsidenten die subversive Kunst ausgeübt, die Regierung zum Feind zu erklären, während sie gleichzeitig die Vorteile des Staates an die Wohlhabenden übergeben haben. Andererseits fehlt es an Vertrauen in diesen Staat. Im Unterschied zu den Demokratien Asiens, Südkoreas vor allem und Japans, fehlt es den Amerikanern am Vertrauen, dass der Staat weitgehend dem Wohl aller dient. In den USA, so Thomas, sei dieses Vertrauen jahrzehntelang von der eigenen politischen Führungselite untergraben worden. Aber nicht nur von ihr. Sie wird auch von einer Polizei untergraben, die den Rassismus bei der Ausübung der Staatsgewalt in ihren eigenen Reihen nicht unter Kontrolle hat.

Ohne Vertrauen ist der demokratisch gebändigte Leviathan ein zahnloses Wesen, das seine Bürger nicht gegen die Bedrohung, die von COVID-19 ausgeht, schützen kann. So sterben Hunderttausende in einem Land, deren Politiker in keinem Wahlkampf je müde werden auszurufen, dass sie der größten Nation, die jemals auf Erden war, dienen wollen. Und es sterben vor allem die Ungleichen unter den Gleichen, die Nicht-Weißen. Bei der Trauerfeier für George Floyd hat es Brooke Williams auf den Punkt gebracht: »Einige sagen, ›Make America Great Again‹, aber wann war Amerika jemals groß?« Diese Frage muss sich heute vor allem die weiße, männliche politische Elite Amerikas gefallen lassen. Ihr Märchen von der größten Nation der Erde beschädigt die Geschichte und Würde der anderen.

Der Weg zurück zum Vertrauen ist beschwerlich. Die materielle Gleichheit ließe sich leichter wiederherstellen als die Ehrlichkeit, die das Staatsversagen abfordert. Mit einem Präsidenten, der hemmungslos lügt, stehen die Chancen dafür schlecht. Es gibt zu viele, die diese Lügen gerne glauben.

Literatur

Levinas, Emmanuel (1989): Humanismus des anderen Menschen. Hamburg: Felix Meiner.

Thomas, Julia Adeney (2020): »The Blame Game: Asia, Democracy and COVID-19«. In: Asia Global Online vom 25.03.2020. https://www.asiaglobalonline.hku.hk/blame-game-asia-democracy-and-covid-19, letzter Zugriff am 11.06.2020.

Corona, Klima und weiße SuprematieMultiple Krisen oder eine?

Eleonora Rohland

Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich im Zusammenhang mit den globalen Klimaextremen von 2019 und nicht zuletzt durch den Aktivismus von Greta Thunberg und der Fridays for Future-Bewegung, der Begriff der Klimakrise im deutschen wie auch im englischen Sprachgebrauch etabliert. Dieser Wechsel vom Klimawandel zur ›Krise‹ wurde von einigen Medien (darunter die Süddeutsche Zeitung und der Guardian) explizit und mit dem Ziel der Wahrnehmungsveränderung durch den geänderten Sprachgebrauch vollzogen. Widerstand gegen diese durchaus politische Begrifflichkeit formierte sich insbesondere im rechten politischen Spektrum und aus Kreisen der Leugner des Klimawandels, die die im Begriff enthaltene und wissenschaftlich seit Jahrzehnten belegte Dringlichkeit als »Hysterie« und »Katastrophismus« abtaten (Müller-Jung 2019). Der Begriff schien jedoch trotz dieses Widerstandes in der breiteren Öffentlichkeit angekommen zu sein, wenn auch weiterhin eine Lücke zwischen dem durch ihn vermittelten Handlungsdruck und den realen politischen Entscheidungen des letzten Dreivierteljahres klafften.

Dann kam die Corona-Krise und verdrängte die vordergründig nicht mit ihr verbundene Klimakrise vorerst aus dem politischen Diskurs, der medialen Berichterstattung und wohl auch aus dem Gefahrenbewusstsein der Bevölkerung. Die COVID-19-Pandemie schien und scheint auf den ersten Blick eine viel unmittelbarere Gefahr zu sein, bei der die Kausalitätskette zwischen Ursache (Ansteckung mit dem Virus) und Wirkung (im Extremfall Tod) zeitlich sehr kurz ist und die Betroffenheit und das Risiko deutlich hervortreten.

Dagegen ist die Komplexität der Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln, seinen Auswirkungen auf das Klimasystem und wiederum dessen globalen, aber regional unterschiedlichen und zeitlich versetzten Rückkopplungseffekten auf Gesellschaften nicht leicht zu vermitteln. Noch schwieriger war und ist es bisher, aufgrund dieser komplexen Gemengelage konsensfähige und effektive politische Lösungen zu finden. Studien der historischen Katastrophenforschung zeigen, dass der entscheidende Faktor für die Risiko- und Gefahrenwahrnehmung die Zeitskala ist, auf der sich eine Krise oder Katastrophe abspielt. Und hier liegt einer der Hauptunterschiede für den Handlungsdruck zwischen der Pandemie und der Klimakrise und vielleicht auch in Teilen für ihre Betrachtung als zwei voneinander getrennte krisenhafte Prozesse. Ob sich die Befürchtung bestätigt, die Corona-Krise werde die Klimakrise im politischen Diskurs überlagern oder gar längerfristig aus ihm verdrängen, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Einiges wird davon abhängen, ob Deutschland wieder einen Dürresommer erlebt, wie sich weltweit die Klimaextreme häufen und ob sich eine zweite Welle der Corona-Pandemie einstellt. Immerhin wurde die Forderung nach einem mit dem Pariser Klimaabkommen kompatiblen Wiederaufbau der Wirtschaft sowohl in Europa als auch in Deutschland relativ früh gestellt und wird weiterhin diskutiert. Allerdings scheinen die beiden Krisen – nicht zuletzt aufgrund der oben beschriebenen Zeitskalen-Problematik – weiterhin als getrennte, aber synchron auftretende Prozesse wahrgenommen und behandelt zu werden.

Als dritter Krisenkomplex trat in den vergangenen Wochen in Europa die soziale Ungleichheit, in Lateinamerika und den USA stärker noch die racial injustice, die Rassendiskriminierung, in den Vordergrund. Es passierte also das, was der Anthropologe Tony Oliver-Smith mit dem Begriff crise revelatrice bezeichnet hat, nämlich dass Katastrophen oder Krisenprozesse schon bestehende gesellschaftliche Missstände in scharfen Konturen sichtbar machen (Oliver-Smith 1996: 304). Schon Mitte April 2020 erschienen in anglo-amerikanischen Medien Berichte darüber, dass in England, den USA und in lateinamerikanischen Ländern überproportional viele People of Color und Angehörige der First Nations oder Indigenas von dem SARS-CoV-2-Virus betroffen sind. Diese Schieflage der Betroffenenzahlen hat nichts mit biologischen Unterschieden zwischen People of Color, indigenen Bevölkerungsgruppen und Weißen zu tun, sondern ist zum einen eine Folge der Tatsache, dass People of Color sowohl in den USA wie auch in Großbritannien überproportional in Pflegeberufen tätig und somit der Ansteckungsgefahr mit dem Virus in besonderem Maße ausgesetzt sind. Zum anderen liegen die verborgeneren Gründe in der historischen, bis in die Kolonialzeit zurückreichenden, systematischen Benachteiligung nicht-weißer Bevölkerungsschichten hinsichtlich ihres Zugangs zum Gesundheitssystem, zu qualifizierten Arbeitsstellen und zu adäquatem Wohnraum. Diese insbesondere in den USA über den Faktor des finanziellen Vermögens miteinander verbundenen Aspekte machen politisch benachteiligte Gruppen für ansteckende Krankheiten besonders verwundbar.

Diese Aspekte des systemischen Rassismus, der durch die Corona-Krise schmerzhaft sichtbar gemacht wurde, können sowohl in den USA als auch in lateinamerikanischen Ländern historisch in ihrer Genealogie nachverfolgt werden. Sie treten auch im Kontext von Naturkatastrophen und Umweltkrisen immer wieder zutage, da durch sie dieselben gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen wie in einer Pandemie angesprochen sind. Allerdings fügt sich bei Naturkatastrophen zur sozialen Verwundbarkeit noch eine räumliche Komponente, die geographische Verwundbarkeit hinzu. Denn die durch weiße Eliten eingeschränkten Bürgerrechte führten und führen auch zu einer räumlichen Marginalisierung von People of Color, von Indigenen und anderen sozial benachteiligten Gruppen in urbanen Risikogebieten. Der Nexus von unerwünschten (da die Umwelt verschmutzenden und die menschliche Gesundheit belastenden) Gewerbe- oder geologischen Risikozonen und niedrigen Bodenpreisen ist für diesen Umstand besonders relevant. Das heißt, historisch und mit Pfadabhängigkeit bis in die Gegenwart, überlappen die Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen oft mit Zonen erhöhter natürlicher oder menschgemachter Umweltrisiken. Im anglo-amerikanischen Raum wird hierfür der Begriff environmental racism benutzt. In diesem Punkt der sozialen und geographischen Verwundbarkeit, und politisch in den miteinander verflochtenen Aspekten der racial und environmental justice, treffen sich die Corona-Krise und die Klimakrise in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Auswirkung. Aber hängen diese beiden Krisen auch kausal zusammen?

Sowohl die Corona-Krise als auch die Klimakrise weisen eine starke Mensch-Umwelt-Verflechtung auf. Auch wenn wir bei der Corona-Pandemie (noch?) keine direkte kausale Verbindung zum Klima oder zur Klimakrise herstellen können, so weisen dennoch Beispiele aus der Geschichte auf die Verbindung zwischen klimatischen Anomalien und Epidemien oder Pandemien hin. Der Klimageschichte ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, klimatische Schwankungen – z.B. mehrere aufeinanderfolgende extrem kalte und nasse Sommer – aus historischen Daten zu rekonstruieren und die daraus folgenden, in historischen Quellen beschriebenen Hungersnöte und Tierseuchen noch besser zu erklären. Auf Hunger und Tierseuchen folgten in der Vormoderne häufig Epidemien unter den Menschen, wie zum Beispiel die sogenannte »Dantesche Anomalie«, die zu Lebzeiten Dante Alighieris zwischen 1309 und 1321 den gesamten europäischen Kontinent betraf (Bauch 2018).