Die demokratische Rückentwicklung der Republik Türkei - Markus Schäfer - E-Book

Die demokratische Rückentwicklung der Republik Türkei E-Book

Markus Schäfer

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Beschreibung

Die Türkei galt lange als Musterstaat, welcher in Bezug auf seine Gesellschaft traditionell islamisch geprägt ist und gleichzeitig trotzdem seinen modernen Staatscharakter betont hatte. Die Einschätzungen vieler Journalisten und Politiker lassen nun allerdings vermuten, dass ein gesellschaftlicher sowie politischer Wandel eingesetzt hat. Manche bezeichnen diesen Wandel als Rückentwicklung von schon erreichten gesellschaftlichen und demokratischen Werten. Markus Schäfer untersucht, warum und wie sich die Türkei zurückentwickelt hat. Dabei beantwortet er folgende Fragen: Was ist überhaupt eine Demokratie? Wie demokratisch beziehungsweise undemokratisch ist die Türkei tatsächlich? Wieso unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung die Entscheidungen der Regierenden und die Entwicklungen innerhalb ihres Landes? Hat sich die Republik Türkei weg von einer Demokratie entwickelt? Und wenn ja, warum und wie kam es zu dieser Entwicklung? Aus dem Inhalt: - Recep Tayyip Erdogan; - Autokratie; - Defekte Demokratie; - AKP; - Modernisierungstheorie; - Transformation

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Seitenzahl: 256

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Inhaltsverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Rahmen

2.1 Demokratietheorie

2.1.1 Typen moderner Demokratietheorien

2.1.2 Konzepte von modernen Demokratien

2.1.3 Konzept und Kriterien der modernen Demokratie

2.1.3.1 Wahlen

2.1.3.2 Politische Partizipationsrechte

2.1.3.3 Bürgerliche Freiheitsrechte

2.1.3.4 Gewaltenteilung und Horizontale Verantwortlichkeit

2.1.3.5 Effektive Regierungsgewalt

2.1.4 Defekte Demokratien

2.1.5 Demokratien in Abgrenzung zu Autokratien

2.2 Transformationstheorien

2.2.1 Modernisierungstheorien

2.2.2 Strukturtheorie

2.2.3 Kulturtheorie

2.2.4 Akteurstheorie

2.2.5 Zusammenfassung

2.3 Rückentwicklung von Demokratien

3 Empirie

3.1 Die Geschichte der Türkei

3.1.1 Das Osmanische Reich

3.1.2 Die Gründung der Republik Türkei

3.1.3 Die kemalistische Republik

3.1.4 Die Türkei seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis in das Jahr 2002

3.2 Die Einordnung der Republik Türkei in die Demokratietheorie

3.2.1 Wahlen

3.2.2 Politische Partizipationsrechte und bürgerliche Freiheitsrechte

3.2.3 Gewaltenteilung und horizontale Verantwortlichkeit

3.2.4 Effektive Regierungsgewalt

3.2.5 Zwischenfazit

3.3 Die rückgewandte Transformation der Republik Türkei

3.3.1 Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit

3.3.2 Politische Partizipation

3.3.3 Strukturelle Differenzierung von Institutionen

3.3.4 Kulturkreis der Türkei

3.3.5 Der Akteur Recep Tayyip Erdogan

3.3.6 Zwischenfazit

4 Fazit

Quellenverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2: Die Ausbreitung des Osmanischen Reichs bis 1566

Abbildung 3: Die Grenzen der Republik Türkei

Abbildung 4: Die Verfassungsorgane der Türkei

Abbildung 5: Konstitutionelle Vetospieler

Abbildung 6: Entwicklung der sektoralen Anteile des BIP von 1930 bis 2006

Abbildung 7: Entwicklung des BIP pro Kopf in US-Dollar seit 1970

Abbildung 8: Entwicklung des HDI seit 1990

Abbildung 9: Frauen- und Männererwerbsquote im Vergleich

Abbildung 11: Ausgaben des Staates anteilig am BIP in Prozent

Abbildung 12: Arbeitslosenquote seit 2000

Abbildung 13: Bevölkerungswachstum in der Türkei in Millionen seit 1960

Abbildung 14: Gini-Koeffizient der Türkei

Tabelle 1: Bedeutung und Funktion von Wahlen

Tabelle 2: Konzept und Kriterien der Demokratie

Tabelle 3: Typen defekter Demokratien

Tabelle 4: Merkmale von demokratischen und autokratischen Systemen

Tabelle 5: Begriffserklärungen zu Transformationen

Tabelle 6: Dimensionen der Modernisierungstheorien und deren Kontinuum

Abkürzungsverzeichnis

AKP                              Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung)

AnaP                             Anavatan Partisi (Mutterlandspartei)

AP                                 Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei)

BIP                               Bruttoinlandsprodukt

BTI                               Bertelsmann Transformation Index

CDU                             Christlich Demokratische Union Deutschlands

CHP                              Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei)

CTP                               Cumhuriyet Terraki Partisi (Republikanische Fortschrittspartei)

DP                                 Demokrat Parti (Demokratische Partei)

DSP                              Demokrat Sol Partisi (Partei der Demokratischen Linken)

DTP                              Demokrat Toplum Partisi (Partei der Demokratischen Gesellschaft)

DYP                              Dogru Yol Partisi (Partei des Rechten Weges)

EU                                Europäische Union

GDI                              Gender Development Index

HDI                              Human Development Index

HDP                              Halklarin Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker)

ILO                               International Labour Organization

IS                                  Islamischer Staat

IWF                              Internationaler Währungsfonds

MHP                             Milliyetci Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung)

MSP                              Milli Selamet Partisi (Nationale Heilspartei)

NATO                           North Atlantic Treaty Organization (Organisation des Nordatlantikvertrags)

NGO                             Non-governmental organization (Nichtregierungsorganisation)

OSCE                           Organization for Security and Co-operation in Europe (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)

PKK                              Partiya Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

RP                                 Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

SCP                               Serbest Cumhuriyet Partisi (Freie Republikanische Partei)

SHP                              Sosyaldemokrat Halkci Parti (Sozialdemokratische Populistische Partei)

1 Einleitung

„Ein türkischer Staatstreich in Zeitlupe“ (Hermann 2018), so schildert der im Bereich Politik tätige Journalist und Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Rainer Hermann die negativen Entwicklungen in der türkischen Republik der letzten Jahre. Diese Aussage, welche gleichzeitig die Schlagzeile des Artikels ist, meint damit jedoch keinen Staatsstreich im herkömmlichen Sinne. Denn im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff des Staatsstreiches oder auch des Putsches mit einem gewaltsamen Umsturz durch hohe Amtsträger innerhalb des jeweiligen Regimes verstanden. Hermann beschreibt allerdings einen mehr oder weniger leisen, aber auf jeden Fall schleichenden Prozess der demokratischen Fehlentwicklung innerhalb des türkischen Staates: einen Staatsstreich in Zeitlupe.

Verantwortlich für diesen langsamen Putsch machen Hermann und sein Interviewpartner Yavuz Baydar[1] den ehemaligen Regierungschef und heutigen Staatspräsidenten der türkischen Republik Recep Tayyip Erdogan. Baydar beschreibt zunächst die Hoffnungen der Bevölkerung auf eine weitere Demokratisierung des Landes, die mit der Gründung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2001 verbunden waren, da sich die AKP und Erdogan von den alten etablierten Parteien inhaltlich absetzten und das Land demokratisch voranbringen wollten. (vgl. ebd.) Doch in Folge eines Parteiverbotsverfahrens gegen die AKP im Jahr 2008[2], mit dem das alte Establishment nur knapp scheiterte, und einem drohenden Putsch des Militärs[3] bereits ein Jahr zuvor änderten die AKP respektive Erdogan ihren Politikstil und ihre Politik, so Baydar. Während die Türkei zunächst auf einen möglichen Beitritt zur Europäischen Union (EU) hinarbeitete und in einem Verfassungsreferendum 2010 unter dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan die Macht des Militärs einschränkte, das Parlament stärkte und den Gleichheitsgrundsatz innerhalb der türkischen Gesellschaft herausstellte, (vgl. Zeit Online 2010) fällt die Bewertung der heutigen Entwicklung der Türkei unter der gleichen Regierungspartei und dem Staatspräsidenten Erdogan nicht positiv aus. Yavuz Baydar wirft dem türkischen Präsidenten vor, dass seit 2011 permanent Grundrechte missachtet und Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt wurden. (vgl. ebd.) In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung nennt er Erdogan das personifizierte Problem der Türkei. (vgl. Baydar 2017) Hayko Bagdat, ein türkisch-armenischer Journalist, Autor und Kabarettist geht sogar so weit, dem türkischen Staatsoberhaupt die Entwicklung von einem Demokraten zu einem Diktator vorzuwerfen. (vgl. Bagdat 2018)

Das vermeintliche Problem Erdogan wurde zum ersten Mal im Jahr 2013 für die Weltöffentlichkeit wirklich sicht- und greifbar. Aus einer Demonstration gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Gezi-Park in Istanbul, die von der Polizei niedergeschlagen wurde und mit zahlreichen Verhaftungen endete, entwickelte sich eine Protestwelle, die auf viele Städte der Türkei übergriff. Daraufhin kam es zu einer Protestbesetzung des Taksim-Platzes in Istanbul. Auch diese Proteste wurden von der Polizei niedergeschlagen. (vgl. Süddeutsche Zeitung 2014) Aus einer Demonstration gegen die Abholzung vieler Bäume und den Bau eines Einkaufszentrums entfaltete sich also letztlich ein landesweiter Protest gegen die Regierung. Im gleichen Jahr gab es Korruptionsvorwürfe gegen Teile der Regierung und seinen Ministerpräsidenten Erdogan, in Folge derer es wiederum zu landesweiten Protesten kam. Während einige Minister entlassen und ausgetauscht wurden, blieb Erdogan im Amt und machte die Gülen-Bewegung[4] für die Korruption innerhalb der Regierung verantwortlich, woraufhin eine Verhaftungswelle durch das Land ging. (vgl. Popp 2013) Im Jahr 2016 kam es zu einem Putschversuch gegen die herrschenden politischen Eliten, welchen auch Erdogan – seit 2014 Staatspräsident – angehörte. Der Putsch wurde mit der Hilfe aus Teilen des Militärs und der Bevölkerung niedergeschlagen, 250 Menschen starben. In der Folge verhängte Erdogan den Ausnahmezustand, welcher immer wieder verlängert wurde. Circa 77.000 Menschen wurden verhaftet, über 100.000 Menschen verloren ihre Arbeit und rund 140 Medienhäuser wurden geschlossen. Erdogan und auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss waren und sind der Auffassung, dass Fetullah Gülen und seine Anhänger für diesen Putsch verantwortlich sind. (vgl. Senz 2019) 2017 wurde auch Deniz Yücel, ein deutsch-türkischer „Welt“-Journalist inhaftiert. Ihm wurde aufgrund seiner journalistischen Arbeit Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Nach einem Jahr in Einzelhaft durfte er im Februar 2018 das Gefängnis und die Türkei verlassen, das Verfahren läuft jedoch noch. (vgl. Marcalo 2017; Zeit Online 2019a) Aber auch andere deutsche Reporter, die in der Türkei leben, arbeiten und für die Bundesrepublik berichten, haben Probleme mit der Lage in der Türkei. Die türkischen Behörden haben Anfang des Jahres dem kritischen Korrespondenten des ZDF und Leiter des Auslandsstudios Istanbul Jörg Brase die Akkreditierung als Journalist entzogen beziehungsweise nicht erneuert. Ohne eine Presseakkreditierung musste Brase das Land verlassen, da seine Aufenthaltserlaubnis daran gebunden ist. Wohl aufgrund des Drucks von Seiten der deutschen Regierung und anderen Institutionen auf die türkischen Entscheidungsträger, wurde Brase letztlich doch eine Pressekarte ausgestellt und es wurde ihm erlaubt, wieder in die Türkei zurückzukehren. (vgl. Zeit Online 2019b) Damit seien nur zwei prominente Beispiele genannt. Erdogan scheint seine Macht immer weiter auszubauen und zielt, so einige Stimmen, auf die Alleinherrschaft in der Türkei ab. (vgl. Hermann 2018) In dieses Bild passt auch die Verfassungsänderung 2017, welcher die Bevölkerung mit einer knappen Mehrheit zustimmte. Die Reform beinhaltet mehr Vollmachten für den Staatspräsidenten und eine Aufweichung der Gewaltenteilung. (vgl. Willinger 2018)

Diese kleine ausgewählte Chronologie über die Geschehnisse der letzten Jahre in der Republik Türkei soll einen Einblick in die derzeitige Lage des Landes geben – zumindest darauf, wie eine Vielzahl von Menschen die Lage innerhalb der Türkei beurteilt. Dem muss man allerdings auch die Wahlerfolge Erdogans und der AKP entgegenstellen. Seit 2002 bildet die AKP meist mit einer absoluten Mehrheit die Regierungspartei. (vgl. OSCE 2002; OSCE 2007; OSCE 2011; OSCE 2015b, OSCE 2018a) Lediglich bei der Parlamentswahl 2018 musste die islamisch-konservative Partei einige Verluste hinnehmen und führt seitdem eine sehr knappe Minderheitsregierung. (vgl. OSCE 2018) Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2014 und 2018 sowie beim Verfassungsreferendum 2017 unterstützte eine absolute Mehrheit Erdogan beziehungsweise die von ihm und seiner AKP vorgeschlagenen Verfassungsänderungen. (vgl. OSCE 2014; OSCE 2017; OSCE 2018a)

Mithilfe dieses einleitenden Überblicks wird deutlich, dass die Bevölkerung in der Türkei ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu ihren politischen Eliten – insbesondere aber zu Erdogan – und dem derzeitigen Staatsregime pflegt. Während ein Teil der Allgemeinheit Erdogan, die AKP und deren vermeintliche repressive Politik und die Verfassungsänderungen beziehungsweise den Machtausbau des Präsidentenamtes in der Person Erdogans anprangern, unterstützt offensichtlich eine nicht zu vernachlässigende und nicht zu unterschätzende Mehrheit genau diese Politik und die eben genannten Akteure. Aus dem ehemals gemäßigt demokratischen Recep Tayyip Erdogan offenbart sich, so scheint es, ein Autokrat, welcher das politische System und den Staat an sich verändert. Doch in Zeiten von Fake News, alternativen Fakten und pseudowissenschaftlichen Wortmeldungen ist es überaus wichtig, sich gerade mit diesen Behauptungen detailliert auseinanderzusetzen und eine wissenschaftliche sowie nachvollziehbare Untersuchung durchzuführen, um Klarheit über die tatsächlichen Vorgänge in der Türkei zu schaffen.

Die Türkei galt lange als Musterstaat, welcher in Bezug auf seine Gesellschaft traditionell islamisch geprägt ist und gleichzeitig trotzdem seinen modernen – also säkularen und demokratischen – Staatscharakter seit der Gründung der Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk betont hatte. Die Berichterstattungen und die Einschätzungen vieler Journalisten und Politiker lassen nun allerdings vermuten, dass ein gesellschaftlicher sowie politischer Wandel eingesetzt hat. In der ‚westlichen Welt‘ würden manche diesen Wandel als eine Art Rückentwicklung von schon erreichten gesellschaftlichen und demokratischen Werten bezeichnen. Zu nennen ist dabei auch die unterstellte Entwicklung Erdogans von einem Demokraten zu einem Diktator. Aus diesem Grund soll in diesem wissenschaftlichen Beitrag einigen relevanten Fragen nachgegangen werden: Was ist überhaupt eine Demokratie oder was ist demokratisch? Wie demokratisch beziehungsweise undemokratisch ist die Türkei tatsächlich? Wieso unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung die Entscheidungen der Regierenden und die Entwicklungen innerhalb ihres Landes? Hat sich die Republik Türkei weg von einer Demokratie entwickelt? Und wenn ja, warum und wie kam es zu dieser Entwicklung? Es soll deshalb in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden jene Veränderung zu untersuchen und die Gründe dessen zu erläutern. Aus diesen Überlegungen lässt sich die folgende Forschungsfrage bilden: Warum und wie hat sich die Türkei zurückentwickelt?

Die derzeitigen wissenschaftlichen Beiträge behandeln keine rückwärtsgewandten Transformationen, sondern nur den Abbruch der Konsolidierungsphase einer Demokratie. Es soll zunächst ein theoretischer Rahmen geschaffen werden, innerhalb dessen die oben gestellten Fragen beantwortet werden können. So ist es also unerlässlich sich eingangs mit den Demokratietheorien zu beschäftigen, das dieser Arbeit zugrunde liegende Demokratieverständnis darzulegen und eine Art Kriterienkatalog aufzustellen, mit dessen Hilfe eine Einordnung in jenes Demokratieverständnis möglich gemacht werden kann. Es folgen Abstufungen einer Demokratie, die sogenannten ‚defekten Demokratien‘ und eine Begriffsabgrenzung zur Autokratie. Danach richtet sich der Fokus auf die Transformationstheorien, die zunächst den positiven Weg – eine Transition – hin zu einer Demokratie erläutern. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen mithilfe der Transformationstheorien natürlich in Verbindung mit den aufgestellten Demokratiemaßstäben den rückgewandten Prozess einer Demokratisierung zu erklären. Im empirischen Teil des Beitrags wird sich zuerst dem geschichtlichen Pfad der Türkei – ihrer Gründung nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs – gewidmet. Anschließend wird dann die Einordnung nach den Demokratiekriterien vorgenommen, ehe der Prozess der Rückentwicklung anhand der ausgearbeiteten Dimensionen analytisch erläutert wird. Die Arbeit endet schließlich mit einem zusammenfassenden und bewertenden Fazit.

Da es sich bei diesem forschenden Beitrag um das Interesse an einem spezifischen Fall handelt, spricht man hierbei von einer Einzelfallstudie. (vgl. Westle 2018: 175) Am Ende dieser Arbeit soll allerdings nicht nur die Antwort auf die oben gestellte Forschungsfrage zur Untersuchung dieses einzelnen Falles gegeben werden, sondern beide Teile der ausgearbeiteten Theorie – Demokratie sowie rückgewandte Transformation – sollen bei der Analyse zukünftiger Fallstudien, sei es bei der Einordnung eines demokratischen Regimes oder bei der (demokratischen) Rückentwicklung eines Landes, Hilfestellung geben. Es werden zur Analyse des empirischen Teils keine eigenen Daten erhoben, sondern auf wissenschaftliche Beiträge, Zeitungsartikel etc. zurückgegriffen. Dabei ist keine der Quellen als wichtigste Quelle hervorzuheben. Die Grundlage des theoretischen Teils bildet vor allem der Beitrag „Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung“ (2010) von Wolfgang Merkel. Der theoretische Rahmen speist sich ferner ebenfalls aus vielerlei Literatur, von denen keine besonders hervorsticht.

2 Theoretischer Rahmen

Der theoretische Rahmen erstreckt sich also von einer herausgearbeiteten Definition der Demokratie über Transformations- bzw. Transitionstheorien hin zu einer rückwärtsgewandten Transformation. Dabei basiert bei Ersterem die Überprüfung der Demokratie auf einem normativen Verständnis der Theorie. Bei der rückgewandten Transformation ist ein normatives Vorgehen jedoch eher deplatziert. Denn die Transformationstheorien bilden zwar hohe Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Entwicklungen, jedoch sind die eigentlichen Prozesse und Abläufe von zahlreichen Faktoren abhängig: Pfade, Umwelt, Akteure etc. (vgl. Zapf 1997) Aus diesem Grund spricht man hierbei vielmehr von „heuristischen Modellen“ (Zapf 1975: 212).

2.1 Demokratietheorie

Die Herausarbeitung und Definition des Demokratiebegriffs ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe für einen Forscher. Denn diese Definition leitet sich aus der jeweiligen Demokratietheorie ab. Zwar stimmen die meisten Wissenschaftler darin überein, dass die Demokratietheorien eine beschreibende, erklärende und bewertende Untersuchung von Demokratien ermöglichen sollen, (vgl. Schmidt 2010: 487) dennoch gibt es durchaus ein großes Feld an verschiedenen Theorien, was denn eine Demokratie auszumachen scheint – aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Einschätzungen und Meinungen. (vgl. Buchstein 2016: 2) Diese rivalisierenden Vorstellungen beziehen sich dabei nicht nur auf die wissenschaftliche Ebene der Diskussionen, sondern ebenfalls auf die praktische politische Ebene, sprich die Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Parteien und ihren Akteuren auf Basis ihrer parteilichen Ideologien. (vgl. ebd.: 2; 4 f.) Jede der Theorien hat ihre eigenen Schlüsselbegriffe und Leitbilder, die auf den jeweiligen Erfahrungsgrundlagen und Beobachtungsperspektiven der forschenden Personen basieren. Auch kann es sein, dass eine Theorie in diesem Fachbereich nicht einfach endet, sondern andere Erkenntnisse womöglich in den jeweiligen Denkansatz eingespeist oder daraus neue Theorien entwickelt werden.

Die Demokratietheorie nimmt ihren Anfang schon in der Antike. Für Aristoteles beispielsweise besteht die beste Form der Demokratie[5] aus einer Staatsverfassung, die zusammen mit dem menschlichen Handeln ein tugendhaftes Leben ermöglichen soll. Genannt seien hier zum Beispiel Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit. (vgl. Schmidt 2010: 486) Im weiteren Verlauf der Geschichte kommen noch weitere Denkweisen hinzu, wie etwa die Idee eines Gesellschaftsvertrages bei Hobbes oder Rousseau. Während also die älteren Theorien ihren Fokus mehr auf die grundsätzliche Ausgestaltung einer Demokratie zu legen scheinen, gehen neuere Ideen tiefer und legen ihren Schwerpunkt auf den Pluralismus des Systems und die Partizipation des Volkes. Wiederum andere greifen bei ihren Überlegungen den Ökonomiegedanken auf. (vgl. ebd.) Die Theorien unterscheiden sich aber nicht nur danach, worauf sie ihr Hauptaugenmerk richten, sondern sie lassen sich auch danach unterscheiden, ob sie statisch oder dynamisch angelegt sind. (vgl. ebd.) Während die dynamischen Ansätze nach Prozessen und Veränderungen ausgerichtet sind und sich darüber hinaus zum Teil ebenfalls mit In- und Output der Demokratie auseinandersetzen können, beschäftigen sich die statischen Ansätze mit einem bestimmten Zustand des zu testenden Falles.[6] Die Untersuchung dieser Arbeit richtet sich nach der nötigen Zustandsbeschreibung der türkischen Demokratie, die entweder mithilfe einer empirischen oder normativen Demokratietheorie vorgenommen werden kann.[7]

2.1.1 Typen moderner Demokratietheorien

Diese immer weiterführende Ausdifferenzierung des Demokratiebegriffs beziehungsweise der Demokratietheorien führt zu einer Menge an wissenschaftlicher Literatur, die es zu überschauen und einzuordnen gilt. Während die eigentlichen Typen in einer idealen Politikwissenschaft als sich gegenseitig ergänzend verstanden werden sollten, werden sie aufgrund von immer weiter ausdifferenzierten Teilbereichen innerhalb einer real existierenden Politikwissenschaft immer mehr als Gegensätze betrachtet. (vgl. Buchstein 2016: 9) Da für diesen wissenschaftlichen Beitrag allerdings eine Demokratietheorie von Nöten ist, wird zuvor geklärt, welcher Typus einer Demokratietheorie letztlich verwendet wird.

Die empirische Demokratietheorie untersucht politische Systeme, die sich selbst als Demokratie bezeichnen. Wissenschaftler dieses Bereichs versuchen das jeweilige politische System zu beschreiben und letztlich Aussagen über die kausalen Wirkungszusammenhänge in diesem System aufzustellen. Um die verschiedenen Systeme in demokratische Systemtypen klassifizieren, um deren Funktionsvoraussetzungen benennen und um deren Leistungsfähigkeit messen zu können, bedient sich die empirische Demokratietheorie unterschiedlicher Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung. Aus diesen gewonnen Erkenntnissen und getroffenen Aussagen wird dann eine induktive Theoriebildung vorgenommen, bei der es schrittweise zur Verallgemeinerung der empirischen Befunde kommt. Eine systematische empirische Analyse lässt sich auch schon in den Schriften des Platon und des Aristoteles erkennen. (vgl. ebd.: 15)

Normative Demokratietheorien machen dagegen Aussagen über positive Soll-Zustände der Demokratie. Sie haben den Anspruch „überzeugende Begründungen für demokratische Herrschaftssysteme und deren konkrete institutionelle Ausgestaltung“ (ebd.: 27) zu geben. Somit stellen sie Maßstäbe auf, mit deren Hilfe sie real existierende politische Systeme nach ihrer Qualität bewerten können. (vgl. ebd.) Offensichtlich ist, dass es sich hierbei nicht um eine völlig wertfreie, wissenschaftliche Einordnung der jeweiligen Demokratie handelt, sondern eine solche Bewertung teilweise explizit zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Normative Demokratietheorien erheben einen universellen Geltungsanspruch, welcher auf bestimmten Überlegungen zu einzelnen Grundwerten fußt. (vgl. ebd.: 28) Letztlich kommt keine Konzeption einer Demokratie ohne normative Elemente aus, „denn die Entscheidung für oder gegen Demokratie basiert auf Werten, die nicht theoretisch ableitbar sind“ (Dirmoser 2005: 123). Die idealtypische Abstraktion eines solchen Demokratiemodells soll durch seine Beschaffenheit jede Art von Diktatur verhindern, „einschließlich jener Diktatur, die aus einer Tyrannei der Mehrheit hervorgeht“ (Offe 1994: 83 f.).

Während also zusammenfassend der normative Typus der Demokratietheorie eher auf den ideengeschichtlichen Überzeugungen, den bisherigen Erkenntnissen der Demokratiewissenschaft und einzelnen Grundwerten beruht (Demokratiebegründung), zeichnet sich der empirische Typus durch die aktivere Erkenntnis und Forschung zur Systembeschreibung sowie Verallgemeinerung aus (Demokratieforschung).[8] (vgl. Buchstein 2016: 2) Zur Einordnung der Türkei wird also eine statische normative Demokratietheorie genutzt, da die Messung der Qualität der türkischen Demokratie auf bestimmten Grundwerten der politischen Partizipation und der bürgerlichen Freiheitsrechte sowie auf Grundprinzipien zur Organisation des politischen Systems beruht. Es soll Aufschluss über mögliche Defizite und Fehlentwicklungen des Regimes gegeben werden. Im weiteren Verlauf soll zunächst ein Überblick über die bekanntesten Konzepte von Demokratien gegeben werden, ehe dann die dieser Arbeit zugrundeliegenden Merkmale einer Demokratie herausgearbeitet und erläutert werden.

2.1.2 Konzepte von modernen Demokratien

Der Begriff der Demokratie entspringt aus den griechischen Wörtern demos ‚Volk‘ und kratein ‚herrschen‘. Zusammengesetzt heißt dies so viel wie ‚Volksherrschaft‘. Volksherrschaft bedeutet weiter die Herrschaft der Vielen oder der Mehrheit. Hiervon lassen sich wiederum andere Herrschaftsformen, wie etwa die autokratischen Regime des Autoritarismus und des Totalitarismus abgrenzen. Abraham Lincoln bezeichnete zur Zeit des Sezessionskrieges die Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“. (vgl. Schultze 2015: 90) Doch das bisher Behandelte lässt vermuten, dass die modernen Definitionen und Konzepte der Demokratie mehr als nur die bloße Volksherrschaft als Folge von Wahlen innerhalb eines repräsentativen Systems im Sinn haben, was die Definition von Lincoln impliziert.

Eine Minimalkonzeption von Demokratie nach Joseph Schumpeter knüpft genau an diese Definition von Lincoln an. In seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1950) definiert er eine elektorale Demokratie. Er begreift die Demokratie als einen Konkurrenzkampf um die politische Führung, welcher durch Wahlen des Volkes entschieden wird. Für Schumpeter ist die Demokratie also die Methode zur Erreichung politischer Entscheidungen, „bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimme des Volkes erwerben“ (Schumpeter 1950: 428).

Ein darauf aufbauender und sozusagen weiterentwickelter Entwurf ist die Polyarchie von Robert Dahl. Er versucht ein normatives-empirisches Konzept zu schaffen, bei welchem der Bürger beispielsweise ohne einen Verweis auf die konkreten Institutionen und die Art des Wahlrechts (Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht) umfassende Rechte und Freiheiten besitzt.[9] (vgl. Roller 2016: 344) Dahl spezifiziert die elektorale Demokratie, indem er dem Bürger zunächst nicht nur das aktive, sondern ebenfalls das passive Wahlrecht zuspricht. Darüber hinaus sollten die Wahlen frei und fair sein sowie in regelmäßigen Abständen stattfinden. (vgl. Dahl 1989: 221) Ergänzend fügt er noch die Meinungsfreiheit, die Informationsfreiheit und die Organisationsfreiheit hinzu. (vgl. ebd.) Insgesamt erweitert er Schumpeters Konzeption also durch eine Spezifizierung der Wahlen sowie der Partizipation und des Wettbewerbs innerhalb der Demokratie.

Während Larry Diamond Dahls Konzept nochmals um weitere Merkmale, wie etwa eine effektive Regierungsgewalt ohne militärische Intervention, Begrenzung der exekutiven Macht, politischen und zivilgesellschaftlichen Pluralismus und einen funktionierenden Rechtsstaat erweitert, (vgl. Diamond 1999: 10 f.) dehnt die komplexe Demokratietheorie von Fritz Scharpf das Demokratieverständnis noch weiter aus, indem er den Minderheitenschutz sowie den In- und Output des politischen Systems und die Formen und Bedingungen des guten Regierens hinzufügt. (vgl. Scharpf 1970: 66-71)

Abbildung 1: Das Konzept der embedded democracy

Quelle: Merkel 2010: 31.

Ein weiteres Konzept ist die „embedded democracy“ (Merkel 2010: 30) von Wolfgang Merkel, mithilfe derer er die Einordnung in eine Demokratieform vornimmt und gleichzeitig die Stabilität untersucht. Abbildung 1 verdeutlicht die embedded democracy grafisch. Merkel konzentriert sich zunächst auf den inneren Kreis der fünf Teilregime zur Definition einer rechtsstaatlichen Demokratie und bezeichnet diesen als die „interne Einbettung“ (ebd. 34). Anhand dieser Teilregime (Wahlregime, Politische Freiheiten, Bürgerliche Rechte, Horizontale Verantwortlichkeit und Effektive Regierungsgewalt) kann untersucht werden, ob der jeweilige vorliegende Fall einer rechtsstaatlichen Demokratie entspricht oder als eine defekte Demokratie eingeordnet werden kann. (vgl. ebd.: 37 f.)

Das Wahlregime erlaubt über einen offenen Wettbewerb die Besetzung staatlicher Herrschaftspositionen anhand des Abstimmungsverhaltens der Bürger. Dabei ist die Definition von freien, allgemeinen, gleichen und fairen Wahlen, welche in regelmäßigen Abständen stattfinden, vorausgesetzt. (vgl. ebd.: 31 f.) Die politischen Freiheiten oder die politischen Partizipationsrechte gehen über die Wahlen hinaus. Der Bürger muss mit Rechten der freien Rede- und Meinungsäußerung sowie Assoziations-, Demonstrations- und Petitionsrechten ausgestattet sein. (vgl. ebd.: 32) Das dritte Teilregime, die bürgerlichen Freiheitsrechte, stellt sicher, dass alle Bürger einem allgemeingültigen Rechtssystem unterstellt sind, indem diese vor dem Gesetz gleich sind und ihnen die Wahrung von Leben, Freiheit und Eigentum garantiert sowie den Schutz vor haltlosen Festnahmen, Exil, Terror und Folter gewährleistet. (vgl. ebd.: 32 f.) Die Horizontale Verantwortlichkeit betrifft das rechtmäßige Regierungshandeln und dessen Kontrolle durch andere Gewalten. Bei einer wechselseitigen Abhängigkeit der drei Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative ist die Kontrolle der Exekutive und Legislative durch eine funktionierende und unabhängige Judikative entscheidend. (vgl. ebd.: 33) Das letzte Teilregime der internen Einbettung ist die effektive Regierungsgewalt. Die gewählten Repräsentanten, welche ihrer demokratischen Verantwortung unterworfen sind, sollen tatsächlich regieren. Ein Eingreifen von militärischen oder anderen einflussreichen Akteuren soll ausgeschlossen werden. (vgl. ebd.: 33 f.) Die externe Einbettung bezeichnet die Ringe um die Teilregime der rechtsstaatlichen Demokratie. Diese stellen in der Theorie von Merkel die Umwelt der repräsentativen Demokratie dar und entscheiden über Stabilität oder Instabilität des Systems, sind aber keine Bestandteile dessen. (vgl. ebd.: 35) Der sozioökonomische Kontext bezeichnet die ökonomischen Voraussetzungen, welche mit der Demokratiefähigkeit positiv korrelieren. Ebenso spielt in diesem Kontext die soziale Gerechtigkeit eine Rolle, welche die „rechtsstaatlichen und partizipativen Qualitäten eines Gemeinwesens“ (ebd.) fördert. Die Zivilgesellschaft bewegt sich im Raum zwischen individueller Privatsphäre und dem Staat. (vgl. Merkel/Puhle 1999: 167) In der Definition nach Merkel sind die Akteure der Zivilgesellschaft in die Politik eingebunden, ohne politische Ämter zu besetzen und ohne danach zu streben. Demnach ist eine Zivilgesellschaft „eine nichtstaatliche Handlungssphäre, in der sich eine Fülle pluraler und miteinander konkurrierender wie kooperierender Initiativen, Vereinigungen und Interessengruppen bewegen, um ihre spezifischen normativen und/oder materiellen Interessen wirkungsvoll und selbstorganisiert zu vertreten“ (ebd.). Der letzte Rahmen der externen Einbettung betrifft die internationale und regionale Integration. Die Einbindung in eine internationale Organisation mit wirtschaftlichen und demokratisch politischen Integrationszusammenhängen ist von Vorteil für die Stabilität und Qualität einer Demokratie. (vgl. Merkel 2010: 36) Abschließend fasst Merkel die eingebettete Demokratie so zusammen:

„Je dichter, konsolidierter und widerstandsfähiger diese ‚äußeren‘ Einbettungen der Kernregime der Demokratie sind, umso unangreifbarer sind diese auch gegenüber externen Bedrohungen. Je besser die Interdependenzen zwischen den Teilregimen institutionalisiert ist [sic!], je stärker die Kooperation zwischen den jeweiligen Akteuren dieser Regime und je höher die Akzeptanz und der Respekt vor der jeweiligen Independenz, umso demokratischer ist das politische Gesamtregime.“ (ebd.: 36 f.)

Es wird deutlich, dass es wie oben beschrieben eine Reihe von verschiedenen Theorien und Konzepten gibt, die über einzelne Demokratieentwürfe hinausgehen, auf diesen aufbauen oder lediglich anders bezeichnen und zusammensetzen. Im Folgenden wird nun geklärt, welches Demokratiekonzept letztlich für diese Arbeit verwendet wird.

2.1.3 Konzept und Kriterien der modernen Demokratie

Der für diese Arbeit zugrundeliegende Entwurf der Demokratie geht auf Wolfgang Merkels embedded democracy zurück, in welcher er die Konzepte mehrerer Wissenschaftler zusammenführt. Merkel setzt das Wahlregime an die erste Stelle seiner Konzeption und übernimmt somit den minimalistischen Grundgedanken der Demokratie von Joseph Schumpeter. Ebenfalls bezieht sich Merkel auf Robert Dahl, der erstens das Wahlregime nach Schumpeter ausweitet und zweitens die Definition der Demokratie um die politischen Partizipationsrechte erweitert. Im Prinzip übernimmt Merkel auch die Vorstellung nach Larry Diamonds Idee einer liberalen Demokratie, welche eine effektive Regierungsgewalt und die bürgerlichen Freiheitsrechte, diese wiederum den Rechtsstaatsgedanken implizieren, beinhaltet. Er selbst erweitert seine Konzeption noch um eine institutionelle Komponente, mit welcher im Endeffekt die Einhaltung des Wahlregimes, der politischen Partizipationsrechte und der bürgerlichen Freiheitsrechte gewährleistet ist: die Gewaltenteilung und die horizontale Verantwortlichkeit. Jeder dieser fünf Teilbereiche ist für sich eine notwendige aber alleine keine hinreichende Bedingung einer Demokratie. Die detaillierte Ausgestaltung der fünf Teilregime zur normativen Untersuchung der Republik Türkei wird im Folgenden vorgenommen. Dabei werden einzig die Merkmale der internen Einbettung berücksichtigt, da nur sie die tatsächliche Demokratieform untersuchen, während sich die externe Einbettung auf die Stabilität dieser bezieht.

2.1.3.1 Wahlen

Die Wahl als Verfahren hat in verschiedenen politischen Systemen jeweils andere Bedeutungen und Funktionen. So unterscheidet sich die Bedeutung und Funktion einer Wahl in einer Demokratie von den Funktionen in anderen Herrschaftssystemen. (vgl. Nohlen 2014: 23-25) In der Demokratie dient die Wahl nicht nur zur „Bestellung von Personen in Vertretungsorgane oder Führungspositionen“ (ebd.: 23) als Repräsentanten des Systems, denen Vertrauen entgegengebracht und Macht übertragen wird, sondern sie dient gleichermaßen zur Kontrolle der Regierenden, indem diese durch periodisch stattfindende Wahlen bestätigt oder abgelehnt werden. (vgl. Merkel 2010: 32; Nohlen 2014: 34) In liberal-demokratischen Systemen finden kompetitive Wahlen statt. (vgl. Linz/Stepan 1996: 3) Sie bilden „the distinctive feature of the democracy and the one which allows us to distinguish the democracy from other political methods“ (Verba/Nie/Kim 1978: 4). Bei diesen hat der Wähler die Auswahl zwischen mindestens zwei Angeboten und kann sich frei zwischen den Bewerbern entscheiden. (vgl. Nohlen 2014: 25; Nohlen 2000: 28) Des Weiteren werden die Wahlen des Volkes unter bestimmten Wahlrechtsgrundsätzen abgehalten. Diese werden mit den Adjektiven allgemein, gleich, geheim, direkt und frei beschrieben. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht besagt, dass grundsätzlich jeder Bürger, unabhängig seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Sprache, seines Einkommens und seines Berufs wählen darf und jede dieser abgegebenen Stimmen gleich gewichtet wird. (vgl. Nohlen 2014: 43 f.) Das geheime Wahlrecht legt fest, dass die Entscheidung des Wählers nicht für Dritte erkennbar ist und dieser sich nicht für seine Entscheidung in irgendeiner Art und Weise gegenüber anderen rechtfertigen muss. Unter dem direkten Wahlrecht ist zu verstehen, dass der Wähler die jeweiligen Mandatsträger in direkten, unmittelbaren Wahlen bestimmen kann, ohne die Zwischenschaltung von Delegierten oder Wahlmännern, wie beispielsweise in den USA. Nohlen begreift das freie Wahlrecht als Summe aller Wahlrechtsgrundsätze, da jeder die Freiheit hat zu wählen oder nicht. (vgl. ebd.: 45)

Tabelle 1: Bedeutung und Funktion von Wahlen

Quelle: Nohlen 2000: 28.

Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass auch die Wahlentscheidung des Stimmberechtigten nicht unter Zwang und Druck für eine bestimmte Partei oder eine bestimmte Person zustande kommen darf. Robert Dahl erweitert die soeben erläuterte Definition eines aktiven Wahlrechts mit dem bereits erwähnten passiven Wahlrecht, „the right to run for office“ (Dahl 1989: 221). Das passive Wahlrecht erlaubt dabei jedem Bürger des Staates selbst in ein repräsentatives Amt gewählt zu werden. Die Kriterien der demokratischen Wahl bestehen also aus einer periodischen kompetitiven Wahl, den Wahlrechtsgrundsätzen sowie dem aktiven und passiven Wahlrecht. Tabelle 1 fasst nochmals die Bedeutung und Funktion von Wahlen in verschiedenen Regimen zusammen.

2.1.3.2 Politische Partizipationsrechte

Merkel erklärt weiter das Zusammenspiel von Wahlen und politischen Partizipationsrechten:

„Die den Wahlen voraus- und über sie hinausgehenden politischen Partizipationsrechte vervollständigen die vertikale Demokratiedimension. Sie konstituieren die Arena der Öffentlichkeit als eine eigenständige politische Handlungssphäre, in der sich organisatorische und kommunikative Macht entfaltet.“ (Merkel 2010: 32)

In dieser Arena der Öffentlichkeit finden Meinungs- und Willensbildungsprozesse statt, welche die Wahl des Bürgers erst durch verschiedenartige Positionen ermöglichen. Der Möglichkeit wählen zu gehen kommt unter mehreren Partizipationsmöglichkeiten die größte Bedeutung zu, da es die einzige Form der Teilhabe am politischen Prozess für die ganze Bevölkerung ist, ohne sich direkt in Parteien, Verbänden oder Gewerkschaften zu engagieren. (vgl. Nohlen 2014: 29) Auch Dahl bezieht die Wahlen in seine Partizipationsauflistung mit ein. Er unterscheidet zwischen elected officials (die Wahl von Repräsentanten nach der Rechtmäßigkeit der Verfassung), free and fair elections (freie und faire Wahlen), inclusive suffrage (allgemeines Wahlrecht) und dem bekannten right to run for office (passives Wahlrecht). (vgl. Dahl 1989: 221) Des Weiteren listet er die folgenden drei Partizipationsmöglichkeiten einer liberalen Demokratie auf: freedom of expression (Meinungsfreiheit), alternative information (Informationsfreiheit) und associational autonomy (Organisationsfreiheit). Hans-Joachim Lauth wiederum fasst diese sieben Institutionen in die „Institution der demokratischen Wahl“[10], die „Institution der Öffentlichkeit“ und die „Institution der intermediären Organisation“ (Lauth 2004: 171) zusammen. Die Institution der intermediären Organisation (Organisationsfreiheit) trägt dazu bei, dass gesellschaftliche Interessen zunächst artikuliert, dann selektiert und am Ende gebündelt werden. Dabei ist zwischen zwei verschiedenen Typen der Organisation zu unterscheiden: den Parteien und den Verbänden. Parteien sind politische Akteure, welche versuchen mit ihren politischen Entscheidungen zu gestalten und politische Ämter zu erlangen.[11] Verbände wiederum versuchen ohne politische Macht politische Entscheidungen zu beeinflussen und gegebenenfalls Regierungshandeln zu kontrollieren.[12] (vgl. ebd.: 175 f.) Die Institution der Öffentlichkeit umfasst die Begriffe der Informations- und Meinungsfreiheit. Diese bilden eine demokratische Kommunikationssphäre, in welcher jeder Akteur Informationen zur „Informationsvermittlung für Einflussnahme und Kontrolle“ (ebd.) nutzen kann. Die Teilhabe an politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen in der Öffentlichkeit wird durch den Staat garantiert. Lauth fügt den drei bereits bestehenden Institutionen noch eine weitere hinzu, nämlich die der Gerichtsbarkeit. (vgl. ebd.: 172) Bereits getroffene politische Entscheidungen oder deren Implementierung können indirekt von einzelnen Bürgern oder durch eine Vereinigung von Bürgern (Parteien, Verbände, Vereine) per Gerichtsweg beeinflusst werden. Die richterliche Entscheidung ermöglicht somit eine gezielte Einflussnahme auf die Legislative sowie auf die Exekutive und untersagt, bestätigt oder veranlasst bestimmte Handlungen. (vgl. ebd.: 179 f.) Auf diese Art und Weise wird „die Kontrolle des Regierungshandelns und -entscheidens mittels des rechtsstaatlichen Gerichtsweges durch einzelne Bürger oder Organisationen“ (ebd.: 180) gewährleistet. Zusammenfassend muss der Staat also die Institutionen der intermediären Organisation, die Institution der Öffentlichkeit und die Institution der Gerichtsbarkeit gewährleisten, damit die Bevölkerung tatsächlich partizipieren, Einfluss nehmen und sich eine Zivilgesellschaft herausbilden kann. (vgl. Merkel 2010: 34)

2.1.3.3 Bürgerliche Freiheitsrechte