Die drei Frauen von P. - Paulo Emílio Salles Gomes - E-Book

Die drei Frauen von P. E-Book

Paulo Emílio Salles Gomes

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Beschreibung

Polydoro ist ein vermögender brasilianischer Geschäftsmann, ein homme à femmes und sympathischer Macho mit einer fatalen Neigung zur romantischen Illusion. Seine erotische Biographie wird beherrscht von drei Frauen – der schönen Helena, der kapriziösen Ermengarda und der jungfräulichen ›Sie‹ – und deren jeweiligem Geheimnis ... Die drei Liebesfälle von Salles Gomes in ihrer Mischung aus abgründiger Verrücktheit und subversiver Komik parodieren das Genre des erotischen Romans auf demselben hohen Niveau wie die skurrilen Liebesgeschichten von Philip Roth. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 210

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Paulo Emílio Salles Gomes

Die drei Frauen von P.

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Inés Koebel

FISCHER Digital

Inhalt

P I Zweimal mit HelenaP II Ermengarda mit HP III Zweimal SIEErstes HeftZweites Heft

P I Zweimal mit Helena

Ohne meine Arthritis wäre ich Helena niemals wieder begegnet. Ich weiß sehr wohl, wie wenig passend es ist, zu Beginn einer Geschichte aus der Jugend von Arthritis – der ihren und der meinen – zu sprechen. Aber ohne dieses Leiden wäre es nie dreißig Jahre später zu der Begegnung in Águas de São Pedro gekommen. Sie wohnte in Pacaembu und ich in Alto de Pinheiros, beide fuhren wir nur Taxi oder im eigenen Wagen, besuchten weder Nachtclubs noch Parties, verkehrten in unterschiedlichen Freundeskreisen und mieden das gesellschaftliche Parkett, so war es denn höchst unwahrscheinlich, daß sich unsere Wege kreuzten, was während drei Jahrzehnten auch nie geschah, als habe Gott mein inständiges Flehen, das ich zum Himmel gesandt hatte, erhört. Doch wie auch immer, nehmen wir einen Mann und eine Frau, beide in den Fünfzigern, arthritisch, aus São Paulo und nicht ganz mittellos, halten sie sich gewiß früher oder später zur gleichen Zeit in Aguas auf, einem Kurort, in dem die Rheumatiker aus Bourgeoisie und Mittelklasse in den zwei, drei größeren Hotels für gewöhnlich Quartier beziehen.

Ich hatte Helena zunächst nicht wiedererkannt, als ich sie sah. Sie saß neben Professor Alberto auf dem kleinen, von bunten Gipszwergen umstandenen Platz und genoß die Kühle. Ihn hingegen erkannte ich sofort, trotz seines ergrauten Haars und der modernen Brille, die er anstelle des Schildpattgestells trug, das seinerzeit auf seine imposante Nase drückte. Über Jahre hinweg war er mein Freund und Mentor gewesen. Seine umfassende Bildung und die Intelligenz, mit der er sein angesammeltes Wissen handhabte, hatten den Professor, als ich mir ein Urteil darüber bilden konnte, in meinen Augen zum ersten genialen Menschen gemacht, den mir das Leben bescherte. Dem ersten und einzigen, wie ich heute sagen kann, da ich in die Jahre komme und von dieser Spezies mehr erwarte als nur eine Vielfalt von Talenten. Keiner ließ mir je so viel Zuneigung zuteil werden wie der Professor. Er hielt mich für begabt und beeinflußte vom Gymnasium an meine Lektüre, indem er mir Bücher lieh und dies unvermindert weiter tat, als ich an der Universität, naiv wie ich war, versuchte, mein literarisches, kunsthistorisches und philosophisches Wissen zu vertiefen, das er mir so beharrlich eingeflößt hatte. Er nahm sich meiner Entwicklung in jeder Hinsicht an, begutachtete und billigte meine Freundinnen, die erste mehr oder minder professionelle Bettgenossin einbegriffen. Er verschaffte mir auch ein Stipendium für Europa; er, der nie gereist war, stellte eine detaillierte Reiseroute für mich zusammen und eine Liste mit Orten, die ich unbedingt aufsuchen mußte: die Abteilung auf dem Friedhof von Montparnasse, wo Baudelaire begraben liegt, die genaue Nummer des Hauses in der Rue Monsieur Le Prince, das Auguste Comte bewohnt hatte, und die Adresse der Vatikanischen Bibliothek in Mailand, in der sich weniger bekannte Zeichnungen Leonardo da Vincis befinden.

Für mich mit meinen zwanzig Jahren war der Professor mit seinen vierzig ein eingefleischter Junggeselle, und so war ich nicht wenig überrascht, als mich in Paris ein Brief erreichte, in dem er mir seine Hochzeit mitteilte. Während der zwei Jahre, die ich außer Landes gewesen war, hatten wir regelmäßig korrespondiert, doch mit der Zeit hatte ich in den Briefen meines Mentors, neben seinem nachlassenden Eifer, einen gebildeten Menschen aus mir zu machen, eine stetig wachsende Melancholie wahrgenommen. Ich führte diese veränderte Tonlage auf die Enttäuschung zurück, die ich ihm offensichtlich bereitete. Meine unbefangene Liebe zur Kultur wich mehr und mehr einem gezielten Interesse für die Politik, eine Disziplin, der er wenig abzugewinnen vermochte. Und schlimmer noch, ich fühlte mich zum Faschismus hingezogen, einer Bewegung, die der Professor verachtete, insbesondere nach dem Aufkommen des Integralismus und der gewaltsamen Etablierung des Estado Novo durch die brasilianischen Faschisten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte meine Rückkehr beschleunigt, und so erschien ich denn nicht ohne eine gewisse Besorgnis zu unserem ersten Wiedersehen in seinem neuen Haus in Pacaembu, das er nach seiner Heirat bezogen hatte. Ich war gespannt auf Helena, von der ich nichts wußte, außer ihrem Namen, zumal die Briefe des Professors nie Persönliches enthielten. Doch sie war nicht da und verbrachte einige Zeit in Campos de Jordao, wie er mir zum Willkommen mit einem breiten Lächeln erklärte, das ich nie vergaß. In den folgenden Wochen wich er kaum von meiner Seite. Ich war um einiges magerer aus Europa zurückgekehrt, was ihn stark beunruhigte, weshalb er auch darauf bestand, daß ich verschiedene Ärzte aufsuchte und mich unzähligen Labortests unterzog. Trotz meines ausgezeichneten Gesundheitszustands gehorchte ich ihm widerspruchslos: Ich hatte bemerkt, daß ihn wie so viele andere mit zunehmendem Alter eine panische Furcht vor Krankheiten ergriffen hatte und daß er nun diese Ängste auf mich übertrug. Meine Ungeduld ob der Langsamkeit der Ärzte, die es allzu genau nahmen, schwand, als ich sah, wie froh mein Freund über die negativen Befunde war. Im übrigen blieben auch die befürchteten Diskussionen aus. Fielen während unserer Gespräche, von mir provoziert, die Namen Hitler und Mussolini, schüttelte er den Kopf und wechselte das Thema. Doch eines Tages ertappte ich ihn, wie er gegenüber den Extremisten – so nannte man damals subversive Elemente – Toleranz bekundete. Er erklärte mir mit einem entwaffnenden Lächeln, daß ein echter Liberaler wie er in der Politik alles tolerieren müsse, sogar einen Faschisten, genauer gesagt einen einzigen: mich.

Drei Wochen nach meiner Rückkehr fuhr der Professor zu seiner Frau in die Sommerfrische und lud mich ein, ihnen dort für einige Tage Gesellschaft zu leisten. Ich erklärte mich sofort bereit, gemeinsam mit ihm zu reisen, falls er dies wünsche, doch die Idee mißfiel ihm. Statt dessen studierte er aufmerksam einen kleinen Kalender, wollte von mir wissen, welchen Tag wir hatten, wobei er seine Finger zur Hilfe nahm, um den exakten Zeitpunkt für meine Ankunft, in drei, vier Tagen, festzulegen. Soweit ich verstand, wollte er sichergehen, daß ich meinen bevorstehenden Geburtstag an seiner Seite verbrachte, also dankte ich ihm für seine Aufmerksamkeit. Er aber tat überrascht, als erinnerte er sich erst in diesem Augenblick an ein Datum, das er noch nie unbemerkt hatte verstreichen lassen.

Ich hatte keine Mühe, das alleinstehende, von Pinien umgebene Chalet in Umuarama ausfindig zu machen. Doch dauerte es eine Weile, bis ich in dem Mädchen, das mir die Tür öffnete, Helena erkannte: Ich hätte niemals vermutet, daß die Frau meines vierzigjährigen Freundes so jung sein könnte und vor allem so hübsch. Etwas Unvorhergesehenes war eingetreten. Auf einen dringlichen Anruf seiner Familie hin hatte der Professor noch am selben Morgen abreisen müssen, ohne mich rechtzeitig benachrichtigen zu können, aber in vier bis fünf Tagen würde er wieder zurück sein. Dies alles teilte mir Helena auf der Türschwelle stehend mit, hastig und ohne mich anzusehen. Ihre Schüchternheit war ansteckend. Ich antwortete verlegen, es sei nicht weiter schlimm, ich würde mich bei einer Tante in Capivari einquartieren und in einigen Tagen wiederkommen, um zu sehen, ob der Professor dann zurück sei. Ich hatte bereits die Hand ausgestreckt, um mich zu verabschieden, als ich ein leichtes Zittern auf ihren Lippen bemerkte, während sie mit kleinen Schritten zurück ins Haus wich. Als sie schließlich die Sprache wiederfand, verstand ich nicht recht, was sie sagte. Ihrem konfusen, hastigen Gestammel konnte ich nur entnehmen, daß sie ganz und gar nicht einverstanden war. Ich war überrascht und wußte nicht recht, wie ich mich verhalten sollte, bis Helena nach einer sichtlichen Anstrengung schließlich hervorbrachte, der Professor habe angeordnet, ich solle mich im Chalet häuslich niederlassen und dort auf seine Rückkehr warten. Worauf ich in eben solche Verlegenheit geriet wie sie. Ich war nicht gewillt, mich auf eine Situation einzulassen, die mir verfänglich erschien, aber Helena, die sich wieder gefaßt hatte, blieb beharrlich dabei, sie könne mich nicht gehen lassen. Sie schlug jetzt einen unerwartet bestimmten Ton an, wobei mich ihre großen grünen Augen nach wie vor mieden – das einzig unveränderte Merkmal in ihrem Verhalten, seit sie mir die Tür geöffnet hatte. Dem muß ich hinzufügen, daß Helena mich während meines gesamten Aufenthalts niemals wirklich ansah: Dies sollte zum ersten Mal dreißig Jahre später geschehen, in jenem kleinen Park mit den bunten Gipszwergen. Der Grund, weshalb ich die Einladung ins Chalet zunächst abgelehnt hatte, war die Verwirrung, in die mich ihr ausweichender Blick gestürzt hatte, aus den schönsten Augen, die mir je in meinem Leben begegnet waren, ein Blick, der sich hartnäckig auf einen Punkt rechts oder links von meinem Kopf richtete. Ich willigte erst ein zu bleiben, als sie erklärte, ich brächte sie durch meine Ablehnung in eine schwierige Lage gegenüber ihrem Mann, der darauf bestanden habe, daß ich hier auf ihn wartete. Widerstrebend stellte ich meinen Koffer in das Zimmer, das sie mir zuwies. Der kalte Nachmittag war sonnig, und ich nahm ihren Vorschlag, alleine einen Spaziergang zu machen, erleichtert an. Das Abendessen, ließ sie mich wissen, sei um sieben.

Während ich durch den nahen Wald schlenderte, mußte ich fortwährend an den sonderbaren Empfang denken. Abwechselnd kritisierte und entschuldigte ich Professor Alberto, der schließlich für die peinliche Situation verantwortlich war. Es war mir unmöglich, Helena als Frau einzuschätzen: Was hatte sie in ihrer Jugend und Schönheit an dem Professor finden können, einem zwar in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen, aber doch schon älteren Mann und zudem ohne jedes Vermögen. Es bot sich keine rechte Erklärung an, und diese Ungewißheit beunruhigte mich. Ebenso diese Augen, die mich nicht ansahen.

Als ich das kleine Speisezimmer betrat, erwartete mich Helena bereits. Sie hatte sich sorgfältig zurechtgemacht und die Haare hochgekämmt, ein tiefes Dekolleté, wie man es hin und wieder in amerikanischen Filmen sieht, brachte ihren langen Hals voll zur Geltung. Ihre festen, zarten Arme waren ebenfalls nackt. Ich sah, daß sie nicht nur schön, sondern auch ungewöhnlich anziehend war. Ein kleines Feuer knisterte im Kamin. Sie ging mehrere Male in die Küche, um die Suppenterrine zu bringen, die Platte mit dem Canard it l’orange und Flaschen französischen Weins. Als ich bemerkte, daß keine Angestellten im Haus waren und Helena alles allein besorgte, geriet ich erneut in Verlegenheit. Was mich jedoch nicht davon abhielt, mir während ihres Hin und Her das Kleid näher anzusehen, das ihren Hüften eng anlag, und festzustellen, wie sehr sich die Mode während meiner Abwesenheit verändert hatte.

Das Abendessen verlief in einer angenehmen Atmosphäre. Anfangs war mir die Hausfrau etwas verkrampft erschienen, bald jedoch entspannte sich ihr Gesichtsausdruck zusehends, vielleicht dank des ausgezeichneten Weins, dem sie ebenso zusprach wie ich. Als sie bei meinen Pariser Geschichten zum ersten Mal hell auflachte, war ich hingerissen. Die Reihe ebenmäßiger Zähne mit jenem winzigen Quentchen rosigen Zahnfleisches darüber machten sie noch reizvoller, als sie ohnehin war, und ich mußte, von einem plötzlichen Schwindel erfaßt, das Glas absetzen. Mit einem leichten Unbehagen kam ich wieder zu mir, und als ich mich bequemer auf dem Stuhl zurechtsetzen wollte, bemerkte ich, daß ich aufs höchste sexuell erregt war. Peinlich berührt begann ich über den Professor zu sprechen, darüber, was er mir bedeutete, was ich ihm alles verdankte und wie sehr ich ihn liebte und bewunderte. Helenas Mund, der sich bereits zu einem neuen Lachen angeschickt hatte, nahm, kaum kam ich auf ihren Mann zu sprechen, einen anderen Ausdruck an, er verzog sich zu einem matten, zustimmenden Lächeln, während sich ihr Blick von seinem imaginären Fixpunkt löste und sich der Weinflasche zuwandte, die sie ergriff, um die Gläser, ihres und meines, bis zum Rand zu füllen. Ich dachte für mich, daß diese Art, Wein wie Bier einzuschenken – fast bis zum Überlaufen –, bezeichnend war für die brasilianische Vorstellung von Gastfreundschaft, vertiefte aber diesen snobistischen Gedanken eines frisch gebackenen Europäers nicht weiter. Vielmehr wartete ich ungeduldig darauf, daß ihre Lippen erneut einen Schimmer rosigen Zahnfleisches zeigten. Um dies zu erreichen, vermied ich, den Professor weiter zu erwähnen, und wandte mich mit wachsender Übertreibung und Erfolg erneut meinen Reiseerlebnissen zu. Helena wiederholte mehrmals hüftschwingend ihren Parcours in die Küche. Und als es galt, ihre Karamelcreme zu kosten, empfand ich meine Erregung schon nicht mehr als störend. Im Gegenteil, sie war mir willkommen. Mit einem Rest klaren Verstandes sagte ich mir, daß ich nichts Unrechtes tat, zugleich aber spöttelte ich in meinem leicht angetrunkenen Zustand über den großen Liberalen, der alles tolerierte. Ich schickte mich an, Helena bei der Zubereitung des Kaffees zu helfen, aber sie lachte, lachte über meine Unbeholfenheit. In der Tat fühlte ich mich stehend weit unbeholfener als zuvor. Die Unterwäsche und die Hosen, die man 1940 trug, hatten eine Weite, die es weder erlaubte, einer Erektion freien Lauf zu lassen noch sie zu bändigen. Und jener Blick, der mein Gesicht mied und zu beiden Seiten meines Körpers abwärts glitt, lief jeden Augenblick Gefahr, an einer Ausbuchtung hängenzubleiben, die den Zauber dieses Augenblicks hätte zunichte machen können. Meine Bedenken waren jedoch nicht von Dauer, nicht, daß kein Anlaß mehr gewesen wäre, nein, ich gab mich nur einfach dem Wirbel von Gesten hin, Gelächter und Wein. Nach dem Kaffee brachte Helena neue Gläser und eine Flasche besonderen Champagners, wie ich ihn einmal bei einem Besuch in Reims gekostet hatte. Ich wußte nicht, daß diese Marke in Brasilien erhältlich war, denn selbst in Paris war sie nur schwer zu bekommen und zudem sehr teuer. Als Helena mich bat, eine zweite Flasche zu öffnen, und ich mich mühte, den geschwollenen Korken herauszuziehen, dachte ich, wie sehr sich die finanzielle Lage des Professors verbessert haben mußte. Helenas Augen, die mich nach wie vor mieden, hatten einen neuen Glanz angenommen. Vor allem dieser Glanz war es, bei dem mir der Gedanke an Wahnsinn durch den Kopf schoß, als sie – nach einem Augenblick des Schweigens und der Starre – entschlossen auf mich zukam und ihren Körper an den meinen drängte.

Das Zimmer, in das sie mich führte, war völlig dunkel. Und der Ort unserer Liebe sollte während der vier Tage und Nächte, die ich zusammen mit ihr im Chalet verbrachte, in diese Schwärze getaucht bleiben. Selbst wenn ich ihre Nähe bei Tageslicht suchte, glich unser Refugium einem Reich der Finsternis. In unserer grenzenlosen Lust brachten wir fast die gesamte Zeit meines Aufenthalts in Campos de Jordão in jenem Zimmer zu, von dem ich nicht einen Gegenstand, nicht ein Möbel, nicht ein Stück Tapete zu Gesicht bekam. Außerhalb des Zimmers war ich kaum mit Helena zusammen. Die festliche Toilette und das erlesene Bankett des ersten Abends wiederholten sich nicht. Sie bediente mich unauffällig gekleidet, ohne sich auch nur zu mir an den Tisch zu setzen. Die Mahlzeiten waren einfach, aber gehaltvoll: rosige Steaks statt Ente, und Krüge voller Orangensaft an Stelle von Wein. Sie verfügte rigoros über meine Zeit. Und wenn ich nicht das Dunkel mit ihr teilte oder bei Tisch saß, unternahm ich einsame Spaziergänge durch den Wald oder ruhte in meinem Zimmer, das sie nur betrat, um mir mit ausgezeichnetem Cognac verquirltes Eigelb zu bringen, wobei sie gestreng wie eine erprobte Krankenschwester darüber wachte, daß ich das Glas auch leerte. In der Tat stellte sich außerhalb der Stunden, in denen wir uns liebten, ein Gefühl bei mir ein, das dem eines Menschen glich, der nach einer schweren Erkrankung nunmehr erschöpft und zugleich euphorisch seiner Gesundung entgegensieht. Erschöpft ist das passende Wort. Nicht, daß Helena im eigentlichen Sinne unersättlich gewesen wäre, nein, sie bemühte sich nur hingebungsvoll, mich so schnell und so oft wie möglich zum Höhepunkt zu bringen. Mit ihrem Einverständnis gab ich schließlich, um länger ruhen zu können, auch meine ausgedehnten Waldspaziergänge auf.

In der ersten Nacht hatte ich nicht den Eindruck, daß sie irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte – die Pille gab es damals noch nicht –, und da ich fürchtete, sie sei unerfahren, sprach ich sie darauf an. Die Stimme, die aus dem Dunkel kam, klang spöttisch, als sie mir entgegnete, daß sie wisse, was sie tue und auf diesem Gebiet sicherlich aufgeklärter sei als ich. Im übrigen sprachen wir wenig, ob in oder außerhalb der Schwärze des breiten Ehebettes. Ich erinnere mich auch nicht, daß Helena mich jemals bei meinem Namen genannt hätte, was ich zu schätzen wußte, denn ich empfand ihn schon immer als lächerlich. Wir vermieden es, den Professor zu erwähnen, aber während der Ruhepausen erschien mir sein Gesicht im Halbschlaf. Die wenige Kraft, die mir noch blieb, verwandte ich darauf nachzudenken, über ihn, Helena, mich, uns. Unsere übermächtige Leidenschaft rechtfertigte alles, wir mußten dem Ehemann offen und ehrlich gegenübertreten.

Vier Tage waren vergangen. Der Lärm der Vögel, der in die anhaltende Nacht des Zimmers drang, kündete vom Tagesanbruch in der realen Welt. Der Augenblick war gekommen, Helena zu sagen, daß wir eine Entscheidung treffen mußten. Die Stimme, mit der sie mir antwortete, war nie zuvor so beruhigend sanft gewesen. Sie hatte bereits entschieden: Ich sollte noch am selben Morgen abreisen, denn der Professor würde nachmittags zurückkommen. Sie liebe mich nicht. Habe lediglich einer Laune nachgegeben, einem Verlangen, das nun gestillt sei. Sie bereue nichts, doch sei die Angelegenheit für sie hiermit erledigt. Sie habe ihren Mann noch niemals betrogen und beabsichtige auch nicht, dies noch einmal zu tun. Falls sie ihre Meinung ändern sollte, würde sie es mich wissen lassen. Ich aber solle auf keinen Fall versuchen, sie oder den Professor wiederzusehen. Ihm wolle sie sagen, ich hätte es an der nötigen Achtung ihr gegenüber fehlen lassen, und sie habe sich gezwungen gesehen, mich fortzuschicken; somit sei auch meine endgültige Trennung von ihnen beiden ausreichend gerechtfertigt. Ich solle nicht unnötig mit mir hadern, die Möglichkeiten lägen offen auf der Hand: ich könne wählen, ob mir weiterhin an Professor Albertos Wertschätzung gelegen sei oder ob ich einen Freund zerstören wolle. Wenn ich sofort aufstünde, bliebe mir genügend Zeit, mich zu rasieren, meinen Koffer zu packen, ein Glas Milch und ein paar Kekse zu mir zu nehmen und den Sieben-Uhr-Bus zu erreichen. Der Fahrschein mit Platzkarte sei in der Schublade des stummen Dieners in meinem Schlafzimmer. Ich fände die Milch im Kühlschrank und die Kekse im Wandschrank, in einer mit einem Papagei bemalten Blechdose. Sie werde nicht kommen, um sich von mir zu verabschieden. Alles Wesentliche sei bereits gesagt, sie bleibe im Zimmer, bis ich aus dem Haus sei. So lange hatte Helena noch nie gesprochen. Ich befolgte ihre Anweisungen aufs genaueste, einschließlich der Milch und der Kekse. Die ganze Reise über war ich wie betäubt, und erst als ich in São Paulo ankam, fiel mir ein, daß dies mein fünfundzwanzigster Geburtstag war.

 

In den wenigen Sekunden, die ich brauchte, um auf den alten Professor zuzugehen, während er sich von der Steinbank auf dem kleinen Platz mit den Zwergen erhob, durchlebte ich die Gefühle von dreißig Jahren. Anfangs war ich außerstande gewesen, meine Liebe zu Helena und die Scham, die ich dem Professor gegenüber empfand, voneinander zu trennen. Ich war ein durch und durch unglücklicher Mensch geworden, hatte jegliches Interesse verloren – an Hitlers Siegen, an meiner Arbeit, an Frauen, am Leben schlechthin. In der darauffolgenden Phase dachte ich entweder an sie oder an ihn. War die Reihe an Helena, überkam mich die unsinnige Hoffnung, es würde sie eines Tages wieder nach mir verlangen, immerhin hatte sie diese Möglichkeit am Morgen unseres Abschieds selbst erwähnt. Professor Alberto hingegen beflügelte meine Phantasie. Und ich bin davon überzeugt, daß er der eigentliche Grund war, weshalb ich schließlich begann, den Faschismus zu hassen. Ich versuchte mich als Kriegsfreiwilliger zu melden, sah mich als gefallenen Helden zu nationalem Ruhm gelangen mit meinem Bild in allen Zeitungen, damit er es erfuhr und mir verzieh. Die Zeit verging, und meine Empfindungen für Helena begannen unter dem Eindruck anderer Frauen abzukühlen. Doch während dieser dreißig Jahre war nie ein Gefühl der Scham, weder persönlicher noch politischer Art, dem gleichgekommen, was der Gedanke an den Professor in mir hervorrief. Selbst in dem Augenblick, als ich mich verbeugte, um seine Hand zu drücken, überzog diese Scham die tiefen Furchen in meinem Gesicht mit einer jugendlichen Röte, die ebenso intensiv war wie das purpurrote Barett des Zwerges zwischen den Rosensträuchern. Von nahem erst offenbarte sich mir die Zerstörung in den Gesichtszügen meines alten Lehrmeisters, sie war weit größer, als die siebzig Jahre erwarten ließen, die er meinen Berechnungen nach haben mußte. Ich hatte ihn nur deshalb aus einer Entfernung von mehreren Metern wiedererkannt, weil ich im Zwielicht des Platzes einzig seine Silhouette ausmachen konnte – mir so vertraut, da ich sie in den dreißig Jahren der Trennung täglich vor Augen gehabt hatte. Wäre er mir unerwartet bei hellem Tageslicht begegnet, ich hätte ihn nur mit Mühe erkannt. Während er meinen Namen nannte, machte er eine Geste, als wolle er mich Helena vorstellen, die ich nun erst erkannte. Anders als der Professor war sie besonders von weitem kaum zu erkennen: ein Schatten, zusammengeschrumpft und von Rheumatismus geplagt. Ihr Gesicht jedoch schien von nahem unvermindert glatt, ganz ähnlich dem von damals, das mit der Zeit in mir verblaßt war. Aus einem beiderseitigen Widerstreben, verstärkt noch durch die Arthritikern eigene Vorsicht, berührten sich unsere Hände kaum. Sie sah mich die ganze Zeit unverwandt ruhig und mit großen forschenden Augen an. Den herzlichen Gefühlsbezeigungen des Professors eingedenk unserer alten Freundschaft hingegen folgten bald merkliche Anzeichen von Unbehagen. Ich habe vergessen, worüber wir während dieser kurzen Begegnung sprachen, ausgenommen einiger die politische Situation betreffende Bemerkungen, die mich erstaunten. Einmal versicherte er sogar, wenn er das entsprechende Alter dazu hätte, würde er Banken und Kasernen überfallen wie … unter dem leichten Druck von Helenas kranker Hand auf seiner Schulter verstummte er. Als ich den alten Mann daraufhin aufmerksamer ansah, um in seinem Gesicht eine Erklärung für diesen seltsamen Scherz zu finden, entdeckte ich zu meinem Entsetzen einen Anflug von Wahnsinn in seinen Augen, der sich im Zittern seiner Lippen fortsetzte. Die Krise war rasch vorüber, schien den Professor aber völlig erschöpft zu haben, der Helena nach einigen mühevollen Atemzügen vorschlug zurückzukehren. Ich überquerte mit ihnen die Fußgängerbrücke der Avenida, die nach einem vergessenen Dichter benannt ist, um alsbald vor einem Hotel mit dem indianischen Namen Jerubiaçaba stehenzubleiben. Der Alte deutete auf eine Tafel, der ich entnahm, daß jerubiaçaba in der Sprache der Tupi-Indianer Treue bedeutete. Ich fühlte von neuem, wie mir das Blut in die Furchen schoß, während er sich mit der Herablassung des Gebildeten auf die Feststellung beschränkte, er traue den Tupi-Kenntnissen des Hotelverbandes ebensowenig wie dem Kirchenlatein eines Dorfpriesters. Er fügte noch hinzu, er sei ein eifriger Besucher der kleinen Kapelle von Aguas, in der ein betagter Pater hartnäckig daran festhielt, die Messe nach der alten Liturgie zu zelebrieren. Demnach hatte die Anspielung auf das Wort Treue also nicht mir gegolten, was mich erleichterte – jedoch nicht für lange. Zu meinem Schrecken erkannte ich, daß sich der Professor dieser ironischen Bemerkungen nur bediente, um Zeit zu gewinnen: Er beabsichtigte, verkündete er, mir etwas äußerst Wichtiges und Schwerwiegendes mitzuteilen. Ich wartete wie versteinert. Er überlegte eine Weile, sah vor sich auf den Boden. Begann dann so leise zu sprechen, daß ich, um ihn zu verstehen, mit meinem Gesicht das seine fast berühren mußte. Helena, die in einiger Entfernung stand, nutzte die Gelegenheit, sich mit einem leichten Kopfnicken von mir zu verabschieden. Die furchtbare Stunde der Wahrheit, auf die ich seit dreißig Jahren wartete, war gekommen. Helenas Weggehen indessen schien den Professor in höchste Verlegenheit zu bringen. Er suchte mit solch hartem Griff Halt an meinem Arm, daß ich für einen Augenblick dachte, er wolle mich angreifen. Dann beruhigte er sich unversehens, und seine Stimme wurde verständlicher. Ich nutzte die Verzögerung meiner Exekution, eine Strategie für mein Verhalten ihm gegenüber zu ersinnen. Ich wollte mir alles anhören, ohne ein Wort zu sagen, zum Schluß vor ihm auf die Knie sinken und ihm, vorausgesetzt er stieß mich nicht zurück, die Hand küssen.