Die Drückerkönigin - Michael W. Caden - E-Book

Die Drückerkönigin E-Book

Michael W. Caden

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Beschreibung

Eine junge Frau flüchtet aus der Hölle ihres Familien­verbundes, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gerät dabei in eine zerstörerische Maschinerie aus Erniedrigung und Gewalt. Auf ihrer Suche nach Wärme und Geborgenheit betritt sie eine menschenverachtende Welt aus Lügen, Intrigen und grenzenloser Gier nach Profit. Dabei wird sie zu einer fremdgeführten Schachfigur in einem mörderischen Spiel, das sie nicht durchschauen kann. Dieser verdammte Sommer im Jahr 1997, er sollte ihr Leben für immer verändern …

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© 2020 – e-book-Ausgabe RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-887-6 Lektorat: Gabriele Korn-Steinmetz Ausstattung: Stefanie Thur Titel: Marlen Seubert, Bad Marienberg

Michael W. Caden

Die Drückerkönigin

Roman

Dieses Buch beruht größtenteils auf wahren Begebenheiten. Teile der Handlung sind jedoch frei erfunden, dies betrifft insbesondere die Person von Gerhard Linke und seine mutmaßliche Verstrickung in das Tatgeschehen.

Rhein-Mosel-Verlag

Komm in mein Boot ein Sturm kommt auf / und es wird Nacht. Wo willst du hin? So ganz allein / treibst du davon. Wer hält deine Hand wenn es dich / nach unten zieht?

Rammstein

Vorwort

Es ist die Zeit, als zahlreiche Drückerkolonnen durch die Lande ziehen, junge Menschen, Verlierer und Gestrandete vom äußersten Rand der Gesellschaft, die in Kleinbussen und mit eingebläuten Sprüchen von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf gekarrt werden, um unbedarften, leichtgläubigen Menschen auf der Straße oder an der Wohnungstür Zeitungen und Hochglanzzeitschriften aufzuschwatzen, auf deren Titelseiten das vermeintlich pralle Leben abgebildet ist. Sie geben vor, Spenden für Tierheime oder Unterschriften für wissenschaftliche Meinungsumfragen zu sammeln, an deren Ende – was sie verschweigen – stets ein Abo-Vertrag steht. Zwei junge Frauen und ihr Team arbeiteten mit ausgefeilten verkaufspsychologischen Tricks, ohne jegliches Mitleid und stets auf der Jagd nach der schnellen Mark. Die Mitglieder dieser Kolonne wurden ausgebildet, um zu betrügen. Regina Leininger und Franziska Obermaier gehörten am Ende ihrer Karriere zur oberen Riege der Szene, stellten Kleidung, Regelwerk und Argumente und versprachen leicht verdientes Geld. Doch manch einer ihrer Mitarbeiter sah kaum etwas von seinem Lohn, vielen blieben nur Schulden und Angst. Nicht selten gab es den gefürchteten pinkfarbenen Baseballschläger der Anführerin zu spüren, und unerwünschte Stornozettel mussten vor der gesamten Gruppe heruntergewürgt werden. Das war die Welt von Gina und Franzi. Zwei unterschiedliche Leben haben sich zufällig getroffen. Doch dieser eine Sommer, er sollte alles verändern …

Prozesstag 1 Das Böse und ihr williger Schatten

November 1997. Landgericht Koblenz. Saal 128. Es ist der erste Prozesstag in der Mordsache Silvio Bukowski. Sechs Verhandlungstage hat das Gericht insgesamt angesetzt, um eine plausible Erklärung für die brutale Bluttat, die sich einige Monate zuvor auf einem kleinen, abgelegenen Bauernhof im unteren Westerwaldkreis ereignet hatte, zu finden. Beinahe pünktlich mit dem Neun-Uhr-Läuten von der nahen Liebfrauenkirche sind an diesem Mittwochmorgen zwei Dutzend martialisch bewaffnete Polizisten am Landgericht in der Koblenzer Karmeliterstraße angerückt, haben akribisch die Personalien der Zuhörer kontrolliert, sie im Sekundentakt einzeln und vor laufenden Kameras der TV-Sender durch die Sicherheitsschleuse am großen Schwurgerichtssaal gelotst und sie zusätzlich noch mit hochsensiblen Sensoren abgetastet.

»Für alle Fälle! Man weiß ja schließlich nie!«, meint ein Wachtmeister zu einem älteren, weißhaarigen Herrn, der sich mit einer abgewetzten Lederaktentasche und einem grünmelierten Regenschirm durch eine dichte Menschentraube den Weg in den Zuhörerraum bahnt, und fügt hinzu: »Das Drücker-Milieu ist schließlich brandgefährlich.«

Der alte Mann mit den großen Brillengläsern und der hellen beigefarbenen Blousonjacke ist einer der ersten Besucher an diesem Morgen gewesen, der sich ganz vorne in der Poleposition der langen Warteschlange vor dem Verhandlungssaal 128 im ersten Obergeschoss des Koblenzer Landgerichtes eingereiht hat. Der Linoleumboden ist frisch poliert; es riecht penetrant nach Bohnerwachs.

Draußen liegt ein dunkelgrauer und fast blätterloser Herbst in seinen allerletzten Zügen. Der Winter steht vor der Tür. An diesem Tag hat der Alte mit dem Dreitagebart, der in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte, seine täglich zelebrierte Morgentoilette durch eine Katzenwäsche ersetzt, um zeitig beim Prozessauftakt dabei zu sein. In seiner alten, verschlissenen Aktentasche befinden sich eine Thermoskanne mit extra stark aufgebrühtem Kaffee und zwei mit einer schmierigen Wurst belegte Butterstullen. In den Jahren nach seiner Pensionierung hat der frühere Finanzbeamte sich nach dem plötzlichen Tod seiner Frau in seiner Dreizimmerwohnung in der Koblenzer Altstadt mit dem Alleinsein und der Tristesse des Alltags arrangiert. Lediglich seine Besuche bei Gericht bescheren ihm für einige Stunden eine willkommene Abwechslung. Hobbys hat er keine, die hatte er nie. Das Abarbeiten von Aktenbergen aus Steueranträgen, das war seine Welt gewesen.

Der eher unauffällige Alte mit der etwas blassen Gesichtsfarbe hat sich auf einen längeren Prozesstag eingestellt. Seit einigen Jahren schon geht er bei öffentlichen Strafprozessen ein und aus. Selten verpasst er einen brisanten Fall am Landgericht. Zwei Jahre zuvor, 1996, hatte er in einer der hinteren Zuhörerreihen gesessen, als stern-TV-Moderator Günther Jauch in eine äußerst ungeliebte Rolle schlüpfen musste. Damals verhandelte das Gericht gegen den als »TV-Fälscher« bekannt gewordenen »Journalisten« Michael Born, den »Kujau des Fernsehens«, wie ihn die Gazetten bezeichneten, der verschiedene Privatsender mit eigens inszenierten Beiträgen beliefert hatte. Allein die Redaktion von »stern-TV« kaufte und sendete aus Borns Filmwerkstatt ein rundes Dutzend Beiträge. Die Republik verfolgte vor den Fernsehern in den heimischen Wohnzimmern verwundert Beiträge über verschwörerische Ku-Klux-Klan-Aktivitäten in der Eifel. Brutale Katzenjäger wurden gehetzt oder man stieg mit vermeintlichen Heroinabhängigen hinab in die Kloaken der Frankfurter Drogenszene. Was zunächst niemand ahnte: Die vermeintlich hoch investigativen Reportagen waren reine Fantasieprodukte, an ihnen stimmte so gut wie kaum ein Detail, es waren allesamt Hirngespinste eines bis dahin wenig erfolgreichen Journalisten. Unter den weißen Kapuzen des Ku-Klux-Klans steckten zum Teil Laienschauspieler aus Borns Bekanntenkreis. Seine Mutter hatte die Kleidung für den furchterregenden Geheimbund zu Hause in der Stube genäht, in dem guten Glauben, ihr Michi brauche sie für die Theateraufführung einer Laienspielgruppe. Für die Wachtmeister ist der Alte einer der zahllosen Berufszuhörer, die bei den großen und spektakulären Prozessen wie kleine Heuschreckenschwärme, Voyeuren gleich, in die Gerichtssäle einfallen. Die Justizbeamten schenken ihnen kaum Beachtung, den Alten kennen sie lediglich mit Vornamen, Heinrich heißt er.

Heinrich ist Anfang siebzig und redet nie allzu viel. Um seine Person macht er kaum Aufhebens. Heinrich hört lieber zu, und er beobachtet alles akribisch genau. Das hat er schon sein ganzes Leben getan. An diesem Morgen konnte er sich hinter einer Meute Journalisten ganz vorne im Zuhörerraum einen Platz ergattern. Hier sitzt er gerne. Irgendwie fühlt er sich dort in unmittelbarer Nähe der Pressebank unter seinesgleichen. Der Mann mit dem sauber gezogenen Mittelscheitel und der beinahe pergamentartigen Gesichtshaut mag es, wie die Reporter an den Worten der Angeklagten kleben. Er liebt es geradezu, wie sie begierig alles aufsaugen – jedes Wort, das fällt, jede noch so unauffällige Geste, kaum etwas bleibt in den späteren Beiträgen unerwähnt. Schon ein leiser Seufzer hat das Zeug zur Mega-Schlagzeile. Und jeder Prozesstag kann neue Details der menschlichen Verrohung und Gewalt zutage fördern. Darin liegt für ihn die Spannung.

In diesem Moment betreten zwei junge Frauen den Verhandlungssaal durch einen Nebeneingang, der den Angeklagten vorbehalten ist. Sie sind in Begleitung von mehreren Justizbeamten, während augenblicklich ein grelles Blitzlichtgewitter über sie hereinbricht, flankiert von lautem Getuschel in den Zuhörerreihen. Die Pressebank ist dichtbesetzt mit Journalisten. Kameras surren. Regina Leininger, in der Szene nur kurz Gina genannt, schreitet in Handschellen vorneweg, die Kapuze ihres schwarzen T-Shirts tief ins Gesicht gezogen, wie ein Boxer, der den Ring betritt: aufrecht, die Beine schüttelnd. Sie wirkt taff. Doch sie ist angeschlagen. Es wird ihr letzter Kampf sein. Und eigentlich hat sie ihn schon verloren. Das weiß sie nur zu genau. Ihr Gesicht ist vom Krebs gezeichnet, das Endstadium der Krankheit sichtbar nahe. Die Blitze, die Kameras, die Reporter – sie nimmt kaum Notiz davon. Für die gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alte Frau ist dieser Prozess ein lästiges Übel. Noch eine letzte Runde, die ein paar Verhandlungstage anhält. Und bloß nicht zu Boden gehen, sich abducken und den juristischen Schlägen, die sie in diesem Strafverfahren über kurz oder lang vernichten könnten, ausweichen – ausweichen, so lange noch die Zeit dafür vorhanden ist. Eigentlich will sie nur noch eins: In Würde aus dem Ring, der Leben heißt, abtreten.

Dahinter schlängelt sich in drei, vier Schritten Entfernung Franziska Obermaier durch die schmale Seitentür in den Verhandlungssaal. Sie ist Anfang zwanzig, eine leicht pummelige Frau mit einem extremen Kurzhaarschnitt. Auch sie hat man fixiert, auch sie trägt Handfesseln. Ihre von Natur aus dunkelblonden Haare hat sie in der Untersuchungshaft gothic-schwarz gefärbt. Die vielen Blitzlichter nehmen der jungen Frau mit dem runden Waschbär-Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung. Vor dem Tisch, an dem die Angeklagten mit ihren Verteidigern Platz nehmen, stößt sie an eine Stufe, sie strauchelt, kann sich aber sofort wieder fangen.

»Das Böse in Person«, wie eine überregionale Zeitung Gina Leininger in dicken Lettern titulierte, sitzt indes fahl, abgemagert und mit starren Gesichtszügen auf der Anklagebank, einem Kaninchen gleich, das ahnt, dass es über kurz oder lang von der Schlange den tödlichen Biss erhalten wird. Diese Schlange, die Giftnatter, wie sie sie jetzt nennt, das ist ihre ehemalige Kollegin und Freundin Franzi Obermaier. »Sie war wie ein Schatten, der mir folgte, solange die Sonne schien«, zitierte sie ein Reporter der Bild-Zeitung.

Beinahe regungslos hockt die einstige Drückerchefin zwischen ihren beiden Verteidigern, schutzsuchend wie ein Kind vor den Dämonen der Nacht. Dort fühlt sie sich abgeschirmt.

Einer ihrer Anwälte erzählt einem Kollegen beiläufig von seinem Seychellenurlaub, dass die Mädchen, die dort am Straßenrand Passionsfrüchte oder Avocados verkaufen, hübscher seien, als so manches hoch dotierte europäische arrogante Laufstegmodell. Und sie seien leicht ins Bett zu bekommen, versichert er dem Anwaltskollegen in der schwarzen Robe, der die Arme vor der Brust verschränkt hat und begierig lauscht. Beide haben die junge Frau neben sich in der Anklagebank vollkommen verdrängt. Sie scheint in diesem Augenblick keine Rolle zu spielen.

Während der U-Haft ist das einstige Schwarz aus Ginas Haaren beinahe verschwunden, es hat sich ausgewachsen. Sie starrt auf ihre Hände. Kein einziges Mal wird sie zu der Frau mit dem Waschbär-Gesicht blicken, die jetzt vom Nachbartisch mit leicht gesenktem Kopf herüberschaut. »Das kleine Dreckstück kann mir gestohlen bleiben«, hatte sie sich in einem Interview verbittert einem Reporter gegenüber geäußert. Für Gina, die seit der Untersuchungshaft um Jahre gealtert zu sein scheint, ist Franzi »tote Materie«. Erledigt. Abgeschrieben. Biomüll. Nicht mehr unter den Lebenden. Die einstige enge Freundschaft von Gina und Franzi, sie ist Geschichte.

Franzi Obermaier und Gina Leininger gingen einen Sommer lang zusammen auf Abonnenten-Jagd, schwatzten unbedarften Leuten alle erdenklichen Hochglanzzeitschriften auf, indem sie ihnen die haarsträubensten Märchen auftischten. Gina war die ungekrönte Königin in der Szene, Franzi ihre rechte Hand, ihre »kleine Abo-Kröte«, wie sie die Einundzwanzigjährige gerne scherzhaft nannte. In ihr schlummerte ein Riesentalent, wenn es darum ging, den Kunden ein schnelles Abonnement aufzuschwatzen. Franzi machte mit Abstand die meisten Scheine und brachte Ginas Kolonne finanziell auf Vordermann. Scheine waren ihr Kapital. Wie man am Geschicktesten an sie rankommt, hatte sie von der Pike auf gelernt. Durch Scheine ließen sich Träume erfüllen. Franzi und Gina waren unzertrennliche Freundinnen, für kurze Zeit teilten sie miteinander ihr Leben. Und sie bestraften gemeinsam die Erfolglosen, wenn sie nicht lieferten, was von ihnen erwartet wurde. Doch das ist jetzt Vergangenheit.

»Erheben Sie sich bitte!«

Mit bestimmendem Tonfall fordert der älteste der vier diensthabenden Wachtmeister die Zuhörer auf, von ihren Plätzen aufzustehen, während die drei Berufs- und zwei Laienrichter des Schwurgerichts durch einen hinteren Eingang den Gerichtssaal betreten. Ähnlich einer Sonntagsprozession steuern sie den langen Tisch an, der leicht erhöht am Kopfende des großen Schwurgerichtssaales platziert ist. Dort verharren sie für einen kurzen Augenblick hinter ihren Stühlen.

Der Vorsitzende lässt seinen Blick durch den Saal schweifen. Auch wenn es nur ein flüchtiges Abtasten mit den Augen ist, so hat er sich dennoch in der Kürze der Zeit mit seiner ganzen beruflichen Routine einen Überblick über die Prozessbeteiligten und das Publikum in seinem Verhandlungssaal verschafft.

»Nehmen Sie bitte Platz«, werden die Anwesenden sodann aufgefordert. Auch die drei Berufs- und zwei Laienrichter nehmen jeweils ihre Sitzposition an dem lang gezogenen Tisch ein.

Der vorsitzende Richter Hans-Helmut Kirchhoff, ein Jurist mit Doktortitel, ist ein streng dreinblickender Herr mit leicht gekräuseltem grauen Haupthaar, der kurz vor seiner Pensionierung steht. Staatsanwaltschaft und Verteidiger schätzen vor allem seine faire Verhandlungsführung, die vom unerschütterlichen Glauben getragen wird, dass sich das ewig Böse in seinem Landgerichtsbezirk mit den Mitteln der Strafprozessordnung und des Strafrechts hinreichend bekämpfen lässt. Dieser Glaube gibt ihm einen sichtbaren Halt. Und den wird er gebrauchen können. Die Tatortfotos, die in einer seiner roten Gerichtsakten vor ihm auf dem Richtertisch liegen, sprechen ihre eigene Sprache, die Szenen, die auf dem Hochglanzpapier festgehalten sind, sind roh und brutal.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Es kommt zur Verhandlung die Mordsache Silvio Bukowski. Erschienen für die Anklage ist Staatsanwalt Wotan Müller-Ley. Für die Angeklagte Franziska Obermaier hat Rechtsanwalt Eugen Seligmann das Mandat übernommen. Die Mitangeklagte Regina Leininger wird durch ihre Verteidiger, die Rechtsanwälte Dr. Heiko Flemming und Harry Bartz vertreten. Für das Gericht sind erschienen als Vorsitzender Dr. Hans-Helmut Kirchhoff sowie die hauptamtlichen Beisitzer Hans-Rudolf Straubing und Dr. Klaus-Dieter Eschenauer sowie die Schöffen Eugen Schwarzenberg und Elisabeth Maria Tischbein. Wir haben für heute zunächst die Anhörung der Angeklagten Franziska Obermaier zu ihren persönlichen Verhältnissen auf die Tagesordnung gesetzt. Ist jemand dagegen? Können wir so verfahren?«

Kirchhoff blickt in die Runde. Keiner der anderen Prozessbeteiligten hat einen Einwand.

»Nein? Das ist augenscheinlich nicht der Fall. Dann, Herr Staatsanwalt, möchte ich Sie bitten, die Anklageschrift zu verlesen.«

Wotan Müller-Ley erhebt sich von seinem Stuhl. Vor sich auf dem Tisch hat er die Akte mit den juristisch umschriebenen Tatvorwürfen ausgebreitet. Mit klarer, deutlicher Stimme verliest er den Inhalt der Anklage.

»Die hier anwesende Franziska Obermaier wird angeklagt, in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1997 auf dem Hubertushof bei Montabaur den Kolonnenführer Silvio Bukowski aus niederen Beweggründen und auf heimtückische Art und Weise getötet zu haben, wobei die hier ebenfalls anwesende Regina Leininger sie anstiftete und ihr gleichzeitig Beihilfe leistete. Nachdem die Angeklagte Regina Leininger ihre Kollegin und damalige Freundin Franziska Obermaier telefonisch zum Mord an Silvio Bukowski aufgefordert hatte, fuhr diese zu dem besagten Hof bei Montabaur, drang in die Wohnräume von Herrn Bukowski ein und feuerte willkürlich mehrere Schüsse auf das Opfer ab, wobei sie dessen Arg- und Wehrlosigkeit zur Ausübung der Tat ausnutzte. Die Angeklagte Franziska Obermaier hat sich somit gemäß Paragraf 211 StGB strafbar gemacht, ebenso wie die Mitangeklagte Regina Leininger, wobei für sie zusätzlich die Paragrafen 26 und 27 Strafgesetzbuch Anwendung finden.«

Nachdem der Staatsanwalt die letzten Zeilen der Anklageschrift verlesen hat, nimmt er wieder Platz. Richter Kirchhoff schaut flüchtig zu den beiden angeklagten Frauen und öffnet den obersten Ordner, der auf einem Stapel von Akten vor ihm auf dem Tisch liegt. Dann wendet er sich Franziska Obermaier zu.

»Ihr Anwalt hat Sie sicherlich darüber belehrt, dass Sie als Angeklagte hier keine Angaben machen müssen?«

Sie nickt.

»Möchten Sie dennoch aussagen?«

»Ja, das möchte ich«, antwortet sie leise.

»Gut! Sie heißen Franziska Obermaier, zuletzt wohnhaft in Selters im Westerwald. Und Sie sind heute wie alt, Frau Obermaier?«

»Einundzwanzig … Ich bin einundzwanzig Jahre alt«, stammelt die junge Angeklagte und kann ihre Nervosität kaum verbergen.

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein!«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Gastronomiefachfrau.«

»Frau Obermaier, erzählen Sie uns doch, damit sich das Gericht ein Bild über Ihre Person machen kann, bitte etwas über Ihren Werdegang – Schule, Ausbildung, Familienleben und so weiter«, fordert der Vorsitzende die junge Frau auf.

Franziska Obermaier schiebt das Mikrofon, das vor ihr wie ein Pilz emporragt, näher an sich heran.

»Also … geboren … geboren wurde ich in Ulm …«

In den Tagen, als das zweite Kind von Gudrun Obermaier in einem Ulmer Krankenhaus das Licht der Welt erblickt, liegt dichter Schnee über der Schwäbischen Alb. Dicke Flocken haben die Stadt und das Umland mit einem weißen Tuch eingehüllt. Als über Nacht Tauwetter einsetzt, treten ansonsten eher harmlose Flüsse und Bäche mit aller Macht in nur wenigen Stunden über die Ufer. Das Wasser sucht sich seinen Weg durch die Stadt und reißt alles mit, was den Fluten keinen Widerstand leisten kann – Autos, Straßenlaternen, Wellblechgaragen und anderes mehr. Unaufhaltsam fluten die Wassermassen innerhalb von nur wenigen Minuten auch einen Großteil des Hospitals. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk sind mit vereinten Kräften im Dauereinsatz, um das nasse Element, das sich durch die Luftschächte und über das Grundwasser seinen Weg gebahnt hat, aus den Kellern und aus der Tiefgarage zu pumpen. Neben der Notfallaufnahme hat das Wasser auch die Technik-Zentrale des Krankenhauses lahmgelegt. Als Folge davon bricht gegen Mittag im Neubau-Trakt die reguläre Stromversorgung zusammen. Schließlich müssen die OP-Säle und die Intensivstation evakuiert werden. Sanitäter der Bundeswehr helfen mit Containerelementen und bauen in kürzester Zeit mehrere Behelfsoperationssäle auf. Im Kreißsaal des Krankenhauses, der sich in einem Nebentrakt des Krankenhauses auf einer Anhöhe befindet, kann die Arbeit uneingeschränkt fortgesetzt werden. Während die Wassermassen mit einer Wucht der Zerstörung weiter zu Tal stürzen, wird hier neues Leben in die Welt getragen.

Von alledem weiß Gudrun Obermaier nichts, als sie an diesem Tag ihrem zweiten Kind, einem kleinen Mädchen, das Leben schenkt. Doch für sie ist die Geburt kein Grund zur Freude. Im Gegenteil: Eigentlich hat sie das Kind nie gewollt. Ebenso wie ihr Erstgeborener, Gerry, der acht Jahre zuvor das Licht Welt erblickte, ist das Neugeborene das unerwünschte Resultat eines One-Night-Stands, gezeugt in einer modrigen Sozialwohnung nach einem Alkoholexzess mit einem Zecher, den sie abends in einer Spelunke kennengelernt hatte. Angaben zur Vaterschaft konnte sie den Behörden gegenüber keine machen – Name, Ort und Zeitpunkt der Zeugung waren ihr im Rausch entfallen.

Noch während der Schwangerschaft schwor Gudrun, das Ding in ihrem Bauch nach seiner Geburt in der Badewanne zu ertränken. Doch dann beschlossen sie und ihr Freund Lothar, der sich für den leiblichen Vater des Kindes hielt, in bierseliger Laune, dass ihr kleines Mädchen einen ganz besonderen Namen tragen sollte: Franziska, benannt nach Franziska van Almsick. So wie ihr großes Idol sollte Franziska in jungen Jahren eine erfolgreiche Schwimmerin werden. Doch anders als ihr glanzvolles Vorbild, das bereits im zarten Alter von sieben Jahren ins Ost-Berliner Schwimm-Trainingszentrum aufgenommen wurde und mit elf bei der Kinder- und Jugendspartakiade neun Goldmedaillen mit nach Hause brachte, blieben ihrer Tochter im örtlichen Schwimmverein schon auf Kreisebene die großen Erfolge versagt, eine herbe Enttäuschung, vor allem für Mutter Gudrun. Natürlich wird das zweite Kind der Obermaiers, nachdem feststeht, dass sie als Schwimmerin niemals ein Siegertreppchen betreten wird, zu keiner Zeit mehr Franziska gerufen. Zu Hause heißt sie nur Fossy-Bär – weil ihr Gesicht rund ist und weil sie, nachdem sie den Sport an den Nagel gehängt hat, an Gewicht zulegt.

Die Jahre auf der Schwäbischen Alb verstreichen. Nachdem Gudrun und Lothar geheiratet haben, arbeitet er als Lkw-Fahrer. Lothar hat den Nachnamen seiner Frau angenommen. Obermaier, so meinte er, klinge einfach besser als Fickeis, sein eigentlicher Name. Die Familie bezieht eine Wohnung in einem kleinen Ort nahe Ulm an einer viel befahrenen Bundesstraße. Lothar und Gudrun Obermaier wollen sich ihren, wie sie glauben, verdienten Platz im Wohlstandsdeutschland erkämpfen. Doch Geld ist rar in diesen Tagen bei den Obermaiers. Das meiste davon bekommt der Kneipenwirt im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf.

Nach Feierabend fallen Lothar und seine Gudi, wie sie auch unter ihren Zechbrüdern gerne genannt wird, im Gasthaus Zum scharfen Eck ein. Während sich das Paar an einem kleinen Tisch mit einem großen HB-Aschenbecher aus den frühen 1970er-Jahren in der Mitte, unweit vom Tresen entfernt, mit seinen fast allabendlichen Saufgelagen als treue Kunden einen Stammplatz erarbeitet, sind die Kinder zu Hause auf sich alleine gestellt, werden vor dem Fernseher geparkt oder früh ins Bett geschickt. In der Kneipe philosophieren Lothar und Gudi oft stundenlang bei Pils und Schnaps mit Manny, dem Wirt, und den anderen Gästen über Gott und die Welt. Sie jammern darüber, wie schlecht die Arbeitsmarktlage doch geworden ist und dass es keine echten Volksvertreter mehr gibt, sondern nur noch selbstverliebte, in Retorten gezüchtete Möchtegern-Politiker, die doch nur auf ihr eigenes Wohl aus seien. Die Ausländer, die bekämen alles in den Arsch geblasen, während das alte Mütterchen, das Deutschland nach dem Krieg als Trümmerfrau wiederaufgebaut habe, mit seinen 500 D-Mark Rente im Monat nicht über die Runden käme. Aufrechte Deutsche wie er könnten es heutzutage zu nichts mehr bringen, tönt Lothar. Und überhaupt sei es an der Zeit, die vielen Sozialschmarotzer im Land zur Arbeit zu bringen.

Wenn Lothar und Gudi ihre Levels erreicht haben, kutschiert Manny sie in seinem alten Mercedes-Benz Diesel nach Hause. Er macht dies nicht, weil er ein Freund der Menschen ist, für ihn ist dies auch keine Dienstleistung, sondern Nebenerwerb. Manny, der Kneipier, der gegenüber seinen Gästen stets den verständnisvollen Kumpel mimt, geht dann auf Beutezug. Im Licht der Autoscheinwerfer hält er zu nächtlicher Stunde in den Gärten der Wohnanlagen und Häusern Ausschau nach brauchbarer Deko. Schneewittchen, der Förster mit den Rehen oder die Sieben Zwerge, stumme Zeugen deutscher Vorgartenidylle, sie alle lässt Manny später bei der Rückfahrt regelmäßig im Kofferraum seiner betagten Statuskarosse verschwinden, um sie in den Wochen und Monaten danach auf den Flohmärkten außerhalb der Region für gutes Geld zu verticken. Von der Kneipe allein kann er schon lange nicht mehr leben. Oft hocken die Obermaiers bis nach Mitternacht in Mannys Bierstube. Außer, wenn Lothar Spät- oder Nachtschicht hat, dann bleibt auch Gudrun zu Hause.

Einmal im Jahr geht es gemeinsam in den Urlaub, dann machen Lothar und seine Gudi auf Familie. Das Ziel ist immer dasselbe: die Halbinsel Walcheren in Holland. Und der Ablauf erfolgt nach bewährtem Muster: Packen am Vortag, Wecken nachts um zwei Uhr, einer nach dem anderen wird durchs Bad geschleust, anziehen, danach schnell eine Tasse Kaffee, koffeinfrei – wegen der Kinder. Gudi schmiert die Stullen, gegessen wird unterwegs auf einer der stark frequentierten Raststätten entlang der Autobahn. Dann lädt Lothar Frau und Kinder in seinen alten klapprigen VW Passat mit mehr als 180.000 gelaufenen Kilometern, etlichen Schweißnähten und abgefahrenen Reifen und fährt los. Um 3.15 Uhr. Nicht früher. Und nicht später.

Nach sieben Stunden Autobahn erreichen die Obermaiers Middelburg, die Stadt im Herzen Zeelands. Kaum angekommen, jagt Lothar die Familie, wie jedes Jahr, die 207 Stufen des Langen Jan hinauf.

»Natürlich«, meint Vater Obermaier verständnisvoll, »der Aufstieg im Turm der Abtei ist zwar anstrengend, doch ohne Fleiß kein Preis.« So sei das nun einmal im Leben. Schließlich erwarte die Familie hoch oben in mehr als 90 Metern Höhe eine grandiose Sicht über die Region.

An klaren Tagen kann man vom Abteiturm bis zu den seeländischen Inseln blicken. Noch wissen die Obermaiers nicht, dass dies ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein wird.

An diesem Morgen ist der Himmel mit grauen, schweren Wolken verhangen. Schon die Häuserdächer der Stadt sind fürs Auge kaum auszumachen. Der Ausblick ist trist, Gudi und die Kinder möchten so schnell wie möglich wieder nach unten und drängen zur Tür.

Nach dem Abstieg fällt Lothar mit der Familie bei McDonald’s am Rande der Stadt ein und spendiert jedem zur Krönung des Tages ein Menü. Danach steht ein Besuch der Modellanlage Miniatuur Walcheren auf dem Urlaubsprogramm. Dort schleust Lothar die Familie innerhalb einer Stunde an hüfthohen Nachbildungen von Städten und Dörfern in der Region vorbei.

»Im Miniaturland kann man in wenigen Minuten die ganze Halbinsel bereisen«, erklärt Vater Obermaier und mimt den Tourismusexperten. Sicher, fügt er wohlwollend hinzu, das alles sei zwar etwas kleiner als in natura, aber immerhin könne man sämtliche Attraktionen auf einmal bestaunen, ohne dabei lange Wege zurücklegen zu müssen und man bewege sich zudem auch noch im zeitlichen Rahmen.

Am Nachmittag nehmen Lothar, Gudrun, Gerry und Franzi dann den breiten Sandstrand von Domburg, einen Strand, der seit Jahren mit der internationalen blauen Flagge ausgezeichnet wird, für sich in Beschlag. Für Lothar bietet der Strand alles, was man für einen gepflegten Kurzurlaub mit Badevergnügen und Spielspaß braucht. »Wichtig ist«, sagt er, »dass es einen Bademeister gibt und dass die Rettungsbrigaden über die Strandgäste wachen.« Wichtig sei aber auch, dass die Fahnen und Schilder mit den Badeanweisungen beachtet werden. »Wenn jeder nur das tut, wonach ihm gerade der Sinn steht, versinkt auch solch ein Strand schnell im Chaos«, prophezeit Lothar. Er hat sogar einen Fußball dabei und albert mit den Kindern im Sand herum. Lothar ist in diesen Tagen wie ausgewechselt. Auf der Rückfahrt wird das Erlebte im Auto noch einmal lebhaft diskutiert. Selbst als die Kinder schon eingeschlafen sind, schwärmt Gudi noch lange vom Sandstrand bei Domburg, dem kicherhaften Geschrei der Möwen und vom unaufhörlichen Rauschen der Brandungswellen.

Am späten Abend ist Lothar mit Frau und Kindern wieder zurück bei seinem geliebten Lastwagen. Wenn sich Lothar in seinen Volvo-Laster schwingt, betritt er seine eigene Welt, eine Welt aus Funkverkehr, Kollegengetratsche und zahllosen Straßenkilometern. Eine Woche nach diesem letzten Hollandurlaub klagt Lothar abends plötzlich über starke Schmerzen in der Brust. Er solle schleunigst zum Arzt gehen, geht Gudi ihn an. »Ach, halb so wild. Das wird schon wieder, schließlich bin ich ja nicht aus Zucker«, meint er und startet den Laster.

Lothar stirbt nachts neben seinem Lkw auf einem Rastplatz an der viel befahrenen A7 in Nähe der Abfahrt Vöhringen an einem Herzinfarkt. Der Notarzt wird per Funk von Kollegen alarmiert. Doch für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Während die Fahrzeuge wie an Schnüren gezogen durch die Nacht nach Norden und Süden rauschen, stirbt Lothar Obermaier einen einsamen, aber schnellen Tod. Kurz vor seiner Beerdigung erhält Gudrun Obermaier ein Beileidsschreiben des Wohnungseigentümers – und einige Wochen später die Kündigung.

Gudi fällt in ein tiefes Loch. Leidet an Depressionen. Über Monate hinweg ertränkt sie ihren Kummer im Alkohol. Noch kann sie sich nicht vorstellen, was auf sie zukommen wird, denn mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes ist der Haupternährer der Familie quasi über Nacht weggebrochen. Zu diesem Zeitpunkt ist Gerry siebzehn und Franzi neun Jahre alt. Als das Jugendamt droht, ihr die Kinder wegzunehmen, verschwindet die kleine Familie aus Süddeutschland. Gudrun Obermaier zieht mit ihren beiden Kindern an den Rhein, in die Vorstadt von Koblenz. Bald hat sie Arbeit in einer Gebäudereinigungsfirma gefunden, ein Knochenjob, aber immerhin ein Job. Franzi drückt die Schulbank, schwänzt aber häufig den Unterricht. Als Gudi darüber durch den Schulrektor informiert wird, ist sie außer sich, braust ihre Tochter zur Strafe minutenlang mit kaltem Wasser unter der Dusche ab. »Damit Fossy ein für alle Mal begreift, was Zucht und Ordnung bedeuten«, wie sie sagt. Überhaupt ist Gudrun Obermaier nicht sonderlich zimperlich, wenn es darum geht, Verfehlungen ihrer Tochter zu sanktionieren. Im Winter muss Franzi einmal eineinhalb Stunden im Pyjama in Eiseskälte auf dem Balkon ausharren, nur weil sie bei einer Folge der Lindenstraße, als Mutter Beimer gerade mit ihrem Mann die aknebehafteten Pubertätsprobleme ihres Sohnes »Klausi« mit fürsorglicher Leidenschaft diskutiert, ungefragt dazwischen gequatscht hatte. Als sie sieben oder acht Jahre alt ist und zu spät von der Schule nach Hause kommt, weil sie mit zwei Freundinnen noch im Eiscafé gesessen hatte, hält Gudrun Obermaier ihr minutenlang eine Strafpredigt und sperrt sie für den Rest des Tages in die Besenkammer ein. Bevor Gudi das Licht ausknipst, fallen Franzis Blicke in eine Ecke auf Mutters Ausgehschuhe, silberfarben und mit viel Geglitzer. Schuhe, die sie immer dann anzieht, wenn sie am Wochenende zur langen Diskonacht ausrückt, um was loszumachen und um Männer abzuschleppen. Dann macht sie bittersüß auf Liebe, zu ihren Kindern indes ist Gudi Obermaier hart und unnachgiebig. Nach außen gaukelt sie die heile Welt vor, tut alles, um den Trümmerhaufen ihres Familienlebens vor neugierigen Blicken der Nachbarschaft und des Jugendamtes zu verbergen. In den eigenen vier Wänden hingegen hat längst eine zutiefst eisige Gefühlskälte Besitz von ihr ergriffen.

Die Obermaiers wohnen im zwölften und letzten Stock eines Plattenbaus aus der Wirtschaftswunderzeit, hoch oben, wo man dem Himmel ein Stückchen näher und vom Grau des Alltags etwas weiter entfernt ist. Kontakt zu den Nachbarn haben sie so gut wie keinen. Hier leben sie Tür an Tür mit Sozialhilfe-Empfängern, Mehrfachtätern mit Bewährungsstrafen, Asylbewerbern und therapiegescheiterten Alkoholikern. Gegrüßt wird selten jemand. Tristesse pur in direkter Nähe zu Vater Rhein, auf dem die Ausflugsschiffe der KD-Flotte voll beladen mit Tagestouristen flussauf- und flussabwärts fahren. Die Hausfassade ist vom Ruß getüncht durch die Abgase der Autos. Die Fenster halten die Mieter meistens geschlossen, weil draußen die Fahrzeuge beinahe im Sekundentakt vorbeirasen. Die Häuserwände zieren Graffitis, Hakenkreuzschmierereien, die am Tag vom Hausmeister übermalt und über Nacht von irgendwelchen Jugendlichen in einem Akt von Selbstverwirklichung wieder neu aufgesprüht werden: »Alle Bullen sind Wichser«.

Mutter Gudrun lebt zwischen Fuseldunst und Reinigungsstress. Morgens quält sie sich um sechs aus dem Bett, um sieben beginnt sie mit ihrem Job als Gebäudereinigerin am Hauptbahnhof, putzt die Klos und entsorgt dort die Spuren durchzechter Nächte, begleitet von einem penetranten Gestank aus Urin und Kotze. Bis zum frühen Nachmittag muss sie anschließend in den Geschäftshäusern der Innenstadt verschiedene Bürozimmer im Minutentakt reinigen – für Gudrun Obermaier ein gnadenloses tägliches Rennen gegen die Uhr.

In der Putzbranche ist Gudi schon einmal besser im Geschäft gewesen. Monatelang schrubbte sie täglich bis zu neun Stunden Krankenhauszimmer, koordinierte die Einsatzpläne der Kolleginnen, sprang bereitwillig ein, wenn andere krankheitsbedingt ausfielen. Eine ungelernte Billigkraft war sie mit einem Viereinhalb-Stunden-Vertrag und ohne Rechte. Jedes Mal, wenn es eine tarifliche Lohnerhöhung gab, wurden ihr die Arbeitszeiten gekürzt. »Dann musst du eben eine komplette Krankenhaus-Station in drei statt in viereinhalb Stunden schaffen«, polterte ihr Chef, wenn sie sich beschwerte.

Eine ganze Station pro Putzfrau, das hieß, zwanzig bis fünfundzwanzig Zimmer säubern, Bäder putzen, Duschen, Toiletten. Und das unter den Hygiene-Bedingungen eines Krankenhauses. Von ansteckenden Krankheiten erfuhr Gudi kaum etwas. Für sie gab es weder bezahlte Hepatitis B-Impfungen, noch wies man sie auf Patienten mit gefährlichen Infektionskrankheiten hin. Feudelnd zog sie mit dem Wischmopp von Raum zu Raum, auch wenn dazwischen ein mit Krankenhauskeimen infizierter Patient lag. Gefahren wie diese blieben ihr verborgen.

Anfangs arbeitete Gudrun Obermaier für lächerliche sechs D-Mark die Stunde, später für acht. Zugestanden hätten ihr elf. Aber einen neuen Vertrag, der dies rechtlich absicherte, wollte man ihr nicht geben. Stattdessen wurde sie fürs Aufbegehren degradiert, durfte nur noch muffige Bahnhofsklos auf Hochglanz bringen. Dann kamen wieder ein paar Bürogebäude in der Stadt dazu. Nicht etwa, weil der Chef es vielleicht gut mit ihr meinte, sondern weil es sonst niemanden gab, den er hätte schicken können. Und Gudi brauchte das Geld.

»Besser ein schlechter Job als gar kein Job«, sagt sie sich jetzt wieder. Es ist die Angst, die diese Branche prägt. Und das, obwohl sie sich offiziell sogar an Mindestlöhne hält. Die Realität ist jedoch oft eine andere. Entweder muss man drei oder vier Jobs gleichzeitig machen – oder es droht Stütze. Und das will Gudrun Obermaier nicht. Ihr Stolz sagt nein zu staatlichen Almosen. Magere 500 Mark netto verdient Gudi im Monat. Plus Kindergeld. Wie soll das für die Familie zum Leben reichen?

Nach der Arbeit fährt Gudrun mit dem Bus wieder zurück in den Mietbunker an der Peripherie von Koblenz. Sobald die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, schüttet sie eine halbe Flasche Rotwein in sich hinein. Zwischendurch leert sie kleine Fläschchen im Setzkastenformat von »Scharfen Hüpfern« oder »Kleinen Feiglingen« – niedliche Namen für Hochprozentiges, das ihren Verstand in Raten ertränkt. Neben der Küchentür stapelt sich das Leergut. Gudrun Obermaier raucht Kette. Sie dreht sich die Zigaretten zumeist beim Fernsehen auf einem braunen Zonensofa, das sie in der Stadt in einem Secondhand-Laden für wenige Mark gekauft hat. Es gibt niemanden, der ihr den Halt geben könnte, den sie so nötig bräuchte. Auch nicht ihre Kinder.

Doch es hilft alles nichts. Jetzt muss auch Gerry das Geld mit ranschaffen. Nach dem Abschluss der Hauptschule legt er am Wochenende als DJ in einer Diskothek Platten auf, die Woche über steuert er ein Pizzataxi. An eine Lehre ist nicht zu denken. Schulden haben sich angehäuft, weil Gudis Verdienst allzu mager ist, um die Familie über Wasser zu halten. Für Franzi ersetzt Gerry den Vater, er macht immer mehr auf Autorität.

In seiner Zeit als Schüler randalierte Gerhold Obermaier, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, auf den Gängen seiner Hauptschule in Knobelbechern mit Stahlkappen und Wehrmachtsstahlhelm. Zwei Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag meldete er sich freiwillig zur Bundeswehr.

Seine ganze Jugend lang hatte er von einem Aufstieg beim Militär geträumt. Gerry Obermaiers kleine Zeitsoldatenkarriere verlief zunächst nach Plan. Einsätze in Bosnien-Herzegowina, Beförderung und Traumatisierung gratis. Seinen Unteroffizierslehrgang bestand er mit »befriedigend« und wurde zum Stabsunteroffizier ernannt. Dann stahl er nachts bei einem Streifengang gemeinsam mit einem amphetamin-abhängigen Obergefreiten Schlafsäcke und Bundeswehrparkas aus der Kleiderkammer und machte sie im Wohnviertel zu Geld. Der Diebstahl flog auf. Am Amtsgericht in Koblenz verurteilte man ihn wegen gemeinschaftlich begangenen Einbruchdiebstahls zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe. Der junge Obermaier musste jedoch nicht hinter Gitter, er war zu diesem Zeitpunkt strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten, und der Richter bescheinigte ihm eine positive Sozialprognose.

»Der angeklagte Gerhold Obermaier ist noch jung an Jahren, er hat sich bislang nichts zu Schulden kommen lassen und seine Bewerbung für den Dienst bei der Bundeswehr hat gezeigt, dass er im Leben etwas erreichen und sich für die Gesellschaft einbringen will. Das Gericht geht davon aus, dass es sich im vorliegenden Fall um eine einmalige Entgleisung seitens des Angeklagten handelte und dass das Urteil einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen wird, auch wenn bei der Tatbegehung durchaus eine gewisse kriminelle Energie an den Tag gelegt wurde«, stellte der Vorsitzende in seiner abschließenden Urteilsverkündung fest. In seinem Schlusswort gelobte Gerry Besserung, versprach alles zu tun, um ein straffreies Leben zu führen. Was jedoch weitaus schwerer wog, war das anschließende Disziplinarverfahren: Kurz vor seiner anstehenden Beförderung zum Feldwebel wurde Gerry unehrenhaft aus dem Dienst der Bundeswehr entlassen.

Danach versuchte der junge Obermaier es zunächst als Vertreter mit Versicherungen aller Art, ein Kamerad von der Bundeswehr hat ihm den Job vermittelt. Doch Gerry war zu aufdringlich, reagierte bei täglichen Rechtsgeschäften aggressiv, wenn die Kunden sich nicht schnell genug von den Vorzügen einer Lebens- oder Hausratsversicherung überzeugen lassen wollten. Schließlich wendete er der Versicherungsbranche den Rücken zu und setzte sich in den Kopf, die Familie als Kaufhausdetektiv durch den Alltag bringen zu können. Gerry bewarb sich bei der Detektei Mockenhaupt und wurde prompt eingestellt. Mittlerweile hat Franzi ihr fünfzehntes Lebensjahr erreicht und soll ihrem Bruder bei seinem Job im Kaufhaus gelegentlich zur Hand gehen. »Fossy muss sich mehr als bisher einbringen, wenn es darum geht, die Familie über Wasser zu halten!«, hat Mutter Obermaier beschlossen …

Die Hyänen kommen

Richter Kirchhoff sieht kurz auf seine Armbanduhr. Dann schaut er zur Anklagebank. Nicht nur auf ihn macht Franziska Obermaier einen geschundenen, geradezu gehetzten Eindruck. Die anfängliche Nervosität, die sie zu Beginn ihrer Aussage umgab, ist ihr während ihrer Einlassungen keine Sekunde von der Seite gewichen.

»Möchten Sie vielleicht eine kurze Pause einlegen, Frau Obermaier?«, fragt der Vorsitzende beinahe fürsorglich.

Franzi holt Luft. Schluckt.

»Nein, es geht schon.«

»In Ordnung, machen wir also weiter. Aber haben Sie keine Scheu, uns zu sagen, wenn Sie eine kleine Auszeit benötigen.«

Der Richter wendet sich den Prozessbeteiligten zu.

»Wie schaut es aus, hat jemand im Augenblick noch Fragen zu den persönlichen Lebensumständen der Angeklagten?«

»Ja, Herr Vorsitzender, das hätte ich in der Tat«, meldet sich Staatsanwalt Wotan Müller-Ley zu Wort. Der Ankläger mit dem Prädikatsexamen und dem leichten rheinländischen Akzent hat sich beharrlich über Tage und Nächte in die Gerichtsakten eingegraben. Wissbegierig hat er dabei sämtliche Fakten aufgesaugt, um sie im Prozess zu seinem Werkzeug machen zu können. Obwohl er noch keine dreißig Jahre alt ist, wirkt Staatsanwalt Wotan Müller-Ley wie ein gewiefter Routinier. Er ist einer von der Sorte Juristen, die sich so lange festbeißen kann, bis ein mutmaßlicher Täter mit dem Rücken zur Wand steht. Er presst die Aussagen aus den Angeklagten heraus wie andere den Saft aus einer Zitrusfrucht und liest aus den Gesten und der Mimik der Akteure zuweilen wie aus einem offenen Buch.

Der Mann mit den kurz geschnittenen schwarzen Haaren wirft einen zielgerichteten Blick in eine seiner vielen Akten, die sich vor ihm auf dem Tisch türmen, so als wolle er sich in aller Eile noch einmal rückversichern, während Franzi den Kopf senkt und die Hände im Nacken zusammenfaltet. Dann schaut sie für einen Moment kurz nach oben und blickt scheinbar ziellos und verloren durch den riesigen Verhandlungssaal. Die letzten Herbstblätter, die draußen von den Bäumen fallen, spiegeln sich durch eines der hinteren Fenster hindurch in einem kaleidoskopartigen Wirbelspiel in schwarz und weiß auf dem Boden des Gerichtssaales wider. Es wird nicht mehr lange dauern, dann steht der Winter vor der Tür.

Verträumt verfolgt Franzi das Spiel der Blätter in den riesigen Rotbuchen im kleinen Park gegenüber des Gerichtsgebäudes. Sie liebt es, dieses Wechselspiel von Licht und Schatten. Es erinnert sie an ihren Traumfänger, der vor Jahren in ihrem Kinderzimmer über dem Bett hing. Ihr Zimmer, das war ihr kleines Reich, das zu betreten selbst ihrem Bruder Gerry verboten war. Nur dass dieser sich nicht im Geringsten an dieses Verbot gebunden fühlte. Ein mannshoher weißer Plüsch-Affe, den sie auf einem Jahrmarkt von ihrem vermeintlichen Vater Lothar geschenkt bekommen hatte, bewachte die Eingangstür. Ihrer einzigen Puppe hatte Gerry aus Wut darüber, dass Franzi ihn einmal bei Lothar verpetzt hatte, den Kopf abgeschlagen und ihn in der Grünanlage zwischen Mülltonnen und einem Altkleidercontainer begraben. Gerry hatte zwei Mark aus Lothars Geldbörse geklaut und Franzi war der Meinung, ihr Vater sollte dies wissen. Nelly, so der Name der Puppe, saß seitdem kopflos im Regal in Franzis Zimmer.

Den Traumfänger hatte Franziska von ihrer Schulfreundin Theresa geschenkt bekommen, wegen der vielen Albträume, die sie schon in jungen Jahren heimsuchten. Der Fänger wachte über sie, die guten Träume sollte er durch sein Netz geleiten, die schlechten darin fangen und für immer festhalten. »Sie werden dann mit der Morgensonne verschmelzen, sagt eine alte indianische Legende«, hatte Theresa ihr erzählt.

Als Kind träumte Franzi von fernen Ländern, von denen sie in Büchern gelesen hatte und die sie einmal bereisen wollte. Das andere Ende der Welt wollte sie sehen: Südafrika, Neuseeland, Aus­tralien und Feuerland. Feuerland – allein der Name klang in ihren Ohren wie Magie. Sie träumte von einem großen Einfamilienhaus irgendwo im Grünen abseits der großen Städte, von einem eigenen Pony, von schönen Kleidern, pink- und pastellfarben sollten sie sein, mit kleinen Veilchen bestickt. Franzi träumte auch von einer eigenen Familie, einem liebenswerten und gütigen Mann, der ihr Wärme, Geborgenheit und Sicherheit geben würde. Und von Kindern, die sie ihm schenken wollte. Doch als eines Tages ihre eigene Kindheit vorbei war, zerriss das Netz des Traumfängers plötzlich über Nacht, und er verbrannte mit den ersten Sonnenstrahlen. In der Dunkelheit kamen jetzt die Hyänen und fraßen sich gierig in Franzis Träume. Noch am Morgen lag ihr schlechter Atem als dicker, stinkender Dunst im Zimmer.

»Sagen Sie, wie war das damals in dem Kaufhaus mit der Beihilfe zum gewerbsmäßigen Diebstahl, Frau Obermaier?«

Der Anklagevertreter richtet sein Augenmerk auf die junge Frau mit dem dunklen Kurzhaarschnitt in der Anklagebank auf der gegenüberliegenden Seite des Verhandlungssaales, nachdem er zuvor in einem seiner Aktenordner, die vor ihm auf dem Tisch liegen, geblättert hatte.

»Was …? Amh, wie …? Was haben Sie gesagt?«

Immer noch in Gedanken versunken sucht Franziska Obermaier im Gerichtssaal nach Orientierung. Ihr Blick wandert von den gut gefüllten Zuhörerreihen über viele stumme Gesichter zum Vorsitzenden und landet schließlich beim Vertreter der Staatsanwaltschaft mit den kurz geschnittenen schwarzen Haaren, der zwischenzeitlich sein Aktenstudium beendet zu haben scheint.

»Wenn man Sie etwas fragt, sollten Sie schon zuhören, junge Frau«, ermahnt der Staatsanwalt sie mit strengem Blick. »Ich möchte von Ihnen wissen, wie das damals mit der Beihilfe zum gewerbsmäßigen Diebstahl war. Da haben Sie in jungen Jahren ihren Bruder doch dabei unterstützt, dass dieser sich mit seinen feinen Tricks eine zusätzliche Einnahmequelle von gewisser Dauer schaffen konnte – oder? Und das hat Ihnen immerhin hier am Landgericht eine Bewährungsstrafe von acht Monaten Jugendarrest gebracht – nicht wahr?«

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat ganz offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht. Mit strenger Miene fokussiert er die junge Frau, als wolle er mit seinem Blick durch sie hindurch in ihre tiefsten Gedankengänge vordringen.

»Damals haben Sie gemeinsam mit ihrem Bruder hier in Koblenz in einem Kaufhaus krumme Dinger gedreht! Nicht wahr?«, schiebt er hinterher.

Franzi schaut zum Staatsanwalt. Ihr Blick wirkt scheu.

»Ja, das ist richtig«, antwortete sie entschlossen und ohne jegliches Zeichen einer Regung.

Mit dieser Frage hatte sie gerechnet. Franzi ist für den Prozess ebenfalls präpariert. Ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Eugen Seligmann, hat sie in der Untersuchungshaft auf mögliche Fragen vorbereitet. Auch diese Frage war mit ihr durchgespielt worden. Der stämmige, bärbeißige 1,90-Meter-Jurist aus dem Westerwald mit den silbergrauen Haaren ist ein gewiefter Fuchs auf dem Gebiet des Strafrechts, mit allen Wassern gewaschen, wenn es darum geht, in die Untiefen der Strafprozessordnung abzutauchen. Das Strafrecht liegt ihm im Blut. Seit Jahrzehnten praktiziert Seligmann die Juristerei, ist Herz und Motor einer angesehenen Rechtsanwaltskanzlei, und hat manch spektakulären Strafprozess im harten Ringen für seine Mandanten gewinnen können. An Ruhestand ist für den Achtundsiebzigjährigen nicht zu denken. Mit Haut, Haaren und Seele ist er mit seinem Job verwoben. Er kennt alle juristischen Kniffe und Tricks, die die Strafprozessordnung bietet. Und das auch durchaus in eigener Sache, denn der Advokat aus dem Wällerland hat auch seine dunklen Seiten. Der Jurist schmückte sich auf Hotel-Meldezetteln gerne einmal mit einem nicht existenten Doktortitel und kassierte in einem Fall dafür in einem Strafbefehl 2000 D-Mark Geldstrafe. In einem Sexualstrafprozess, bei dem eine Narbe am Penis des angeklagten Exhibitionisten eine prozessbedeutende Rolle spielte, begab er sich mit dem Mandanten zur Inaugenscheinnahme auf die Toilette, um anschließend die Existenz des Körpermals zu dementieren. Die Angelegenheit wurde mehr als peinlich, als zwei Amtsärzte den Richtern das Gegenteil bestätigten. Es hätte den Advokat fast die Zulassung als Rechtsanwalt gekostet.

Ein Geständnis, das hat Eugen Seligmann im Mordfall Bukowski seiner Mandantin bereits bei den ersten Gesprächen lange vor Prozessbeginn eingetrichtert, erspare ihr zwei, drei Jahre Freiheitsentzug. Kooperativ solle sie sein, hat er ihr empfohlen und unbedingt Reue zeigen.

Reue? Für die Gaunereien im Kaufhaus? Wieso nicht? Da gab es für Franzi nichts zu beschönigen. Gemeinsam mit ihrem Bruder hatte sie die Dinger durchgezogen. Gerry brauchte als Kauf­hausdetektiv Fangquoten, musste Diebe auf frischer Tat ertappen, damit er seinen Job behielt. Ohne Fangquoten keine Prämie, ohne Prämie nur wenig Cash. Und ohne Cash ein Leben am sozialen Abgrund. So war das damals in den Jahren ihrer Jugendzeit. Für die Obermaiers, die auf Gerrys Verdienst angewiesen sind, ist dies eine simple Rechnung. Doch der Mord an Bukowski, das war für Franzi eine andere, eine wirklich gerechte Sache. Das Schwein hatte ihrer Ansicht nach den Tod verdient. Er erwartete nicht nur von Franzi, ihm sexuell gefügig zu sein. Und was hatte er dem kleinen Aljoscha angetan! Ihre Tat bereuen? Unmöglich! Niemals!

»Wie war das damals? Was hatten Sie denn verbrochen, dass man Sie zu acht Monaten auf Bewährung verurteilte«, hakt der junge Staatsanwalt jetzt nach. Obwohl in den vor ihm liegenden Gerichtsakten alles haargenau beschrieben ist, will er den Sachverhalt von der Angeklagten geschildert bekommen. Mit diesem Vorgehen möchte er vor allem eins: ihre Glaubwürdigkeit testen.

»Mein Bruder und ich, wir haben von Zeit zu Zeit die Fangquote etwas erhöht«, antwortet Franzi.

Erstmals während dese Prozesses huscht ihr, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, so etwas wie ein Lächeln übers Gesicht.

Müller-Ley stutzt.

»Die Fangquote erhöht? Sie sprechen in Rätseln, junge Frau. Was dürfen wir denn darunter verstehen? Waren Sie und Ihr Bruder etwa zum Fischen am Rhein?«

Franzi wirft dem Staatsanwalt einen ungläubigen Blick zu. Hat er tatsächlich nicht verstanden, was sie sagen wollte? Oder will er sie einfach nur testen? Das mit den Quoten steht doch sicher in seinen Akten. Aber vielleicht blufft der Herr in der schwarzen Robe nur?

»Mein Bruder war Detektiv in einem Kaufhaus in der Koblenzer Löhrstraße«, flüstert Franzi.

»Könnten Sie bitte etwas näher an das Mikrofon rücken«, fordert der Vorsitzende Richter Kirchhoff sie auf.

»Natürlich, Entschuldigung.«

Die junge Angeklagte schiebt den Stuhl weiter an den Tisch, beugt den Oberkörper nach vorne und spricht ins Mikro.

»Mein Bruder war Detektiv in einem Kaufhaus in der Koblenzer Löhrstraße«, wiederholt sie, diesmal für jeden im Gerichtssaal verständlich.

»So, Kaufhausdetektiv. Na, da hat man aber den Bock geradewegs zum Gärtner gemacht«, meint der Vertreter der Staatsanwaltschaft zynisch und erntet halblautes Gelächter aus den Zuhörerreihen.

Dieser junge Jurist weiß weitaus mehr als er vorgibt. Das ahnt Franzi. Sicherlich kennt er die ganze Geschichte. Er will sie nur noch einmal von ihr zu hören bekommen. Ungeschönt und ehrlich. Dann soll er sie haben …

»Wir waren an dem Morgen etwas spät dran. Das war sicherlich schon ein schlechtes Omen. Vielleicht hätten wir an dem Tag einfach zu Hause bleiben sollen …«

Die Fangquote erhöht

An diesem Morgen ist Franzi nach einem langen Videoabend mit Freundin Theresa nur schwer aus dem Bett gekommen. Für Franziska fühlt es sich an, als sei die Müdigkeit kurz vor dem Wachwerden noch einmal in jede einzelne Zelle ihres Körpers gekrochen. Dank der von Gudi geerbten Redegewandtheit findet Franzi schnell Freunde. Und verliert diese genauso rasch auch wieder. Mit Theresa ist das anders. »Die kleine Obermaier redet mit viel heißer Luft«, behauptet Theresas Vater. Doch seine Tochter kümmert das nicht. Resa, wie Franzi ihre Freundin liebevoll nennt, ist die Einzige, die ihr treu blieb, und für sie ist Franzi wie eine große Schwester. Am Abend zuvor hatten sie sich gemeinsam bei Rotwein und Kerzenlicht heimlich in Resas Zimmer einen Slasher-Film angeschaut, einen Streifen mit gruseligen Schockeffekten und eimerweise vergossenem Blut. Franzi mag diesen Thrill. Während die starken Teenager überleben, fallen die schwächeren in aller Regel dem blutrünstigen Killer zum Opfer. Franzi sieht sich dabei gern in der Rolle des Final Girls, das sich gegen Ende der Schlachterei dem Mörder entgegenstellt und ihn besiegt. Doch bis es zum finalen Showdown kommt, verkriecht sie sich zumeist ganz tief in ihr Kissen und lugt erst wieder hervor, wenn der Killer seine Opfer auf kreative Weise bereits ins Jenseits befördert hat.

Mit bleischweren Beinen schlurft sie an diesem Morgen in ihren ausgetretenen Plüschpantoffeln wie traumwandlerisch ins Bad. Die Plastik ummantelte Uhr im Badezimmer zeigt kurz nach halb neun. Um neun öffnet das Kaufhaus in der Koblenzer Innenstadt, Gerrys Arbeitsplatz.

»Fossy-Bär klebt schon wieder im Bad fest«, wettert Gerry durch die Wohnung, während Mutter Gudrun, die noch schlaftrunken im Zimmer nebenan im Bett liegt, kurz aufhorcht.

»Scheiße, ist mir doch egal«, brummelt sie und dreht sich im Halbdunkeln mit dem Gesicht zur Wand.

Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett steht ein überquellender Aschenbecher, daneben liegt ein umgestoßenes leeres Rotweinglas. Der Flokatiteppich ist übersät mit roten Spritzern. An der Wand gegenüber prangt eine Fototapete mit Palmen, Meer und aufgehender Sonne, die längst durch den täglichen Zigarettenqualm vergilbt ist. Das Zimmer stinkt nach abgestandenem Rauch und Fusel, die Luft ist zum Schneiden. Bekleidet mit einem gräulichen T-Shirt, das einmal blütenweiß war, liegt Gudi im Bett, die Haare zerzaust. In der Küche stapelt sich das verdreckte Geschirr vom Vorabend.

Von ihrer Mutter hat Franzi wenig zu erwarten. Das weiß sie schon lange. Wie oft hat sie sich gewünscht, von ihr in die Arme genommen zu werden. Doch es blieb ein nicht erfüllter Wunsch. Gudrun Obermaier lässt ihre Tochter oft spüren, was es heißt, unerwünscht zu sein. Wenn Gerry seine Schwester ohrfeigt oder ihr eine Kopfnuss verpasst, und Franzi zu weinen beginnt, schimpft die Mutter sie eine jämmerliche Heulsuse und tituliert sie als Warmduscherin oder Weichei.